"Italienische Verhältnisse"

insbesondere in den schulen von Florenz

Autor:in - Jutta Schöler
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: im Verlag Klaus Guhl, Berlin 1987. ISBN 3-88220-359-5. Das Buch ist vergriffen!
Copyright: © Jutta Schöler 1987

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Jutta Schöler zur Wiederveröffentlichung des Buches bei bidok

25 Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint das Buch wieder neu. - Einerseits ist es inzwischen ein historisches Dokument. Es wurde von einer Gruppe von Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern sowie Müttern behinderter Kinder erstellt, die gemeinsam mit mir an einer Exkursion nach Italien teilgenommen haben. Dies war zu einer Zeit, als sich in der alten Bundesrepublik nur sehr wenige Menschen mit diesem Thema beschäftigten.

Viel hat sich in der Zwischenzeit getan in Richtung auf eine inklusive Gesellschaft und es ist nicht mehr notwendig, italienisch zu lernen und nach Italien zu fahren, um gelungene Beispiel von gemeinsamem Unterricht von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarf zu erleben.

Gleichzeitig sind wir in Deutschland noch weit davon entfernt, dass es normal ist, dass alle Heranwachsenden eines Wohngebietes das uneingeschränkte Recht auf dieselbe Schule haben wie Geschwister- oder Nachbarkinder.

Dieses Buch - als historisches Dokument gelesen - kann heute deutlich machen, wie wichtig es ist, mit der Gleichzeitig der Verschiedenheit in Entwicklungsprozessen bewusst umzugehen.

Formulierungen des 1. Italienischen Integrationsgesetzes von 1976 oder der Didaktischen Rahmenpläne von 1985 wünsche ich mir im Jahre 2012 in den neu zu formulierenden Schulgesetzen und Ausführungsvorschriften der Bundesländer in Deutschland und in Österreich bzw. in den Kantonen der Schweiz zur Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Siehe im Anhang 3, hier S. 204ff: "Schüler mit lernschwierigkeiten und integration der träger einer behinderung":

"Die ausübung des rechtes auf erziehung und bildung im rahmen der Schulpflicht darf nicht auf grund der anwesenheit von lernschwierigkeiten verhindert werden, unabhängig davon, ob die lernschwierigkeiten mit behinderungen oder benachteiligungen verbunden sind; zwei situationen, die nicht miteinander zu verwechseln sind.

Die benachteiligung besteht aus familiären und emotionalen mängeln, sozialen und ökonomischen nachteilen und ist mit kulturellen und sprachlichen unterschieden verbunden, die durch mangelnde intellektuelle anregungen verursacht sind. Daher soll die erzieherische und didaktische planung so gegliedert und entwickelt werden, daß der aufbau und die verwirklichung von individuellen schulischen lernwegen vorgesehen ist. Die planung soll, unter berücksichtigung der verschiedenen ausgangsniveaus, eine reihe von nachprüfbaren, orientierten lernzielen festsetzen."

Der gesamte Text des Buches ist in gemäßigter Kleinschreibung gedruckt worden. Im Klappentext habe ich mich damals mit dieser Begründung an die Leserinnen und Leser gewandt:

"Unser bericht ist in gemäßigter kleinschreibung gedruckt. (...) Leo Weisgerber hat 1964 ausgerechnet, daß nur das üben der groß- und kleinschreibung jährlich über 200 millionen schülerstunden, d.h. ca. sieben millionen unterrichtsstunden kostet. Ohne GROSSSCHREIBUNG kommen nahezu alle sprachen der welt aus; englisch, französisch, italienisch usw., in dänemark wurde die großschreibung nach 1945 abgeschafft. So viele kinder, mütter, väter, lehrerinnen und lehrer verschwenden viel zeit und nerven an die GROSSSCHREIBUNG. Könnte diese zeit und diese zuwendung nicht sinnvoller genutzt werden?"

Berlin, den 20.03.2012

Liebe leserin, lieber leser!

Unser bericht ist in gemäßigter kleinschreibung gedruckt. Wenn es anfangs vielleicht auch ungewohnt ist, lies dich bitte ein! Leo Weisgerber hat 1964 ausgerechnet, daß nur das üben der groß- und kleinschreibung jährlich über 200 millionen schülerstunden, d.h. ca. sieben millionen unterrichtsstunden kostet. Ohne GROSSSCHREIBUNG kommen nahezu alle sprachen der welt aus; englisch, französisch, italienisch usw., in dänemark wurde die großschreibung nach 1945 abgeschafft. So viele kinder, mütter, väter, lehrerinnen und lehrer verschwenden viel zeit und nerven an die GROSSSCHREIBUNG. Könnte diese zeit und diese zuwendung nicht sinnvoller genutzt werden?

Einleitung

"Für die deutung der realität ist die interessenslage maßgeblich"

(Watzlawick)

"Italienische verhältnisse" - die gibt es nicht nur in Italien.

Deutsche mütter und väter, lehrerinnen und lehrer wünschen sich "italienische verhältnisse" auch in deutschen schulen, wenn sie ein größeres maß an individueller entscheidungsfreiheit, günstigere personelle voraussetzungen und vor allem: die nicht-aussonderung von kindern mit behinderung anstreben.

Viele Italienerinnen wünschen sich in ihren schulen "deutsche verhältnisse" und erwarten damit eine bessere Organisation und technische ausstattung der schulen sowie durchgeplanten unterricht mit festgelegten lernzielen.

Es ist schon ärgerlich, wenn der von der zentralregierung in Rom zugesagte stützlehrer erst vier wochen nach schuljahresbeginn zum ersten mal in der schule erscheint - oder die vertretungslehrerin nicht am 1. tag die erkrankte klassenlehrerin vertritt, sondern erst am zweiten oder dritten tag.

Andererseits wollen es italienische lehrerInnen oft nicht glauben, daß es in Deutschland weder ein stützlehrer- noch ein vertretungslehrersystem gibt.

Sind es lediglich andere probleme - oder dieselben probleme in anderer erscheinung, die die unterschiede zwischen den italienischen und den deutschen schulen ausmachen?

Es soll in dem vorliegenden buch nicht der eindruck erweckt werden, die Italiener könnten uns Deutschen modelle und methoden zur lösung unserer probleme liefern.

Die Beiträge des vorliegenden buches sollen dazu anregen, Selbstverständlichkeiten bei uns in frage zu stellen. Vor allem diese eine selbstverständlichkeit, die unser gesamtes gesellschaftliches leben durchzieht: Daß es "normal" sei, die menschen auszusondern, die besondere zuwendung brauchen, um individuelle oder soziale nachteile auszugleichen.

Ziel pädagogischer bemühungen soll es sein, einen zugewinn an menschlichkeit und freiheit zu ermöglichen. Das bedeutet: Eine größere entscheidungsfreiheit in bezug auf die eigene lebensplanung für jede frau und jeden mann und eine verringerung von einschränkungen und zwängen wahrscheinlicher werden zu lassen.

Noch zu beginn dieses jahrhunderts waren in den meisten europäischen ländern die mädchen auf wenige berufe festgelegt. Universitäten waren frauen verschlossen.

Und selbst viele jahre nach der einführung gemeinsamer schulen für jungen und mädchen sind wir weit davon entfernt, daß die geschlechtsspezifischen interessen und neigungen von mädchen genügend in den schulen und universitäten berücksichtigt werden. - Koedukation besteht häufig überwiegend in der einseitigen anpassung von mädchen an dieselben normen und werte, die den jungen gesetzt werden. -

Und trotzdem: Das formale recht auf gleiche entscheidungsmöglichkeiten von männern und frauen stellt die mindeste gesetzliche grundlage für die inhaltliche gestaltung von gleichwertigen bildungsprozessen dar.

Eine ähnliche entwicklung muß für die kinder gefordert werden, die träger einer behinderung sind:

Erst wenn die gesetzliche grundlage geschaffen ist, daß auch kinder mit besonderen persönlichen merkmalen, die ihre physischen, psychischen oder kognitiven möglichkeiten einschränken, das recht haben, jede schulart zu besuchen, erst dann ist die mindeste formale grundlage für die inhaltliche gestaltung von gleichwertigen bildungsprozessen gegeben.

Die Italiener haben die notwendigen politisch-philosophischen entscheidungen mit der gesetzgebung von 1977 getroffen.

Sie bezogen sich dabei auf einige - meist regional auf den norden begrenzte - schulversuche, in denen bereits in den sechziger jahren mit der integration behinderter kinder begonnen worden war.

Die ältesten erfahrungen gehen auf eine grundschule in Rimini zurück. Das "Centro Educativo Italo-Svizzero" wurde bereits 1945 von der Schweizerin Margherita Zoebeli gegründet und sonderte von anfang an die zahlreichen kinder nicht aus, die aufgrund der kriegsereignisse erhebliche beeinträchtigungen bewältigen mußten. Viele initiatorInnen von schulversuchen - vor allem im norden Italiens - sind ehemalige mitarbeiterinnen von Margherita Zoebeli.

Die umgestaltung der schulorganisation beschränkte sich nicht darauf, daß sonderschulen geschlossen und die behinderten kinder in eine unveränderte regelschule aufgenommen wurden.

Die diskussion um die nicht-aussonderung von kindern mit behinderung wurde in Italien im zusammenhang - und zum teil parallel und isoliert - geführt mit der diskussion um die benachteiligung von kindern der land- und fabrikarbeiter und vor allem der aus dem süden in den norden des landes zugezogenen.

Das buch "brief an eine lehrerin", welches die schüler von Barbiana (einem kleinen bergbauerndorf im norden von Florenz) mit der Unterstützung ihres lehrers Don Lorenzo Milani geschrieben hatten, lieferte wichtige argumente.

Der gesamte prozeß der umorientierung des italienischen gesundheits- und Schulsystems kann nur langfristig erfolgen. Die vielfältigen schwierigkeiten bei der durchführung der neuen gesetze werden von den Italienern selbst immer wieder betont.

Das vorliegende buch will den deutschsprachigen leserinnen anschauliche beispiele und sachliche informationen liefern. Es wendet sich an einen breiten kreis von leserInnen:

- Mütter und väter von behinderten kindern und die menschen, die diesen kindern emotional nahestehen, sollten mit dem lesen des 3. kapitels beginnen.

Es ist für viele von uns oft nicht vorstellbar, wie sich ein blindes oder geistig behindertes, ein psychisch krankes oder schwer mehrfach behindertes kind im kreise von nichtbehinderten kindern entwickeln kann.

- Lehrerinnen und lehrer sollten mit dem lesen des 2. kapitels beginnen.

Wie sieht ein unterricht aus, in dem eine so große vielfältigkeit an lernmöglichkeiten normaler schulalltag ist?

Die beispiele sollen mut machen und anregungen geben. Wir haben nicht nach den fehlern gesucht - wenn wir zufällig darauf stießen, dann sind sie in den berichten aber auch nicht ausgespart.

Gelegentlich berichten mir lehrerInnen, häufig schulverwaltungsbeamte, anhand von erzählungen "aus zweiter hand", daß es mit der integration der behinderten kinder in Italien nicht funktioniere.

Meine dringenden bitten, auch diese negativen berichte aufzuschreiben und mir für eine veröffentlichung zur verfügung zu stellen, blieben bisher unbeantwortet.

In den fällen, in denen ich selbst den zusammenhang zwischen einem punktuellen negativen eindruck und der langfristigen entwicklung eines behinderten kindes nachvollziehen konnte (z.b. im gespräch mit exkursionsteilnehmerInnen), kam ich zu der folgenden einschätzung: Es fällt vielen deutschen besucherInnen außerordentlich schwer, die einschränkungen in den lernmöglichkeiten bei kindern mit behinderung wirklich zu akzeptieren. - Ein behindertes kind bleibt behindert - auch wenn es eine normale schule besucht. Aus der behinderung ergeben sich häufig auch einschränkungen in den kommunikationsmöglichkeiten. - Diese einschränkungen zu akzeptieren und (auch als besucherIn) psychisch zu verkraften, fällt den (sonder-) pädagogInnen offensichtlich in der gemeinsamen sozialen situation aller kinder weitaus schwerer als in der isolation von getrennten institutionen. (Im abschnitt 3.4. habe ich an einem beispiel dieses problem der deutschen besucherInnen dargestellt).

- Die kapitel 1 und 4 und die materialien im anhang sollen vor allem für fachkollegInnen und studentInnen die notwendigen hintergrundinformationen liefern, aus denen folgendes deutlich werden soll: Es ist nicht nur mit der "italienischen mentalität", auch nicht mit der größeren generellen wertschätzung von kindern in Italien zu erklären, daß die meisten "pädagogischen touristInnen" mit positiven eindrücken über die "italienischen verhältnisse" - insbesondere aus den schulen von Florenz - zurückkehren.

Hinter der - inzwischen anhand zahlreicher zeitschriftenveröffentlichungen nachweisbaren - fülle von positiven einzelbeobachtungen stehen theorien, sich langsam verändernde gesellschaftliche strukturen und schulorganisation sowie schulverwaltung bindende gesetze.

Zum schluß dieser einleitung muß ich vielen menschen danken, die an der entstehung dieses buches beteiligt waren:

- Etwa hundert mütter und väter, lehrerinnen und lehrer, therapeutinnen, studentinnen und studenten, mitarbeiterinnen der behindertenfürsorge und kindergartenerzieherinnen haben mich auf drei exkursionen in den vergangenen jahren begleitet. In den vorbereitungen, auswertungen und unzähligen gesprächen "vor ort" haben wir gemeinsam viel gelernt.

- Zahlreiche schulleiterinnen und schulleiter in Florenz organisierten für die deutschen besucherInnen die hospitation in den schulen und stellten formulare, rahmenpläne, jahrespläne zur verfügung - meist nahmen auch sie sich die zeit für längere gespräche. Stellvertretend für viele andere möchte ich zweien besonders danken: Frau Quercioli aus Isolotto und Herrn Trentanove aus Bagno-a-Ripoli.

- Der professor für vergleichende erziehungswissenschaften an der Universität Florenz, Gastone Tassinari, unterstützte uns mit literatur, vermittelte kontakte zu anderen fachkolleginnen, gab uns allgemeine einführungen in das italienische schul- und hochschulsystem. Viele anregungen verdanke ich den gesprächen mit den professoren Andrea Canevaro und Nicola Cuomo von der Universität Bologna.

- Ganz besonders danke ich Dr. Ludwig-Otto Roser. Nach der ersten vermittlung zu schulen in Florenz im frühjahr 1982 kam es zu einem regelmäßigen gedankenaustausch, ohne den mir mit sicherheit viele grundsätzliche probleme nicht so schnell deutlich geworden wären. -

Alle autorinnen und autoren für dieses buch verzichten auf ein honorar.

- Die meisten haben sich auch an der technischen gestaltung tatkräftig beteiligt, sonst hätte es nicht so preisgünstig und so schnell fertig-gestellt werden können. -

Sollte der verlag mit einer zweiten auflage einen finanziellen gewinn erreichen, der üblicherweise als honorar ausgezahlt würde, dann wollen wir diesen betrag einer elternselbsthilfegruppe spenden:

Die initiatorin dieses vereines, Ingelore Gumlich, und die mitarbeiterInnen legen den schwerpunkt ihrer tätigkeit auf die beratung von eltern behinderter kleinkinder: Um integration nicht notwendig werden zu las-sen, muß vom augenblick der diagnose einer behinderung an die aussonderung des kindes und seiner familie vermieden werden.

Leserinnen, die diesen verein finanziell unterstützen wollen, können damit eventuell dazu beitragen, daß sich auch in Deutschland -, insbesondere in Berlin - etwas mehr "italienische verhältnisse" entwickeln.

Es hat mit sicherheit keinen sinn, wenn jede/r auf die großen veränderungen - z.b. des gesamten schulsystems - hofft. Die tatsache, daß gesellschaftliche veränderungen langsam verlaufen - häufig auch in die falsche richtung zu gehen scheinen -, kann auch als vorwand genutzt werden, im eigenen entscheidungsbereich "alles beim alten" zu belassen.

Resignieren und "im sande verlaufende reformen" der allgemeinen "wende" zuzuschreiben - das kann auch eine form von bequemlichkeit sein.

Sich mit dafür einzusetzen, daß an dem eigenen arbeitsplatz oder privaten lebenszusammenhang auch nur ein einziger mensch aus den beengenden grenzen von sondereinrichtungen oder von der bedrohung durch aussonderung befreit wird, das ist anstrengend und für viele unbequem.

Es kann aber auch das eigene leben bereichern und eventuell dazu beitragen, den eigenen ängsten vor aussonderungen besser zu begegnen.

Jutta Schöler

Berlin, im September 1987

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Nur eine deutsch-italienische Begegnung?

In einer kleinen gruppe versammeln wir uns kurz vor 14.00 uhr vor der blindenausbildungsstätte in Bologna und warten auf die anderen, denn für sie geht es heute an einem anderen ort mit der besichtigung einer werkstatt weiter. Ich möchte mich verabschieden, denn mein zug gen norden fährt um 15.30 uhr. Ach ja, ich brauche noch eine busfahrkarte zum bahnhof. Doch während der mittagszeit sind alle "Tabaccherien" geschlossen. Schwarzfahren wollte ich auf keinen fall. Wo bekomme ich nur die karte her? Der blinde italienische lehrer, der unsere gruppe begleitet, will es mir erklären. "Ach nein, es ist besser, ich komme mit dir mit". Überrascht gehe ich auf seinen vorschlag ein. Er nimmt meinen arm, führt mich durch leichte druckbewegungen. Wir schweigen; ich weiß nicht, wohin er mit mir geht. Ich werde geführt. Wie oft führte ich meine Schüler im rollstuhl zu einem ziel, ohne ihnen genau zu sagen, wo es ist und wie wir vielleicht dorthin kommen. Mein begleiter wendet sich nach rechts in eine schattige gasse. So weit will er mit mir gehen! Warum sagt er mir nicht einfach: "Wir gehen noch bis zur nächsten ecke, dann biegen wir rechts ab und...." Er spürt bestimmt sehr deutlich meine unsicherheit und hat vorher auch meine schwachen italienischkenntnisse bemerkt. Wir gehen schweigend nebeneinander her, meine blicke suchen immer wieder rechts und links das ziel. Jetzt führe ich ihn an den großen unebenheiten des pflasters mit einem "attentione" vorbei. Die gasse erscheint mir unendlich lang. Werden wir um viertel nach zwei wieder pünktlich zurück sein? Sicher, denn sonst kann er ja nicht mit der gruppe zu den werkstätten fahren. Wie schwer ist es doch, sich jemandem fremden anzuvertrauen. Das ende der gasse ist erreicht. Er drückt mich ein wenig nach links, geht zu einem auto, faßt es an. Ach, er sucht einen durchgang, um die kleine Straße zu überqueren. Meine hilfe braucht er dazu nicht. Zielsicher findet er seinen weg. Er ist so sicher, und ich bin so unsicher. Wir stehen vor der bar. Zu meiner großen freude steht die andere hälfte der gruppe am tresen, sie plaudern und trinken kaffee. Er führt mich weg von ihnen zum verkaufsstand, der am ende des langen raumes quersteht und verlangt für mich eine fahrkarte. Ich bin ganz aufgewühlt von diesem erlebnis. Zurück zur schule finde ich wieder halt in mir, und wir beginnen, französisch miteinander zu sprechen. Zurück in Berlin erfahre ich seinen vornamen: Michele. Mille grazie Michele für mein wichtigstes erlebnis der ganzen exkursion.

Brigitte Schmitt

1. Kapitel Grundsätzliche fragen zur nicht-aussonderung von kindern mit besonderen pädagogischen problemen

1.0. Behinderte kinder oder kinder mit behinderungen? "bambini con certificato"

Jutta Schöler

An dieser stelle soll es nicht um eine allgemeine definition des Begriffes "BEHINDERUNG" gehen. - Diesen begriff zu klären, das nutzt meistens sehr wenig, wenn es um die aufgabe der pädagogischen förderung von kindern geht, die in irgendeinem aspekt ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen entwicklung als nicht "NORMAL" eingestuft wurden.

Und trotzdem sind einige allgemeine klärungen notwendig:

Zunächst scheint es mir sinnvoll, bewußt zu machen, daß in dem vorliegenden buch immer die nicht-aussonderung von KINDERN mit besonderen problemen im mittelpunkt des interesses steht.

Es ist etwas grundlegend anderes, ob ein erwachsener mensch erblindet - oder ob ein kind nie sehen konnte.

Die nicht-aussonderung von erwachsenen, welche sich bilder und begriffe dieser weit bereits angeeignet haben, ist eine andere, wichtige aufgabe unserer gesellschaft, wird aber an dieser stelle nicht angesprochen. -

Es ist etwas grundlegend anderes, ob ein alternder mensch seiner umwelt verwirrt erscheint, weil er z.b. die abfolge von zeiten verwechselt - oder ob ein kind nie gelernt hat, das gestern, das heute oder morgen zu unterscheiden.

Der respekt vor alten menschen und unser eingehen auf ihre vorstellungen von vergangenheit und zukunft ist eine andere, wichtige aufgabe in unserer gesellschaft, wird aber an dieser stelle nicht angesprochen. KINDER mit besonderen problemen stehen im mittelpunkt unseres interesses, wenn wir uns mit den "italienischen verhältnissen" - insbesondere in den schulen von Florenz beschäftigen.

Wir sollten den gedanken nicht aus dem kopf verlieren: Was nehmen wir, die ERWACHSENEN, einem KIND, wenn wir entscheiden, das einzelne KIND (wegen eines besonderen problemes) von andern KINDERN zu trennen?

Die tradition der aussonderung von BEHINDERTEN führte dazu, daß alle übrigen persönlichkeitsmerkmale dieser menschen in den hintergrund der wahrnehmung durch die mitmenschen traten.

Ich will diesen gedanken an einem beispiel verdeutlichen: In meiner nachbarschaft sollte eine neue familie einziehen. Lange vor dem einzug wußten alle nachbarinnen: 'Da zieht eine familie mit einem behinderten kind ein.'

Niemand wußte allerdings, ob dies ein junge oder ein mädchen sei, ob blind, taub, geistig oder körperlich behindert, ob auf einen rollstuhl angewiesen und, wie alt das kind ist.

In Italien wird seit einigen jahren von den "kindern mit behinderung" oder den "trägern einer behinderung", den "kindern mit einem zertifikat" oder "kindern mit besonderen pädagogischen problemen" gesprochen. - Ein medizinisch feststellbares DEFIZIT (blindheit, taubheit, körperbehinderung oder durch chromosomenveränderungen bedingte einschränkung der bewegungskoordinierung) sagt wenig aus über die konkreten FÄHIGKEITEN oder UNFÄHIGKEITEN des einzelnen kindes. - Diese fähigkeiten und die konkreten erwartungen der sozialen gruppe, der das kind angehört, bilden die eigentliche grundlage jeglicher pädagogischer arbeit bei nichtaussondernder erziehung.

In den italienischen schulen ist das bemühen groß, zu unterscheiden zwischen den kindern mit einer behinderung und jenen kindern, die aufgrund von familiären benachteiligungen, sozialen und ökonomischen mangelsituationen oder aufgrund von kulturellen und sprachlichen unterschieden besondere schwierigkeiten bei der aneignung - vor allem der kulturtechniken - haben.

Der deutsche begriff "lernbehinderung" wird entschieden abgelehnt. In der einleitung zu den neuen rahmenplänen für die grundschule wird ausdrücklich betont, daß lernschwierigkeiten aufgrund von behinderungen nicht verwechselt werden dürfen mit lernschwierigkeiten aufgrund von benachteiligungen (vgl. im Anhang 3).

DEFIZITE und UNFÄHIGKEITEN werden dann als besondere schwierigkeit erlebt, wenn sie die kontaktaufnahme zu den anderen menschen derselben kulturellen gruppe erheblich erschweren. Diese sozialen folgen wirken in dialogform: zwischen den einzelnen "trägern einer behinderung" und ihren familien, der schule, der arbeitswelt, den massenmedien usw.

Die italienische gesellschaft hat der schule die aufgabe gestellt, bei all ihren bildungsmaßnahmen die gesamtpersönlichkeit des schülers zu berücksichtigen und behinderungen dabei im rahmen der individuellen unterschiede zu betrachten, wie sie zwischen allen menschen bestehen.

Die besondere unterstützung, die von der gesellschaft für die bewältigung dieser aufgabe den schülern zugewiesen wird, ist abhängig von den "certificati" - den gutachten (vgl. abschnitt 1.8. und anhang 6).

1.1 Gesellschaftliche rahmenbedingungen für die entwicklunq zur nicht-aussonderung [1]

Gertraud Soldan

Das gesetz 517, das in Italien die nicht-aussonderung von kindern mit behinderungen festschreibt, wurde 1976/77 verabschiedet. Zur gleichen zeit wurden auch andere wichtige veränderungen im schulbereich in gesetzesform festgelegt. Wie kam es dazu?

Das italienische Schulwesen ist mit dem deutschen schwer vergleichbar. Es ist geprägt durch die geschichte des landes.

Im jahre 1859, als Italien gerade zu einem einheitsstaat geworden war, wurde eine allgemeine zweijährige.schulpflicht erlassen.

Allmählich wurde in den folgenden fahrzehnten die zahl der pflichtschuljahre auf 5 aufgestockt. Allerdings wurde nie konsequent für ihre einhaltung gesorgt.

Im jahre 1923 erließ der bildungsminister Gentile eine reform des italienischen schulwesens (s. schema 1). Dadurch wurde die schulpflicht formal auf 8 jahre verlängert, aber auch wieder nicht praktisch durchgesetzt. Nach der fünfjährigen grundschulzeit war das bildungsangebot sehr aufgefächert. Es boten sich verschiedene berufsbildende schulen an oder aber die technikerschule oder das lehrerbildungsinstitut (in seiner unterstufe wurden kindergärtnerinnen ausgebildet). Nach dem 5. grundschuljahr wechselten die kinder, die später studieren sollten, auf die unterstufe des gymnasiums. Auf diese dreijährige, vielfältig gegliederte mittelstufe bauten die oberstufen der technikerschule, des lehrerbildungsinstituts und des gymnasiums jeweils auf.

Dieses Gentilianische schulsystem überdauerte den faschismus. Nach dem krieg wurde nach langer diskussion zwischen den politischen parteien schließlich im fahre 1962 ein gesetz erlassen, das eine allgemeine und gleiche schulpflicht von 8 jahren festschrieb. Die grundschule (scuola elementare) blieb weiterhin als separater fünf-jahres-kurs bestehen.

Das italienische Schulwesen nach der Gentile-Reform

Darauf baute die organisatorisch und' institutionell von ihr getrennte, aber für alle kinder gemeinsame dreijährige mittelschule (scuola media inferiore) auf. Die daran anschließenden oberschulen (scuole medie superiori) wurden bis auf kleine korrekturen bis heute nicht reformiert. Wenn wir uns das modell von 1923 vergegenwärtigen, so wurden 1962 die verschiedenartigen, z.t. berufsorientierten mittelschulzweige (jahrgänge 6 - 8) abgeschafft zugunsten der gymnasialunterstufe (s. Schema 2). Letztere wurde "durchgesehen, überarbeitet und zur pflicht erklärt", wie sich ein kritiker der verhältnisse ausdrückte [2].

Eine organisatorische zusammenlegung beider schulstufen, der grund- und der mittelstufe, war von dem PCI (Partito Comunista Italiano) gefordert worden, ließ sich aber nicht durchsetzen. Das gesetz von 1962 stellte einen typisch italienischen kompromiß dar: Man hatte eine einheitsschule (gesamtschule) gegründet und beließ doch einen großteil der althergebrachten strukturen.

In diesem zusammenhang ist für das verständnis der italienischen politik - überhaupt für "italienische verhältnisse" - der begriff des "gattopardismo" sehr aufschlußreich. Er bezieht sich auf einen Ausspruch des romanhelden Principe di Salina.aus dem roman "I1 Gattopardo" (Der Leopard) von Tomaso di Lampedusa (verfilmt von Visconti). Der principe, ein alter feudalherr in Sizilien, sagte in bezug auf gesellschaftliche veränderungen im zusammenhang mit der nationalstaatsgründung einmal sinngemäß: "Es muß sich alles von grund auf verändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist." Das bedeutet, daß gewisse äußere strukturelle wandlungen akzeptiert und unterstützt werden, um die zugrundeliegenden - im fall des romans: feudalen - verhältnisse nicht anzutasten.

Diese haltung ist bis heute in der italienischen politik zu beobachten. So darf man auch nicht hinter jedem der häufigen regierungswechsel eine grundlegende politische wende vermuten.

Trotz aller äußeren schwankungen bleibt eine gewisse grundlinie bestehen, die sich bei genauerer betrachtung herauskristallisiert. Hieraus erklärt sich auch das phänomen, daß in Italien in den verschiedenen gesellschaftlichen bereichen sehr traditionelle und sehr fortschrittliche formen friedlich nebeneinander leben können.

Das italienische Schulwesen heute

Eine gesetzliche veränderung - um auf die Schulreform zurückzukommen -ist also oft als doppeldeutiger politischer akt zu verstehen. Dementsprechend finden die auseinandersetzungen um politische veränderungen auch auf sehr verschiedenen ebenen statt:

- auf der ebene der offiziellen politik mit ihren institutionen wie parlament, gremien etc.,

- auf der ebene der gesellschaftlichen einflußnahme in parteien, verbänden, gruppen, institutionen (nicht zu unterschätzen sind die vielen institutionen unter kirchlichem einfluß),

- auf der 'ebene der praxis durch auseinandersetzungen in schulen, universitäten, fabriken

- und auf der Straße.

Im falle des reformgesetzes von 1962 bedeutete das, daß nun in die traditionellen strukturen der gymnasialunterstufe alle schüler strömten, die vormals berufsbildende schulen, technische schulen oder lehrerbildungsinstitute besucht hätten oder die sofort ins arbeitsleben gegangen wären.

Die lehrerInnen der traditionellen "scuola media" hatten sich nie mit den bevölkerungsschichten auseinandergesetzt, aus denen die neuen schüler kamen. Der staat bot keinerlei vorschriften, richtlinien, fortbildungen oder hilfestellungen an. Sicher erhofften sich gewisse politische kräfte, daß sich das beharrungsvermögen der alten strukturen und einstellungen im sinne des "gattopardismo" behaupten würden. Der konflikt mußte auf dem rücken der betroffenen praktisch ausgetragen werden. Es kam zum machtkampf zwischen den lehrern, die die alte eliteschule vertraten, auf der einen seite und den schülern aus den unteren und mittleren schichten sowie ihren unterstützern auf der anderen seite. Sie klagten das gesetzlich verbriefte recht auf bildung für alle ein.

Auch in anderen gesellschaftlichen bereichen gab es in den 60er jahren im nachkriegs-Italien viel politischen zündstoff. 1968 brach, wie auch in anderen ländern der weit - man denke nur an den Pariser Mai, den Prager Frühling, die Chinesische Kulturrevolution, die studentenbewegung in den USA und in der Bundesrepubik -, der konflikt offen aus. In Italien war das "sessantotto" (achtundsechzig) nicht nur auf die schulen und universitäten beschränkt. In den großen industriellen zentren (z.b. Turin) fanden heftige arbeitskämpfe statt.

Auch in Italien gab es ein "wirtschaftswunder". Die billigen arbeitskräfte kamen hier aus dem eigenen land: aus dem süden und von den inseln Sizilien und Sardinien. Die wirtschaft brauchte arbeitskräfte, die sich in einer großstadt orientieren und in den fabriken anpassen konnten. So wurden seitens der unternehmer gewisse anforderungen an das bildungswesen gestellt. Es kam zu auseinandersetzungen mit den konservativen vertretern der italienischen bildungspolitik, die immer von der Democrazia Christiana dominiert wurde.

Die Studentenbewegung entzündete sich an der universitätsreform. Zwischen teilen der unternehmer und den konservativen universitätsprofessoren war ein kompromiß ausgehandelt worden.

Zielscheibe der studentischen wut waren die vertreter der universitätshierarchie, die autoritären strukturen, alle "irrationalen, geschichtlich sinnlosen und nicht weiter legitimierten autoritäten"[3], zunächst an der universität, bald bezogen auf die ganze gesellschaft, auf das "system".

In Italien waren es aber nicht nur die söhne reicher bürger, die revoltierten. Denn in diesem land gab es wirklich noch großes elend, große armut. Viele mußten, um zu überleben, in den norden oder gar ins ausland. Diese bevölkerungsschichten begannen sich in den 60er jahren zu wehren, ihre rechte in einer demokratie zu fordern. Und sie fanden verbündete an universitäten und schulen. Auch viele professoren und lehrer setzten sich für sie ein.

Gewisse anliegen der protestbewegung deckten sich mit den bedürfnissen der industrie und entsprachen der notwendigkeit, das gesellschaftliche System im interesse der wirtschaftlichen entwicklung zu verändern und anzupassen. Die anführer der bewegung sahen die gefahr, für die zwecke des kapitalistischen staats ausgenutzt zu werden.

Deshalb bekämpften sie jede art von reformen - sie wollten die revolution. Ihr kampf richtete sich gegen die autorität, gegen die bürgerliche gesellschaft, gegen das "system", gegen den kapitalismus. Ihre waffen waren ablehnung und analyse, bloßstellung, und vor allem, all dies umfassend: aufklärung.

Die bewegung erhielt ihren schwung durch radikalität, kompromißlosigkeit und auch naivität. Ein deutscher "achtundsechziger" schreibt dazu:

... unsere 'Naivität' war unsere Stärke: wir waren von der größenwahnsinnigen Gewißheit getragen, daß die herrschende Ordnung umstürzbar ist, daß wir es tun und daß wir den Himmel erstürmen werden ...

der Angriff war nur möglich, weil er simplifizierend war."[4]

In Italien war der starke glaube an die möglichkeit radikaler veränderungen viel breiter in der bevölkerung verankert als in der Bundesrepublik, der leidensdruck war allgemeiner.

Auch sind die veränderungen in der gesellschaft, die - vor allem auf dem weg von reformen - in Italien wirklich auf die Studentenbewegung folgten, viel deutlicher als bei uns.

Auf die zeit der verherrlichung des rationalen, auf die unerbittliche aufklärungswut, folgten gegenreaktionen wie die frauenbewegung und die Stadtindianer, die nun das persönliche und subjektive in den vordergrund stellten. Ihre ausdrucksformen waren phantasievoll, bunt. ironisch und kreativ.

In den 80er jahren trat auch in Italien eine "rückzugsbewegung" ein, vergleichbar zur "wende" in der Bundesrepublik, man nennt sie "riflusso" (rückfließen). Dadurch wird der initiativgeist verlangsamt, nicht jedoch ganz lahmgelegt: "Es geht nicht zurück, nur langsamer voran."[5]

Die radikale aufklärung des italienischen "sessantotto" führte nicht immer zur verdammung aller und jeder kulturtradition. Sie war nicht nur analysierend und zerstörend, sondern gleichzeitig konstruktiv. Die kritik verblieb nicht im abstrakten, sondern griff verändernd in konkrete zusammenhänge ein. Das sehen wir besonders gut an den sehr folgenreichen anstößen für die 68er-Bewegung, die aus dem bereich der italienischen schule kamen:

1967 erschien das buch "Lettera a una professoressa"[6], geschrieben von schülern von Don Milanis schule im bergdorf Barbiana.

Guido Viale, ein "sessantottino", schreibt darüber:

"Es stellt die Schule, die ganze offizielle Kultur und die traditionelle Didaktik radikal in Frage: aus der Perspektive derer, die tagtäglich darunter zu leiden haben. Das wirklich Neue aber an diesem Buch ist seine Sprache. Das Motto heißt: Sprich, wie Du ißt! - ein Sprichwort der Proletarier, die wenig sprechen und schlecht essen. Das Buch ist zwar bigott und von einer schlimmen Pfaffenmentalität geprägt, doch es gelingt ihm, radikale Inhalte in einfacher Sprache auszudrücken." [7]

Don Milani war priester in einem neubauviertel von Florenz gewesen. Die kirche hatte ihn wegen seiner revolutionären aktivitäten in das einsame bergdorf Barbiana versetzt. Die schule, die er dort aufbaute, sammelte jugendliche, die durch die maschen des pflichtschulnetzes gefallen waren, da die traditionellen lehrerInnen an den mittelschulen erbarmungslos durchfallen ließen.

Das buch hat in der "bewegung" eine sehr wichtige rolle gespielt. Es diente als grundlage für diskussionen von studenten und lehrern. Viele seiner anregungen für praktische pädagogische arbeit wurden in die tat umgesetzt. So nahmen auch wissenschaftliche methoden in die schule eingang, wie der umgang mit daten und statistiken, mit sozialkundlichen inhalten - und das bewußte einsetzen der sprache. In den schulen wurde das handwerkszeug für politische arbeit vermittelt.

Im jahre 1970 erschien das buch "I1 paese sbagliato" (deutsch etwa: Das fehlerhafte dorf) von Mario Lodi[8], einem grundschullehrer aus der nähe von Piadena in der Lombardei. Es waren die gesammelten tagebücher über den unterricht einer grundschulklasse, die Mario Lodi vom ersten bis zum fünften schuljahr geführt hatte.

Das buch war einer der klassiker für fortschrittliche lehrer. Mario Lodi war mitglied der italienischen Freinet-Bewegung (MCE), die in den 70er jahren einen großen aufschwung nahm und der viele fortschrittliche pädagogen beitraten.

Lodis buch ist keine theoretische abhandlung über pädagogik oder didaktik und auch keine reine kritische analyse. Es schildert die arbeit eines sehr phantasievollen, gebildeten und vielseitigen lehrers, der in einer kleinen dorfschule versucht, fortschrittlichen unterricht zu halten. Seine klasse hatte nie mehr als 20 kinder.

Hinter dem titel "Das fehlerhafte dorf" steht folgende geschichte: Die schüler erstellten im laufe der zeit in ihrem klassenzimmer ein modellbild ihres dorfes, das spontan entstand und stets ergänzt wurde. Je nachdem, womit sie sich gerade beschäftigten, in der schule oder nachmittags, zeichneten sie bestimmte wege ein oder klebten die darstellungen wichtiger gebäude wie schule, rathaus, elternhäuser etc. auf.

Eines tages während des 3. schuljahres stellten sie fest, daß bestimmte dinge, der gemeindegarten, eine bar, nicht mehr in den plan paßten - daß dort, wo sie hingehörten, kein platz mehr war. "Also ist das dorf verkehrt!" stellten die kinder fest. Sie merkten plötzlich, daß die maßstäbe nicht stimmten, daß die fassaden der häuser falsch ausgerichtet waren und einiges andere mehr. Ihnen wurde das Problem der maßstabtreue, der relationen und objektiven größenverhältnisse auf einmal klar.

Das buch von Mario Lodi vermittelt die aufbruchstimmung der zweiten hälfte der 60er jahre. Die aufklärung befindet sich auch in seinem klassenzimmer, aber sie wird erlebt. Sie schlägt die gegenstände nicht tot, sondern geht mit ihnen um. Die schüler führen z.b. jeden tag buch über das wetter und können so schließlich schemata und schaubilder erstellen und präzise aussagen über die allgemeine wetterlage machen, sie arbeiten wie die abstrahierenden wissenschaftler und haben das, wovon sie reden, doch gleichzeitig auch emotional erlebt. In dem mathematik- und sachkundeunterricht Lodis werden sehr viele methoden der modernen wissenschaft, der soziologischen arbeitsweise eingeführt.

Gleichzeitig wird sehr viel musisch und kreativ gearbeitet. Die bereiche werden nie getrennt. Die schüler erfinden gedichte, bilder, lieder zu vielen themen, z.B. zu regen und sonne, zu denen sie auch tabellen und statistiken angefertigt haben.

Die aufklärung in Lodis unterricht hatte eine rückbindungan konkrete und historische verhältnisse. Sie negierte nicht. Sie geschah im zusammenhang mit persönlichen erfahrungen und machte so den widerspruch zwischen subjektiv erlebtem und objektiv gemessenem immer wieder erfahrbar. Lodis methode lebt vom konkreten zusammenhang und kann deshalb nicht zum modell gemacht werden, ebensowenig wie die schülerschule des Don Milani.

Uber die notwendigkeit der pädagogik, immer konkret, lebendig und flexibel zu bleiben, schreibt Peter Bichsel im vorwort zur "Schüler-schule":

"Denn in-sich-progressive Ideen auf dem Gebiet der Pädagogik müßten zuletzt doch daran scheitern, daß sie sich nur so lange entwickeln können, als sie eine Möglichkeit haben, sich vom Üblichen zu unterscheiden, der Unterschied bleibt ihr Maßstab." [9]

Dieser geist des unterschieds, die auseinandersetzung mit unterrichtsstoff und praktischer schulsituation, theoretisch fundiert, aber nicht abgehoben und abstrakt - dieser geist hat bewegung in das eingerostete italienische schulwesen gebracht. Die lehrer trafen sich. Sie diskutierten über Lodi oder Don Milani genauso wie über marxistische litera- und sie bewirkten veränderungen in ihren arbeitsbereichen.

Ihre materiellen bedingungen waren oft schwierig. Entweder waren sie ins exil, irgendwo aufs dorf verbannt, oder sie hatten in neubaugebieten mit den problemen der einwandererkinder aus dem süden zu kämpfen. Aber sie nahmen diese schwierigkeiten als herausforderung.

Die ersten ganztagsklassen, die ersten regelklassen mit behinderten kindern, die ersten zeugnisse ohne ziffernzensuren - all dies wurde wirklichkeit, bevor es gesetz war. Diese veränderungen konnten nur mit unterstützung von eltern, studenten, professoren, gewerkschaften usw. nach langen kämpfen durchgesetzt werden.

Unter dem starken politischen druck der aufbruchstimmung all dieser an schule beteiligten wurden schließlich gesetze verabschiedet:

1973 das gesetz 477, genannt "decreti delegati", das die mitbestimmung

von eltern, lehrern, nichtlehrendem personal und schülern an den schulen in sehr demokratischem sinne regelt,

1976 das gesetz 517, das die eingliederung von behinderten in die regelklassen der pflichtschule bestimmt,

1977 werden die ziffernzensuren abgeschafft und fördermaßnahmen festgelegt,

1977 das gesetz 348, das die inhaltliche struktur des unterrichts an der "scuola media" in richtung auf eine demokratischere und modernere Orientierung hin verändert. Hierzu gehören die erst 1979 veröffentlichten neuen lehrpläne für die "scuola media".

Diese gesetze hatten sehr große veränderungen des schulwesens zur folge. Denn bei allem "gattopardismo" mußten sie doch wenigstens formal in die tat umgesetzt werden. Die eltern konnten sie wenigstens einklagen. Überall, wo lehrer, rektoren und eitern es wollen und sich dafür

einsetzen, haben sie die möglichkeit, auf dem boden dieser gesetze sehr frei und konstruktiv zu arbeiten.

Aus der tradition des italienischen schulwesens ergeben sich manche bedingungen, die die arbeit des lehrers sehr erleichtern können (s. ausführlicher hierzu abschnitt 2.0.).

  • Die klassen sind relativ klein: an der grundschule lag die frequenz bereits 1978 bei durchschnittlich 17, an der "scuola media" bei 22 kindern pro klasse [10], die klassenfrequenzen sinken wegen geringerer geburtenzahl weiter.

  • Der vertretungsunterricht ist dank der ministeriellen bestimmungen und einer großen zahl arbeitsloser lehrer besser geregelt als in Deutschland, so daß es kaum zu mehrarbeit für die lehrer und zu klassenzusammenlegungen oder unterrichtsausfall für die schüler kommt.

  • Außer den lehrern gibt es in den schulen noch anderes personal, die "bidelli", die putzen, aufräumen, botengänge machen oder auch für lehrer kaffee kochen oder kinder mit pflastern versorgen, sie trösten, ihnen helfen.

  • Die lehrpläne sind relativ frei gehalten, und die anzahl der klassenarbeiten ist nicht so rigide vorgeschrieben wie in der Bundesrepublik Deutschland.

  • Die schulbücher oder unterrichtsmaterialien können in absprache mit eltern und kollegen frei gewählt werden.

So wie es an den italienischen schulen viel didaktische rückständigkeit und viele materiellen probleme mit räumlichkeiten und unterrichtsmaterial geben kann, so sind doch gleichzeitig viele lücken und freiräume zu finden, weil vieles in bewegung ist.

Eine offizielle reform der grundschule findet erst ganz allmählich statt, das entsprechende gesetz wurde 1985 verabschiedet (auszüge in deutscher übersetzung im anhang). Grundschullehrerinnen brauchten bisher kein hochschulstudium zu haben, erst das neue gesetz schreibt dies vor. Viele grundschullehrerinnen verfügen aber bereits heute über eine weit höhere qualifikation, als von ihnen verlangt wurde. Das erklärt sich durch die arbeitsmarktsituation.

Die lehrerbildung in Italien ist nicht einheitlich organisiert, sondern verteilt sich auf viele Institutionen und verbände regionaler, lokaler und universitärer art. Daher obliegt die pädagogische ausbildung auch sehr der eigeninitiative. Wenn man sich engagiert und informiert, kann man ausgezeichnete angebote finden.

In Italien können die lehrer recht gut "nach ihrer facon selig werden": Sie können sich engagieren und finden gute angebote und - wenn auch manchmal erst nach heftigen kämpfen - brauchbare bedingungen. Sie können aber auch "dienst nach vorschrift" machen und alles laufen lassen.

Sie müssen sich immer flexibel mit vorhandenen bedingungen - die oft vom materiellen her gesehen nicht ideal sind - arrangieren. Dabei kann man resignieren - oder aber man kann die darin liegenden chancen wahrnehmen und ausnützen.

1.2 Die historische entwicklung zur nicht-aussondernden schule in Italien

(deutschsprachige Überarbeitung von Marion Peters)

Leonardo Trisciuzzi

Das italienische modell der Integration behinderter schüler hat in anderen ländern großes Interesse erregt, besonders in den ländern, die noch nicht von technologischen und didaktischen lösungen abgekommen sind. Dies stellte ich nach meinem referat anläßlich der achten versammlung des ATEE (Association for Teacher Education in Europe) im Jahre 1983 in Birmingham und bei einem studientreffen zum gleichen thema an der universität Zagreb fest. In Jugoslawien bestand Jedoch noch eine gewisse befangenheit einzugestehen, daß man in diesem land fortgeschrittener sozialisierung, die organisatorische und technologische konzeption noch nicht überwunden hat. Zunächst möchte ich (daher) einen überblick über die entwicklung geben, die in Italien zu einer kulturellen und sozialen wende geführt hat. Da jedoch auch hier noch längst nicht alle probleme gelöst sind, möchte ich an dieser stelle auf die noch offen stehenden probleme , aber auch auf die pro,lekte und möglichkeiten im bereich der vor-, grund- und mittelschule eingehen

Körperlich- und geistig behinderte, nichtanpassungsfähige, minderbegabte und andersartige stoßen bei ihren mitmenschen auf angst, abscheu oder ablehnung, manchmal auch auf liebe und mitleid, aber niemals auf gleichgültigkeit. Erst zu zeiten der entwicklung der modernen medizin und kinderheilkunde, als kenntnisse der physiologischen und psychologischen probleme behinderter errungen wurden, erfolgte eine wissenschaftliche annäherung - und kenntnis führt meist zu verständnis und abhilfe.

Zum ende des vorigen Jahrhunderts wurde die erste anstalt für behinderte kinder unter der leitung von Sante de Sanctis eröffnet. Im Jahre 1900 begann Guiseppe Montesano mit einer lehrerbildungsanatalt, in der lehrer für die ausbildung von taubstummen und geistig behinderten vorbereitet werden sollten. Die leitung dieser schule wurde eine gewisse zeit Maria Montessori anvertraut. 1908 wurden in Italien die ersten sonderklassen eingeführt, die all Jene schüler aufnahmen, die aufgrund schwerer physischer oder psyschischer störungen nicht in der lege waren, die normalklassen zu besuchen.

Diese initiative breitete sich nur vereinzelt in einigen städten aus. Von staatlicher seite zeigte sich zu dieser zeit desinteresse an ausbildungsmöglichkeiten von benachteiligtan und andersartigen. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die gesellschaft in Italien trotz ihrer radikalen veränderung von der landwirtschaft) zur industriegesellschaft die notwendigkeit qualifizierterer arbeitskräfte als die messen der arbeiter und landarbeiter noch nicht ins augegefaßt hatte. Daher wurden an den schulen nur die grundkenntnisse in lesen, schreiben und rechnen sowie die nützliche vaterlandsliebe gelehrt. Der andersartige, der "verrückte" war von der schule praktisch ausgeschlossen. Ein 1923 erlassenes gesetz sah die erziehung für einige kategorien von behinderten vor und befaßte sich auch mit dem problem des bestehens verschiedener arten von behinderungen. Einige davon wurden durchaus in gewisser weise für heilbar erklärt. Unter diesen voraussetzungen nahm der Staat fünf Jahre später die entsprechenden kosten und die kontrolle auf sich.

Von diesem zeitpunkt an bis in die siebziger Jahre änderte sich die einstellung der gesellschaft den behinderten gegenüber in keiner weise. Fast ein halbes Jahrhundert lang gab man sich damit zufrieden, die sogenannten normalen zu schützen und die sogenannten abnormalen facto von der schule auszuschließen; sie wurden vielmehr in anstalte mit wohlfartscherakter verbannt. Im kielwasser der positivistischen wissenschaft wurden nach und nach sonderschulen für blinde und taubstumme geschaffen. Diese maßnahmen wurden aus einem wissenschaftsgedanken herausgeboren, der sich mit der bloßen klassifizierung der problemkreise beschäftigte, ohne weitere gedenke an das umfeld und die hintergründe zu verschwanden. Daher wurden tupologien und kategorien geschaffen, in die Jedes kind leicht eingeordnet werden konnte. So erhielt es ein nicht ablegbares "etikett", das einen zweideutigen sozialen charakter besaß. Einer wissenschaftlichen methode entsprechend gliederten sich die Cyaball in sieben vom intelligenzquotienten abhängige kategorien (außergewöhnlich, super, normal, unterbegabt, borderline, minus, idiot). Noch 1962 wurden die schulamtsleiter mit einem rundschreiben, CNr.103) aufgefordert, die anzahl der bestehenden sonderklassen sowie klassen der sonderschulen für behinderte gemäß der lokalen bedürfnisse bekanntzugeben. Folgende kategorien waren vorgesehen: 1. zurückgebliebene und "falsche" geistig behinderte, 2. geistig behinderte, 3. körperlich behinderte, 4. sehbehinderte, 5. hörgeschädigte. Eine zuordnung, die sich derjenige anmaßt, der "falsche geistig behinderte" klassifiziert, kinder also, die nicht behindert sind, aber (wem?) als solche erscheinen und aus den normalklassen der schulen verbannt, ist zweifelhaft. Diese einstell zeigt, daß der sogenannte wissenschaftliche weg jede lösung der technologie und der didaktik anvertraut. Dies wird in dem moment bedenklich, wo wissenschaft und technik ideologisch eine reaktionär* haltung einnehmen. Man ging davon aus, daß man den behinderten mehr geben müßte, als "normalen " kindern, etwas spezialistisches, das d Familie nicht bieten kann. In der realität wurden sie dadurch allerdings ausgeschlossen. über viele Jahre hinweg schien keine und lösung, kein anderer weg als dieser möglich. In den Jahren des wirtschaftswunders wurden die schulen aufgrund der verschiebung der arbeitskräfte aus Süditalien in das "industriedreieck" von zahlreic "fremden in der heimat" überflutet, die sich in ausdrucksweise und kultur von ihren mitmenschen unterschieden. Diese kinder hatten erhebliche schwierigkeiten, dem geschahen in der schule zu folgen. die lehrer stellte sich mit diesen kindern ein nicht zu bewältigend problem. Man entschied sich, genau diese schüler in sonderklassen abzuschieben. So kam es zu dieser zeit zu einer überfüllung der norditalienischen sonderklassen mit kultur- und sozialbehinderten.

In den sechziger Jahren wurde die einheitliche mittelschule eingeführt, wes zur folge hatte, daß alle kinder bis zum 14.lebensjahe schulpflichtig waren. Dies hatte zur folge, daß nicht mehr 10-11 jährige kinder aus sozial-schlechtgestellten Familien arbeiten mußt .Gleichzeitig wurden aber, wie vorher in der grundschule, jetzt auch der mittelschule sonderklassen eingerichtet. In artikel 12 des gesetzes Nr.1859 von 1962 heißt es klar und deutlich: "für nicht anpassungsfähige schüler können sonderklassen eingerichtet werden". Welche schüler nun in diese sonderklassen kommen sollten, wurde von einer gruppe von ärzten, psychologen und pädagogen entschieden. Innerhalb eines Jahrzehnts verdreifachte sich die zahl der sonderklassen in den grundschulen, in der mittelschule vervierfacht sich die zahl der sonderklassen sogar. Im schulJahr 1970/71 existierten 6199 sonderklassen im grundschulbereich und 678 im bereich der mittelschule.

Die schule war wieder einmal nicht in der lege, eine positive antwort auf reale ideologische, wirtschaftliche und soziale veränderungen zu geben. Die sogenannte eliteklasse konnte nicht länger verteitigt werden, also verteitigte man sich schließlich selber. In den 70ger Jahren erreichte die protestbewegung auch die schulen. Alle bildungspolitischen traditionen wurden in frage gestellt; nichts galt mehr als unveränderlich. Skeptisch betrachtet wurde auch die schule als übermittlerin von werten, richtlinien und kultur. Das festhalten an traditionellen strukturen innerhalb der schulen wurde verurteilt, da sie nur dem einen ziel dienten, das politische system zu akzeptieren.

Eine krise bahnte sich an, als 1974 eine "wilde" Integration vom größten teil der sogenannten sozialbehinderten kindern in sonderklassen erfolgte. Die schulbehörde ließ eine kommission bilden, die eine methodische und politische lösung der vorliegenden probleme finden sollte. Das abschlußdokument dieser kommission enthielt die ideen, die als »die neue art, schule zu sein - voraussetzung zu einer kompletten schulintegration" bezeichnet wurden. Die grundaussage dieses dokuments lautet folgendermaßen: "das überwinden jeder form von ausschließung der behinderten beginnt mit einer neuen art, die schule zu konzipieren und zu realisieren, sodaß wirklich jedes kind und jeder halbwüchsige aufgenommen werden kann, um seine persönliche entwicklung zu fördern". Die schule wurde ihrer traditionellen und inzwischen anachronistischen rolle als "selektionsfilter" enthoben. Stattdesssen wurde ihr die schwierige aber auch wesensnahere aufgabe zuteil, "sozialbildungsagentur" zu sein.

In diesen zeitraum fällt auch die wende von der organismusgedanklichen zur sozialen perspektive. Es sei auch gesagt, daß trotz der hindernisse, die jede neuerung mit sich bringt, die bereitwilligkeit der schule positiv und oft sehr großzügig war.

Gesetze und gesetzliche verfügungen waren die ursache dafür, daß behinderte kinder aus der schule ausgeschlossen wurden; und plötzlich sorgten ministerialrundschreiben -gesetze also- dafür, daß behinderte endlich wieder zugang zu den regelschulen hatten. Der eingriff zugunsten der behinderten, der endgültig die "eingliederung derselben in einer schule, die allen schülern offen steht" regelt, wird mit dem rundschreiben Nr.227 vom B. B. 1975 festgelegt. Dieses rundschreiban sah vor, daß behinderte in die allgemeinschule eingegliedert werden sollen. Dies geschieht "durch die umgestaltung und die erneuerung der allgameinschule, die nach und nach in die lege versetzt werden müsse, auch jene schüler aufzunehmen, die im schulpflichtalter besondere lern-und anpasungsschwierigkeiten aufweisen". Es folgten weitere rundschreiben innerhalb des schulwesens, die das problem systematischer und eingehender behandelten.

1977 wurde ein weiteres gesetz erlassen, welches den ersten legislativen taxt darstellt, der das problem zur eingliederung von behinderten umfassend behandelt. Von vielen seiten wurde jedoch behauptet, daß dieses gesetz lediglich ein kompromißgesetz sei, in dem vieles offen gelassen wurde. In der tat enthält das gesetz einige unschlüssigkeiten, besonders was die position der sogenannten "unterstützungslehrer" betrifft. Das aufgabenfeld des "unterstützungslehrers" ist folgendermaßen geregelt: der "unterstützungslehrer soll voll und ganz in die lehrprogramme miteinbezogen werden und gleichberechtigten den ausarbeitungen und kontrollfunktionen der schulräte und kollegen mitarbeiten". Jedoch blieb sein wirkungsfeld aufgrund unserer herkömmlichen didaktischen organisation quantitativ (beschränkte stundenzahl und anzahl der schüler) sowie qualitativ (sonder-oder nachhilfedidaktik) beschränkt.

Nach einer anfänglichen begeisterung erkannte man, daß es sich auch hier um eine "wilde" eingliederung legislativer natur handelte, die nicht ohne gewalt vorgenommen wurde und vor allem mit unzureichenden wissenschaftlichen grundlagen. Die eingliederung erfolgte also mehr aufgrund des guten willens und der traditionellen Fügsamkeit der lehrer als aufgrund ihrer professionalität.

Wir sind daher überzeugt, daß die kenntnis des Problems des behinderten und seines physologischen schadens unbedingt notwendig ist, um die möglichkeit einer wiedereingliederung einschätzen zu können. Als behindert gilt ein kind mit hörfehler und auch ein gelähmter. Die wiedereingliederungsmöglichkeiten sind jedoch abhängig von den individuellen eigenschaften des kindes sowie der kenntnis seines physischen und psychologischen schadens.

Ohne die protestbewegung der bevölkerung hätte das italienische schulsystem wahrscheinlich bis heute an dem diskriminierenden, aber bequemen klassifizierenden system festgehalten. Die Frage, warum der pflichtschule eine demokratische öffnung seitens der zentralorgane gestattet wurde ist letztendlich von geringer bedeutung. Wichtig ist vielmehr, daß durch das veränderte schulsystem eine aktive anpassung an die bedürfnisse einer sich stets wandelbaren gesellschaft ermöglicht wird.

1.3. Kooperation von lehrerInnen als notwendiqe voraussetzung nicht-aussondernder erziehung

Jutta Shöler

Die einzelne lehrerin/der einzelne lehrer in Italien ist gegenüber dem schulleiter/der schulleiterin und den schulaufsichtsbeamten viel autonomer als die kollegen/innen in Deutschland. Nicht alle lehrerInnen in Italien akzeptieren deshalb automatisch kollegiale arbeitsformen und gegenseitige unterstützung und kontrolle: aber:

Wer in italienischen schulen kooperativ arbeiten will, braucht nicht - wie die deutschen kollegInnen - als erstes die prüfungserfahrungen "vorführstunden" - abzubauen. Diese unterrichtsbesuche werden in Deutschland nur äußerst selten als solidarische kritik und unterstützung erlebt, sondern zumeist als entmündigende anpassung an die erwartungen der jeweils vorgesetzten und als kontrolle von einzelleistungen. Die fähigkeit zur gleichberechtigten kooperation mit den anderen kollegInnen wird nicht gefördert.

Die italienischen lehrerInnen haben keine erfahrungen mit kontrollierenden unterrichtsbesuchen. - Eine lehrerin erzählte mir, daß sie in den zwölf fahren, die sie unterrichtet, lediglich einmal zu beginn ihrer anstellung daraufhin kontrolliert wurde, wie sie die hefte der schüler führen läßt.

Daß italienische lehrerInnen im allgemeinen keine scheu haben, auch vor den deutschen besucherInnen ihre schwächen zuzugeben, hat mit Sicherheit eine ursache in der großen autonomie der einzelnen person.

In dem augenblick, in dem ein kind mit behinderung in die klasse kommt, müssen klassenlehrerIn und stützlehrerIn miteinander kooperieren - eventuell auch mit einer therapeutin oder einem psychologen des ambulatoriums.

Auch in Italien gibt es lehrerInnen, die in dieser veränderung das größte problem sehen:

Mit einem anderen erwachsenen im klassenraum gemeinsam verantwortlich zu handeln.

Eine lehrerin, bei der ich meine tochter zum Schulbesuch für die 1. klasse anmelden wollte, lehnte ab: "Im nächsten schuljahr bekomme ich 16 kinder in die klasse - das ist sowieso zuviel! - Unter den 16 kindern ist auch eines mit einer behinderung. - Das kind ist für mich nicht das problem - aber die stützlehrerin! Und dazu noch ein weiteres kind, das nur sehr wenig italienisch kann? - Nein! Fragen Sie mal im nächsten dorf, vielleicht ist die unterrichtssituation im nächsten schuljahr dort einfacher!"

In der dortigen 1. klasse waren es auch 16 schülerinnen und schüler, unter ihnen ein schwer geistig behindertes kind. - Aber die beiden lehrerinnen, die in der halbtagsklasse kooperierten, kamen gut miteinander aus und gaben sich sehr große mühe. Meiner tochter gefiel es dort gut - trotz ihrer erheblichen sprachprobleme.

In den stundenbildern aus den schulen in Florenz, die im 2. kapitel beschrieben werden, und anhand der berichte über die langfristige entwicklung einiger behinderter kinder im 3. kapitel wird deutlich, daß die integration der behinderten kinder in all diesen fällen durchgängig auf dem zwei-pädagogensystem basierte.

Welche bedingungen im italienischen schulsystem erleichtern die kooperation der lehrerInnen im klassenzimmer?

Vom "guten willen", der "inneren einstellung", den bisherigen "lebenserfahrungen" ist es sicherlich zu einem großen teil abhängig, ob menschen miteinander auskommen - oder sich eher in die vereinzelung zurückziehen, als lehrerIn die klassentür hinter sich zumachen wollen, um mit den kindern "unter sich" zu sein.

Andererseits sollte nicht übersehen werden, unter welchen bedingungen kooperation stattfinden kann - oder auch erschwert wird.

Es mag sein, daß Italienerinnen von ihren gesamten lebenserfahrungen her es eher gewohnt sind, problemlösungen miteinander zu besprechen. Der tag beginnt mit einem kaffee in der bar an der ecke - und nicht am häuslichen frühstückstisch. -

Der unterricht wird in der öffentlichen bücherei oder im gespräch mit kolleginnen und kollegen in der schule vorbereitet oder auch beim gemeinsamen kochen und essen. Ein eigenes arbeitszimmer mit einem schreibtisch habe ich in den wohnungen von lehrerninnen, die ich besuchte, nie gesehen. -

Aber es gibt auch allgemeine bedingungen, die kooperation erleichtern:

Das nicht-lehrende personal: Die jetzigen lehrerInnen haben in ihrer eigenen schulzeit zwar noch kein zwei-pädagogen-prinzip erlebt, aber: Durch die "bidelli", d.h. das nicht-lehrende personal in den schulen, scheint der unterricht schon seit jahrzehnten - zumindest in den grundschulen, ein nicht von der außenwelt derart abgeschottetes system zu sein wie bei uns. Historisch genaueres über die "bidelli" habe ich nicht ermitteln können. Angeblich sind sie in den 20er jahren als arbeitsbeschaffungsmaßnahme eingeführt worden.

Ein bidello ist im allgemeinen für drei schulklassen zuständig, hält sich während der gesamten unterrichtszeit in der schule auf. (Genaueres zur tätigkeit der bidelli s. in abschnitt 2.0.).

Sonderpädagoglnnen haben keine besonderen privilegien

Sonderpädagoglnnen mit spezialausbildung unterrichten dieselbe stundenzahl wie ihre kollegInnen an der jeweiligen schule (grundschule: 24 Wochenstunden, mittelschule: 18 wochenstunden) und erhalten dasselbe Behalt!

Lediglich wenn lehrerInnen spezielle vorbereitungszeiten brauchen, erhalten sie eine ermäßigung der unterrichtsverpflichtung (z.b. ein blindensonderlehrer, der schulbücher und unterrichtsmaterialien in Blindenschrift übersetzt) (vgl. abschnitt 3.2.1.). Eine stützlehrerin, die z.b. zwei taube schülerinnen an einer anderen schule betreut, verwendet ihre gesamte unterrichtsverpflichtung im team mit den fachkollegInnen (vgl. abschnitt 2.2.3.). Die konkreten entscheidungen über die untertichtsverteilung treffen die lehrerInnen "vor ort", der schulleiter/die schulleiterin hat lediglich die aufgabe, darüber zu wachen, daß die stunden unterrichtet werden. Daß bei uns sonderpädagoglnnen weniger wochenstunden in kleineren klassen mit einem höheren gehalt unterrichten als die "normalen" pädagogen, stößt bei den italienischen lehrerInnen auf großes unverständnis.

Ich habe mich mit einer stützlehrerin darüber unterhalten. - Sie argumentierte:

"Eine lehrerin kann sich entscheiden, welches fach sie unterrichten will - für jeden fachunterricht gibt es dasselbe gehalt.

Oder bekommen bei euch in Deutschland die mathematiklehrerinnen mehr geld als die musiklehrerinnen?

Eine lehrerin kann sich entscheiden, ob sie lieber klassen- oder fachlehrerin sein will!

Oder bekommen fachlehrerInnen bei euch in Deutschland mehr geld als klassenlehrerInnen?

Eine lehrerin kann sich entscheiden, ob sie lieber für den unterricht der gesamten klasse verantwortlich sein will oder schwerpunktmäßig für ein bis vier behinderte kinder!

Warum bekommen sonderpädagogInnen mehr geld als die anderen lehrer?"

Warum?

Für einen umfassenden erklärungsversuch fehlte die zeit. Ich erzählte ihr stattdessen von der konkreten situation in unseren integrationsmodellschulen:

In den deutschen modellschulen zur Integration behinderter kinder ist es im allgemeinen nicht möglich, daß diejenigen, die "vor ort", d.h. in der klasse gleiche arbeit leisten, auch die gleiche bezahlung erhalten bei gleicher unterrichtsverpflichtung.

Eine pädagogische unterrichtshelferin erhält für ihre 40 wochenstunden ca. 500 DM im monat weniger als die klassenlehrerin. Die klassenlehrerin erhält für ihre 27 wochenstunden etwa 300 DM weniger als die Sonderpädagogin mit 21 stunden unterrichtsverpflichtung.

Nur durch das besondere engagement der jetzigen "vorkämpferInnen" sind diese schwierigkeiten zu überbrücken. In den unterschiedlichen privilegien der verschiedenen berufsgruppen sehe ich ein schwerwiegendes hindernis für eine allgemeine schule ohne aussonderung.

Die unterschiedliche bezahlung wird in der Bundesrepublik Deutschland z.t. mit der unterschiedlichen ausbildunq begründet. - Dies wird von den betroffenen zumeist akzeptiert.

Für die tägliche gemeinsame arbeit erweist sich jedoch die unterschiedliche anwesenheitspflicht in der schule als eine entscheidende Schwierigkeit.

Gemeinsame weiterbildung

Italienische lehrerInnen sind verpflichtet, sich an Weiterbildungsmaßnahmen zu beteiligen. Das inhaltliche spektrum ist breit - ebenso die angebote. Die verschiedenen lehrervereinigungen, die gewerkschaften, gemeinden und regionen bieten kurse an.

Wenn einzelne lehrerInnen weiterbildungskurse belegen, dann tragen sie selbst die damit verbundenen kosten. Wenn sich dagegen mehrere kollegInnen einer schule oder gar das ganze kollegium zusammentun, dann ist die schulverwaltung verpflichtet, einen betrag für honorare zur verfügung zu stellen. Eine lehrerin berichtete mir, daß sie auf diese art gemeinsam mit vier kolleginnen ihrer schule gitarre spielen lernt; an einer anderen schule nahmen mich einige kollegInnen zu einer weiterbildungsveranstaltung mit, die der universitätsprofessor Canevaro aus Bologna zum thema integration durchführte. Die grundschule in Bagno a Ripoli finanzierte auf diese art eine wissenschaftliche begleitung für den von den kollegInnen angeregten versuch, den übergang zwischen kindergarten und schulanfang zu erleichtern. Die beteiligten lehrerinnen des kindergartens (scuola materna) und der grundschule (scuola elementare) treffen sich regelmäßig mit Prof. Tassinari und einem seiner assistenten, um die erfahrungen auszutauschen, zu analysieren und die nächsten schritte zu planen. Eine derartige, für alle lehrerInnen verpflichtende weiterbildung ist eine möglichkeit, die kooperationsfähigkeit und -bereitschaft von lehrerInnen zu erweitern.

Gemeinsame planungsphase am beginn eines schuljahres

In den grundschulen, die ich kenne, wurde die verpflichtung für lehrerInnen eingehalten, daß das schuljahr in Italien am 1. September beginnt. Die schülerInnen beginnen etwa am 15. september nach den Sommerferien mit dem unterricht. Wie so vieles in Italien ist die konkrete gestaltung dieser zweiwöchigen planungsphase der lehrerInnen vom engagement aller beteiligten abhängig.

  • In einem durchschnittlichen kollegium treffen sich alle lehrerInnen mit dem schulleiter/der schulleiterin zu einer konferenz am 1. September. Die dann anschließenden zwei wochen werden genutzt, um in den jahrgangsteams die jahrespläne auszuarbeiten. Diese müssen beim ersten elternabend im schuljahr den eltern vorgelegt werden. Gleichzeitig können unterrichtsmaterialien erstellt, die klassenräume in ruhe neu gestaltet werden - nebenbei lernen sich neue kollegInnen kennen, und die alten können ihre ferienfreuden und ferienenttäuschungen in ruhe austauschen.

  • Eine gemeinsame planungsphase der erwachsenen - bevor sie für die kinder nach den ferien wieder "voll da sein" müssen - erscheint mir als eine sehr günstige voraussetzung für die kooperation der lehrerInnen. In dieser phase ist auch zeit, daß die inhaltliche planung für die ganze klasse abgestimmt wird mit der besonderen planung der stützlehrerin/des stützlehrers für ein behindertes kind.

Italienische schülerInnen haben etwa genau so viele ferientage wie deutsche schülerInnen, in Italien allerdings konzentriert auf die drei monate: 15. juni bis 15. september. Italienische lehrerInnen haben vier wochen weniger ferien: Die ersten 14 tage der ferien sind sie mit zeugnissen, examen, verwaltung, abschluß des schuljahres beschäftigt. Die letzten beiden wochen der ferien müssen sie in der schule sein, um das neue schuljahr vorzubereiten.

So ist es üblich, daß die kinder von lehrerInnen diese zwei wochen bei großeltern oder tanten verbringen oder daß der urlauberstrom z.b. aus Sardinien aufs festland in zwei schüben abreist: zum 1. september die lehrerInnen mit ihren familien und zum 15. September die übrigen familien.

Es soll aber auch schulen geben - vor allem mittel- und oberschulen -, wo der schulleiter/die schulleiterin die erste konferenz für den 6. september einberuft, die zweite für den 11. oder 12. September, bevor am 15. september mit dem unterricht begonnen wird.

Vertretungslehrerinnen/supplente

Die gut vorbereitete kooperation zweier oder mehrerer pädagogInnen zerbricht in den deutschen schulen unzählige male daran, daß einzelne der beteiligten "ausfallen". Lehrerinnen werden krank, gehen auf bildungsurlaub. - Selbst längere, vorher bekannte krankenhausaufenthalte oder schwangerschafts- und erziehungsbeurlaubungen werden oft nicht vertreten. Es ist verständlich, daß lehrerInnen resignieren, die immer wieder die erfahrung machen müssen, daß vorbereitungsarbeiten wegen dieses mißstandes nicht genutzt werden können.

Aufgrund der erfahrungen in der Bundesrepublik haben viele deutsche lehrerInnen den verdacht, daß in Italien zumindest dann, wenn zwei lehrerInnen in einer klasse eingesetzt sind, keine vertretung eingesetzt wird, oder: Der stützlehrer/die stützlehrerin muß in einer anderen klasse unterrichten mit der begründung: Sonst fällt in jener klasse der unterricht aus!

In all meinen gesprächen in mehreren schulen, auch mit einer gewerkschaftsvertreterin, wurde mir bestätigt, daß an den grundschulen das system der vertretung gut funktioniert und auch (bisher?) nicht durch sparmaßnahmen bedroht ist.

Den deutschen besucherInnen kann es passieren, daß sie in der klasse von einer bidella oder den schülern gefragt werden, ob sie als vertretungslehrerIn in der klasse seien.

In jedem amtszimmer einer schule in Italien hängt die liste der vertretungslehrerInnen (supplente). In einer schule in Florenz, mit etwa 25 klassen, waren dies 48 namen mit den telefonnummern. Wenn lehrerInnen krank werden, rufen sie in der schule an, und die sekretärin versucht, möglichst am selben tag eine vertreterin/einen vertreter zu erreichen. Wenn eine lehrerin/ein lehrer bildungsurlaub oder urlaub wegen einer "wichtigen familienangelegenheit" oder weiterbildung bekommen hat, wird ihr/ihm mit dem genehmigungsschreiben mitgeteilt, mit welcher "supplente" sie/er sich in verbindung setzen soll. Selbstverständlich, daß längere krankheitszeiten, schwangerschafts- und erziehungsurlaub vertreten werden. Wenn die lehrerin nach einer schwangerschaft zurückkommt, und es bleiben weniger als sechs wochen bis zum schuljahresende, dann werden beide lehrerinnen für diese übergangszeit bezahlt.

Dieses System der "supplente" schafft die voraussetzung dafür, daß die kooperation zweier lehrerInnen im zusammenhang mit der nicht-aussonderung der behinderten kinder auf einer stabilen, organisatorisch abgesicherten basis steht. Gleichzeitig bildet dieses verfahren auch ein - nach meinen beobachtungen - gut funktionierendes system des "einfädelns" neuer kollegInnen an einer schule.

Wer gut mit den schülerInnen auskommt, auch bei einer drei-tage-vertretung gut mit den klassen- oder stützlehrerInnen kooperiert, der/die wird beim nächsten bedarf mit großer wahrscheinlichkeit wieder gerufen.

Eine soziale absicherung der arbeitslosen lehrerInnen ist in Italien nicht vorhanden; genausowenig wie in der Bundesrepublik Deutschland. Der unterschied muß gesehen werden: Während bei uns lehrerInnen nach der Zweiten Staatsprüfung irgendwo "jobben" - z.b. auf abruf taxe fahren - und zugleich unterrichtsausfall als "normal" angesehen wird, "jobben" in Italien lehrerInnen auf abruf als supplente (tageweise bezahlt, mit demselben stundensatz wie festangestellte lehrerInnen im anfangsgehalt).

In die liste der supplente trägt sich auch die hausfrau ein, die ein lehrerexamen hat und nicht mit fester stundenzahl regelmäßig arbeiten will - oder der philosophiestudent, der sich nach abgeschlossenem lehrerstudium weiterqualifizieren will und zugleich den kontakt zu kindern wenigstens gelegentlich erhalten möchte.

Jede lehrerin/jeder lehrer mit den entsprechenden examen hat das recht, sich in zwei schulen eigener wahl in die "supplente"-liste einzutragen. - Bei der regionalen schulverwaltung, dem "provveditorato agli Studi" werden diese listen kontrolliert und punkte vergeben. Die festanstellung ist u.a. auch abhängig von der anzahl der als supplente unterrichteten tage.

Wer in Italien nur tageweise und gelegentlich unterrichtet, muß sich noch eine andere arbeit suchen, um überleben zu können. Eine Schwangerschaftsvertretung bedeutet dagegen schon fast eine festanstellung. Ober diese form von "einfädeln" in den beruf entscheiden faktisch die sekretärinnen und die kollegInnen mehr als der schulleiter/die Schulleiterin oder gar der schulrat/die schulrätin. Ich habe auch "munkeln" hören, daß lehrerInnen "krank feiern", um der freundin, dem freund zu einer "supplente"-tätigkeit zu verhelfen. -

Im schuljahr 1986/87 wurde an den mittelschulen (scuola media) als sparmaßnahme versucht, supplente erst dann für die vertretung einzusetzen, wenn eine lehrerin/ein lehrer mehr als drei tage fehlt. Die ersten drei tage sollen von kollegInnen der jeweiligen schule übernomen werden! Daß das gewohnte system der sofortigen vertretung an den grundschulen weitergeführt wird, ist selbstverständlich. Gegen die sparmaßnahmen an den mittelschulen wehren sich die gewerkschaften sehr en schieden!

Mit dem streik von lehrerInnen aller schulen (auch der grundschulen sollte im frühjahr und sommer 1987 erreicht werden, daß die bisherige vertretungsregelung an den mittelschulen erhalten bleibt und daß auch an den oberschulen (scuola media superiore) die höchstfrequenz auf 20 ,jugendliche pro klasse festgelegt wird.

Ganztagsschule (tempo pieno) und kooperation

Von den anmeldungen der eltern ist es abhängig, ob und wie viele ganztagsschulen eingerichtet werden. - In manchen gemeinden reichen die planstellen, die von der zentralregierung in Rom hierfür zur verfügung gestellt werden, nicht aus. In Florenz und in der umgebung werden die dann fehlenden lehrkräfte von der gemeinde bezahlt. - Im frühjahr 1986 wollte die zentralregierung den einsatz der kommunalen lehrer in den staatlichen schulen verbieten. - Offensichtlich, weil sich die konservative regierung in Rom (mehrheitlich Democrazia Christiana) durch die eher fbrtschrittlichen "linken" regionen unter druck gesetzt fühlte. Auch in anderen regionen wird vermehrt die einrichtung von ganztagsschulen gefordert.

Der plan wurde von der Democrazia Christiana schnell wieder fallengelassen: Alle lehrerInnen streikten an mehreren tagen - sehr öffentlichkeitswirksam jeweils ohne vorankündigung, um die weiterbeschäftigung der kommunal bezahlten lehrerInnen in den staatlichen schulen zu erhalten!

Derartige diskussionen um den erhalt des eigenen arbeitsplatzes und die strategien zur politischen durchsetzung schulpolitischer forderungen, die letztlich alle beteiligten lehrerInnen und eltern betreffen, stärken die bereitschaft zur kooperation.

Sie sind die "höhepunkte" im schuljahr der politisch engagierten kollegInnen.-

Die tägliche arbeit der lehrerInnen in ganztagsklassen ist dagegen im wesentlichen durch den stetigen, gleitenden übergang vom vormittags- zum nachmittagsunterricht gekennzeichnet (genaueres hierzu s. in abschnitt 2.2.).

Kooperation zwischen klassenlehrerInnen wird nicht dadurch erst möglich, daß zwei lehrerInnen nachmittags/abends telefonieren, um sich abzusprechen, sondern:

Die tatsache, daß sie sich absprechen müssen, ist mit insgesamt acht wochenstunden "doppelsteckung" eingeplant.

Während des gemeinsamen essens mit den kindern und während der pause auf dem schulhof kann die je aktuelle situation besprochen werden. Hinzu kommen die gemeinsamen planungsstunden (2 - 4 stunden pro woche). In den schulen, die wir besuchten, war dies fest eingeplant - an einer schule jeweils am montag - an den anderen am mittwochnachmittag. Meist treffen sich die 4 bis 6 lehrerInnen der beiden kooperierenden parallelklassen in der schule.

Wenn sie sich privat an einem anderen ort treffen, muß hierüber der schulleiter/die schulleiterin informiert sein.

Diese kooperation findet für ganztagsklassen statt, auch wenn kein kind mit behinderung in der klasse ist.

Einzeln als person für eine klasse verantwortlich sind in Italien nur die lehrerInnen, die in einer halbtagsklasse ohne ein kind mit behinderung unterrichten.

Im anschluß an besuche italienischer lehrerInnen in deutschen Schulklassen war dies einer der ersten diskussionspunkte: "Warum müssen die deutschen lehrerInnen diese ungeheuer schwierige und vielschichtige verantwortungsvolle arbeit mit so vielen kindern in einer klasse fast immer ganz alleine bewältigen?"

1.4. Lernentwicklungsberichte statt ziffernzensuren

Viola Weikert

Das gesetz 517

Mit dem gesetz 517 vom 4.8.1977 wurden neben anderen weitreichenden änderungen im italienischen schulwesen auch die bestimmungen zur Leistungsbeurteilung erneuert. Das gesetz schreibt forderungen und entwicklungen mehrerer jahre fest, in denen sich viele gesellschaftliche gruppierungen für eine humanisierung der schule einsetzten. In modellversuchen und reformerischen einzelinitiativen wurden in den siebziger jahren pädagogische neuerungen zur integration behinderter kinder, zu anderen unterrichtsformen und zur beurteilungspraxis erprobt. So führten beispielsweise lehrerInnen schon vor 1977 das "voto unico" ein, eine "einheitszensur". Damit taten sie dem damals gültigen beurteilungssystem per ziffernzensuren genüge (grundlage war ein 10-punkte-notensystem), gaben dazu aber eine ausführliche beschreibung des entwicklungs- und leistungsstandes der schülerInnen.

Das gesetz 517 legt fest, daß die bisherige leistungsbewertung durch ziffernzensuren entfällt. Stattdessen erfolgt eine verbalbeurteilung auf einem "scheda personale", einem schülerbeurteilungsbogen (muster eines "scheda personale" s. im anhang 4).

Praxis der verbalbeurteilung

Der "scheda personale" bietet auf mehreren seiten raum für einen bericht über den schüler/die schülerin, in dem auf lernbereitschaft, gruppenverhalten, erfolgte oder einzuleitende fördermaßnahmen, leistungen in den einzelnen fächern - einschließlich einer beschreibung des lernprozesses - eingegangen wird. Er wird in der "scuola elementare" und in der "scuola media" geführt.

Der "scheda personala" gilt für ein ganzes schuljahr und wird zweimal jährlich ausgefüllt. (Bis vor einigen jahren war das schuljahr noch in trimester untergliedert, daraus erklären sich die drei spalten auf dem "scheda".) Aus diesen angaben ist von den lehrerInnen der klasse pro halbjahr eine beurteilung zu erstellen, die eine gesamtbeschreibung über den entwicklungsstand des schülers/der schülerin darstellt. In der "scuola elementare" erhalten die eltern die gesamtbeurteilung in form der "communicazione alle famiglia" (mitteilung an die familie). Diese wird von den eltern gegengezeichnet, bleibt zunächst in der schule und wird schließlich am ende des schuljahres, nach erfolgter zweiter beurteilung, der familie überlassen. Die beurteilung ist den eitern zu erläutern.Der "scheda personale" verbleibt, bis der schüler/die schülerin die schule verläßt, in der "scuola elementare". Die eltern können die bögen jedoch vorher einsehen.

Das verfahren der mitteilung an die eltern ist in der "scuola media" ähnlich. Hier erhalten die eltern aber anstelle der "comunicazione alla famiglia" eine kopie des "scheda personale", versehen mit dem aufdruck "copia per la famiglia", und damit hinsichtlich der leistungen in den einzelnen fächern detailliertere informationen.

Als beurteilungshilfen werden häufig beobachtungsbögen bzw. kriterienkataloge verwendet. Vier oder fünf beurteilungsstufen zeigen den erreichten leistungsstand eines schülers/einer schülerin in verschiedenen teilbereichen eines faches an - so ist z.b. der im anhang gezeigte "scheda personale" einer "scuola media" im fach "italienisch" nach zwölf beurteilungskriterien gegliedert.

Grundlage der beurteilungen und des unterrichts sind rahmenpläne, die allgemeine zielsetzungen ("grundlegende bildung für alle") und einen fächergrundkanon vorgeben, aber keinen einheitlichen kanon von Unterrichtsinhalten vorschreiben. Innerhalb dieses großen freiraums erstellen die lehrerInnen in einer planungsphase am schuljahresbeginn eine jahresplanung.

Ziele und bedeutung der verbalbeurteilung

Die beschreibung des leistungsstandes eines schülers/einer schülerin in worten anstelle einer vergabe von ziffern stellt ein wichtiges element auf dem weg zu einer angst- und konkurrenzfreieren lernsituation dar. Ziel dieses verfahrens ist nicht, den leistungsstand eines schülers/einer schülerin im klassenverband zu ermitteln. Die erzielten ergebnisse werden also nicht mit einem äußerlichen, unveränderlichen standard verglichen, sondern mit den lernzielen, die für den einzelnen schüler/die einzelne schülerin gelten.

Eine besondere ausprägung erhält dieses verfahren bei behinderten kindern, deren leistungen stärker von denen der mitschülerInnen abweichen. Für sie werden am beginn jeden schuljahres spezielle curricula aufgestellt.

Es ist offensichtlich, daß die abschaffung der ziffernzensierung für behinderte kinder von besonderer bedeutung ist, denn sie hätten im sonst üblichen noten-konkurrenzkampf überhaupt keine chance. Prinzipiell wirkt sich aber leistungsbeurteilung ohne ziffern für alle schüler-Innen positiv aus. Kinder können lernen, tatsächliche leistungen anzuerkennen und zu würdigen. Überspitzt formuliert: Schülerinnen, die auf "1" oder "2" "abonniert" sind, werden bei ziffernzensierung z.b. da-durch deutlich benachteiligt, daß sich ihr lernfortschritt nicht mehr in noten niederschlagen kann. Hingegen können bei verbalbeurteilung besondere fähigkeiten und positive entwicklungen im beurteilungsbogen hervorgehoben werden.

Die erwähnten beobachtungsbögen ermöglichen, die leistungen eines kindes und deren entwicklung mehr als nur pauschal darzustellen. Sie er-möglichen die aufschlüsselung und darstellung der fähigkeiten des kindes nach den verschiedenen teilbereichen eines faches.

Bedeutsam ist, daß die beurteilung von schülerleistungen ausdrücklich in zusammenhang mit fördermaßnahmen gebracht wird. So heißt es im rahmenplan der italienischen grundschule von 1985: "Die mitteilung der ergebnisse solcher bewertungstätigkeit an die interessenten (familie und schule) soll auch die gegenwärtigen und zukünftigen maßnahmen der schule in bezug auf die entwicklung des einzelnen und der gruppe dokumentieren." (Aus den didaktischen rahmenplänen der italienischen grundschule 1985, s. anhang 3)

Die art der beurteilung geht einher mit einer stärkeren individualisierung des unterrichts, in dem die lernfortschritte des einzelnen Schülers/der einzelnen schülerin beobachtet und registriert werden. Er-leichtert wird dies durch die niedrigen klassenfrequenzen: Die klassenhöchstfrequenz beträgt 24 schülerInnen, ist ein behindertes kind in der klasse, liegt sie bei 20. Die tatsächliche schülerInnenzahl liegt je-doch in der regel bei 17 pro klasse.

Verbalbeurteilung soll nicht "end-sanktionierung" eines lernprozesses sein - so sagen pädagogen in diskussionen über dieses thema. Sie soll vielmehr als permanente hilfe während dieses prozesses dienen, indem sie es dem schüler/der schülerin erleichtert, seine/ihre möglichkeiten zu erkennen und sich realistische ziele zu setzen.

Mit der beschriftung des formulars ("scheda personale/comunicazione alla famiglia") ist es jedoch nicht getan. Das gesetz 517 besagt, daß der inhalt der "comunicazione alla famiglia" den eltern zu erläutern ist. Damit stellt dieses dokument - im idealfall - die grundlage eines ausführlichen gesprächs zwischen lehrerInnen und eltern dar. Den eltern ist gewissermaßen ein "kommunikationsmittel" für den kontakt mit der schule an die hand gegeben.

Die "scuola media" endet für alle schülerInnen mit einer abschlußprüfung. Da, wie erwähnt, die lehrpläne sehr offen sind, kann die schule bei der prüfung nicht auf einen verbindlichen themenkanon zurückgreifen. Grundlage der prüfung ist deshalb ein schlußbericht über die drei-jährige unterrichtsarbeit und der "scheda personale" der einzelnen schülerInnen. Der sinn dieser bereitstellung von informationen wird bei der prüfung behinderter kinder besonders deutlich. Die angaben darüber, in welchen fächern besondere didaktische kriterien angelegt wurden, welche unterstützenden maßnahmen erfogt sind und an welchen fächern s teilgenommen haben, werden bei der prüfungszulassung dazu genutzt, ab weichende prüfungsregelungen zu treffen. Festgestellt werden soll, in-wieweit der schüler/die schülerin, ausgehend von seinen/ihren potentiellen fähigkeiten und seiner/ihrer ausgangslage, fortschritte gemacht hat. Mit dieser regelung kann prinzipiell jeder schüler/jede schülerin den abschluß der "scuola media" erreichen und damit an eine weiterführende schule seiner/ihrer wahl gehen.

Fragen, probleme, schlußfolgerungen

Mit dem wechsel von ziffernzensierung zur verbalbeurteilung sind ansprüche verknüpft - formuliert von lehrerInnen und fixiert in rahmenplänen und richtlinien-, die oft idealistisch klingen und nur schwer erfüllbar scheinen. In Italien verlief der übergang zu einem anderen beurteilungssystem nicht reibungslos. Dort stellte und stellt man sich ähnliche fragen wie hierzulande an den schulen, die verbalbeurteilung praktizieren, z.b. im rahmen der abweichenden Organisationsform in den klassen 1 und 2 und an den schulen, die kinder mit behinderungen integrieren. Auf zwei grundsätzliche probleme will ich hier eingehen:

- Welche informationen sollen auf dem "scheda personale" bzw. in den mitteilungen an die familie gegeben werden, und wie ausführlich sollen diese sein?

Die unterteilung in einen bericht, der in der schule verbleibt, und einen anderen, der an die familie geht, finde ich grundsätzlich richtig. Im schulexemplar können informationen festgehalten werden, die nicht für einen größeren kreis bestimmt sind. Unabdingbar ist nach meiner auffassung, daß, wie im gesetz verlangt, den eltern diese informationen nicht vorenthalten werden. Erfahrungsgemäß machen eltern von der möglichkeit, bögen ihrer kinder, die sich in der schule befinden, einzusehen, nur selten gebrauch. Um diese schwellenangst zu umgehen, überlassen manche lehrerInnen den eltern eine kopie des "scheda personale", sozusagen neben dem "offiziellen" beurteilungsbogen.

Ebenso große bedeutung hat nach meiner überzeugung auch die verpflichtung zum gespräch mit den eltern, in dem die beurteilung erläutert wird. Mißverständliche formulierungen können sofort näher erklärt werden, weitere fragen und probleme können bei dieser gelegenheit besprochen werden.

- Wie kann ein abgleiten in standardformulierungen, die sich letztendlich dem notenkanon nähern, verhindert werden?

Nach meiner ansicht dies verhindert werden, wenn es gelingt, den individuellen lernfortschritt jedes schülers/jeder schülerin zu sehen und zu beschreiben, statt die leistung mit denen der mitschülerInnen zu vergleichen und danach einzuordnen. Stärker als bisher ergibt sich daraus die notwendigkeit, gute kenntnisse über lernprozesse und kognitive entwicklungsstufen zu besitzen. Lehrerinnen mußten lernen, schülerInnen in fachlicher arbeit und im kontakt zu mitschülerInnen zu beobachten, um lernfortschritte zu nennen, im falle eines leistungsabfalls aber auch gründe dafür nennen zu können. Lehrerinnen in Italien versuchten und versuchen, sich diese kenntnisse unter anderem in weiterbildungskursen, zu denen sie ausdrücklich aufgefordert sind (vgl. didaktische rahmenpläne der italienischen grundschule 1985), anzueignen.

Das problem der standardformulierungen stellt sich in Italien stärker in der "scuola media" als in der "scuola elementare", da dort das fachlehrerprinzip herrscht und die anzahl der in einer klasse unterrichtenden lehrerInnen nicht begrenzt ist. Unterrichten lehrerInnen in einer vielzahl von klassen, ist eine individuelle, ausführliche beurteilung nicht möglich - ein strukturelles problem der italienischen schule.

Im vergleich zur Bundesrepublik wird das problem der standardformulierung allerdings dadurch entschärft, daß "mangelhafte leistungen" in dieser oder einer anderen formel ausgedrückt) in mehreren fächern nicht zwangsläufig "sitzenbleiben" nach sich zieht. "Sitzenbleiben" ist in Italien nur noch in ausnahmefällen, d.h. dann möglich, wenn dies für die persönliche entwicklung des schülers/der schülerin als wichtig erachtet wird und dieser entscheidung auch die eltern zugestimmt haben.

In Italien herrscht einverständnis darüber, daß es kein zurück zur ziffernzensierung geben wird. Auf dieser grundlage kann auf verschiedenen ebenen darüber diskutiert werden, wie die form der verbalbeurteilung weiter verbessert werden kann. In jedem fall zeigt die situation in Italien, daß verbalbeurteilung statt ziffernzensierung in landesweiter durchführung möglich ist.

Die argumente, mit denen in Italien die notwendigkeit einer beurteilungsreform begründet wurden, gleichen denen, die in der Bundesrepublik genannt werden. Italien ist uns aber in der verwirklichung der forderungen, die seit langem auch hier von pädagogen gestellt werden, weit voraus.

1.5. Die bedeutung der "insegnanti di sostegno" - stützlehrerInnen als stütze der lehrerInnen

Sigrid Heinze

Fragen und antworten zur bedeutung der stützlehrerInnen für eine nicht-aussondernde erziehung und bildung im italienischen schulsystem

Im folgenden soll die tätigkeit der stützlehrerInnen besonders betrachtet werden als beitrag zur nicht-aussonderung von kindern/jugendlichen mit behinderungen im italienischen regelschulwesen und zur ermöglichung ihrer aktiven teilnahme am schulischen leben.

Wie die arbeit mit stützlehrerInnen dabei unterschiedlich gestaltet werden kann und welche probleme sich dabei ergeben, sind fragen, die auch für integrative konzepte innerhalb der regelschule in der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich Berlin (West), von nutzen sein können und bisher nicht genügend beachtet wurden.

1.5.1. Was ist ein/e schülerIn?

Stützlehrerinnen sind regel- oder sonderpädagogInnen, die zusätzlich einer klasse zugeordnet sind, wenn sich in einer klasse ein oder mehrere kinder mit Behinderungen oder besonderen problemen befinden.

Es ist die aufgabe der stützlehrerInnen, die klassen- und fachlehrerinnen darin zu unterstützen, das gemeinsame lernen aller kinder in der klasse zu verbessern und dabei die besonderen bedürfnisse der kinder mit besonderen schwierigkeiten besonders zu beachten.

Alle kinder der italienischen schule müssen aufgrund des gesetzes nr. 517 von 1977 am pflichtunterricht der normalklassen teilnehmen. Nur für die "scuola media" gilt noch das gesetz nr. 118 von 1971, das den ausschluß von kindern mit gravierenden behinderungen geistiger oder körperlicher art gestattet (vgl. das beispiel - Simone - im abschnitt 3.5.).

In der praxis wird auch häufig außerhalb der klasse gearbeitet, aber immer im thematischen bezug zu der klasse (siehe das beispiel - Lorenzo - im abschnitt 3.3.).

1.5.2. Seit wann gibt es stützlehrerInnen in Italien?

Das gesetz nr. 517 vom 4.8.1977, das als entscheidend für die integration von kindern/jugendlichen mit behinderungen in den pflichtschulbereich und die abschaffung von ziffernzensuren gesehen wird, schreibt in den artikeln 2 und 7 (text im anhang, s. s. VII f.) stützmaßnahmen für behinderte kinder und jugendliche in grund- und mittelschule vor.

Der pflichtschule (1. - 8. klasse) wurden bereits mit dem erlaß nr. 970 vom 31.10.75 nach und nach lehrerInnen zugeteilt, die "eine entsprechende spezialausbildung haben und fest oder befristet eingestellt werden."

1.5.3. Welche aufgaben haben die stützlehrerInnen?

Nach dem artikel 7 des gesetzes nr. 517 haben die stützlehrerInnen die aufgabe, "integrationsformen und stützmaßnahmen für schüler, die träger einer behinderung sind", zu realisieren.

Die aufgaben der stützlehrerInnen sind vielfältig.

Neben der direkten unterstützung des behinderten kindes/jugendlichen, die im vordergrund steht, kann es ebenfalls, in absprache mit anderen lehrerInnen, zu einer gemeinsamen unterrichtunq der klasse kommen. Hierbei handelt es sich um einen prozeß. an dessen anfang die konzentrierte aufmerksamkeit der stützlehrerIn gegenüber dem kind/jugendlichen mit einer behinderung steht. Wenn in diesem rahmen erste Sicherheit für das zu betreuende kind/für den jugendlichen besteht, kann die stützlehrerIn sich stärker um verschiedene andere schülerInnen oder gruppen von schülerInnen bemühen und bei fragen zur verfügung stehen und unterstützend eingreifen.

In dieser Situation ist der beginn eines gemeinsamen prozesses des unterrichtens von klassen- bzw. fachlehrerIn und stützlehrerIn gegeben. Die stützlehrerIn benötigt darüber hinaus selbst spezielle informationen, die es ihr/ihm ermöglichen, auf die verschiedenen arten von behinderungen bzw. verhaltensauffälligkeiten einzugehen, um alle möglichkeiten des kindes ausschöpfen zu können. Diese informationen erhalten die stützlehrerInnen durch den ständigen austausch mit den mitarbeiterInnen des Unitä Sanitaria Locale (staatlichen gesundheitsdienstes), der bezirklich organisiert ist (vgl. abschnitt 1.8. und beispiel 3.8.). Weiterhin stehen die stützlehrerInnen in ständigem kontakt mit den eltern oder gesetzlichen vertreterInnen des kindes/jugendlichen mit einer behinderung.

1.5.4. Wie viele kinder/jugendliche mit behinderungen sind einer stützlehrerIn zugeordnet?

Das verhältnis von stützlehrerIn zu den kindern/jugendlichen kann nach dem gesetz nr. 517 bis zu 1:4 im maximum betragen.

Dies wurde in den nord- und mittelitalienischen regionen bereits anfang der 80er jahre im durchschnitt erreicht. BIANCHI stellt fest, daß die regionen mit der längsten erfahrung auf dem gebiet der integration die höchste anzahl der behinderten schülerInnen in der regelschule aufweisen und das günstigste zahlenverhältnis von stützlehrerIn zu schülerInnen. (BIANCHI 1983, s. 19). Im norden war die schülerInnen-lehrerInnen-relation im sekundarstufenbereich I mit 3,5:1 am günstigsten. Für süd-Italien und die inseln wurde ein lehrerInnen-schülerInnen-verhältnis von 13,4:1 (!) festgestellt, was die problematische situation des nord-süd-gefälles auch in diesem bereich erschreckend vor augen führt. Gleiches galt für den grundschulbereich. Dort betrug das verhältnis lehrerInnen zu schülerInnen 1:10 im süden und den inseln, im norden und in den mittelitalienischen regionen 1:5,1 und 1:4,9.

Nach neuesten berichten (BURLI, 1985) für die region Parma, und SCHÖLER, aufgrund von informationen aus der schulverwaltung Florenz, beträgt das verhältnis stützlehrerIn zu kindern/jugendlichen mit behinderung in diesen beiden provinzen 1:2.

1.5.5. Wie werden stützlehrerInnen beantragt?

Vor beginn eines jeden schuljahres im september stellt der psychologe/die psychologin des zuständigen ambulatoriums des staatlichen gesundheitsdienstes (USL) eine entwicklungsbeschreibung für jedes behinderte schulkind auf.

Diese entwicklungsbeschreibung dient der kontinuierlichen beobachtung der fortschritte des kindes und gibt darüber auskunft, ob das kind für das folgende schuljahr (weiterhin) als "behindert" zu betrachten ist.

Im fall der bestätigung wird durch dieses zertifikat die zuteilung eines stützlehrers/einer stützlehrerin veranlaßt.

Das gesetz nr. 517 bestimmt, daß die schulbehörde mit dem gesundheitsdienst zusammenarbeiten muß. StützlehrerInnen und spezialistInnen des lokalen gesundheitsdienstes sollen in ständigem austausch stehen (zur tätigkeit der USL im zusammenhang mit der integration siehe abschnitt 1.8.). In dem moment, wo für ein kind/einen jugendlichen im rahmen der gesetzlichen möglichkeiten für den grundschul- wie auch den mittelstufenbereich sechs wochenstunden beantragt werden, wird solch ein antrag problemlos bewilligt. Erst wenn ein höherer stützlehrerstundenbedarf bei besonderer problematik hinsichtlich des zu betreuenden kindes besteht, müssen die jeweilige bezirkliche schule und die "Unitä Sanitaria Locale" als kommunaler gesundheitsdienst absprachen über zusätzliche begründungen für eine erhöhte stundenzahl treffen.

Die finanziellen mittel für einen stützlehrerInnenbedarf bis zu sechs wochenstunden pro kind müssen von der zentralregierung in Rom zur verfügung gestellt werden. Bei höherer stundenzumessung kann auch die zu-ständige USL, die region oder die kommune die bezahlung für zusätzliche lehrerstunden übernehmen, selbst private träger (wie z.b. elternselbsthilfegruppen für blinde kinder oder für kinder mit Down-Syndrom) können stützlehrerstunden in den staatlichen schulen finanzieren.

1.5.6. Sind stützlehrerInnen regel- oder sonderpädagogInnen?

Stützlehrerinnen können eine spezielle ausbildung haben bzw. aus den ehemaligen sonderschulen oder sonderklassen kommen. Regelpädagoglnnen müssen bisher keine spezielle ausbildung haben, um als stützlehrerIn zu arbeiten.

Seit beginn der 80er jahre werden - vor allem in den nördlichen regionen - vielfältige weiterbildungskurse angeboten, die zumeist von den lokalen Schulbehörden organisiert und finanziert werden.

Viele lehrerInnen ohne spezielle ausbildung nehmen im rahmen ihrer Weiterbildungsverpflichtung an unterrichtsbegleitenden Weiterbildungsmaß-nahmen teil.

In den regionen Emilia Romagna und in der Toscana war im frühjahr 1987 eine neuregelung im gespräch, nach der stützlehrerInnen künftig eine spezielle ausbildung nachweisen müssen.

(Zur ausbildung der stützlehrerInnen siehe abschnitt 1.6.)

1.5.7. Wie viele stunden arbeiten stützlehrerinnen?

Was verdienen sie?

Stützlehrerinnen arbeiten an der grundschule genauso wie ihre grundschulkolleginnen 24 wochenstunden.

Stützlehrerinnen arbeiten an der mittelschule genauso wie ihre mittelschulkolleginnen 18 wochenstunden.

Sie verdienen dabei das gleiche gehalt wie ihre kollegInnen (genauer dazu: siehe abschnitt 2.2.5.).

1.5.8. Welche probleme, welche erfahrungen gibt es in der zusammenarbeit der klassen- bzw. fachlehrerinnen und der stützlehrerInnen?

Die stützlehrerInnen haben die aufgabe, die Interessen der behinderten kinder/jugendlichen zu fördern, aber dies kann nur im rahmen der gemeinsamen erziehungs- und bildungsarbeit von klassen- und fachlehrerin auf der einen seite und stützlehrerIn auf der anderen seite funktionieren und in gleichberechtigter verantwortlichkeit für alle kinder.

Probleme, die diese form des kooperativen unterrichtens behindern, können a) schulorganisatorischer wie auch b) persönlicher art sein. Die zahl der stützlehrerinnenstunden beträgt in der mittelstufe in der regel sechs stunden bei insgesamt 29/30 wochenstunden der schülerIn. Für schwer behinderte kinder werden in jüngster zeit jedoch auch an der mittelschule mehr stunden für die stützlehrerInnen-tätigkeit bewilligt (vgl. die beispiele im abschnitt 2.2.3. und 3.3.). Dazu kommt, daß an der mittelschule bis zu neun fachlehrerinnen unterrichten können, d.h. daß diese lehrerInnen wenig möglichkeiten haben, sich mit den problemen behinderter kinder bzw. jugendlicher zu beschäftigen. Hier ist also bisher aufgrund der "äußeren" bedingungen nicht gewährleistet, daß sich jeder.lehrer/jede lehrerin mit den problemen oder besonderheiten von kindern/jugendlichen mit behinderungen oder verhaltensauffälligkeiten auseinandersetzen kann, sondern es besteht eher die gefahr, daß die probleme der stützlehrerIn überlassen bleiben (siehe "Allgemeine bedingungen an der mittelschule" in abschnitt 2.2.).

Zu den problemen, die eher b) - der persönlichen art - zuzuordnen sind, gehört die mangelhafte kooperation zwischen klassen- und stützlehrerInnen. LUNETTA (1985, s. 331) beschreibt recht anschaulich:

"Die Beziehungsdynamik, die sich zwischen dem Klassenlehrer und dem Zusatzlehrer bildet und nicht zuletzt auch die Verteilung der beiderseitigen Kompetenzen betrifft, stellt eines der größten Probleme bei der praktischen Anwendung der gesetzlichen Prinzipien dar. Manchmal glaubt der Zusatzlehrer dem Klassenlehrer überlegen zu sein (er hat ja eine zusätzliche Fachausbildung). In anderen Fällen gibt sich der Klassenlehrer betont autoritär und will in der Klasse bestimmen. Alles dies kann zu Konflikten führen. Meistens neigt der Klassenlehrer dazu, die Schwierigkeiten seiner behinderten Schüler zu übertreiben, um eine längere Anwesenheit des Zusatzlehrers zu rechtfertigen. Oft verlaufen die normalen Maßnahmen mit den Zusatzmaßnahmen in voller Harmonie; bisweilen jedoch neigt der Klassenlehrer dazu, einen schwierigen Fall ganz auf den Zusatzlehrer abzuwälzen."

1.5.9. Wie arbeiten stützlehrerInnen mit klassenlehrerinnen bzw. fachlehrerinnen zusammen?

Es kann nicht ausreichen zu sagen, daß die regelschule den unterschiedlichen bedürfnissen der verschiedenen arten von behinderung gerecht werden muß und sich dementsprechend vorbereiten und "einrichten" muß. Stützlehrerin, wie auch die kinder/jugendlichen, müssen sich in einer kommunikativen situation mit den anderen schülerInnen und lehrerInnen befinden. Gelingt es nicht, diese situation herzustellen, hätte sich lediglich der ort der separation verschoben.

Aus sonderschulen oder sonderklassen wären "sonderbänke" innerhalb einer klasse entstanden, die aber gerade vor dem hintergrund "der schule für alle" das anderssein und die damit verbundene isolation besonders intensiv erleben ließe.

Integrative pädagogik kann aber nur sinnvoll erscheinen, wenn sie auf die individuellen entwicklungsmöglichkeiten und prozesse von allen kindern und jugendlichen eingehen kann.

Allen schülern sollten angebote und bereiche zur verfügung gestellt und zugänglich gemacht werden, in denen sie gleichermaßen die chance von wie auch immer gearteten lernprozessen erhalten und nutzen können. Grundsätzlich sollten sich beide lehrerinnen einer klasse gegenüber als verantwortliches team begreifen. Hierbei ist es besonders wichtig, daß die integration der kinder/jugendlichen mit behinderungen nicht zu einer delegierung des problems zurück an eine bestimmte gruppe von lehrerinnen - jetzt allerdings im inneren der regelschulen - führen darf, die dann wiederum nur für eine bestimmte gruppe von kindern/jugendlichen zuständig ist.

In der gegenseitigen beratung der lehrerinnen können auf der grundlage von unterrichtsbeobachtungen vorschläge zur veränderung der unterrichtlichen organisation wesentlich komplexer stattfinden. Darüber hinaus können in zeitlich bestimmten abständen fallgespräche durchgeführt wer-den. Für eine kooperative unterrichtsleitung sind vorherige absprachen über den geplanten unterrichtsablauf notwendig. Es muß entschieden wer-den, ob die stützlehrerin speziell das kind/den jugendlichen innerhalb der klasse oder - zeitlich begrenzt - außerhalb der klasse "unter-stützt", ob sie für die unterrichtung einer teilgruppe der klasse zu-ständig ist oder auch für den gesamten klassenunterricht.

Diese aufteilung der arbeitsgebiete macht es möglich, in bestimmten unterrichtsabschnitten eine lehrkraft darauf abzustellen, sich auf das arbeitsverhalten, die sozialen kontakte während des unterrichts zu konzentrieren, um diese beobachtungen dann wieder in nachfolgenden gesprächen zu erörtern und in die weitere planung einfließen zu lassen. Nicht unterschätzt werden sollte die wichtige funktion der kooperation der lehrerinnen hinsichtlich der unterstützung und förderung des sozialintegrativen und kooperativen lernverhaltens der kinder/jugendlichen innerhalb der partner- und gruppenarbeit. Ebenso sollte auch gewährleistet sein, daß der fachliche austausch zwischen z.t. besonders qualifizierten stützlehrerinnen und regelpädagogInnen stattfindet, da die grenzen zwischen einer "normal-" und einer "sonder"-pädagogik fließend sind, um einem breiten spektrum der "normalen" unterschiede in den lernvoraussetzungen, lernfähigkeiten und verhaltensweisen der kinder/ jugendlichen gerecht werden zu können.

Kooperation von lehrerinnen, ob nun fach-, klassen- oder stützlehrerinnen, ist unabdingbar für eine nicht-aussondernde Praxis.

Die literatur zu den abschnitten 1.5. und 1.6. ist gemeinsam am schluß des abschnittes 1.6. aufgeführt.

Der stützlehrer hilft einer gruppe von schülerInnen - die mathematiklehrerin erklärt die aufgaben noch ein-mal.

1.6. Zur ausbildung der stützlehrerInnen

Wolfgang Podlesch

Wer mit lehrerinnen und lehrern an grundschulen und an der Sekundarstufe über die möglichkeiten integrativer erziehung diskutiert, wird schnell mit der frage konfrontiert, wie denn die gemeinsame erziehung behinderter und nichtbehinderter kinder erfolgreich praktiziert werden könne, wenn man dafür überhaupt nicht ausgebildet sei.

In integrationsklassen ist es deshalb auch selbstverständlich, daß grundschullehrer bzw. sekundarstufenlehrer zusammen mit sonderpädagogen und pädagogischen mitarbeitern mit heilpädagogischer zusatzausbildung tätig sind.

Auf dem wege zum gemeinsamen unterricht von behinderten und nichtbehinderten kindern entstehen für alle beteiligten lehrerInnen neuartige aufgaben. Für lehrerInnen der bisherigen sonderschulen ist es neu, auch für nichtbehinderte kinder zuständig zu sein.

Für lehrerInnen der bisherigen regelschulen ist es neu, auch für kinder mit behinderungen zuständig zu sein.

In dieser ausgangssituation kann auch eine chance gesehen werden für ein gemeinsames lernen aller beteiligten.

Als im jahre 1971 das italienische parlament das erste gesetz zur integration behinderter in die allgemeine schule verabschiedete, war noch nicht geregelt, ob und welche spezifischen hilfen behinderten gewährt werden. Erst das zweite nationale gesetz zur integration, das gesetz 517, vom italienischen parlament im jahre 1977 verabschiedet, bezog sich verstärkt auf pädagogische probleme der integration und legte u.a. fest (vgl. Ceccini 1986, s. 492 f.): Für integrations- und fördermaßnahmen ist zusätzlich zum klassenlehrer ein lehrer mit einer entsprechenden spezialausbildung zuständig.

In dem gesetz 517 wird die bezeichnung stützlehrer (insegnante di sostegno) noch nicht verwendet, es ist lediglich von besonderen formen der unterstützung die rede. Erst 1979 wird im ministeriellen rundschreiben 199 der begriff stützlehrer übernommen. Nach Bürli (1985, s. 49) wird in diesem schreiben betont, "daß der stützlehrer nicht dem klassenlehrer unterstellt und den behinderten zugeordnet sei, sondern sich an der gesamten schulgestaltung beteiligen soll. Die integration ist nicht sache einer einzelnen lehrperson oder klasse, sondern der ganzen schulgemeinde."

Als stützlehrer wurden anfangs meist lehrer eingestellt, die dieselbe ausbildung hatten wie die klassen- oder fachlehrer. Häufig wurden sie von sonderpädagogen verdrängt, da sonderschulen und sonderklassen zunehmend aufgelöst wurden. Cecchini berichtet (1986, s. 493), daß die stützlehrer aufgrund ihrer ausbildung und ihres status dazu neigten, die behinderten schüler außerhalb des klassenraumes zu unterrichten. Der klassenlehrer war dann - wie früher - mit der erziehung der behinderten gar nicht befaßt, so daß er keine neuen erfahrungen machen konnte. Auch für die schüler wirkte sich die rigide rollen- und funktionsteilung zwischen klassen- und stützlehrer negativ aus: Wie sollen behinderte von ihren nichtbehinderten altersgenossen lernen und umgekehrt die nichtbehinderten lernen, vorurteile, ängste und unsicherheiten abzubauen, wenn sie nichts miteinander zu tun haben?

Zur überwindung derartiger entwicklungen gingen in Arezzo (vgl. Cecchini, s. 492) die psychologen, logopäden und sozialarbeiter der gesundheitsdienste dazu über, die stützlehrer zu systematischen beobachtungen des spontanverhaltens der behinderten kinder anzuregen, und zwar insbesondere dann, wenn sie aus der normalen klassensituation herausgenommen wurden und aufgaben zu bearbeiten hatten, die sich stark von denen der anderen schüler unterschieden und überdies hohen übungs- und wiederholungscharakter hatten. Das in solchen situationen häufig zu beobachtende depressive verhalten von schülern, ihre tendenz, aufgaben, die sich allzusehr von denen der mitschüler unterscheiden, abzulehnen und nicht motivierende arbeiten zu verweigern, führte viele stützlehrer dazu, die aussonderung der behinderten zu vermeiden und die motivation der schüler und ihre spontanen lerninteressen, die bei gemeinsamen lernsituationen auftraten, stärker zu fördern.

Zur qualifizierung der stützlehrer wurde in Arezzo 1983 eine zweijährige berufsbegleitende ausbildung für stützlehrer begonnen, die von der Schulverwaltung, dem gesundheitsdienst und der universität getragen wird. Das zertifikat am ende der ausbildung sicherte den arbeitsplatz der stützlehrer und eine kontinuierliche tätigkeit in der klasse.

Von der universität Bologna wurde unter der leitung von Prof. Andrea Canevaro für die regionen Emilia Romagna und die Toscana ein fortbildungsprogramm entwickelt, das seit dem frühjahr 1982 den stützlehrerInnen als berufsbegleitende weiterbildung angeboten wird. Dieses programm geht von den systematischen beobachtungen der kommunikationssituationen in der klasse aus.

Ober das staatliche italienische fernsehen (RAI) werden ebenfalls fernstudienlehrgänge zum thema integration behinderter kinder angeboten.

In Arezzo, wie in den meisten provinzen Italiens, erfolgt die ausbildung der stützlehrer in zweijahreskursen.

(1980 hatten noch 40 % der stützlehrer an grundschulen keine entsprechende qualifikation (vgl. Blumenthal 1982).)

In der regel wird die ausbildung von privaten instituten durchgeführt, die von den schulverwaltungen und von den Universitäten anerkannt wer-den. Z.b. hat sich in Bologna das "Istituto Cavazza" auf die stützlehrerausbildung für blinde schülerInnen umgestellt. An diesem institut wurden bis zum integrationsgesetz lehrerInnen für blindensonderschulen ausgebildet.

Bis zum beginn der 70er jahre war das "Istituto Cavazza" zugleich die sonderschule mit angeschlossenem Wohnheim für blinde schülerInnen aus ganz Mittelitalien. Das "Istituto Cavazza" war ende des 19. jahrhunderts als selbsthilfeeinrichtung für blinde kinder und erwachsene ein-gerichtet worden. Dieser traditionsreiche private verein ist heute einer der entscheidenden verfechter für die nicht-aussonderung blinder kinder und für die eingliederung blinder erwachsener in qualifizierte arbeitsplätze in Industrie und verwaltung.

Eine ähnliche entwicklung vollzog sich an den instituten zur ausbildung von lehrerInnen für geistigbehinderte (scuole magistrali ortofreniche). So ist an der scuola magistrale ortofrenica "Giovanno Calo" in Florenz die bislang stark medizinisch orientierte ausbildung einer breiteren pädagogisch-didaktischen gewichen. Sie umfaßt jährlich 650 stunden und bezieht neben der speziellen ausrichtung für geistig- und körperbehinderte kinder auch die ausbildung für blinde und taube mit ein, entsprechend der veränderten schulrealität: Ein/e stützlehrerIn ist ja nicht mehr als sonderschullehrerIn an einer speziellen sonderschule tätig, sondern an einer "normalen" grund- oder mittelschule, die von schülerInnen mit sehr verschiedenen behinderungen besucht werden können. Großer wert wird auch auf eine praxisorientierte ausbildung gelegt. So entfallen von den 650 stunden jeweils jährlich 150 stunden auf Unterrichtspraktika, 100 stunden in klassen, die von einem geistig- oder körperbehinderten kind besucht werden, und jeweils 25 stunden in klassen mit einem tauben bzw. blinden kind.

Die beschriebenen veränderungen gehen auf die im jahre 1975 erlassene ministerielle verordnung nr. 970 zurück, die sich ausdrücklich als gemeinsame ordnung für alle spezialisierungen versteht und in der es in art. 8 heißt, daß das leitende und lehrende personal in einrichtungen, abteilungen oder klassen mit besonderer zielsetzung eine spezielle qualifikation besitzen muß, die am ende eines zweijährigen theoretisch-praktischen kurses erworben wird.

In bezug auf die organisation wurde festgelegt, daß die zweijährigen kurse als gemeinsame lehrveranstaltungen für grund- und mittelstufe zu organisieren sind, einzig für die praktika wird die zuordnung einzelnen Schulstufen beibehalten.

Neu ist auch, daß die kursbewerberinnen von einer kommission von lehrerInnen der kurse und einer vertreterin/einem vertreter des unterrichtsministeriums ausgewählt werden (vgl. BLUMENTHAL 1982, s. 254 ff.).

Obwohl die ausbildung heute hohe anforderungen an die bewerberInnen stellt und obwohl die teilnehmerInnen die kosten von umgerechnet etwa 5.000 DM (1987) selbst tragen müssen, ist die anzahl der anmeldungen nach auskunft der institutsleiter sowohl in Bologna als auch in Florenz dreimal so groß wie die anzahl derjenigen, die aufgenommen werden können.

Ob die neue ausbildung tatsächlich bessere stützlehrerInnen als traditionelle sonderpädagogInnen hervorbringt, läßt sich z.z. nicht entscheiden. Fest steht, daß für die veränderten aufgaben der stützlehrerInnen in klassen mit kindern, die nach grad und art der behinderung sehr unterschiedlich sein können, die bisherige sonderpädagogische ausbildung unzureichend ist. Erforderlich sind eine breite pädagogisch-didaktische grundbildung, spezifische sonderpädagogische kenntnisse und intensive unterrichtspraktika. Hinzu kommt der erwerb sozialer fähigkeiten, die die stützlehrerInnen beherrschen müssen, damit stabile und erfolgreiche kooperationsbeziehungen zu den klassen- und fachlehrerinnen aufgebaut werden können. Als grundlage für das profil der stützlehrerInnen gilt die überzeugung, daß nicht die rehabilitation der behinderung voraussetzung für die integration ist, sondern die integration die wesentliche voraussetzung für die rehabilitation darstellt und sich infolgedessen die aufgaben der stützlehrerInnen geändert haben.

Literatur zu den abschnitten 1.5. und 1.6.

Bianchi, Maria-Grazia: Lehrerbildung für den Unterricht behinderter Kinder in Italien, in: Döbrich, Kodron, Lynch (Hg.): Lehrerbildung für den Unterricht behinderter Kinder. Weinheim, 1983.

Blumenthal, Viktor von: Die betreuung der behinderten im italienischen schulwesen. In: Blumenthal, Viktor von (Hrsg.): Behinderte in ausländischen schulen - wege zur integration. München 1982, s. 189 - 293.

Bürli, Alois: Zur behindertenpädagogik in Italien, England und Dänemark. Luzern, 1985.

Cecchini, Marco: Zur situation der integration von behinderten kindern in Arezzo, Italien, im Juni 1983. In: Zeitschrift für heilpädagogik, 1986, heft 7, s. 490 - 497.

Heinze, Sigrid: Die Aufgaben des Stützlehrers im italienischen Regelschulsystem als Maßnahmen zur Nichtaussonderung von Kindern mit Behinderungen. (Unv. wiss. Hausarbeit im Rahmen der 1. Staatsprüfung für das Amt der Lehrerin), Berlin, 1984.

Lunetta, Francesco: Die integration behinderter'kinder in das "normale" italienische schulwesen. In: bildung und erziehung, 1985, heft 3, s. 327 - 341.

1.7. Gegen die logik der sondereinrichtung

Ludwig-Otto Roser

Vorbemerkung:

Ludwig-Otto Roser arbeitet seit beginn der italienischen gesundheitsreform in einem ambulatorium in Florenz.

Er hat mir im frühjahr 1987 zu den ersten kontakten in den dortigen schulen verholfen.

Im frühjahr 1987 diskutierten alle exkursionsteilnehmerinnen die grundsätzlichen fragen der nicht-aussonderung von menschen mit behinderungen anhand des hier abgedruckten textes von Ludwig-Otto Roser.

Mit freundlicher genehmigung von Herrn Josef Fragner, dem schriftleiter der österreichischen zeitschrift "Behindert In Familie, Schule und Gesellschaft", wird dieser beitrag hier in leicht gekürzter fassung übernommen.

(Vollständiger text mit abbildungen im heft 2, 1987, s. 36 - 53 der oben angegebenen zeitschrift)

Das Bedürfnis des Menschen, zu helfen wo ein Mitmensch in Not ist, hat seine Geschichte, ebenso wie das entgegengesetzte Bedürfnis, Krankes und Nicht-normales zu meiden und zu verbannen. Vielleicht entstanden beide schon lange vor der Bewußtwerdung des Menschen aus seinem biologischen Ursprung, aus den Tiefen sowohl vor-menschlicher Gruppensolidarität als auch der Angst. Auch hier ist Geschichte zum Verständnis der Gegenwart und zur Bereitung der Zukunft unerläßlich. Von Jane Goodalls Beobachtungen während einer Kinderlähmungsepidemie in einer Gruppe von wildenSchimpansen zum "Narren-schiff' des Mittelalters, von der karitativen Zuwendung christlicher Krankenpflege zur nazistischen Euthanasie, von der spartanischen Sitte, von der uns Plutarch berichtet, mißlungene, dem kriegerischen Staat ungeeignete Kinder in einen Abgrund zu stürzen, zur organisierten Hilfe für alle Arten von Behinderung, reicht der Widerspruch zweier Grundhaltungen: auf der einen Seite der natürlichen Auslese freien Lauf zu lassen oder, auf der anderen, mit dem Erleben von Kranken ein Ganzes ins Auge zu fassen, in welchem wir immer mitbeteiligt sind.

Das interessante Werk Michel Foucaults (Histoire de la Folie) erzählt uns wie kein anderes, am Beispiel des Übergang vom mittelalterlichen Denken zu den Auffassungen der Aufklärung, welchen Weg diese widersprüchliche Gefühle in unserer Kultur gegangen sind. Es ist die Geschichte der Menschenwürde, jenes Weges, der aus dem Dunkel animalischer Scheu und egoistischer Abgrenzung gegen Fremdes, allmählich empor-steigt zur Erkenntnis des Zusammenhangs alles Lebenden in seiner farbigen Vielfalt, Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Aus den Toren der Städte verwiesene Narren und Krüppel, auf den Schiffen und zu Fuß auf der Suche nach dem Menschen, der ihr Überleben gewährleisten konnte, in Verliesen angekettete Irre, das Foltern und Hinrichten als Volksbelustigung, der Menschenhandel, die Unterdrückung von Menschen überhaupt - so weit liegt dies alles nicht zurück, nicht nur, wir sind (oft selbst unter dem Zeichen des Rechts oder einer Moral), davon noch umgeben. Keine 50 Jahre trennen uns von den Irrenhäusern, in denen Menschen oft nur mit einem Hemd bekleidet ihr Leben hinter Gittern verbrachten, um die Gesellschaft, die Vernünftigen und die Gerechten, vor ihnen zu schützen. Der Geisteskranke ein Feind, ein Dämon, ein Rebell, ein Fremder. Aber nicht nur die Gefährlichkeit bildete und bildet noch ein Kriterium, Menschen abzusondern (sie ist ja auch schwer zu erfassen), sondern vor allem war es die Unproduktivität, die es zu bekämpfen oder zu maskieren galt.

Blinde und Krüppel habe diese Probleme als erste gelöst: bettelnd produzierten sie mitmenschliche Gefühle und, da sie auch in der Bibel vorkommen, ist das lange Zeit gut-gegangen. Ihrer langen Geschichte ist es zu verdanken, daß sie auch die ersten waren, für die die Gesellschaft unseres Kulturberei¬ches etwas getan hat. Hier entstand die Logik der Sondereinrichtung, besonders in den Bereichen, in denen sich die Gesellschaft direkt schuldig fühlte, und das waren vornehmlich die Kriegsinvaliden. Die Irrenan¬stalten waren schon lange in der Rechtsgebung verankerte Institutionen. Heil- und Pflegeanstalten, auf karitativer Ebene, sind überall in Europa schon im vorigen Jahr-hundert entstanden.

Wir dürfen die Geschichte dieser Institutionen und ihrer Entwicklung nicht aus den Augen lassen, denn sie spricht von einer allmählichen Entfaltung eines Bewußtseins, das nicht aus einer plötzlichen Erhellung entspringen konnte, sondern aus der Kenntnis der Probleme, die sich ganz allgemein an jede Behinderung, an jede Besonderheit des Menschenwesens binden. So ist die Logik der Auflösung von Sondereinrichtungen, die wir für die Zukunft wünschen, nicht zu erfassen, wenn wir uns der Logik der Sondereinrichtung selbst verschließen; wir können uns selbst nur aus der Vergangenheit verstehen und müssen zugleich Ziele haben, die uns Entwicklung erleben lassen im Verein mit dem Geschehen in unserer Umwelt.

Viele identifizieren heute Sondereinrichtungen mit dem Willen zur Aussonderung. Sicherlich lag und liegt auch heute noch manchen Einrichtungen eine unbewußte Tendenz der Gesellschaft zugrunde, Krankes und Fremdes dort einzuordnen wo es nicht stört; bis ins vorige Jahrhundert hinein war dies nicht einmal so unbewußt.

Andererseits sind viele Institutionen entstanden, vor allem karitativer Natur, gerade weil in der Bevölkerung die Tendenz bestand, Problemmenschen abzuschieben oder ungenügend zu versorgen.

Es ist aber da zweifellos auch viel Gutes getan worden. Es entsprach ganz bestimmten Entwicklungsmomenten, und der karitative Aspekt hat schließlich dazu beigetragen, daß außer der Pflege auch das Verständnis von Behinderung gefördert wurde.

Krankheiten und Verhaltensformen wurden beschrieben, klassifiziert und in ihrer Dynamik erfaßt; denken wir nur an den Philosophen Jaspers, der noch vor dem Studium allgemeinmenschlicher Belange als Psychiater die Psychopathologie des Menschen aufgesucht hat. Daß sich in diesen Be¬reichen heute ein neues und verschiedenartiges Verständnis anbahnt, entspricht, wie gesagt, einer Entwicklung, und ist kein Glücksfall der Wahrheitsfindung.

Erst aus dem Verständnis der vorliegen-den Krankheitsbilder erwuchs der Gedanke der Vorsorge und der Frühbehandlung. "Hilfs"-klassen sollten zunächst helfen und daß daraus eine Diskriminierung entstandt, gehört in jenen Widerspruch, den wir, wie gesagt, in unseren Instinkten enthalten finden. Auch Sondereinrichtungen sollten fördern und helfen; so ist es zu verstehen, daß nach dem zweiten Weltkrieg, auch in dem:. Versuch einer neuen Zuwendung zum Menschen, Zentren entstanden, in denen vor allem Kindern geholfen werden sollte, Behinderung zu mindern oder zu beseitigen. Institutionen dieser Art waren schon vorher, vor allem für Sinnesbehinderte, entstanden, aber es gab auch schon "Heilgymnastik", pädagogische Versuche für geistigbehinderte Kinder und die ersten Ansätze einer Kinderpsychotherapie.

Am Anfang meines beruflichen Weges (ich spreche von den fünfziger Jahren) stand diese Logik: Einrichtungen schaffen, in denen so früh und so intensiv wie möglich geheilt werden konnte. In diese Tendenz und die immer subtilere Differenzierung der Krankheitsbilder bin ich beruflich hineinge¬wachsen. Der Optimismus war grenzenlos. Es galt Zentren aufzubauen, vor allem Tagesstätten, denn schon am Ende der fünfziger Jahre war man allgemein darum bemüht, Kinder nicht von der Familie zu isolieren. Dies war ein Fortschritt gegenüber jenen Institutionen, die sich darboten, an Stelle der Angehörigen Pflege und Therapie zu übernehmen.

Die Tageszentren sollten schön sein, im Grünen liegen, dem Kind viel mehr bieten als es zu Hause erwarten konnte, von der täglichen Therapie bis zum besonderen Spielzeug, von allen nur erdenklichen Hilfsmitteln für die Motorik zum individualisierten Lehrmaterial, von der Kochecke zum Planschbecken. Ärzte, Psychologen, Therapeuten, Pflegepersonal und kinderfreundliche Kraftfahrer waren alle bemüht, nicht nur die Behinderung zu lindern, sondern waren auch bereit, um das betreffende Krankheitsbild ein Team aufzubauen, das sich immer intensiver zu spezialisieren wußte. Institutionen entstanden, in denen das Personal geschult wurde. Leichtere Fälle wurden von den schwereren getrennt, für diese neue Zentren geschaffen. Die Eltern lernten von den Spezialisten mit den Kindern umzugehen, sie sollten selbst Spezialisten werden, um auch zu Hause mit dem Kind zu arbeiten (in dieser Zeit suggerierte Doman Therapieprogramme, die sich über den ganzen Tag er-strecken sollten).

Harte Arbeit, viel Therapie, viel Freude um den kleinsten Erfolg führten das Kind zur Wahrnehmung des Hauptgegenstandes: seine Behinderung. Für die meisten Eltern waren wir Engel voller Liebe und Wissenschaft; keine Fiktion, sondern realer, enthusiastischer Einsatz, der von dem festen Vertrauen ausging, daß alle diese Arbeit in dem Erfolg gipfeln könne, Behinderung ausgelöscht oder vermindert zu haben.

Daß viel Therapie, viel Übung, viele Reize schließlich einen Erfolg zeigen müssen, entspricht einer uralten Vorstellung; Jahrtausende hat sich die Pädagogik auf diese Hypothese gestützt und schließlich hat sie der Positivismus (und der Turnvater Jahn) wissenschaftlich bekräftigt. Der Behaviorimus hat das Seine dazugetan. Sie ist in die Spontanpädagogik des Hausgebrauchs eingegangen und seitdem ist auch Lernen für viele, jenseits des Wollens, hauptsächlich wieder-holen, üben, sich beugen ("früh übt sich.. ").

Ausschlaggebend ist dann auch das kräftige Angebot von Reizen, von Bedingungen, die zum reflexologischen Ausbau der Automatismen führen. Das Individuum ist in diesem Erziehungsdruck oft nur ein zur Form und zur Norm zu führendes, amorphes Etwas; für das Kind ist es nur der Erwachse-ne, der weiß, welches das Ziel ist, und wenn er auch die Konzession machen sollte, dieses zu motivieren, handelt der Erwachsene noch immer in dem festen Glauben, daß das Kind nicht weiß, was es will und was es kann.

Die Logik dieser Pädagogik, in unserem Fall der Heil- und Sonderpädagogik, entbehrt jeglichen Vertrauens in die Lebens-kraft des Kindes bei der Suche nach einer Realisierung und Vollendung des eigenen Selbst. Die Logik der Sondereinrichtungen, zur Zeit ihrer Entstehung, war - trotz aller Mahnenden von Dewey bis Winnicott, von Maria Montessori bis Melania Klein - durch die positivistische oder behavioristische Reparatur des behinderten Kindes bestimmt. Nirgends besser als in unseren hoch-spezialisierten Zentren ist dies zur Geltung gekommen, während die Schule ganz allgemein den alten Dreh der Züchtung von Normmenschen durch das Gießen mit gängigem Kulturgut, in der Resignation aller, weiterbetreibt. Tüchtig (und besser als andere) sein, um zu leben, leben, um tüchtig zu sein.

Ein anderer Aspekt, der die Sondereinrichtungen charakterisiert, ist die Rechtfertigung derer, die in ihr arbeiten: ich lerne mit Behinderten umzugehen, ich spezialisiere mich, mein Beruf wird der Behinderte. In der Institution ersetzen wir dem Behinderten die reale Welt und wir überzeugen uns, daß nur wir ihn verstehen, nur wir sein Schicksal einfühlend bestimmen können.

Wenn aber das Ziel "Integration" sein soll, und niemand wird heute mehr daran zweifeln, dann bedeutet dies, den Behinderten in die Welt hinauszuführen, also von uns fort.

Wie und wann soll sich das vollziehen? Hier liegt der Schlüssel: die Logik der Sondereinrichtung versetzt diesen Augenblick in die "Normalisierung' durch die der Behinderte sich in der normalen Umwelt behaupten kann. Man spricht von der Sondereinrichtung ja nicht umsonst als von einem Schonraum, in der Erwartung, daß der Behinderte durch unser Wirken eines Tages die Kraft erlangt, die harte Welt zu verkraften. Der Begriff "Rehabilitation" sollte uns, in diesem Zusammenhang, zu denken geben. Entspricht es wirklich unserer Erfahrung, daß der Behinderte allmählich, durch unser Werk gekräftigt, von der Umwelt akzeptiert (weil er nun mithalten kann) in die Welt hinaus geht? Ist es nicht doch so, daß für die größte Anzahl der Behinderten die Sondereinrichtung sich nur in der Dimension der Alterstufe verschiebt, in der statt Spielzeug und Spiel Werkzeug und Beschäftigung an-geboten werden? Auch hier dann nur eine Scheinwelt, eine verständnisvoll "geschützte Produktivität."

Die Erkenntnis, daß gemeinsam leben und lernen besser als hochspezialisierte Förderung in Sondereinrichtungen ist, basiert aber eicht auf der einfachen moralischen Forderung, Menschen, behinderte Men¬schen, nicht abseits von der Realität des täglichen Lebens zu erziehen, um sie zunächst einmal zu "heilen" oder zu kräftigen. Viel entscheidender ist eine theoretische Überlegung, wie sie beispielsweise Milani-Comparetti vorgeschlagen hat: der Mensch ist eben nicht nur ein Reiz-Antwort-Mechanismus. ER BRINGT IM WECHSELSPIEL ZWISCHEN UM-WELT UND EIGENER PERSÖNLICHKEIT EINE ENTWICKLUNG INS ROLLEN, IN DER DURCH DEN EIGENEN LEBENSWILLEN LÖSUNGEN AN-GEBOTEN WERDEN, DIE NUR DORT WIRKSAM SEIN KÖNNEN WO SIE SICH MIT DER REALITÄT DER UMWELT MESSEN. Sondereinrichtungen, sagten wir, errichten aber eine künstliche Welt, in der die Forderungen vorsichtig ab-gestuft sind. In diesem Schonraum nimmt nicht nur das behinderte Kind keine Kenntnis von der realen Umwelt, sondern diese nimmt auch das behinderte Kind nicht wahr, es bleibt ein "Noch-nicht-Mensch", ein Fremdes.

Zwei Dinge werden also in der korrekten Behandlung unerläßlich: erstens, daß sich schon das ganz kleine Kind mit seinen Problemen in der normalen Umwelt auseinandersetzt, und zweitens, daß diese Umwelt seine Probleme kennenlernt.

Um diesen Weg zu gehen, ist es zunächst von großer Bedeutung, daß bei der Evidenzierung einer Behinderung diese nicht in den Vordergrund gestellt wird: nicht als ein "behindertes Kind", sondern zunächst einmal EIN KIND, EIN INDIVIDUUM, DAS SCHWIERIG¬KEITEN HAT. Dieser feine Unterschied bestimmt zwei grundverschiedene Wege: in der Logik der "Rehabilitation" und schließlich der Sonderpädagogik erleben die Eltern und das Kind selbst die Behinderung als eine Katastrophe, der Defekt steht im Vordergrund und im Mittelpunkt steht, wenn wir genauer hinschauen, nicht das Kind, sondern das Bedürfnis der Erwachsenen, von der Norm

Abweichendes zurechtzubiegen, zu heilen oder zu vertuschen. In erster Linie geht es um Krankheit und Therapie; das Individuum und seine Realität, seine Fähigkeiten, das eigene Selbst wirken zu lassen, das Vertrauen auf seinen Lebenswillen geraten in den Hintergrund. Es erlebt sich als minder-wertig, so sehr es auch geliebt werden mag, denn durch die Arbeit an ihm intuiert es früh seine Fehlerhaftigkeit. Wie teilhaft bei dieser Arbeit oft vorgegangen wird, ohne Rücksicht auf die pscho-physische Ganzheit des Kindes, zeigt sich besonders in einigen Methoden, in denen die Aggression, mit der der Defekt angegangen wird, schließlich das Nicht-akzeptieren des Kindes und seiner Behinderung zu symbolisieren scheint.

Der andere Weg wäre dann, SICH NICHT ZU FRAGEN, WAS DAS KIND NICHT KANN, sondern auszugehen von dem was es kann. Hierbei ist der wichtigste Aspekt, daß die in seinem Lebenswillen verankerte Anpassung an die Umwelt zur vollen Geltung kommt. Keiner besser als Winnicott hat uns gezeigt wie sehr wir dazu neigen, Kinder zu Handlungen zu zwingen, die sie schon selbst als Bedürfnis in sich tragen. Ganz besonders tritt dieses Phänomen bei ihrer Ernährung zutage. Aber auch das Vertrauen, daß ein Kind lernen WILL besteht so gut wie nie; es muß stimuliert oder gezwungen werden.

Wer mit den verschiedensten Arten von Behinderung in Kontakt gekommen ist, wird beobachtet haben, welche Lösungen schon ganz kleine Kinder anbieten, wo sie Hindernisse spüren, sehr oft selbst im Widerspruch mit den therapeutischen Indikationen. Das sprachlich retardierte Kind, das sich mit seiner Zeichensprache verständlich macht, das spastische Kind, das sich fortbewegt, wie es das eigentlich (aus therapeutischen Gründen) nicht tun sollte, das schwerstbehinderte Kind, das Wege der Kommunikation entdeckt, der kleine Mongoloide, der lieber auf dem Gesäß rutschend seine Umwelt das blinde Kind, daß Fördergymnastik mitzumachen, sehr bald besser hört und tastet als seine sehen-den Altersgenossen.

Zusammen mit den Eltern entdecken wie ein behindertes Kind seine Probleme löst, führt dann auch dazu, seine Schwierigkeiten zu verstehen, sie fachlich einzuordnen, sie in der Sicht einer Entwicklung zu analysieren. Es führt vor allem dazu, sich zusammen mit dem Kinde in der Suche nach Ausdrucks-, Bewegungs- und Wahrnehmungsalternativen zu üben. Dies aber nun nicht losgelöst vom täglichen Geschehen in einer hypothetischen Umwelt, sondern Tag für Tag in der gewohnten Umgebung.

Sie werden verstanden haben, daß ich für diesen zweiten Weg bin.

Der Enthusiasmus, mit dem ich noch in den sechziger Jahren die Entwicklung von Sondereinrichtungen förderte und verfolgte, wurde zum erstenmal ganz stark gebremst als ich damit beauftragt wurde, für die groß-gewordenen Betreuten eine geschützte Werkstatt aufzubauen.

Aus dem von der realen Umwelt abgesonderten Schulleben sollte nun ein ebenso abgesondertes Arbeitsleben in Gang gebracht werden. So fragten wir uns: war dies das Ziel aller bisherigen Bemühungen? Wo blieb die Annäherung an die Welt, die wir hypothesiert hatten?

Wir bemühten uns trotzdem, diese geschützte Werkstatt aufzubauen. Aber es war in einer Zeit, ich spreche von 1968, in der ohnedies unsere Kultur sich über das Verhältnis zwischen Bestimmenden und Betroffenen, zwischen Alt und Jung, zwischen Hergebrachtem und Zukünftigem mit großer Intensität befragte. Überall wurde diskutiert und auch in unserer geschützten Werkstatt versammelten sich die Behinderten, um über ihrn Zustand und den Zustand der Welt nachzudenken. Die Behinderten selbst, nun fast schon Erwachsene, befragten sich nach dem Ziel der Rehabilitation, nach dem Sinn der Tätigkeit.

Hier wurde es mit einem Male klar, wie wenig wir Experten darüber nachgedacht hatten. Entsprach es wirklich der Wahrheit, daß nur eine intensive Rehabilitation Hoffnung auf Integration garantieren konnte? Hatten wir die alt wir die persönlichen Reserven und die alternativen Fähigkeiten des Behinderten genügend beachtet? Entsprach unser Ziel dem ihrigen? Oder hatten wir uns von vornherein von der Überzeugung leiten lassen, daß. die Welt draußen nur produktive Menschen akzeptiert?

Aus diesen Zweifeln heraus entstand der Gedanke, DASS DAS VON "VORNEHEREIN NICHT AUSSONDERN" EINE BESONDERE ART DER REHABILITATION" DARSTELLEN KONNTE, ein Prüfen der Behinderung an der Realität des täglichen Lebens, eine Suche nach den Anpassungskräften des behinderten Kindes. Denn welche Vorstellungen von sich selbst und der Welt konnte in einer Einrichtung entstehen, in der Sprachgestörte mit Sprachgestörten, Blinde mit Blinden, Taube mit Tauben, Spastiker mit Spastikem und Geistiggestörte mit Ihresgleichen großgezogen wurden?

Die ersten formalen Versuche der Integration, die zunächst den Charakter der Sozialisierung hatten, fanden sofort in uns Fachleuten, in den Kindern, in den Eltern, in den Erziehern der Normalschule eine ganz starke emotionale Reaktion: Verblüffung, Ensehe Pflicht, eine soziale Aufgabe, eine Revolution.

Die Gefahr, sich von den ersten Erfolgen, von der Lebenskraft des behinderten Kindes, von der Bereitschaft vieler Eltern und Erzieher hinreißen zu lassen, lag auf der Hand. Stattdessen galt es sogleich eine Theorie zu entwickeln, die von diesen emotionalen Elementen absehen konnte und geeignet war, eine neue Einstellung gegenüber der Behinderung zu entwickeln und sie fach-hell zu fundieren.

Ein Kind ist behindert: was eine solche Gegebenheit an Ängsten, falschen Vorstellungen und Hoffnungen, vor allem in den Eltern auslöst, ist unbeschreiblich. Verzweiflung, Sorge um die Zukunft, Unerfülltheit, Anklage konzentrieren sich in der Suche nach Lösungen. Hier gilt es fachlich zu wirken und zu beweisen, vom ersten Lebenstag an, daß dieses Kind trotz seiner Grenzen ein Mensch ist, der froh werden kann, wobei Voraussetzung ist, DASS DIESE GRENZEN ERKANNT UND AKZEPTIERT WERDEN.

Wenn es wahr ist, daß Depressionen und mangelnder Lebenswille dadurch entstehen, daß sich das Gleichgewicht zwischen Erwartungen und Möglichkeiten nicht herstellt, dann ist der erste und wichtigste Schritt in einer neuen Vorstellung der Rehabilitation eine korrekte Prognose. Diese entspringt nicht einer unmittelbaren Diagnose.

Eine korrekte Prognose ergibt sich erst, wenn die genaue Kenntnis des Verlaufs eines Krankheitsbildes sich mit der Analyse der persönlichen Gegebenheiten des Individuums, d. h. seiner Einmaligkeit in seiner sozialen Umwelt, verbindet.

Hieraus entwickelt sich die Vorstellung eines Ziels, das sich aber selbst wieder durch das Geschehen korrigiert und entfaltet.

Ich möchte ihnen hierfür einige Beispiele bringen. Die Begegnungen, von denen ich ihnen berichte, betreffen Kinder, die alle eines gemeinsam haben: sie sind von vorneherein nicht ausgesondert worden (d. h. in keiner Sondereinrichtung, sondern ambulant behandelt worden) und alle kannten wir seit den ersten Lebensmonaten.

Wir waren davon ausgegangen, daß eine korrekte Prognose als Verbindung von Diagnose und Analyse der persönlichen und ambientalen Gegebenheiten eine wichtige Arbeitshilfe in der Behandlung von Behinderung darstellt. Sie kann sich nur außer-halb der Sondereinrichtungen ambulant vollziehen. Die Beispiele, die ich ihnen gebracht habe, führen uns aber noch zu anderen Voraussetzungen und Überlegungen: viele Variablen, die in die Entwicklung des Individuums und in die Realität seiner Umwelt eingreifen, sind nicht vorauszusehen. Dies gilt ja ganz allgemein für jede Entwicklung. Wir haben auch die Vorstellung, daß der sogenannte Normalmensch den Begegnungen mit dem - nennen wir es ruhig - Schicksal irgendwie gewachsen ist und die Kräfte in sich findet, Auswege zu suchen und die Widerstände zu bekämpfen.

Ich würde behaupten, dies ist ebenso wahr wie die Vorstellung, daß Behinderte von der Umwelt verstoßen im Dschungel unserer Gesellschaft untergehen. ICH KENNE BEHINDERTE, DIE WEIT LEBENSKRÄFTIGER SIND ALS SCHEINBAR NICHTBEHINDERTE! Die alte Vorstellung, daß Kinder grausam sind und behinderte Altersgenossen seelisch mißhandeln, entspricht nicht unserer Erfahrung. Im Gegenteil!

DIE GRÖSSTE GEFAHR DER SONDEREINRICHTUNG LIEGT DAMIT IN DER ÜBERZEUGUNG, DASS DAS BEHINDERTE KIND DAS NORMALE LEBEN NICHT BESTEHEN KANN (ODER ERST, WENN ES DURCH DIE SONDERSCHULE GEGANGEN IST).

Sind einmal Ängste und instinktives Schutzbedürfnis, vor allem in den Eltern des behinderten Kindes überwunden, ist in den Eltern selbst die Konfrontation mit der Realität akzeptiert, ist Vertrauen entstanden, nicht nur in die fachliche Stütze in der Außenwelt, sondern vor allem in die Fähigkeit des Kindes, jetzt und in der ferneren Zukunft Lebenskraft zu entwickeln, ist die Erfahrung gemacht, daß die Welt nicht voller Tiger ist, dann gehen die Dinge ihren Lauf auf einem Weg, der sicherlich nicht ohne Dornen ist, aber mitten ins Leben führt.

Wir sprachen zu Anfang von einem doppelten Effekt: nicht nur lernt das behinderte Kind und später der Erwachsene auf diese Weise seine Fähigkeiten und Grenzen kennen, sondern, was unter vielen Aspekten für unsere kulturelle Entwicklung vielleicht noch wichtiger ist, seine Mitmenschen lernen Behinderung zu verstehen.

So lange arbeite ich nun schon außerhalb der Sondereinrichtungen, daß ich bei vielen, frühzeitig integrierten Behinderten den Weg in die Welt der Arbeit verfolgen konnte.

Was aber wird, so fragt man häufig, aus den Schwerst- und Mehrfachbehinderten? Gibt es Grenzen der Integration? Die Frage ist falsch gestellt, insofern sie nach den Grenzen im Behinderten fragt; gerade dieses gilt es zu überwinden. Wer Schwerbehinderte auch nur kurze Zeit aus den Pflegeheimen heraus in den lebendigen Alltag geführt hat, heraus aus den Räumen gemeinsamen Jammerns, weiß, welche glückliche Erregung diese Kinder erfaßt. (Laura). Und dann die Frage: wer ist schwerbehindert? Wer kann dies theoretisch beantworten und quantitativ bestimmen? Die Anwort kann nur im Kontakt mit der Umwelt gegeben werden.

Die Grenzen liegen nämlich nicht im Behinderten, sondern in uns. Die ungenügende menschliche und materielle Unterstützung der betroffenen Familien, die Hilflosigkeit gegenüber dem Auffälligen, das Verfangen-sein in Normen, die Müdigkeit, die durch das scheinbar Sinnlose erzeugt wird - sind

alles Probleme, die aus unseren Schwächen und Grenzen erwachsen. Aber auch hier ist Vertrauen in eine menschliche und kulturelle Entwicklung unerläßlich. Es gibt da keine statische Wahrheit, denn Wie käme es sonst zustande, daß z. B. ein großer Teil der Staaten auf dieser Erde in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die Todesstrafe in Frage gestellt hat, wo sie noch vor wenigen Jahrzehnten als Recht empfunden wurde.

Kehren wir also zurück auf den Weg, von dem wir glauben, daß er aus der Logik der Sondereinrichtungen herausführen kann. Er darf uns nicht nur vom Menschlichen her überzeugen, sondern muß zunächst einmal rigoros im Fachlichen abgesichert sein.

Da steht am Anfang eine soziale und gesundheitliche Organisation, die Früherkennung garantiert. Früherkennung erzeugt so-gleich, vor allem in den betroffenen Eltern, Angst und Verzweiflung. Das Gleichgewicht der Familie, die Beziehung der Eltern zueinander, das Verhältnis schon vorhandener Geschwister untereinander, wird gestört. Es ist also wichtig von vorneherein, die Angehörigen psychologisch zu stützen; in einer solchen Familie sollte immer frühzeitig mit den Mitteln der FAMILIENTHERAPIE gearbeitet werden.

Diagnose und Prognose müssen unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Kindes und der Besonderheit seiner sozialen Umgebung vermittelt werden. Dies bedeutet lange Beobachtung des Kindes unter allen fachlichen Aspekten und enger Kontakt mit der Familie. Wir müssen das Haus kennen-lernen, in dem das behinderte Kind lebt. Die im Vermittler und Therapeuten unerläßliche Grundhaltung ist die der "positiven Semeiotik" (Milan), d. h. Aufbau der Entwicklung des Kindes auf seinen gegebenen und auf seine zukünftig möglichen Fähigkeiten. Die Aufmerksamkeit wendet sich hauptsächlich den Alternativen zu und konzentriert sich nicht auf den Defekt. Zu starker Therapiedruck zerstört das Verhältnis zwischen Kind und Eltern. Therapie wird von vornherein in das tägliche Leben eingebaut.

Sie geht natürlich von den in der ambulanten Beratungsstelle festgelegten Richtlinien aus; hier werden nicht nur die Angehörigen beraten, sondern auch das Kind selbst wird behandelt, dort wo sich dies als not-wendig erweist: Sprachtherapie für Hörbehinderte, Physiotherapie, Psychotherapie werden zum Ausgangspunkt all der Beobachtungen und Hinweise, die sich dann im täglichen Leben zu Hause als Wege entwickeln, auf denen Kinder und Eltern Behinderung zu kompensieren und zu lindern suchen. Ein solches Vorgehen verlangt große Geduld (denn Eltern sollen ja nicht zu Therapeuten werden), eine kontinuierliche interdisziplinäre Besprechung des Falls (Arzt, Psychologe, Therapeuten, Sozialdienst) und erfordert einen weitreichenden Plan (Diagnose und Prognose). Eine solche Arbeitsweise ist bei allen Behinderungsarten möglich.

Dann schließlich der wichtigste Schritt: so früh es nur geht, kommt das behinderte Kind mit Nichtbehinderten zusammen.

Von vielen wird die frühzeitige Loslösung von den Eltern und der Besuch einer Kinderkrippe als negativ betrachtet. ICH HABE DIE ERFAHRUNG GEMACHT, daß für behinderte Kleinstkinder der Besuch einer Kinderkrippe, wenigstens stundenweise, schon nach dem ersten Lebensjahr ausgesprochen positiv ist (zunächst natürlich sollte ein naher Angehöriger dabei sein), und zwar weil dadurch das Kind gerade in dieser so wichtigen Phase der Imitationen durch die Lebhaftigkeit der anderen Kinder stimuliert wird, und dann, weil dadurch einer der größten Ängste der Eltern verfliegt: die Furcht, daß das Kind sich nicht unter den anderen Kindern behaupten könne. Der Kontakt mit den anderen Eltern ermutigt, das Personal der Kinderkrippe beteiligt sich an den therapeutischen Inikationen, und so eben wird Therapie schon ganz frühzeitig in die normalen Tätigkeiten des Kindes, sagen wir ruhig "spielerisch" eingebaut. Von hier aus in den Kindergarten und dann in die Regel-schule stellt nur dort ein Problem der, wo Schule nicht als allgemeiner Lernprozeß, sondern als Auslese verstanden wird.

Sicherlich ist die Konfrontation und die Auseinandersetzung mit der realen Umwelt für das behinderte Kind oft hart und schein-bar unbefriedigend, sie rührt aber zweifellos zu einer optimalen Entwicklung seiner Möglickeiten und zur Aktivierung seiner Lebenskräfte.

Worin unterscheidet sich der hier aufgezeigte Weg von der Praxis der Sondereinrichtungen?

Er ist der Schwierigere.

Nichts gibt uns und den Angehörigen mehr Sicherheit und Genugtuung als das Wirken im geschlossenen Kreise einer Sondereinrichtung. Die Sondereinrichtung schützt nicht nur Behinderte, sondern auch uns. Eventuelle Mißerfolge bleiben in der Familie. Aber auch die Leute draußen können ruhiger schlafen.

Dagegen, mit dem Behinderten in der realen Umwelt leben und wirken erfordert ein ständiges überdenken und Suchen, erfordert Kreativität, Flexibilität, Auseinandersetzung. Wir sollten uns nicht davor fürchten, denn Sondereinrichtung ist Ausdruck von Angst und Pessimismus, Integration ist Aus-druck einer hoffenden, einer sich entwickelnden Welt.

1.8. Das "soziale netz" der ambulatorien

1.8.1 Die "Unitä Sanitaria Locale" (USL) in Italien orientiert an Bologna/Emilia Romagna

Monika Schumann

Per gesetz 833 "Die Institutionalisierung des nationalen Gesundheitsdienstes" wurde am 23.12.1978 in Italien der gesamte gesundheits- und sozialsektor landesweit reformiert ("Fesundheitsreform"). Damit sollte endlich die bis da hin entfaltete institutionelle zersplitterung aufgehoben werden - gab es doch vorher über 36.200 konkurrierende fürsorge- und wohltätigkeitsorganisationen! Diese arbeiteten nicht nur uneffektiv, sondern belasteten darüber hinaus zusätzlich den aus ökonomischen gründen ohnehin schon geschwächten staatshaushalt. Staatsgelder zur unterstützung der Wohltätigkeitsorganisationen wurden häufig von diesen selbst mißbraucht. Abgesehen von dieser materiellen misere liegt ein weiterer hintergrund zur italienischen gesundheitsreform in der erkenntnis, daß gesundheit mehr ist als bloße abwesenheit von krankheit.

Durch die gesellschaftlichen erkenntnisse der sozialwissenschaften als auch durch die alltägliche praxis der gesundheits- und Sozialarbeiter in Italien wurde zunehmend berücksichtigt, wie sehr krankheit mit der sozialen lebenslage der jeweiligen bevölkerungsgruppe verbunden ist (z. b. die "immigranti" aus Süditalien, die in Norditalien sozial benachteiligt sind und aus ihrer entfremdeten lebenssituation heraus häufig "symptome" entwickeln). Wenn krankheit zwar biologisch und je indiviudell erscheint, letztlich aber das ergebnis sozialer bedingungen darstellt, dann reicht es nicht mehr aus, sie nur medizinisch erfassen und wegtherapieren zu wollen. Sie kann dann auch nur unter einbeziehung sozialer aspekte tatsächlich bewältigt werden. Wenn aber krankheit sozial bedingt ist, dann trifft das gleiche auch für die gesundheit zu. Somit kann auch gesundheit gesamtgesellschaftlich unter einbeziehung sozialer aspekte gefördert werden.

Aus dieser grundsätzlichen umorientierung ergibt sich das italienische bemühen, krankheit nicht nur zu "kurieren", sondern gesundheit von vorn herein zu erhalten durch vorbeugung von krankheit anstatt sie im schon eingetretenen krankheitsfall mit verkürzten rein medizinischen mitteln wiederherstellen zu wollen. Diese umorientierung drückt sich aus in dem italienischen leitziel der gesundheitsreform:Prävention statt diagnose; rehabilitation statt pflege". Dieses neue gesundheitsverständnis führte zu folgenden praktischen konsequenzen:

1. dem anti-institutionellen kampf (psychiatrie, sondereinrichtungen) zugunsten offener psycho-sozialer arbeit (ausgehend von Basaglia),

2. zum kampf um die erhaltung der gesamtgesellschaftlichen gesundheit in den einzelnen gesellschaftlichen bereichen wie schule, arbeitswelt, stadtteil anstelle bloßer "reparatur" von krankheit,

3. zur strukturellen vereinheitlichung von gesundheits- und Sozialpolitik in den sozio-sanitären diensten.

Per gesetz 833 wurde der vereinheitlichte nationale gesundheitsdienst auf der basis der "Unitä Sanitaria Locale" (USL) = "Lokalen Gesundheitseinheit" [11] neu organisiert. Diese basisnahen dacheinheiten übernehmen seitdem die gesamte gesundheits- und sozialversorgung der bevölkerung ihres jeweiligen einzugsgebietes ("territorium").Ermöglicht wird dieser neuansatz allein durch das Prinzip der dezentralisierung, welches folglich auch ein neues arbeitsverhalten von allen mitarbeiter/innen erfordert. Der mediziner als "halbgott in weiß" ist nun entthront. Alle anderen berufsgruppen in den "Lokalen Gesundheitseinheiten" (USL) sind ihm (zumindest formal) gleichgestellt.

Ein weiteres leitziel der "gesundheitsreform" besteht in der "demokratischen kontrolle" der sozio-sanitären strukturen (Art. 49). Die inhaltliche und verwaltungsmäßige kompetenz für die USL wurde seitdem den regionen übertragen, verwaltungseinheiten, die unseren bundesländern entsprechen. Jede USL betreut je nach geographischer und sozio-ökonomischer beschaffenheit des einzugsgebietes ein "territorium" von 50.000 bis zu 200.000 einwohnern.

Die einzelnen dienste der USL gliedern sich folgendermaßen auf:

A) "Gesundheitsdienste"

1. "Dienst zur öffentlichen Hygiene" (z. B. kontrolle der großküchen)

2. "Dienst der präventiven Medizin" (arbeitsmedizin, unfallvorsorge, berufskrankheiten usw., überprüfung von arbeitsplätzen zu vermeidung von berufskrankheiten).

3. "Servizio per la procreazione libera e responsabile per la tutela sanitaria, e sociale della maternità, infanzia e dell' età evolutiva e per l'assistenza alla famiglia". Ungefähr: "Dienst zur freien und verantwortungsvollen zeugung, zur gesundheitlichen und sozialen Schutzherrschaft der mutterschaft, kindheit, entwicklungsalter und zur familienfürsorge". Kurz: "Servizio Materno-Infantile" (S. M. I.) -"Fürsorge für Mutter und Kind".

Die durch die nationalen und regionalen gesetze vorgeschriebenen funktionen dieses dienstes umfassen die bereiche der familienberatung, pädiatrie, schulmedizin, gesundheitserziehung und behinderten "fürsorge".

4. "Dienst für Geisteshygiene und psychiatrische Hilfe"

Hierbei geht es um vorsorge, pflege, rehabilitation, schutz der psychischen gesundheit, um deren wiedererlangung, um soziale eingliederung ehemaliger eingewiesener in psychiatrische institutionen.

5. "Dienst zur Koordinierung der Maßnahmen der Basismedizin, der ambulanten Spezialisten und der pharmazeutischen Hilfe".

Dieser dienst erfaßt die bürger und stellt ihnen gesundheitspässe aus, die sie bei beanspruchung von leistungen vorlegen müssen.

6. "Dienst zur Krankenhaushilfe.

7. "Tierärztlicher Dienst".

B) "Sozialdienst"

Funktion: Schutz und vormundschaft in der familie, der frühen kindheit und des entwicklungsalters,' unterstützung im "arbeitsalter" (età lavorativa) und unterstützung der senioren, verschiedenartige angemessene hilfen und maßnahmen bei individuellen, familiären und sozialen problemen.

C) "Verwaltungsdienste"

1. "Dienst für allegemeine Angelegenheiten, Statistik, Datenerhebung und -auswertung",

2. "Dienst für Personalangelegenheiten",

3. "Dienst für finanzielle Planung und für Bilanz",

4. "Dienst für ökonomische Angelegenheiten und finanzielle Versorgung"

5. "Dienst für technische Angelegenheiten".

Der "Servizio Materno-Infantile" (SMI) "Dienst für Mutter und Kind"

Damit die einheitlichkeit und vollständigkeit gewahrt bleiben,arbeitet der "Dienst für Mutter und Kind" als teil des gesundheitsdienstes eng mit dem sozialdienst zusammen. Organisatorisch schlägt sich dies in personalverflechtungen nieder. Der dritte bereich, die verwaltung, ist für beide gemeinsam zuständig. Der "Dienst für Mutter und Kind" muß zur aufrechterhaltung seiner funktion institutionell mit den anderen USL, den ämtern der provinz und region, dem jugendgericht und gericht zusammenarbeiten. Auf der operativen ebene ist die zusammenarbeit mit den krankenhausabteilungen humangenetik, gynäkologie, geburtshilfe und kinderheilkunde notwendig. Auf der verwaltungsebene bestehen verbindungen zu elternorganisationen, behinderteninitiativen, kooperativen zur beruflichen eingliederung behinderter und zu ("assistenzialistischen") "helfenden" institutionen wie tageszentren für schwerbehinderte kinder und jugendwohngemeinschaften.

Der "Dienst für Mutter und Kind" ist wiederum in 2 "sektoren" aufgegliedert:

a) "Consuliorio Familiare" (C.F.) = Familienberatung

b) "Tutela della salute dell' Et8 Evolutiva (TSEE) = "Schutz der Gesundheit im Entwicklungsalter"

c) "Servizio Medico-Psico-Sociale" (MPS) = "Medizinisch-psycho-sozialer dienst"

Zwischen den aufgeführten 2 "sektoren" des "Dienstes für Mutter und Kind" besteht ein gezielter personalaustausch.

A) Die aufgaben der familienberatung:

- beratung zu den problemen sexualität, verhütung, kinderlosigkeit, schwangerschaft, wochenbett, schwangerschaftsabbruch, paarberatung, vorsorgeuntersuchungen.

In enger zusammenarbeit mit dem "sozialdienst" werden auch folgende probleme in diesem "sektor" aufgegriffen: Adoption, voreheliche beratung, unterstützung von sozial benachteiligten müttern mit minder-jährigen kindern Die "equipe" von mitarbeiter/innen setzt sich aus folgenden berufsgruppen zusammen:

gynäkolog/innen, geburtshelfer/innen, psycholog/innen und sozialarbeiter/innen.

B) Die aufgaben des "sektors" "Schutz der Gesundheit im Entwicklungsalter" (TSEE):

Pädiatrische beratung:

- Impfungen und vorbeugung entsprechend den gesetzesnormen

- regelmäßige kontrolluntersuchungen zur psycho-physischen entwicklung von neugeborenen bis zum alter von drei jahren unter besonderer berücksichtigung der frühzeitigen diagnose von verminderung im bereich des nervensystems, des gehörs und im visuellen bereich

- beratung, hilfe und vorbeugung bei ansteckenden krankheiten, hygiene der kindlichen umwelt und gesundheitserziehung in den "asili nido " (kinderkrippen). Die mitarbeiter/innen sind pädiater/innen und gesundheitsassistent/innen.

Schulmedizin:

- impfungen, infektionsvorbeugung, hygienische kontrolle des schulgeländes.und der nahrungsmittel usw.

- gesundheitserziehung in der schule

- hör- und sehtests und zahnmedizin

- der schulmedizinische dienst ist außerdem erste anlaufstelle für psychische oder physische Schwierigkeiten der schüler/innen. Je nach bedarfsfall werden die schüler dann an die zuständigen stellen der USL weiter überwiesen.

Der mitarbeiter/innen-stab besteht aus ärzt/innen und gesundheitsassistent/innen.

C) Aufgaben des "medizinisch-psycho-sozialen Sektors" (MPS) innerhalb des "Dienstes für Mutter und Kind":

mitarbeiter/innen der equipe sind:

neuropsychiater/innen, psycholog/innen, physiotherapeut/innen, logopäd/innen, sozialarbeiter/innen, sozialpädagog/innen. Dieser dienstbereich übernimmt folgende aufgaben:

- diagnose und behandlung von körperlichen, geistigen, seh- und hörbehinderungen sowie bei störungen und veränderungen im bewegungsablauf,

- entwicklung und durchführung von programmen der rehabilitation für behinderte kinder und jugendliche

- beratung und behandlung bei Störungen im bereich des lernens, der sprachentwicklung, psychischen- und beziehungsproblemen

- integration behinderter in erziehungs- und schulstrukturen

- eingliederung behinderter jugendlicherin Strukturen der berufsbildung

- beratung und unterstützung von mitarbeiter/innett von tages- bzw. dauereinrichtungen für schwerbehinderte

- unterstützung von kindern und jugendlichen mit neuropsychischen dauerschäden

- beratung und unterstützung der erziehungs- und schulischen einrichtungen, die behinderten kinder und jugendliche zwischen 0 und 18 jahren eingegliedert haben.

Wenn jugendliche mit behinderung berufsbildungsmaßnahmen besuchen, oder wenn sie in die arbeitswelt eingegliedert werden, dann werden auch sie noch durch den "Dienst für Mutter und Kind" betreut, selbst wenn sie bereits über 18 jahre alt sind.

- Vorsorge und unterstützung bei adoption oder pflegschaften

- schützende maßnahmen bei minderjährigen aus "sozialen risikofamilien" oder im falle von kriminalität

- vorbeugung, beratung und hilfe bei jugendlichen drogengefährdeten bzw. drogenabhängigen

- zusammenarbeit mit dem jugendgericht bzw. gericht in oben aufgeführten fällen

- eingliederungshilfe der kinder und jugendlichen, die in erziehungsinstitutionen oder wohngemeinschaften leben

- unterstützung und aufsicht über die institute und einrichtungen für kinder und jugendliche, die im "territorium" dieser USL liegen oder ihr verwaltungsmäßig zugeordnet sind

- beratung der eltern und familien im falle von erziehungsproblemen - einzelgespräche und therapien von kindern und jugendlichen.

All diese aufgaben gehören mit zum tätigkeitsfeld eines psychologen/ einer psychologin im USL "Medizinisch-psycho-sozialen Sektor". Nach eigenen aussagen eines italienischen psychologen ist er - bildlich gesprochen - "die tomate in der küche, für alles verwendbar". Seine berufsrolle ist nicht genau festgeschrieben. Je nach eigener kompetenz und ausbildung übernimmt er in absprache mit den anderen mitarbeiter/innen der équipe seine aufgaben.

Einige dieser oben aufgeführten tätigkeitsbereiche konnte ich während meines psychologie-praktikums im "Medizinisch-psycho-sozialen Bereich" des "Dienstes für Mutter und Kind" selbst kennenlernen. Im rahmen meines psychologie-auslandstudiums in Bologna vom Oktober 1983 bis Juli 1984 belegte ich sonderpädagogische, psychologische und sozialpsychiatrische seminare an der Universität Bologna. Gleichzeitig arbeitete ich als praktikantin drei tage pro woche im "Dienst für Mutter und Kind" (SMI) in der "Lokalen Gesundheitseinheit Bologna-West" (USL 27), um die vernetzung der psycho-sozialen dienste und deren zusammenarbeit mit regelkindergärten und regelschulen und den familien der kinder mit problemen "vor ort" genauer-kennenlernen zu können.

Meine praktikumstätigkeit im "Medizinisch-psycho-sozialen Sektor" bewegte sich schwerpunktmäßig in der teilnahme am bereich der unterstützung und eingliederung behinderter kinder und jugendlicher in die regelschule und nachschulische einrichtungen. Dazu gehörten tätigkeiten wie beobachtung (in der schule z. b. soziogrammerstellung ), erstgespräche zur klärung der probleme (anamnese), diagnose, beratung und unterstützen-de gespräche mit kindern, jugendlichen, ihren lehrer/innfit und familien (oder einzelnen mitgliedern) im-falle einer störung oder behinderung. Eine weitere aufgabe bestand in der unterstützung von institutionen z. b. durch das angebot einer fortbildungsgruppe für lehrer/innen über schreib-lese-schwierigkeiten. Bei bedarf wurden auch einzelne oder regelmäßig stattfindende beratungsgespräche mit verschiedenen Berufsgruppen geführt, die hilfe suchten.Mein besonderes interesse galt der beratung bei psychischen problemen im kindes- und jugendalter. Im gegensatz zu uns können psycholog/innen in den vereinheitlichen Strukturen wirklich beides in einer person leisten, d. h. diagnose und beratung bilden eine einheit. Sie werden nicht institutionell zersplittert. Ursprünglich diagnostische verfahren wie projektive tests können so gleichzeitig therapeutisch eingesetzt werden.

Wenn der psychologe/die psychologin des "Medizinisch-psycho-sozialen Dienstes" mit dem zu beratenden kind mit problemen oder dem/der jugendlichen z. b. projektive psychologische verfahren durchführt, dann werden diese immer schritt für schritt auf die jeweils aktuelle lebenssituation der betroffenen person rückbezogen. Die schwierigkeiten inne halb des diagnosegesprächs werden somit für die betroffene person gleichzeitig einsehbar als Schwierigkeit der wirklichen lebenssituation.

Je nach alter der vorgestellten person wird dann gemeinsam mit ihr nach lösungsmöglichkeiten gesucht bzw. wird in dieser absicht das gesamte lebensumfeld des kindes oder des/der jugendlichen mit problemen in die diagnose und psychotherapie einbezogen.

Zur verdeutlichung dieses vorgehens ein beispiel, das in der regelmäßig stattfindenden mitarbeiter -besprechung gemeinsam behandelt wurde:

Silvio, damals 11,6 jahre alt, besuchte die erste klasse der italienischen mittelschule, als er dem "Medizinisch-psycho-sozialen Dienst" von seiner klassenlehrerin wegen schwerer psychischer probleme gemeldet wurde. Er sei innerhalb der klassengemeinschaft ganz und gar ein außenseiter, habe schwere kontaktstörungen zu den anderen kindern und mache in der klasse, was er wolle. Er habe zwar gute lernfähigkeiten aber seine leistungen in allen fächern wiesen dennoch große lücken auf. Häufiger äußere er zerstörerischephantasien. über die hölle, den tod und die seele. Außerdem habe er große-probleme mit seiner geschlechtsrolle. Nachmittags halte er sich regelmäßig auf dem bahnhof auf, um züge zu beobachten, über die er in der schule dann merkwürdige ideen erzähle. Die lehrerin fühle sich allmählich nicht mehr in der Lage, auf Silvio angemessen einzugehen. Zunächst übernahm die psychologin des "dienstes" den fall allein. Sie führte mit der lehrerin, der sozialarbeiterin, die die mutter betreute, und der mutter einzelgespräche. Nach auskunft der mutter bestehe die familie aus ihr, zwei halberwachsenen söhnen und Silvio , dem jüngsten sohn. Der vater sei einen monat nach Silvios geburt an einem gehirntumor gestorben.Als Silvio drei monate alt gewesen sei, habe die mutter eine arbeit in Deutschland aufgenommen. Ihre kinder hätten unterdessen bei einer schwester der mutter gelebt. Die psychologin befragte die mutter in einem zweiten gespräch nach Silvios frühkindlicher entwicklung. Die mutter konnte darüber jedoch nur unklare aussagen machen. Sie wollte auch nicht mehr über ihre zeit in Deutschland sprechen. Der psychologin fielen widersprüchliche aussagen der mutter auf. Viele ihrer auskünfte standen außerdem im gegensatz zu den informationen der sozialarbeiterin: In wirklichkeit hätten die kinder nicht bei ihrer tante gelebt, sondern in einem institut. Der älteste sohn habe dort die zeit bis zu seinem 16. lebensjahr verbracht, der zweite sohn bis zu seinem 14. lebensjahr und Silvio sei im alter von 2 1/4 jahren bis zu 4 1/2 jahren in einem heim untergebracht gewesen. Nach ihrer rückkehr aus Deutschland habe die mutter dann mit Silvio und den anderen söhnen zusammengelebt. Dieser habe einen kindergarten besucht, in dem er als fünfjähriger wegen "schweren störverhaltens" aufgefallen sei Silvio erzählte der Psychologin in einzelgesprächen, daß sein ältester bruder der mutter gegenüber schon öfter gewalttätig geworden sei. Sonst sei er aber nicht so.

Sein anderer bruder habe schon einmal versucht, die mutter zu erschießen. (Diese aussage Silvios wurde von der sozialarbeiterin bestätigt.) Ganz nebenbei erwähnte Silvio, daß er - jetzt dreizehn-jährig - noch im bett der mutter schlafe. Schwerpunktmäßig konzentrierte sich die psychologin nun auf projektive verfahren, da Silvios Störungen eindeutig im emotionalen bereich zu liegen schienen. Den "Thematic-Apperception-Test" (T. A. T.) wertete sie mit Silvio tafel für tafel zusammen aus, da sie bemerkte, wie sehr er jeweils noch unter dem eindruck der vorhergehenden tafel stand. Dann ließ sie ihn freie zeichnungen anfertigen.

Zeichnungen:

1. bild: freie zeichnung:

Silvio malt ein gespenst.

2. bild: freie zeichnung:

Ein zug als untergrund!

Ein mond, ein stern.

3. bild: freie zeichnung:

Ein shiff mit shwert.

Das meer darunter ist

farblich senkrecht

zweigeteilt!

4. bild: "male eine person!"

Nahezu das ganze bild besteht aus einem riesigen kopf, der körper existiert fast nicht. Das gesicht ist rot, die haare grün, das geschlecht der person ist nicht erkennbar.

5. bild: "male eine frau!"

Silvio malt eine phantastische organgefarbene frauengestalt.

6. bild: "male eine familie!"

Er malt 4 frauen, alle in orange und rot! Allen frauen fehlen die beine!

Psyhoanalytische interpretation:

Er malt seine phantasien.

Der zug entspriht seinen zwangsideen.

Gestörtes realitätsempfinden.

Nach aussage

seiner lehrerin sind Silvios bilder immer "unwirklich", z. b. ein eis,

das fliegt.

Lt. Psychoanlayse ein hinweis auf nicht integrierte persönlihkeitsanteile.

Im gespräch nennt Silvio, diese person "Silvia", die weibliche

form von sich! d. h. Silvio hat keine "wahre" beziehung zu sich selbst.

Seine mutter!

Im gespräch beschreibt Silvio seine schwierige beziehung zu seiner mutter.

Aus psychoanalyrischer sicht gilt orange/rot als schockfarbe. Wenn frauen keine beine haben, Sind sie "lahmgelegt", "bewegungunfähig.

Die psychologin kam aufgrund der sitzungen mit Silvio und der gemeinsamen erhebung der familiengeschichte mit allen beteiligten zu der auffassung, daß Silvio "psychotische züge" aufweise.

Zweierlei hilfen mußten nun gewährt werden:

1. Unterstützung Silvios zur lösung seiner emotionalen probleme und seiner beziehungsschwierigkeiten.

2. Gewährung einer stützlehrerin in der schule, die ihm aufgrund des gesetzes 517 zustand.

Seitdem Silvio, inzwischen in der abschlußklasse der mittelschule, in seiner klasse von der stützlehrerin betreut worden ist, ist er ruhiger geworden. Er hat ein gutes zwischenmenschliches verhältnis'zu ihr aufbauen können und ist kontaktfreudiger geworden. Die stützlehrerin ihrerseits wurde von der psychologin regelmäßig beraten.

Im anschluß an die einzelgespräche mit Silvio, seiner mutter und den lehrerinnen fanden gemeinsame sitzungen zwischen Silvio, seiner mutter, einem neuropsychiater und der psychologin des "Medizinisch-psycho-sozialen Dienstes" statt. Hier sagte Silvio, daß er keine freunde habe. Außerdem sei er gar nicht Silvio! Seine mutter würde sich irren.

Sein vater habe Silvio geheißen! Dann griff er den neuropsychiater an. Diesen möge er nicht. Seine (nicht anwesenden) brüder könne er auch nicht leiden. In unbeteiligter weise wies ihn seine mutter zurecht: "Man beleidigt keine leute!" Silvio kümmerte sich nicht darum. Darauf erwiderte die mutter: "Sehen Sie, so ist er!" Nun begann eine heftige auseinandersetzung zwischen mutter und sohn. Zum schluß griff Silvio nach seiner mutter den neuropsychiater erneut an.

In der anschließenden fallbesprechung der mitarbeiter/innen des "dienstes" gelangten sie zu folgender einschätzung:

Wenn eine person mit "psychotischen zügen" unter großer emotionaler spannung ihre eigenen negativen anteile abspaltet und auf eine andere person überträgt, dann erhält diese einen verfolgungscharakter. Silvio, der mit im bett seiner mutter schlafe, und dessen vater schon lange verstorben sei, habe die rolle des "ersatzehemannes" inne. Er brauche aber ein männliches vorbild und die auseinandersetzung mit männern, um seine eigene identität finden zu können. Um sich vor der (übermächtig empfundenen) mutter zu verteidigen, identifiziere er sich mit ihr. Um die gegenseitige abhängigkeit zwischen Silvio und seiner mutter aufzulösen, und um beiden zu einer weiteren persönlichkeitsentwicklung zu verhelfen, müßten in zukunft beide unterstützt werden. Silvio dürfe nicht länger im bett der mutter schlafen. Er müsse in der schule von allen dort an¬wesenden gefördert werden, besser in die klassengemeinschaft integriert zu werden. Durch psychotherapie müsse er in seiner persönlichkeit stabilisiert werden.

Die mutter, die selbst innere kämpfe auszustehen habe, und die zu allen drei söhnen sehr aggressiv gefärbte beziehungen aufgebaut habe, müsse ebenfalls psychotherapeutisch betreut werden, um Silvio leichter frei-geben zu können, und um eine entwicklung bei ihm zulassen zu können.

Die psychotherapeutische unterstützung der mutter gehöre aber im gegensatz zu den hilfeleistungen für Silvio nicht mehr in den aufgabenbereich des "Medizinisch-psycho-sozialen Dienstes" im "Dienst für Mutter und Kind". Für sie als erwachsene sei der "Dienst für Geisteshygiene und psychiatrische Hilfe" zuständig. Die mitarbeiter/innen beider dienste sollten sich im falle Silvios aber regelmäßig über ihre jeweiligen hilfestellungen und die geplanten nächsten schritte austauschen.

Die geschickte Silvios hat mich besonders betroffen werden lassen, weil er ernsthafte psychische störungen aufwies, die so schwerwiegend waren, daß er ein "Zertifikat, behindert zu sein" erhalten hat. Dennoch konnte er mit hilfe einer stützlehrerin die regelschule besuchen. Er machte dort sogar fortschritte.

Die fallgeschichte zeigt ferner, wie umfangreich die hilfen des "Medizinisch-psycho-sozialen Dienstes" organisiert werden.

Wie ist nun die strukturelle verbindung von USL und schule einzuschätzen? Eine wesentliche verbindung ergibt sich über die erstellung von "Zertifikaten". Die "certificati" (bescheinigungen) für behinderte kinder werden vom "Dienst für Mutter und Kind" innerhalb der "Lokalen Gesundheitseinheit" (USL) ausgestellt. Diese "certificati" sind für die Schulbehörde wichtig, damit die schulleiter zusätzliches personal beantragen und bei der einrichtung neuer klassen eine geringere gruppengröße festlegen können. Werden behinderte schüler/innen in klassen der "scuola elementare" (grundschule) oder "scuola media" (mittelschule) integriert, muß die klassenfrequenz automatisch auf 20 schüler/innen sinken und außerdem ein "insegnante di sos`tegno" (stützlehrer/in) an-gestellt werden. (Die stundenzahl ist abhängig von der art und dem grad der behinderung.) Diese spezialist/inryen sollen aber nicht allein für die schüler mit behinderung zuständig sein, sondern gerade den sozialen prozeß der eingliederung in die klasse unterstützen (so formuliert im gesetz nr. 270/1982). Die kriterien, w e r als behindert gilt, sind ebenfalls im gesetz 270 definiert: Es gibt die festlegung des "biologischen" und des "sozialen handicap". Behinderungen der ersten art sind eine dauerhafte, nicht mehr rückgängig zu machende verminderung der eigenen physischen, sensorialen, motorischen und/oder psychphysischen bedingungen" (z. b. muskelstophie, spastische lähmung, Down-Syndrom, erhebliche "geistige" einschränkung, autimus, blindheit, Schwerhörigkeit usw.) Hierzu zähleh alle organisch bedingten behinderungen, schwere zurückgebliebenheit der intellektuellen entwicklung sowie schwere veränderungen der persönlichkeitsstruktur. Bei der zweiten art von behinderung der kindlichen entwicklung handelt es sich darum, daß das kind "objekt eines ausgrenzungsprozesses" geworden ist. Die davon betroffenen kinder gelten aber nicht als behinderte (mit den entsprechenden juristischen und verwaltungsmäßiqen folgen!).

Liegt eine behinderung im sinne der ersten kategorie vor, schreibt der Psychologe des "Medizinisch-psycho-sozialen Sektors" (MPS) ein "certificato", das an das P rovveditorato (schulautsichtsamt) der gemeinde geschickt wird, die zentrale also für alle zertifikate aller USL der region. Nach der statistischen erhebung aller daten werden von dort aus vom "Ministro dell'Istruzione Pubblica"/Rom staatlich bezahlte stützlehrerstellen angefordert. Jedes zertifikat für alle behinderten schüler/innen muß jährlich bis ende Februar von den psycholog/innen erneuert werden, um so eine andauernde festlegung zu verhindern (s. seite, fall A). Liegt eine Situation der "zweiten art" vor, was der/die psychologe/in entscheiden muß, (caso a rischio" /risikofall) so erarbeitet er/sie eine "r lazione" (einen bericht) über den entwicklungsstand des/r schülers/in, der ebenfalls an das "Provveditorato" weitergeleitet wird und mit einer detaillierten forderung zusätzlicher erziehungsmaßnahmen endet (s. seite. ., fall B).

Für jede/n behinderte/n schüler/in beruft der/die psychologe/in des "Dienstes" einmal monatlich eine konferenz für alle beteiligten "operatori" der schule und der USL ein (ggf. auch andere speziali¬sten/innen wie professoren/innen der universität), auf der die entwicklungsschritte für den/die betreffende/n schüler/in im nächsten monat festgelegt werden:

Die zusammenarbeit zwischen USL und schule im falle der "certificazione" verläuft also wie folgt:

Fall A)

"Certificazione" der "träger von behinderungen"

Zur veranschaulichung werden im anhang zwei beispiele von zertifikaten durch die USL überstzt.

Fall B)

"Segnalazione" / Meldung von schülern, die kein "Zertifikat" bekommen

Zur veranschaulichung werden im anhang zwei beispiele von zertifikaten durch die USL überstzt.

Auffällige schüler/innen, jedoch keinesfalls behinderte, (bei uns evtl. in einer beobachtungsklasse oder evtl. sonderschule für lernbehinderte) bekommen keine stützlehrer/in zugeordnet, erhalten aber unterstützung durch die USL als vermittlungsinstanz. Psychologische interventionen in diesem falle bestehen aus beobachtung des unterrichts, lehrer- und elterngesprächen, soziogrammen und gezieltem einsatz der ergebnisse in der klassendynamik, kontinuierlichen gesprächen mit der lehrerin, mit dem schüler/der schülerin und ggf. seiner familie.

Um die beiden fälle noch einmal deutlich voneinander zu unterscheiden, werden sie in einem überblick systematisch gegenübergestellt:

Fall A)

situation der Schüler

USL kompetenz

schulische kompetenz

kompetenz (schulamt) Provveditorato

1. organisch behinderte

- schwerer rückstand der kognitiven entwicklung

- schwere veränderung der persönlichkeitsstruktur

"Certificazione" funktiionale diagnose

Übermittlung der "certificazione"an das schulamt mit der forderung nach unterstützung (planung erzieherischer aktivitäten und notwendige umsetzung). Regelmäßige treffen mit der USL zur reflexion der interventionen und zur neubestimmung der situation.

reduktion der schülerzahl in der Klasse. "Stützlehrer" Art. 12, Gesetz 270/1982

Fall B)

"risikofall" aufgabe der USL, jedoch kein zertifikat möglich.

globaler bericht (relazione), der die schwierigkeiten im jeweiligen einzelfall beschreibt.

"Segnalazione" an das schulamt einschließlich der planung der erziehungsmaßnahmen.

"Organico aggiuntivo" "stützlehrer" Art. 14, Gesetz 270/1982

Nach ablauf der pflichtschulzeit der behinderten schüler/innen oder der "sozialen problemschüler/innen" stellt sich die frage des "was nun?" Dazu hat eine "Inter- USL -Gruppe" aus Bologna einen 45-seitigen fragebogen (Scheda di informazione e osservazione...) als arbeitsinstrument entwickelt, der die entwicklung jedes einzelnen behinderten zukünftigen schulabgängers genau wiedergibt.

Jeweils im letzten schuljahr erarbeitet der/die psychologe/in anhand dieser "scheda" durch eltern-lehrer-gespräche und gespräche mit den betroffenen ein genaues profil, das mit konkreten vorschlägen zur nachschulischen situation der betreffenden endet.

Da die USL jeweils durch die regionen verwaltet werden, können sie im aufbau und in ihrer arbeitsweise je nach dem dort vorherrschen-den politischen klima große unterschiede aufweisen. Diese wider-sprechen trotzdem nicht dem ziel der "nationalen vereinheitlichung". So bestehen auch unterschiede zwischen der region Emilia Romagna und der Toscana, obwohl die USL beider regionen prinzipiell ähnlich organisiert sind. Im folgenden soll ein gespräch mit herrn dr. Roser wiedergegeben werden, das sicherlich zur veranschaulichung beitragen kann.

1.8.2 Die USL in Florenz/Toscana

5 USL versorgen die knapp 500.000 einwohner im stadtgebiet von Florenz, 4 weitere USL sind für die bevölkerung der provinz zuständig. Jede USL betreut ein einzugsgebiet von ca. 80.000 einwohnern. Es wird davon ausgegangen, daß etwa 3-4 % der bevölkerung psychologischer hilfe bedürfen. Diese schätzung bezieht sich auf kinder und erwachsene. Sie schließt die bereiche der behinderung und der psychiatrischen versorgung mit ein. Auf rund 20.000 einwohner berechnet sich eine psychologenstelle. Seit der durchsetzung der "gesundheitsreform" hat jeder bürger ein anrecht auf kostenlose betreuung durch eine/n hausarzt/-ärztin, eine/n psychiater/in und eine/n neuropsychiater/in. Ursprünglich sollten auch die medikamente kostenfrei sein. Jetzt ist eine geringe kostenbeteiligung vorgeschrieben. Die USL ihrerseits werden über die regionen staatlich finanziert. Über die regionale verwaltung werden auch sonderprogramme wie z. B. drogenprophylaxe staatlich finanziert. Der jeweils drei jahre gültige regionalplan umfaßt - vermittelt über die USL - außerdem die finanzierung privat getragener leistungen: [12]

Diejenigen klienten, die die arbeit der öffentlichen gesundheits- und sozialdienste nicht akzeptieren, können also die dienste privater Organisationen in anspruch nehmen. Diese erhalten für ihre leistungen dann die gleichen beitragssätze wie die USL. Das verhältnis von öffentlichen und privat organisierten hilfsangeboten ist jeweils unterschiedlich.

In der stadt Florenz existieren im gegensatz zu anderen einzugsgebieten keine privat getragenen sonderschulen mehr.

Zwischen stadt- und landgemeinden bestehen beträchtliche unter-schiede. Im gegensatz zum stadtgebiet gibt es in der provinz kaum noch "istituti". Dies kann erklärt werden:

1. durch die starke soziale kontrolle auf dem land,

2. durch das größere soziale engagement in vereinen, in kirchen, in ehrenamtlichen tätigkeiten.

Beide momente verringern ausgrenzungsprozesse. Dennoch verfügen die landgemeinden andererseits über weitaus geringere erfahrungen im prozeß der integration. Diese darf nicht nur verkürzt werden auf eine soziale hilfeleistung für menschen mit behinderung. Stattdessen soll sie eine "sozialisation für alle" sein, eine neue und andere kultur, denn die gesamtheit ist mehr als die summe der teile (der jeweils individuellen situation)! In so verstandenem sinne müssen alle realen probleme wie drogenabhängigkeit, alter, behinderung.... aufgegriffen und in neuer weise bearbeitet werden. Diesem ansatz entspricht die arbeit im territorium [13] als einzige form. Sie setzt allerdings eine neue "berufliche sozialisation" voraus. Die verschiedenen berufsgruppen haben aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen institutionellen einbindung ein sehr unterschiedliches verständnis und auch je andere kompetenzen. Soll der integrationsprozeß wirklich erfolgreich verlaufen, dann müssen sich die berufsgruppen grundsätzlich als "spezialisten" an-erkennen und auf dieser basis ihre unterschiedlichen kenntnisse gemeinsam für alle verfügbar machen. Bisher verläuft diese zusammenarbeit nach einschätzung von dr. Roser nur in der minderzahl der USL erfolgreich. Die erforderlichen neuen formen der kooperation im berufsalltag müssen noch entschieden erlernt und weiterentwickelt werden. Wie werden die neuen formen der zusammenarbeit nun "vor ort" verwirklicht? Seit durchsetzung der "gesundheitsreform" werden alle kinder kostenlos durch die USL medizinisch und ggf. psycho-sozial betreut. Alle kinder gehen in staatliche, kommunale oder private kindergärten. Im falle von kindern mit behinderung gibt es kein festgeschriebenes verhältnis in der zusammensetzung der kindergruppen im kindergarten. Soweit erforderlich, erhalten die kinder mit problemen besondere förderung. Grundsätzlich wird aber weniger "direkt am kind" gearbeitet, sondern man konzentriert sich stärker auf die arbeit mit den eltern. Diese werden von den fachleuten als die eigentlichen experten für ihre lebenssituation anerkannt, denen die fachleute erfahrung und ihr wissen dann helfend zur verfügung stellen, wenn die eltern dies wünschen. Dieses neuartige verständnis von therapeutischer hilfe wurde stark von prof. Milani-Comparetti geprägt. Die eltern sollen in die läge versetzt werden, ihren kindern angemessen zu begegnen. Dazu gehört auch die aufarbeitung ihrer emotionalen prozesse, die die beziehung zum kind stark prägen. Schließlich ist es die familie, die den engsten kontakt hat zu ihrem kind und daher auch am meisten von der behinderung betroffen ist. Die familie darf jedoch nicht mit diesem problem allein gelassen werden. Zunächst muß erfragt werden, wie und wo sich die probleme im alltag zeigen. Beantwortet werden müssen sie mit einem höchstmaß an "sozialisation" (aller beteiligten) und gleichzeitig einem höchstmaß an fachlichen hilfen. Das bedeutet im falle eines kindes mit lese-rechtschreib-schwäche z. b.: In einer 3. klasse bemerkt die lehrerin die besonderen schwierigkeiten des kindes, die es leistungsmäßig und sozial in seiner entwicklung behindern. Sie wendet sich an eine/n mitarbeiter/in des SMI (USL). Das problem beinhaltet nun drei ebenen, auf denen ihm begegnet werden soll:

- in der erziehungsrealität

- im bereich der gesundheit

- im "territorium"

Es entsteht eine zusammenarbeit zwischen schule, dem dienst der USL und der kommune. Ein/e mitarbeiter/in des dienstes (je nach problem ein/e kinderpsychiater/in, ein/e pädagoge/in, ein/e sozialarbeiter/in oder ein/e therapeut/in) erarbeitet nur eine "intervention", die möglichst in der mitarbeiterbesprechung abgesprochen wird. Es wird versucht, eine diagnose des problems zu erstellen, dies aber grundsätzlich als "funktionale diagnose". Gemeint ist damit in abkehr zur klinischen oder klassisch sonderpädagogischen diagnose die gesamterfassung der persönlichkeit des kindes und seiner beziehungen in seinem umfeld.

Es soll nicht mehr der "defekt" des kindes, sondern seine fähigkeiten erfaßt werden, auch solche, die zunächst noch im verborgenen liegen. Will man das kind "ganzheitlich" er-kennen, dann verlangt dies ein neues vorgehen! Das kind muß beobachtet werden. Mit allen beteiligten muß über seine fähigkeiten gesprochen werden. Diese müssen auf der ebene des gesamten erziehungsprozesses, im bereich der didaktik und auf der ebene seiner emotionen herausgefiltert werden. Dabei dürfen die beziehungen zwischen den genannten bereichen nicht vernachlässigt werden. Der diagnoseprozeß kann in diesem falle zu der regelmäßigen und intensiven zusammenarbeit mit der stützlehrerin führen, die unter dem aspekt der "funktionalen diagnose" individuelle erziehungspläne für das kind erarbeitet, sie mit den anderen am kind beteiligten um-setzt und gemeinsam die erreichung der je gesetzten neuen ziele überprüft und auswertet.

In der stadt Florenz holt ein schulbus die kleineren schulkinder von zu hause ab, die von niemanden begleitet werden können.



[1] Im singular: scuola media superiore.

[2] Ragazinni, Dario: Percorsi diversi nei nuovi programmi, in: Riforma della suola, 10/78, s. 23.

[3] Donolo, Carlo: Theorie und Praxis der Studentenbewegung in Italien, in: Kursbuch 13, 1968, s. 50.

[4] Schmidt, Thomas: Die Linke und ihr Anteil am technokratischen Prozeß. Nachwort zu Viale, Guido: Die Träume liegen wieder auf der Straße, Berlin 1979, Originaltitel: I1 sessantotto. Tra rivoluzione e restaurazione. Milano 1978, s, 195 f.

[5] Ausspruch von Ludwig-Otto Roser, der in Florenz als psychologe an dereingliederung von behinderten ins arbeitsleben arbeitet; s. seine beiträge in diesem band, abschnitt 1.7. und 4.5.

[6] Lettera a una professoressa, zu deutsch: Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin, Berlin 1970.

[7] Viale, Guido, a.a.O. (s. anm. 3), s. 21.

[8] Lodi, Mario: I1 paese sbagliato, Torino 1970.

[9] Die Schülerschule, a.a.O. (s. anm. 5), s. 15.

[10] Arnold, Ernst: Unterricht und Erziehung im italienischen Bildungswesen, Weinheim und Basel 1981, s. 18 und s. 25.

[11] Hier wird die deutsche übersetzung des italienischen begritts "USL" bevorzugt. Manchmal wird die "USL" auch durch den begriff "ambulatorium" ersetzt. Dieser gibt meiner ansicht nach die orientierung der vereinheitlichung, vernetzung und den stadtteilbezug nicht deutlich genug wieder.

[12] vergl. Kap. 4.4.1 fußnote 11)

[13] Die probleme sollen dort, wo sie entstanden sind, im alltag - unter den dort herrschenden "normalen" bedingungen - erfaßt und bearbeitet werden. Dieses verlangt eine orieniterung am gesamten sozialen feld.

2. Kapitel Lebendige schule

Jutta Schöler

Einzeln, zu zweit oder in gruppen haben sich deutsche Besucherinnen auf die expeditionsreise nach Italien begeben.

Um die zwei wochen "vor ort" gut nutzen zu können, haben sich 24 lehrerinnen und Studentlnnen ein jahr lang vorbereitet: italienisch gelernt und die texte gelesen, die im wesentlichen in diesem buch im 1. kapitel aufgenommen wurden.

Am sonntagabend - bevor alle zum erstenmal am montag in die schulen gehen sollten - wurden die letzten organisatorischen fragen geklärt:

- Mit welchem bus in welche schule?

- Wann beginnt der unterricht?

Ich wurde überrascht durch die frage einer lehrerin:

"Ist es wirklich notwendig, wie im programm vorgesehen, daß wir an zwei tagen den ganzen tag in der schule sind?

Ich unterrichte in Berlin in einer integrationsmodellschule. Zu uns kommen sehr oft besuchergruppen. Die sind nach einer kurzen einführung im allgemeinen höchstens zwei stunden im unterricht. - Danach unterhalten wir uns ein wenig, und dann gehen die wieder.

Ich habe den eindruck, das reicht auch!"

Ich stimmte ihr zu - das mag für deutsche besucherinnen, die eine modellschule für die integration behinderter kinder in Deutschland besuchen, ausreichen.

Eine grundschullehrerin, eine mutter, eine studentin findet in den deutschen modellschulen viele selbstverständlichkeiten, die sie aus ihren eigenen lehrerinnen-, schülerinnen- oder muttererfahrungen kennt. - Jedoch: Schule in Italien oder schule in Deutschland - das bedeutet in vielen alltäglichen bedingungen etwas alltäglich anderes - auch unabhängig von der integration behinderter kinder.

Eine kleine erfahrung von einem gegenbesuch italienischer kollegInnen in Berlin soll dies verdeutlichen:

Am vorabend des besuches italienischer lehrerInnen in Berliner grundschulen hatten wir uns getroffen. Die deutschen lehrerInnen zeigten den italienischen lehrerInnen ihre stundenpläne und verabredeten die "besuchszeiten":

"Ihr könnt in der 2. und 4. stunde zu mir in die 2. klasse kommen. - Dazwischen habe ich eine freistunde, die können wir gut für die besprechung nutzen. -

Danach unterrichte ich in der 4. klasse mathematik, wenn ihr wollt, könnt ihr auch in die 4. klasse mitkommen."

Die Italienerinnen entgegneten:

"Wir würden lieber den ganzen vormittag in der 2. klasse bleiben." - "Das wird nicht gehen! In der 3. stunde haben die kinder sport. - Die kollegin ist mit einer besuchergruppe bestimmt nicht einverstanden!"

Die italienischen kollegInnen holten mich zu hilfe. -

Sie wollten nicht glauben, was sie verstanden hatten. -

Sie führten es auf ihre schlechten deutsch- und englischkenntnisse zurück: "Die klassenlehrerin einer 2. klasse ist nicht immer in ihrer klasse? - Sport in der 2. klasse unterrichtet eine fachlehrerin, und die klassenlehrerin ist nicht dabei? - In die 4. klasse geht eine mathematiklehrerin, die mit der klassenlehrerin nicht kooperiert?"

Die italienischen grundschullehrerInnen konnten es sich nicht vorstellen!

Um den unterricht in einem anderen land wie z.b. Italien oder auch Dänemark/England kennenzulernen, sollten sich besucherInnen grundsätzlich mindestens zwei tage, möglichst eine woche am selben ort zeit lassen. - Warum?

Die kulturellen unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen ländern sind nicht sehr groß.

Moderne verkehrsmittel, fernsehen, modische kleidung und massentourismus vermitteln uns den oberflächlichen eindruck großer ähnlichkeiten. - Um die unterschiede in den strukturellen bedingungen des alltags von schule erfahren zu können, müssen wir uns jedoch sehr bewußt und zugleich sensibel mit mindestens zwei bis drei tagen zeit am selben ort auf die neue situation einstellen.

Würden wir nach China, Japan, Nicaragua oder New York fahren, wäre uns diese schwierigkeit mit sicherheit eher bewußt als hier, wo wir uns scheinbar nur auf einen "sprung über die Alpen" begeben.

Immer sind es nur begrenzte eindrücke, wenn wir als außenstehende in die schule kommen. Wichtig ist, sich bewußt zu machen: Der tag, die woche - selbst ein monat oder ein schuljahr sind jeweils eine zeiteinheit, die von den unmittelbar beteiligten gestaltet wird. - In Italien ist dies generell und in vielen zusammenhängen wichtiger als der vorgegebene plan. - Die straßenverkehrsregeln sind interpretierbar - ob der zugfahrplan eingehalten wird oder das einsteigen einer reisegruppe noch abgewartet wird - das entscheidet der einzelne zugabfertiger.

Ob ein schrilles klingeln den schultag einläutet, die kinder klassenweise wie -von einem kasernenhof von ihren lehrerinnen in die klassen geführt werden - oder ob sie in einem abgesprochenen zeitraum irgendwie in der klasse "eintrudeln" - das entscheiden die unmittelbar beteiligten lehrerInnen oder die eltern der kinder.

Diese "kleinigkeiten" prägen das bild einer schule (völlig unabhängig davon, ob auch kinder mit besonderen schwierigkeiten die gemeinsame schule für alle besuchen dürfen oder nicht):

- gemeinsame frühstücks- und mittagspausen oder:

absondern der erwachsenen von den kindern im lehrerzimmer mit einer fest eingeteilten hofaufsicht?

- geplauder unter den lehrerinnen und absprachen zwischen allen beteiligten in den pausen oder:

aneinandervorbeihetzen von einzelkämpferInnen, die ihre je individuellen wege zu den schülerInnen und wenig gemeinsames suchen?

Um das "klima" einer schule selbst zu erspüren, muß man sich mindestens einen oder zwei tage dort aufhalten.

Noch besser: eine woche:

Ist die woche eine ansammlung von einzeltagen, deren inhalte dem Stundenplan abzulesen sind, oder ist ein "spannungsbogen" zu erkennen zwischen dem gesprächskreis am montag, den freien arbeitsphasen, neueinführungen, klassenarbeiten und dem projekttag am freitag?

Treffen sich die lehrerInnen der klassen regelmäßig einmal in der woche, um gemeinsam zu planen?

Die besucherInnen sollten selbst erleben können, wie spannend es sein kann, wenn der wechsel zwischen anstrengung - und leistung - und entspannung, muße und zeit-füreinander-haben den tagesablauf bestimmt. In den italienischen grundschulen ist das soziale miteinander-umgehen-können ein wichtiges ziel. Dies beeindruckt die deutschen besucherInnen häufig so sehr, daß sie daneben oft wenig davon wahrnehmen, was in dieser lockeren atmosphäre gelernt wird. Wir sind aus deutschen schulen das (stunden)planmäßige zerhacken der zeit in 45-minuten-einheiten gewöhnt. Der fest vorgeplante unterricht, in dem die lehrerInnen am beginn festlegen, was am ende der zeit "rauskommen" soll, schafft für alle beteiligten langeweile.

Die stundenbilder, die die teilnehmerInnen der exkursion nach Florenz im frühjahr 1987 aufgeschrieben haben, sollen einen eindruck vermitteln von der lebendigkeit und vielfältigkeit des zufällig von ihnen erlebten unterrichts. Dies sind momentaufnahmen einzelner stunden oder halber tage aus zumeist zwei ganzen tagen, an denen sich jede/r in ein und derselben schule aufgehalten hat. Für alle stand ein dritter tag zur freien verfügung, um nach eigenen Interessen nochmals in die schule zu gehen. Außerdem trafen wir uns an einem abend mit einigen lehrerInnen und konnten unsere fragen stellen.

2.1. Die allgemeinen unterrichtsbedingungen an der italienischen grundschule ("scuola elementare")

Im vergleich zu den allgemeinen unterrichtsbedingungen an deutschen grundschulen erscheinen mir die folgenden unterschiede besonders wichtig:

- sehr geringe klassenfrequenzen (1987 durchschnittlich 17 kinder pro klasse)

- zwei lehrerInnen durchgängig in der klasse, wenn ein kind mit besonderen problemen dabei ist

- kein fachlehrerwechsel. Eine lehrerin unterrichtet alle stunden in ihrer klasse

- es fällt so gut wie nie unterricht aus - auch tageweise abwesenheit von lehrerInnen wird vertreten

- ganztagsklassen und halbtagsklassen nebeneinander in einer schule (je nach elternwunsch)

- unterstützung der lehrerInnen durch zahlreiches "nicht-lehrendes" personal

- schulbusse

- schulkittel

- durchgängig keine ziffernzensuren und kein sitzenbleiben

- kein auslesedruck am ende der grundschulzeit, sondern übergang auf eine einheitliche mittelschule ("scuola media").

Die klassenfrequenzen in der pflichtschulzeit (1. - 8. klasse) betragen im statistischen mittel 17 schüler. Klassen mit 12 - 15 schülern sind häufig anzutreffen. Per gesetz haben die eltern den anspruch, daß eine klasse ab 26 schüler geteilt wird.

Keine klasse im 1. - 8. schuljahr darf mehr als 25 schüler haben. Nach dem integrationsgesetz von 1976 darf eine klasse, in die ein behindertes kind aufgenommen wird, nicht mehr als 20 kinder haben.

Das zwei-lehrer-prinzip ist in der italienischen grundschule inzwischen in klassen mit behinderten kindern weitgehend eingeführt. Ältere lehrerInnen sperren sich z.t. immer noch dagegen, mit einem zweiten erwachsenen im klassenraum zu kooperieren. Für die jüngeren kollegInnen ist es eine selbstverständlichkeit, sich miteinander abzusprechen, sich gegenseitig zu ergänzen und zu unterstützen, sich auch in der klasse gegenseitig zu kritisieren - manchmal auch zu streiten. Sobald ein kind mit behinderung in der klasse ist, wird dieser klasse eine stützlehrerin/ein stützlehrer zugeordnet (vgl. abschnitt 1.5.). Die zwei lehrerInnen (bei halbtagsunterricht) bzw. die drei lehrerInnen (bei ganztagsunterricht), die einer klasse mit einem behinderten kind fest zugeordnet sind, haben formal die gleichen rechte und die gleichen pflichten, d.h.:

- dieselbe pflichtstundenzahl, dieselbe bezahlung,

- dieselben pflichten und entscheidungsrechte bei der festlegung der jahrespläne, der lernzielkontrollen, der formulierungen für die berichte an die familie (frühere zeugnisse).

Untereinander werden die beteiligten lehrerInnen arbeitsteilungen absprechen - dies ist dann jedoch allein ihre entscheidung und ein problem ihrer kooperationsfähigkeit (und nicht durch formale vorgaben oder hierarchische strukturen behindert). Die stützlehrerInnen mit Spezialqualifikation (z.b. für blinde oder taube) haben die besondere aufgabe, die behinderungsspezifischen methoden und materialien bereitzustellen.

Wenn ein kind nicht die allgemeinen lernziele der klasse erarbeiten kann, dann formuliert die stützlehrerin/der stützlehrer den individuellen jahresplan für dieses kind und die darauf abgestimmten lernentwicklungskontrollen (vgl. abschnitt 1.4.).

Nur dann, wenn kinder leicht behindert sind, kommt es noch vor, daß eine stützlehrerin zwei oder gar drei klassen zugeordnet wird. Dies wird jedoch als großes problem angesehen und möglichst vermieden.

In der grundschule (1. - 5. klasse) gilt das konsequente klassenlehrerInnenprinzip, d.h. alle stunden werden von klassenlehrerInnen unterrichtet. Die allermeisten lehrerInnen der grundschule unterrichten ausschließlich in ihrer eigenen klasse und meist ohne lehrerwechsel vom ersten bis zum fünften schuljahr. Lediglich die englischlehrer, manchmal auch die musik- oder sportlehrer kommen als fachlehrerInnen hinzu. Da die fachlehrerInnen in vielen verschiedenen klassen unterrichten müssen und die kinder nicht kennenlernen können, bleibt der/die klassenlehrer/in während dieses fachunterrichts mit in der klasse. Auf mein erstaunen über diesen aufwand wurde mit entgegnet: "Das würde doch sonst unnötig disziplinkonflikte geben. Das wäre den kindern und den lehrerInnen nicht zuzumuten. Das ist genug, wenn in der mittelschule mit dem fachlehrersystem begonnen wird."

Häufig wird versucht, daß zwei parallelklassen eng zusammenarbeiten. Den lehrerInnen ist es dann freigestellt, fachspezifische schwerpunkte zu setzen. Z.b. eine/r der beteiligten lehrerInnen übernimmt für alle schülerInnen der beiden parallelklassen den mathematik- bzw. den muttersprachlichen unterricht.

Mit dem vertretungslehrerInnen-system (supplente) ist sichergestellt, daß der unterricht in der grundschule auf einer stabilen organisatorischen basis steht.

Daß unterricht wegen der krankheit oder wegen bildungsurlaub einer Lehrerin/eines lehrers ausfällt, daß klassen deshalb zusammengelegt werden, ist an der grundschule undenkbar. Die eltern können sich darauf verlassen, daß zwischen 8.30 und 13.20 uhr bzw. bei ganztagsunterricht zwischen 8.30 und 16.20 uhr unterricht stattfindet. Auch die stützlehrerInnen werden vertreten, d.h. es kann nicht vorkommen, daß der/die zweite lehrer/in (der/die stützlehrer/in) aus einer klasse herausgehen muß, um in der parallelklasse den vertretungsunterricht zu übernehmen (zur organisation des vertretungssystems s. abschnitt 1.3.).

In jeder schule können ganztagsklassen (tempo pieno) eingerichtet werden, wenn die eltern dies wünschen. Die schülerInnen sind dann 40 stunden pro woche in der schule anwesend. Der klasse werden zwei lehrerInnen (mit insgesamt 48 stunden lehrverpflichtung) zugeordnet.

Die meisten kinder mit behinderungen besuchen ganztagsklassen. Das gemeinsame mittagessen, mehr zeit für gemeinsames spiel und zeit für übungen, projekte, ausflüge kommt vor allem den kindern mit lernproblemeh zugute.

Behinderte kinder werden häufig auch dann in einer ganztagsschule angemeldet, wenn sie beim schulanfang den anstrengungen des ganzen tagen nicht gewachsen sind. - Sie kommen dann z.t. erst später zum unterricht oder gehen nach dem mittagessen. - Welcher tagesrhythmus für ein kind mit besonderen körperlichen oder psychischen schwierigkeiten am günstigsten ist, das entscheiden die beteiligten lehrerInnen, die therapeutInnen und die eltern.

Die beiden klassenlehrerInnen und der/die stützlehrer/in sprechen untereinander ab, wie sie ihre insgesamt 72 stunden lehrverpflichtung auf die 40 unterrichtsstunden der kinder verteilen. Während der etwa zweistündigen mittagessen- und spielpause sind meist die beiden klassenlehrerInnen anwesend und können so problemlos miteinander absprechen, was am nachmittag weitergeführt wird, welche besonderen ereignisse des tages zu beachten sind.

Die gemeinsame mittagessenzeit ist für die lehrerInnen und schülerInnen zugleich die gelegenheit, die allen gemeinsamen erfahrungen auszutauschen und das mitzuteilen, was der jeweils andere nicht miterlebt hat. Die mittagessen- und pausenzeit wird den lehrerInnen auf ihre zeit der Lehrverpflichtung voll angerechnet.

Gekocht wird vom eigenen küchenpersonal in der schule, oder das essen wird von einer zentralküche der gemeinde angeliefert oder als fertigkost geliefert und in der schule nur aufgewärmt. Beim austeilen des essens, beim tischdecken und abräumen helfen die "bidelli" (s.u.) den schülerInnen. Die eltern zahlen einen - nach dem einkommen gestaffelten - geringen beitrag zum mittagessen. Sie kaufen dafür wertmarken.

Ob sonnabends unterricht ist oder nicht, entscheiden die eltern im einvernehmen mit den lehrerInnen der einzelnen klasse.

Das "nicht-lehrende personal", das sind in den grundschulen die schulsekretärInnen und vor allem die "bidelli" - eine feste einrichtung an italienischen schulen (nicht nur an grundschulen). Die "bidelli" begrüßen als erste jeden besucher, jede besucherin der schule - sie führen die deutschen besucherInnen zum Schulleiter/zur schulleiterin oder zu der gewünschten klasse. Jeweils drei bis vier klassen ist eine solche "hilfsperson" zugeordnet. Die "bidelli" haben viel zu tun:

- Die "bidelli" sammeln während der ersten stunde die wertmarken für das mittagessen ein - fragen meist auch die besucherInnen, ob sie mitessen wollen - und sagen danach in der küche bescheid, wie viele mahlzeiten für diesen tag benötigt werden.

- Die "bidelli" fegen die klassenräume, wischen die tische und tafeln ab. Hierfür sprechen sie sich mit den lehrerInnen - oft auch mit den schülerInnen - ab, welche zeiten am günstigsten sind. Während der mittagspause? In der sport- oder musikstunde, wenn die klasse in einem fachraum ist?

- Die "bidelli" stellen den kassettenrekorder oder den globus bereit und bringen sie in den klassenraum, wenn die lehrerin/der lehrer dies vorher so abgesprochen hat. Manchmal gibt es auch eine klingel in der klasse, mit der die "bidelli" gerufen werden können.

- Die "bidelli" helfen beim austeilen des mittagessens und kochen den lehrerInnen und den besucherInnen für die pause einen kaffee.

- Die "bidelli" trösten kinder, die sich wehgetan haben, und versorgen die kleinen wunden. Bei der betreuung von schwer behinderten kindern können sie das windeln oder füttern übernehmen, wenn sie hierfür an einem speziellen kurs teilgenommen haben. (Sie werden dann auch etwas besser bezahlt.)

- Die "bidelli" unterstützen die kinder bei der versorgung der pflanzen (und manchmal auch der tiere) im klassenzimmer.

- Die "bidelli" gehen ans telefon, holen im notfall die lehrerInnen aus der klasse zum telefon. Wenn die besucherInnen oder schülerInnen in der schule telefonieren wollen, dann können bei den "bidelli" die münzen für die öffentlichen fernsprechapparate eingetauscht werden, die sich in fast jeder schule befinden.

- Die "bidelli" sind die "guten geister" einer italienischen grundschule. Sie wohnen meist in unmittelbarer nähe der schule, sind oft selber mütter oder väter. Häufig sind es menschen mit behinderungen. (Ich kenne zwei spastisch behinderte männer, die als "bidelli" arbeiten, und eine stark sehbehinderte frau, eine "bidella").

- Die "bidelli" kennen meist "ihre kinder" und "ihre" lehrerInnen recht gut. Ein gespräch mit ihnen lohnt sich oft.

In ländlichen gegenden holen schulbusse die grundschulkinder von zu hause ab und fahren sie in die schule. In den vororten von Florenz, in der Toskana und auf Sardinien habe ich es erlebt, daß den grundschulkindern längere wege als etwa 2 km nicht zugemutet werden. Von den eltern wird nicht erwartet, daß sie die kinder mit dem auto bringen und abholen. In der stadt werden die kinder meist von eltern, tanten oder großmüttern zur schule gebracht. Ist dies der familie nicht möglich - und sei es auch nur vorübergehend, weil die mutter sich ein bein gebrochen hat -, dann steht auch hierfür in städtischen wohngegenden mindestens ein kleiner schulbus pro schule zur verfügung. Diese busse fahren die kinder auch zum schwimmunterricht, ins museum oder zu einem ausflugsort. Die fahrer der schulbusse gehören zum "nichtlehrenden personal" der schule oder sind direkt bei der gemeinde angestellt und haben dann noch andere aufgaben für die gemeindeverwaltung zu übernehmen.

Die schulkittel - das fällt den Deutschen vor allem auf fotos als erstes auf. Warum tragen so viele italienische grundschulkinder schulkittel? Weil die eitern dies wünschen!

Ob kittel getragen werden, entscheiden die eltern der jeweiligen klasse. In den einzelnen schulen gibt es verschiedene traditionen:

- alle kinder tragen blaue kittel oder

- die mädchen tragen weiße, die jungen schwarze oder blaue kittel

- manchmal sind die kittel auch kariert (blau-weiß für die jungen und rot-weiß für die mädchen).

Die weißen kittel der mädchen werden von den müttern häufig liebevoll mit blümchen bestickt. Meine tochter Simone war immer sehr stolz auf ihren weißen kittel (und mir war das waschen und bügeln ein graus!) - meine tochter Nadine mochte ihren rot-weiß-karierten kittel nicht gerne tragen.

In den oberen klassen der grundschulen entscheiden die kinder meist jeweils für sich, ob sie ihre kittel tragen - egal, was die eltern am elternabend in der kittelfrage entschieden haben. Auch viele lehrerInnen tragen in der schule kittel. Die "bidelli" immer!

Das kitteltragen in der schule wird damit begründet, daß es praktischer sei.

Mir wurde auch erklärt, daß ursprünglich mit dem kitteltragen die standesunterschiede, die sich in der unterschiedlichen kleidung zeigten, ausgeglichen werden sollten.

Heute erscheint es mir eine unterscheidung zu sein, die das festhalten an traditionen oder das loslassen davon verdeutlicht:

"Auch die eltern und großeltern trugen kittel in der grundschule - warum nicht die kinder heute auch?"

Oder:

"Im zeitalter von waschmaschinen und jeans sind kittel nicht praktischer als die alltagskleidung. - Die standesunterschiede sind an vielen merkmalen erkennbar. - Auch wenn eltern und großeltern kittel trugen, so brauchen die kinder heute es nicht zu tun!"

Um die schulkittel lassen sich unendlich vielfältige spannende grundsatzdiskussionen führen! - nicht nur bei elternabenden!

Elternabende finden regelmäßig etwa einmal im monat statt.

Die eltern und lehrerInnen, mit denen ich sprach, sagten mir, daß diese elternabende regelmäßig gut besucht seien. Viele eltern lassen sich lediglich informieen und nutzen ihre entscheidungsrechte niht genügend aus.

Wenn eltern sich engagieren, dann haben sie in vielen alltäglich wichtigen fragen ein mitbestimmungsrecht, z.B.;

- Zu begin jeden schuljahres muß den eltern der jahresplan vorgelegt warden.

- Die lehrerlnnen schlagen die schulbücher vor. Die auswahl muß den eltern gegenüber begründer warden.

- Die lehrerInnen schlagen die schlbücher vor; die auswahl muß den eltern gegenüber begründet werden.

- Die elten der ganzen klasse warden über den individullen entwiklungsplan der behinderten kinder informiert.

- Über das kitteltagen und den unterrichtsfreien sonnabrnd entscheiden die eltern der jeweiligen klasse durch abstimmung mit einfacher mehrheit.

Die frage nach der wiedereinführung von ziffernzensuren ist schon seit mehreren jahren kein thema mehr bei eltenabenden. -

Die vorteile für das lernen der kinder sind zu offensichtlih. Keine ziffernzensuren.sondern lernentwicklungsberichte für alle kinder(vgl. Abschnitt 1.4.) und kein auslesedruck zu weiterführenden schulen: dies sind wesentliche unterschiede, die die deutschen besucherInnen in italienischen shulklassen leicht vergessen. Dies sind unsichtbare bedinungen, die jedoch "heimlichen lehrplan" einer schule ganz entscheidend bestimmen. Erstaunt sind die deutschen besucherInnen oft, wieviel gelernt, wieviel gleistet wird, beim aufsatz - oder dikatschreiben , bei mathematikarbeiten oder erdkundeprojekten.

2.1.1 La mucca - die kuh. Ein Projekt zum schreiben (1.klasse)

Thomas Quehl

Bereits zu beginn des tages ist zu spüren, daß die längeren zeiteinheiten von 90 minuten viel zu der entspannten atmosphäre bei-tragen, die so schwer zu beschreiben und doch so eindrucksvoll ist. Sie erlaubt es den kindern, sich erst einmal zu unterhalten, die wichtigsten neuigkeiten auszutauschen und zu malen. Nach einiger zeit beginnt Rina, die lehrerin, allmählich die hefte zu verteilen, das malzeug wird beiseite gelegt, und Rina geht zum thema der ersten hälfte dieses vormittags über: "La mucca", die kuh. Der Lehrerrat der scuola elementare in Bagno a Ripoli hat sich darauf geeinigt, elemente der Freinet-Pädagogik in den unterricht aufzunehmen. Die kinder haben sich in dem halben jahr, das sie in die erste klasse gehen, bereits daran gewöhnt, die ersten texte selbst zu verfassen, geschichten zu schreiben oder auch von den Lehrerinnen vorgegebene texte in lose zusammengebundene kleine hefte zu schreiben und zu illustrieren. Teilweise werden diese texte auch mit der Freinet-Druckerei vervielfältigt. In diesem zusammenhang der selbsterstellten fibeln steht auch das schreibobjekt dieses vormittags. Rina hat ein buch über die kuh mitgebracht, mit dessen bildern sie die kinder zu einem gespräch anregt. Es stellt sich heraus, was den kindern in diesem vorort von Florenz über die kuh bereits bekannt ist, sie stellen fragen, die lehrerin antwortet. Wieder ist es diese entspannte lebendigkeit, die mich schon am vortag fasziniert, die ich nicht verklären will, und die doch in einer solchen stundenbeschreibung unbedingt erwähnt werden muß. Mehr oder weniger sind alle kinder an dem gespräch beteiligt, einige kinder reden aber auch zwischendurch mit ihren nachbarn. Das im grunde lehrerzentrierte gespräch hat auf diese weise eine gewissen offenheit, die es umgekehrt der lehrerin ermöglicht, sich ohne viel ermahnungen auf ihren unterricht zu konzentrieren. Vier oder fünf sätze der kinder werden herausgegriffen, wiederholt und von dem jeweiligen kind an die tafel geschrieben, während Rina sie den anderen kindern diktiert. Das gespräch geht um die körperteile der kuh, ihre freßgewohnheiten, um den langen schwanz, mit dem sie die fliegen vertreibt, und - mit einem hinweis auf uns - auch um die schwarz-weißen milchkühe in anderen ländern. Auf diese weise wird ein kleiner, freier text aher die kuh erarbeitet, der von der lehrerin strukturiert wird, aber von den kindern in deren worten formuliert ist.Am ende soll jedes kind diesen text illustrieren, und es entstehen bunte, phantastische oder braune, toskanische kühe. Währenddessen geht die lehrerin von tisch zu tisch, an denen jeweils vier bis, fünf kinder sitzen.

Zwanzig kinder sind in dieser 1. klasse. Rosanna hat aufgrund ihrer sprachbehinderung und einer entwicklungsverzögerung ein zertifikat bekommen, in der bundesdeutschen begrifflichkeit würde sie als "lernbehindert" bezeichnet werden. Einen solchen text zu schreiben, ist für sie noch zu schwer. So hat Rina ihr eine andere aufgabe vorbereitet: Sie zeichnet hinter vorgegebene wörter die jeweilige bedeutung.

kinder sind in dieser klasse.

Völlig selbstverständlich bittet sie den jungen neben sich bei dem einen oder anderen wort um hilfe. Dies stört weder ihn noch die lehrerin, und auch als die sitzkonstellation später wegen unruhe an einem anderen tisch geändert wird, antwortet der neue tischnachbar Rosanna ebenso selbstverständlich und freundlich auf ihre fragen. Als etwas unklar bleibt, geht sie zu Rina, holt sich rat und arbeitet weiter.

Alle scheinen an diesen ablauf gewohnt zu sein, der es dem mädchen ermöglicht, seiner aufgabe nach-zugehen, während die anderen kinder gemeinsam eine schwerere aufgabe bearbeiten. Als die lehrerin bei ihrem rundgang zu Rosanna kommt, und das mädchen seine wörter lesen soll, fordert Rina die anderen kinder sehr energisch zu ruhe auf, denn bei diesem lärm könne Rosanna unmöglich lesen. Schließlich sieht auch Rosannas arbeitsbogen vor, daß sie das wort "mucca" schreibt, und am ende der stunde zeichnet sie wie die anderen eine kuh. Vor allem wird deutlich, daß bei einer solchen konzeption auch das kind, das erhebliche schwierigkeiten beim lesen und schreiben hat, an der inhaltlichen seite des themas teilnehmen kann. Rosanna hört, während sie ihre aufgabe bearbeitet, durchaus dem gespräch über die kuh zu. Sie hat die möglichkeit, sich daran zu beteiligen, auch wenn sie dies in dieser stunde nicht tut. Obwohl ihre lese- und schreibfähigkeiten noch nicht ausreichen, das thema "kuh" zu gestalten, bleibt ihr der inhalt doch nicht vorenthalten.

Es ist in dieser italienischen grundschulklasse nichts von der normierenden arroganz zu spüren, die meint, festlegen zu müssen, mit welcher geschwindigkeit ein kind diese fähigkeiten zu entwickeln hätte. In einer 1. klasse mag das alles noch als selbst-verständlich erscheinen, auch dem zuschauer aus Berlin. Doch wenn ich versuche, mir Rosannas vorgezeichneten weg durch das deutsche schulsystem vorzustellen, wenn ich das hier gesehene auf eine zehn- oder elfjährige Rosanna in Berlin (West) umdenke, wird seine grundlegende bedeutung sichtbar.

Es war ein zufall und schien mir doch nicht zufällig, als ich in einem der selbstgeschriebenen, mit bildern versehenen heftchen diese geschichte fand: Rina hatte als anfang vorgegeben: "In einer großen savanne lebten eine giraffe und eine schlange, aber sie wollten nicht freunde sein, denn sie sahen so verschieden aus...."

Leonardo schrieb weiter: "...die schlange ging in den wald und fand einen zauberer, der sie in eine giraffe verwandelte. Und so wurden sie freunde und heirateten."

Giulia schrieb: "...eines tages stritten sie sich, aber danach wollten sie freunde werden und gingen, um eine dusche zu nehmen."

Und Elisa (er)fand:".... aber eines tages wurden sie freunde und sahen nicht mehr verschieden aus."

2.1.2. Auswertung eines theaterbesuches (2. klasse)

Gabriele Schremmer

Michael Jung

Wir sind heute den zweiten tag in der scuola elementare Vittorino d Fettre in einem ort außerhalb von Florenz. Drei lehrerinnen unterrichten in der zweiten klasse 14 schülerInnen - Daniela als stützlehrerin, Maria und Lea als klassenlehrerinnen (sie werden von den schülerInnen "maestra" genannt). Die kinder werden um 8.30 uhr von Maria in die klasse geführt ... wir, hintendran, setzen uns mit hinein. Bevor der eigentliche unterricht beginnt, packen die kinder frühstücksbrote aus und essen. Dabei sitzen sie ganz still auf ihren plätzen, was uns erst mal (deutsche verhältnisse gewohnt) ganz irritiert. Tina, ein autistisches mädchen, sitzt hinten, neben ihrer stützlehrerin Daniela an einem der gruppentische. Tina nimmt nur am vormittagsunterricht teil und geht dann immer nach dem mittagessen nach hause, da für sie der ganztägige unterricht, den die anderen kinder haben (8.30 bis 16.00 uhr), zu anstrengend wäre.

Gestern früh war die ganze klasse gemeinsam im puppentheater in einem stück, das sie zuvor schon als märchen gelesen hatten.[14] Heute soll es um die auswertung des theaterbesuches gehen.

Maria ruft schülerInnen auf, die an die tafel vorgehen und in eine tabelle, in der märchen und theaterstück gegenübergestellt werden, die jeweiligen haupt- und nebenpersonen eintragen.

An dieser stelle geraten Maria und Daniela in einen kurzen disput, ob eine bestimmte Person zu den haupt- oder nebendarstellern gehört. Ein mädchen schreibt eine person an die tafel, und Maria sagt, daß es richtig sei. Daniela redet von hinten dazwischen, woraufhin Maria das wort abwischt und in die andere spalte schreibt. Nachdem Maria und Daniela sich noch eine weile darüber gestritten haben, ohne sich zu einigen. wo das wort denn nun hingehört, wischt Maria es wieder ab und läßt es von einem kind erneut in die andere spalte schreiben.

Uns vermittelt das den eindruck von uneinigkeit, aber auch von wenig flexibilität der beiden lehrerinnen. Die kinder waren weitgehend unbeteiligt, sie mußten nur die anweisungen von Maria ausführen. Am ende bleiben die unterschiedlichen meinungen so stehen, Marias version bleibt an der tafel, und der unterricht geht weiter.

Tina sitzt neben Daniela und verfolgt das unterrichtsgeschehen. Maria fragt nun die schülerInnen, wie ihnen das stück gefallen habe, und nach einzelheiten des ausflugs. Sie waren mit dem bus gefahren. In diesem zusammenhang fragt die klassenlehrerin auch Tina, auf was für einer straße sie gefahren sind. Tina weiß zuerst nicht zu antworten, kann dann aber, als sie gefragt wird, ob es eine große oder kleine straße war, "grande" (groß) antworten. Sie spricht sehr leise, und Maria wie¬derholt die antwort. Maria verhält sich zu Tina wie zu den anderen kindern auch, läßt ihr aber für die antworten mehr zeit und stellt gleich einige fragen hintereinander. Sie ist genauso bestimmend wie sonst, belobigt Tina auch nicht besonders.

Während alle kinder nun aufschreiben sollen, wie es ihnen im theater gefallen hat, malt Tina figuren aus dem stück und schreibt deren namen dazu, indem sie von Daniela vorgestrichelte 3 bis 4 cm große druckbuchstaben nachfährt. Am schluß ihrer texte malen dann auch die anderen schülerInnen ein bild zum theaterbesuch in ihre hefte. Nun soll verlost werden, welches kind welche person aus dem stück malen soll (die Personen sollen später ausgeschnitten und auf ein gemeinsames bild geklebt werden). Maria ruft Tina nach vorne und läßt sie die lose aus einer tüte ziehen, nennt den namen des kindes, dem Tina dann das los bringt. Offenbar kennt Tina also die namen aller mitschülerInnen.

Alle malen. Maria geht herum, gibt genaue anweisungen und korrekturangaben und malt sogar selbst mal eine linie nach. Bei einem schüler ist die kleidung zu "modern", und die beine sind etwas dünn. Das muß geändert werden.

Wir stehen in der nähe von Tina und betrachten eines ihrer arbeitshefte. Daniela geht auf uns zu und erklärt uns mit leiser stimme: "Tina ..., molto grave!" und schüttelt dabei vielsagend ihren kopf. Sie zeigt uns anhand von zeichnungen alles, was daran fehlt: "Keine augen, kein mund, keine haare, keine hände!" ... Eine reine mängelliste. Dann tritt sie von hinten an Tina heran, nimmt ihre hand und zeigt uns, wie schlaff sie ist. Wir fühlen uns sehr unsicher und unwohl in dieser Situation, denn wir wollen ja gar nicht, daß uns Tina derart vorgezeigt wird.

Tina ist mit ihrem bild früher fertig als die anderen, da sie ja schon vorher angefangen hatte. Sie interessiert sich für die zeichnung ihrer nachbarinnen und fragt diese auch nach einem detail. Daniela malt inzwischen auf einem großen plakat das bühnenbild auf und klebt mit einigen kindern die schon fertigen figuren ein.

Wir gehen während der stunde in der klasse herum und gucken mal hier und mal da.

Pause.

Die Schülerinnen gehen gesammelt nach draußen. Daniela läßt sie ein von ihr ausgewähltes spiel spielen, was den kindern nicht gerade gefällt. Wir sonnen uns in der frühlingssonne.

Dann geht es weiter. Immer mehr figuren füllen das bühnenbild. Auch Tina hilft jetzt beim aufkleben mit. Diese arbeit wird jetzt von einer kleingruppe hinten im klassenraum zu ende geführt. Die anderen schülerInnen rechnen an der tafel und dann im heft divisionsaufgaben.

Daniela geht schließlich mit Tina und zwei weiteren schülerinnen in den nebenraum, wo sie zwei plakate zum vergleich märchen-theater herstellen: auf dem einen ein aufgeschlagenes buch, auf dem anderen eine bühne mit zwei schauspielern. Die umrißlinien der bilder sind dabei von Daniela vorgegeben, die kinder malen aus. Währenddessen malt Tina mit fingerfarben vorgestrichelte große buchstaben nach.

Mittagessen. Tina ißt noch mit den anderen kindern gemeinsam und geht dann nach hause.

Der nachmittagsunterricht vergeht damit, daß die kinder lesen und später bilder zum gelesenen malen. Am schluß singen die kinder einen abzählreim, und abgezählt wird, wer schon gehen darf. So verlassen sie eine/r nach der/dem anderen und dann die letzten paar auf einmal den klassenraum.

Am nachmittag ergriff die stützlehrerin Daniela dann noch eine zweite gelegenheit, um uns etwas "vorzuführen". Ein jugendlicher pest mit seinem moped über den schulhof. Sie tritt durch die (ebenerdige) tür hinaus und ruft ihn heran. Noch bevor er bei uns ankommt, dreht sie sich zu uns um und erhebt mit bedeutungsvoller miene den zeigefinger: "Und nun paßt auf!" soll das sagen. Sie tritt auf den jungen, der inzwischen seinen heim abgesetzt hat, zu und fragt ihn - die hände nun auf dem rücken -, was e denn jetzt mache; ob das seine maschine sei; ob er einen beruf habe usw. Dabei ist ihre stimme leicht verändert, sehr betont, und auch ihre gesichtsmimik ist überbetont. Auch hier haben wir wieder das gefühl des "vorführens" und zudem das gefühl, daß sie nicht "natürlich" mit dem jungen spricht und umgeht.

Nachdem der junge weitergefahren ist, berichtet Daniela uns, daß sie bis vor wenigen jahren stützlehrerin für diesen jungen war. Sie erzählt von seinen "mängeln" und schwierigkeiten und beeindruckt uns mit dem offensichtlichen erfolg der schule, denn er fährt ja nun moped und hat eine berufsausbildung begonnen.

Dann kommt sie auch auf Tina zu sprechen. Tina ist seit dem kindergarten mit den anderen kindern zusammen. Daniela berichtet, daß sie zu beginn eingenäßt hat und gewindelt wurde. Außerdem hat sie sich nur ganz, ganz ängstlich an den wänden entlang vorgetastet und oft nur an der mauer gestanden und vor sich hingeschaut. Sie war total desorientiert und hat die räume nicht gekannt. Das vorbild der anderen kinder ist ein großer anreiz für Tina, z.b. beim händewaschen: Kinder waschen sich die hände - das beeindruckt Tina viel mehr, als wenn Daniela sagt, sie soll sich die hände waschen. Sie hat auch gelernt, auf die toilette zu gehen.

Daniela erklärt uns, daß auch Tina lesen, schreiben und mathematik lernt wie die anderen kinder. Sie zeigt uns materialien, die sie persönlich für Tina hergestellt hat. Alle kinder lernen lesen und schreiben, so z.b. die verwendung der artikel (la, le, li, lo ...).

- Tina lernt die selbstlaute, einfache lautverbindungen und einfache worte lesen und schreiben (z.b. auch la, le, li, ...).

Sie malt beim schreiben vorgestrichelte buchstaben nach.

Alle kinder lernen rechnen, lernen räumliche beziehungen und geometrische formen kennen.

- Tina lernt die zahlen 1, 2 und 3, lernt die begriffe "oben", "unten", "klein" und "groß" und malt dreiecke und geometrische muster.

Immer wieder betont Daniela, daß Tina in einer sondereinrichtung niemals solche fortschritte gemacht hätte (sie war selbst vor der reform in einer solchen tätig). Sie fragt uns, ob es nicht gerecht sei, daß Tina genauso wie die anderen kinder in die schule geht. Einmal in der woche ist auch die stützlehrerin Daniela im unterricht dabei, wenn Tina nicht da ist... auch das sei doch gerecht - für die anderen schülerinnen.

Fazit

Der unterricht bestand aus schreiben, sprechen und malen, war sehr lehrerzentriert und ließ interaktionen zwischen den kindern kaum zu. Die lehrerinnen verhielten sich recht distanziert zu den schülerinnen. Insgesamt herrschte eine sehr ruhige arbeitsatmosphäre (der blockweise unterricht vermied ständigen lehrer- und themenwechsel; die schülerinnen wußten, was sie zu tun hatten). Die anwesenheit von zwei lehrerinnen und die geringe schülerzahl ermöglichten die aufteilung der klasse in teilgruppen und insgesamt eine intensive betreuung der schülerInnen.

Ja, wir waren etwas enttäuscht - hatten wir uns doch erhofft, einen etwas "moderneren" (und allen schülerinnen gerechter werdenden) unterricht zu erleben. Andererseits wurde uns auf diese weise klar, daß es nicht erst der veränderung des gesamten unterrichts und des unterrichtsstils bedarf, um ein behindertes kind mit aufzunehmen. Tina erfuhr hier genau die gleiche behandlung und die gleiche art von (eben konservativem) unterricht wie alle anderen kinder. Tinas anwesenheit in der klasse war den lehrerinnen (und auch bald uns selbst als beobachtenden) eine völlige selbstverständlichkeit. Darüber gab es überhaupt keine frage. Als Daniela (deren unterrichtsstil von den drei lehrerinnen am autoritärsten und distanziertesten wirkte) uns gegenüber ihre auffassung von gerechtigkeit so vehement vertrat und.uns Tinas große lernfortschritte beschrieb (die sie für Tina in einer sondereinrichtung für unerreichbar hielt), waren wir sehr beeindruckt. Das bestärkte uns in der überzeugung, daß Tina hier zusammen mit den nichtbehinderten kindern am richtigen ort ist und nicht in eine noch so gute sonderschule gehört.

Wenn auch selten von ihr genutzt: Es gibt für Tina gelegenheiten für kontaktaufnahmen zu den anderen kindern.

2.1.3 Spezifisches gewicht - volumenberechnung

( Mathematik - 5. klasse )

Jutta Schöler

5. klasse - 20 kinder erfassen mathematische probleme - ein jedes kind nach seinen möglichkeiten.

Auf drei sehr verschiedenen schwierigkeitsstufen wird in dieser mathematikstunde gearbeitet. Die drei schwierigkeiten erkennt die außenstehende besucherin erst nach und nach in den folgenden 90 minuten. Neunzig minuten intensiver problemlösung. Für niemanden langweilig, für alle fordernd. Diese mathematikstunde ist ein musterbeispiel dafür, daß soziales lernen und anspruchsvoller, leistungsorientierter unterricht sich gegenseitig nicht ausschließen.

Was fällt mir als erstes auf in dieser klasse? Die vielen gebastelten kubikdezimeter auf dem lehrertisch und auf dem schrank: Sorgfältig gefaltete, geklebte, aus holz zusammengesetzte - aber auch wackelige, leicht geknautschte kubikdezimeter, denen man die mühen des entstehens ansieht. Was fällt mir noch auf? - Vorne, an einer ecke des Lehrertisches sitzt Nadja, die ich jetzt schon seit fünf jahren kenne. Nadja arbeitet konzentriert mit der stützlehrerin an ihren rechen-aufgaben. - Ich gehe nicht zu den beiden nach vorne. - Ich will sie nicht stören. Ich will verstehen, was die klassenlehrerin Fernanda mit den anderen 19 kindern der 5. klasse heute erarbeitet:

Das gewicht eines körpers! Wie errechne ich das gewicht eines körpers? Das gewicht eines körpers, dessen geometrische abmessungen bekannt sind?

Ich brauche zunächst das spezifische gewicht! Fernanda liest aus einer tabelle vor, erklärt immer wieder: wenn jener kubikdezimeter, den Giacomo gebastelt hat, ganz aus trockenem eichenholz wäre - wieviel würde er wohl wiegen?

0,7 kg

Wenn dieser schöne kubikdezimeter, den Simona gebastelt hat, ganz mit olivenöl gefüllt wäre, wieviel würde er wiegen?

0,9 kg

Wie schwer wäre wohl ein kubikdezimeter aus marmor? Oder gar aus gold?

19,3 kg

Die lehrerin liest die maßeinheit des spezifischen gewichtes aus der tabelle ihres buches vor und schreibt die maßzahl anschließend an die tafel. die abstrakte zahlenkolonne eines mathematikbuches wird in die konkrete vorstellung von neunzehn kinderköpfen umgesetzt.

Fernanda nimmt sich zeit - ca. 15 minuten - für diesen ersten schritt. Immer wieder hält sie einen anderen würfel hoch - spricht die einzelnen kinder direkt an. Haben sie wirklich eine vorstellung, wie schwer, wie leicht das ist? Welcher würfel würde auf dem wasser schwimmen, welcher versinken? Die kinder denken mit - überlegen, vergleichen.

Jetzt der nächste schritt:

Wenn wir einen Körper haben, der zwar klare geometrische formen hat, aber nicht einen kubikdezimeter umfaßt?

Z.b. dieser kleine briefbeschwerer aus marmor?

Er geht von hand zu hand. Wie schwer ist er wohl? Eine schülerin macht einen Vorschlag: Wir müssen ihn erst messen.

Ein lineal wird geholt, gemessen, das ergebnis an die tafel geschrieben:

10 cm lang, 6 cm breit, 4,5 cm hoch ist der briefbeschwerer aus marmor.

Das spezifische gewicht von marmor?

2,7

Noch einmal: was bedeutet diese zahl 2,7?

Ein kubikdezimeter, also ein würfel, der 10 cm x 10 cm x 10 cm mißt, der wiegt 2,7 kg.

Ganz schön schwer: fast so schwer wie ..., die kinder vergleichen... . Unser briefbeschwerer ist leichter!

Die aufgabe wird an die tafel geschrieben:

1. Das volumen berechnen.

2. Spezifisches gewicht ermitteln (aus der tabelle).

3. Volumen x spezifisches gewicht.

Bis zu diesem moment wurde konzentriert - in frontaler arbeitsform gemeinsam gearbeitet - 45 minuten lang. Danach machen sich die kinder einzeln, zu zweit, in dreier- oder vierergruppen an die arbeit. Einige haben ohne jede zusätzliche erklärung die aufgabe in wenigen minuten richtig gelöst, andere haben schwierigkeiten, verrechnen sich, brauchen eine zusätzliche erklärung. Fernanda geht von einem zum anderen, hilft, berät.

Jetzt steht Nadja auf. Sie geht wackelig und doch sehr sicher quer durch den raum vom lehrertisch links vorne zu ihrem platz am gruppentisch rechts hinten. Sie hat ihren stuhl vergessen. Also noch ein-mal zurück. Denselben weg mit dem stuhl in beiden händen. Zwölf schritte - mit einem stuhl in beiden händen laufen - das ist für Nadja eine großartige leistung. Nadja, die wegen ihrer spastik vor fünf jahren überhaupt nicht laufen konnte. Nadja, die in ihren händen keinen bleistift, keinen löffel halten konnte, sie trägt ihren stuhl quer durch den raum. Sie setzt sich an ihren gruppentisch und beginnt ihre übungsaufgaben.

Jetzt gehe ich zu ihr hin, sehe ihr über die schulter. Nadja, die vor zwei jahren ihre ersten krakeligen schreibübungen begann, die mit wenigen wörtern ein großes blatt zeichenpapier füllte, Nadja schreibt in ein heft! Auf karo-papier - in ein heft!

Die aufgaben, die sie zuvor mit ihrer stützlehrerin erarbeitet hatte, sind andere als die ihrer mitschülerinnen.

In ihrem heft steht:

0000

+

=

0000000000

4

+

=

10

000

+

=

0000000

3

+

=

7

und weitere acht aufgaben derselben schwierigkeitsstufe, während 20 andere kinder das gewicht eines briefbeschwerers aus marmor berechnen.

Verflixt, das ist wegen der dezimaistellen so schwierig!

10 cm x 6cm = 60cm3

4,5 cm x 60 cm = 270 cm3

Nochmal: Wieviel kubikzentimeter hat ein kubikdezimeter?

10cm x 10cm x 10 cm = 1000 cm3

Das spezifische gewicht von marmor: 2,7

d.h.: 1000 cm3 marmor wiegen 2,7 kg.

"Wie muß ich jetzt weiterrechnen? -----------Überleg mal!"

Die lehrerin stellt niemanden bloß, Gibt keinem zuviel hilfestellung. Sie hilft den kleinen schritt weiter, der nötig ist, um mut zu machen. Jetzt geht es alleine!

So wie Nadja gelernt hat, ihre zwölf schritte quer durch den raum zu gehen und ihren stuhl alleine zu tragen, so lernt ein anderes kind - vielleicht gerade ih dieser stunde - am beispiel des briefbeschwerers aus marmor, alleine ein mathematisches problem zu lösen.

Am lehrertisch sitzt inzwischen ein anderes mädchen: Barbara. Während der zurückliegenden 40 minuten hatte ich mich umgesehen, aber nicht erkennen können, wer wohl dieses kind sei, von dem mir der Schulleiter vor dem unterrichtsbesuch erzählt hatte. Er hatte mir gesagt, daß in dieser klasse ein mädchen sei, das ganz große lernprobleme habe. Niemand wisse genau, worin die ursachen lägen. Große frühkindliche vernachlässigung in der familie, ursachen eine anregungsarme umgebung kämen wohl zusammen mit leichten hirnorganischen Störungen.

Die stützlehrerin arbeitet jetzt mit Barbara, ich setze mich zu ihnen. Die lehrerin leert ein portemonaie vor den augen von Barbara aus: "Wieviel geld hast du, wenn du hiermit einkaufen kannst?

Schon das ablesen der geldstücke ist für Barbara eine mühevolle aufgabe.

Zwei stück je 500 Lire

Drei stück je 100 Lire

Ein stück zu 200 Lire

Die Geldstücke

Die geldstücke liegen konkret auf dem tisch, Barbara rechnet zusammen, nimmt auch die finger zu hilfe. Sie wird von der stützlehrerin gelobt, als sie nach angestrengtem nachdenken die richtige Lösung sagt: "Mit 1500 Lire kann ich einkaufen!" "Ein päckchen kaugummi kostet 600 Lire. Wird das reichen?" "Ja"

Darin ist sich Barbara ganz sicher! Ein päckchen kaugumi würde sie für dieses geld bekommen. "Da habe ich noch etwa die hälfte übrig!" Die stützlehrerin staunt - und lobt Barbara: Diese selbständige überlegung ist für Barbara eine großartige leistung. Ein selbständiger denkschritt in die richtige richtung.

Nadja, Barbara und die achtzehn anderen kinder stehen auf drei sehr verschiedenen entwicklungsstufen in ihrem mathematischen denken.

Nadja kann mit anschauungshilfen im zahlenraum bis zehn addieren. Barbara kann mit wenigen geldstücken in anschaulichen zusammenhängen umgehen.

18 kinder können mit hilfe des spezifischen gewichts das gewicht eines briefbeschwerers aus marmor berechnen:

1000 cm3 = 2,7 kg

270 x 2,7 27 x 27

27 x 27

189

54

729

1000 cm3 = 2700 g

1 cm3 = 2,7 g

270 cm3 = ? g

Wieviel gram ?

Der briefbeschwerer aus marmor wiegt 729 g.

Jedes kind braucht an einer anderen schwierigen stelle die helfende hand - die richtige denkhilfe. Die lehrerinnen geben diese hilfen.

Niemand in der klasse könnte verstehen, warum ein kind wie Nadja in einem spastikerzentrum oder einer körperbehindertenschule "beschult" werden sollte.

Die kinder werden nicht zensiert. Jede familie wird am ende des schuljahres einen bericht erhalten, in dem die lernfortschritte des einzelnen kindes beschrieben sind.

Für kein kind in dieser 5. klasse wird die frage gestellt, wer am ende des schuljahres sitzenbleibt oder auf ein gymnasium, auf eine realschule oder eine hauptschule übergeht. Diese 20 kinder werden im nächsten schuljahr gemeinsam die mittelschule besuchen!

Jetzt gehen sie erst einmal alle gemeinsam in die wohlverdiente pause.

Gedanken aus Berlin :

"Daß Jennifer, wie die Antragsteller (d.h. die Eltern) meinen, an der bisher besuchten Oberschule optimale Bedingungen für ihre schulische Entwicklung vorfinden mag, beruht darauf, daß sie dort eine besondere, von der Organisationsform dieser Schule her nicht vorgesehene Betreuung erfährt, und nicht nach den für diese Schulart geltenden Rahmenplänen unterrichtet wird. Die Schülerin erhält praktisch Einzelunterricht im Rahmen des Klassenverbandes. Welche Anforderungen die sie unterrichtende Lehrkraft stellt und an welchen Rahmenplänen diese sich dabei orientiert, ist schulaufsichtlich nicht geregelt."

Auszug aus der begründung des oberverwaltungsgerichtes in Berlin vom 4. Mai 1987 (Jennifers medizinischer Befund: Morbus Down-Syndrom - umgangssprachlich: Mongoloid).

Der als "lernbehindert" gekennzeichneten schülerin wird der weitere gemeinsame schulbesuch mit ihren nichtbehinderten freundInnen - nach sechs jahren gemeinsamer grundschulzeit in einer integrations-modellschule und nach vier jahren gemeinsamem kindergarten verboten.

Nadja trägt alleine ihren stuhl.

Vor zwei jahren spielte Nadja noch im sitzen mit den anderen kinder ball - jetzt kann sie auch laufen.

2.1.4 Eindrücke aus der Italienischstunde (Aufsatzunterricht - 5. Klasse)

Brigitte Schmitt

Es ist dienstag, unser zweiter tag in "il padulel", einer scuola elementare in "Bagno a Ripoli".

Pünktlich um 8.30 uhr beginnt in der 5. klasse mit einem handzeichen und einem "pst" der unterricht.

Beide klassenlehrerinnen und die stützlehrerin übernehmen den heutigen italienischunterricht. Die klasse besteht aus zwanzig schülern und schülerinnen, davon haben zwei Lernbeeinträchtigungen. Barbara ist nach westdeutschem fachausdruck ein grenzfall zwischen lern- und geistigbehinderung (s. auch 2.1.3).

Nadja hat eine enorme entwicklung hinter sich (s. auch 2.1.3 und 3.4). Sie ist körperbehindert und sehr beeinträchtigt (sogenannt geistigbehindert). Alle schüler sitzen an gruppentischen. An den wänden hängen wandzeitungen der schüler.

Die erklärung der lehrerinnen zum heutigen unterrichtsthema wird durch Matteo unterbrochen. Er ist nicht bereit, sein comic-heft wegzulegen. Zwischen ihm uni der lehrerin entsteht eine energische diskussion. Ärgerlich packt er das heft weg. Im unterrichtsfach "italienisch" soll eine einführung in das aufsatzschreiben anhand eines ausgeteilten beispiels gegeben werden. Zuerst beschriftet jede schülerin und jeder schüler sein blatt, dazu teilt ein(e) schüler(in) des gruppentisches eine schale mit kugelschreibern, bleistiften, radierern und bleianspitzern aus. Der text wird vor-gelesen und besprochen. Die lehrerinnen setzen sich an den ersten, dritten und fünften gruppentisch. Es entsteht eine beeindruckende interaktion zwischen ihnen und allen schülerInnen der klasse. Alle drei kennen den inhalt des textes,so daß immer wieder eine andere die frage stellt oder eine antwort gibt. Nadja kommt eine viertelstunde später. Sie hat draußen eine ihrer aufgaben erfüllt: die jacke alleine ausziehen und sie an den haken zu hängen. Ein größeres Maß an "autonomia" zu erreichen, ist das wichtigste lernziel für Nadja. Sie setzt sich an den dritten gruppentisch und muß dabei den ganzen raum durchqueren. Das gleichgewicht zu halten, fällt ihr noch recht schwer. Sie lacht und wünscht allen einen guten morgen. Die stützlehrerin erklärt ihr das unterrichtsthema. Während der text von den "bären im walde" mit der ganzen klasse besprochen wird, schreibt Nadja mit dem bleistift auf dem tisch, radiert es wieder aus, blickt sich um, nimmt nach zehn minuten ihr schreibheft aus der tasche, blättert darin, schaut sich die bilder an, spricht zur lehrerin. Dann legt sie das heft zur seite, nimmt aus der schreibschale einen kugelschreiber, versucht die kappe vorne abzuziehen und hinten daraufzustecken. Eine sehr gute feinmotorische leistung für Nadjas körperbehinderung. Gegen 9.15 uhr ist die besprechung des textes beendet, doch ohne pause geht der unterricht weiter. Die hefte und übungsblätter werden ausgeteilt. Die aufgabe der schüler ist es nun, eine eigene geschichte zu schreiben. Nadja und die stützlehrerin gehen zum lehrerpult. Damit muß Nadja wieder den ganzen raum ohne hilfe durchqueren. Beide sitzen sich gegenüber und haben blickkontakt. Zuerst berichtet Nadja auf fragen der lehrerin vom gestrigen abend, an dem sie mit ihren eitern und ihrer freundin eine pizzeria besuchte. In kleinen sätzen druckt sie ihren aufsatz ins heft.

Die lehrerin Paola bespricht den text nochmals mit Barbara und bittet sie, auch ein paar sätze zu schreiben.

Nach 25 minuten beendet Nadja ihre geschichte und geht mit der stützlehrerin in einen nebenraum, um dort den text mit der schreibmaschine abzuschreiben. In der klasse ist eine arbeitsintensive stimmung. Die schülerInnen unterhalten sich, stehen auf, gehen zum nebentisch, lesen sich gegenseitig ihre geschichten vor. Für alle fragen stehen ihnen die beiden klassenlehrerinnen zu verfügung. Korrekturen erfolgen zuerst mündlich, dann schriftlich mit dem bleistift. Durch diese zweierbesetzung erhält jede schülerin und jeder schüler genügend aufmerksamkeit und zeit. Keine/r kehrt enttäuscht an ihren/seinen platz zurück. Der unterricht dauert bereits 105 minuten ohne pause. Matteo ist mit seinem aufsatz fertig, zeichnet einige bilder dazu und beginnt, in seinem comic-heft zu lesen. Nadja zeigt ihre abgetippte geschichte stolz ihren mitschülerinnen und erhält dafür viel lob.

Sie malt ein bild zur geschichte. Um 10.30 uhr sammelt ein schüler von jedem den geschriebenen aufsatz ein und legt ihn in dessen Schulordner. Die pause beginnt.

2.1.5. Samanta ist spastisch gelähmt - ohne sie läuft nichts

Wolfgang Podlesch

Elisabeth Wunderl

Eine lektion zum sportunterricht ohne aussonderung

Samanta besucht mit 15 anderen mädchen und jungen die erste klasse. Samanta ist spastisch gelähmt. Sie kann nicht allein laufen. Deshalb sitzt sie auf einem stuhl mit rollen und einem klappbügel; ansonsten gleicht er allen anderen stühlen der klasse, eine einfache, zweckmäßige und preiswerte lösung (abb. 1).

stuhl mit rollen und einem klappbügel

Im unterricht ist Samanta eher zurückhaltend, sie spricht sehr leise, ihre sätze sind noch unvollständig. Ihre stützlehrerin erzählt uns, daß Samanta schwierig keiten habe, zahlen und buchstaben zu erkennen, vermutlich eine folge ihrer eingeschränkten bewegungs- und handlungsmöglichkeiten, die ja ausgang und grundlage vieler abstraktionsleistungen sind, und das mache sich eben auch bei der aneignung von symbolen bemerkbar. Hinzu kommen feinmotorische entwicklungsverzögerungen. Samanta sei - so ergänzt uns ihre stützlehrerin noch - nicht sehr selbstbewußt, sie neige dazu, aufgaben zu verweigern und anforderungen zu vermeiden. Alles komme deshalb darauf an, ihr selbstwertgefühl zu stärken und ihre sonsomotorischen fähigkeiten weiter auszubilden. Durch arbeiten, bei denen Samanta vorgegebene muster vervollständigt oder Linien nachzeichnet, kann ihre feinmotorik verbessert werden

eine torte mit äpfeln belegen

Beim lesen von buchstaben und wörtern habe es sich bewährt, konkrete anschauungshilfen anzubieten, z.b.

lesehilfe

Zur stärkung ihres selbstbewußtseins werden Samanta häufig leitungs- und führungsaufgaben angeboten, wie es z.b. immer wieder im Sportunterricht geschieht. Wir sind neugierig geworden. Ausgerechnet in dem fach, in dem es um aktion und bewegung geht, soll ein schwer spastisch gelähmtes mädchen erfahren, wie wichtig es für sie ist, daran teilzunehmen.

Die stützlehrerin setzt Samanta vom klassenstuhl in einen rollstuhl und fährt sie in die turnhalle. Dort erwartet uns die sportlehrerin, sie ist physiko-therapeutin. Sie bespricht mit Samanta und ihren mitschülern den ablauf der stunden. Dann geht es los: Klassenlehrerin und stützlehrerin tragen Samanta in die mitte der halle und setzen sie auf eine matte. Die anderen kinder verteilen sich. Da ruft Samanta mit überraschend lauter stimme "verde" (grün). Die kinder beginnen herumzulaufen. Nach etwa einer minute schreit. Samanta "nero" (schwarz): Die kinder hüpfen auf einem bein, "rosso" (rot): Sie bleiben stehen und atmen tief durch, "bianco" (weiß): Sie legen sich auf den boden und robben. Samanta lacht, sie freut sich, daß alle nach ihrer "pfeife tanzen".

Im nächsten spiel kommt es darauf an, einzelaktivitäten in gruppenaktionen zu überführen. Samanta ruft wieder mit kräftiger stimme: "uno" (eins). Alle kinder stellen sich blitzschnell in eine reihe, um danach wieder frei herumzulaufen. "Tre" (drei): Die kinder stellen sich zu einem kreis auf, "due" (zwei): Sie bilden eine reihe und sitzen dabei auf den knien usw.

Beim 3. spiel - "lupo e pecora" (der wolf und die schafe) - schaut Samanta zu: Alle kinder laufen umher, ein mädchen versucht, die "schafe" zu fassen. Immer wenn "schafe" in gefahr sind, können sie sich zu zweit zusammenstellen. Dann muß der "wolf" aufgeben und neue opfer jagen. Samanta verfolgt das spiel sehr aufmerksam und ist dabei sehr erregt.

Bei den folgenden ballspielen macht Samanta wieder mit. Sie sitzt - gehalten von ihrer stützlehrerin - in einer reihe mit anderen kindern, der eine andere reihe gegenübersitzt. Ein schüler rollt einen ball auf die beiden reihen zu: Jeder muß schnell die beine heben, damit der ball ungehindert passieren kann. Samantas beine werden von klassenlehrerin und stützlehrerin angehoben und wieder abgesetzt. Auch hier hat Samanta großen spaß.

Samantas beine werden von klassenlehrerin und stützlehrerin angehoben und wieder abgesetzt

Die stunde ist um, es ist 14.30 uhr. Es geht zurück in die klasse. Bis 16.30 uhr wird heute erledigt, was in den letzten tagen liegengeblieben ist. Arbeitsbögen werden vervollständigt, korrigiert und abgeheftet. Einige schüler beenden ihre zeichnungen, andere räumen auf. Samanta hat hunger. Sie löst mit hilfe ihrer stützlehrerin den knoten einer plastiktüte, um an das brötchen heranzukommen. Sie macht ihrer lehrerin klar, daß sie nur an der wurst interessiert ist. Beide versuchen, das brötchen aufzuklappen, Samanta nimmt nur die scheibe mortadella und fängt an, sie genüßlich zu verspeisen.

Wir haben eine sportstunde erlebt, in der Samanta drei verschiedene rollen wahrnahm: spielleiterin, spielpartnerin und zuschauerin. Als spielleiterin lernte sie, gruppenprozesse in gang zu setzen und zu steuern, als spielpartnerin, hilfen anzunehmen und so in sozialer integration mitzumachen und dazuzulernen wie jeder andere auch, als zuschauerin schließlich, situationen zu ertragen, an denen sie nicht aktiv beteiligt ist.

Wir haben eine sportstunde erlebt, in der drei verschiedene lehrerinnen ihre je spezifischen rollen und qualifikationen für den gemeinsamen lernprozeß von 15 kindern einbrachten:

  • die klassenlehrerin bleibt beim sportunterricht dabei - sie behält den überblick über die gesamtsituation der klasse,

  • die stützlehrerin unterstützt Samanta in ihren speziellen bedürfnissen in ihrer gesamten persönlichkeitsentwicklung,

  • die sportlehrerin weiß, welche bewegungsspiele kindern in der 1. klasse viel spaß machen und zugleich nützlich sind für das bewegungstraining eines spastisch behinderten kindes.

2.1.6. Einführung in die subtraktion (1. klasse) Piü o Meno?

Anne Heck

Lehrerinnen - lehrerin - zuschauerin

Bei strahlendem sonnenschein sitzen an diesem märz-Montag-morgen 20 schülerInnen der klasse lc in kleinen gruppen um ihre gruppentische und lassen sich nicht stören, als der rektor der schule, Herr Trentanove, zwei gälte aus Berlin vorstellt. Die grundschullehrerin Christina begrüßt uns. Einzelne kinder schauen von ihren malbögen auf, beschäftigen sich jedoch weiterhin mit dem ausfüllen und -malen der großen papierbögen solange, bis die lehrerin die schülerInnen auffordert, langsam zum ende zu kommen. Einzelne kinder sammeln die malstifte, filzstife und wachsmalkreiden in dafür vorgesehene leere blechdosen, andere bringen die malbögen in ihre regalfächer, die lehrerin erklärt dabei das thema der "nächsten stunde":

Piü o Meno? - Continua la richerca sulla matemätica

Mehr oder weniger? - Weitere nachforschungen über die mathematik

Aus einer großen plastiktüte verteilt Christina eine unterschiedlich große anzahl von knöpfen an jedes kind. Jede/r zählt die erhaltenen knöpfe, sortiert sie, vergleicht seine anzahl mit der der nachbarschülerinnen und nennt die menge. In einem kurzen tischgespräch unterhalten sich die schülerInnen über gemeinsamkeiten und unterschiede ihrer einzelnen knopfhäufchen. Die lehrerin erbittet von einzelnen kindern eine bestimmte anzahl von knöpfen, z.b. drei, fünf, zwei, einen, die in den plastiksack zurückgelegt werden. Mit jedem kind entsteht ein kurzer dialog zwischen lehrerin und schülerIn über die neue anzahl von knöpfen und das verhältnis zur alten menge: Sind es mehr knöpfe oder weniger?

Verschiedenen interpretationen seitens der schülerInnen sind keine grenzen gesetzt! Ein schüler, Lucas, antwortet: "Auf meinem platz sind

es jetzt weniger, aber in Ihrer tüte sind es jetzt mehr". Sein nachbar, Matheo, korrigiert ihn: "Lucas hat jetzt weniger knöpfe (insgesamt acht), aber noch weniger haben Sie, denn Lucas hat mehr behalten (acht), als er an Sie abgegeben hat (drei)." Einige schülerInnen protestieren, denn es ist offensichtlich, daß die lehrerin in ihrer plastiktüte mehr knöpfe hat als Lucas auf seinem knopfhäufchen.

Aus dieser meinungsverschiedenheit ergibt sich ein kleines rundgespräch über das "mehr oder weniger" bei zahlen. Einige schülerInnen weisen darauf hin, daß "mehr" bedeutet, man hat eine größere zahl, und "weniger" meint, die zahl ist kleiner. In den "nachforschungen über die mathematik" kommen also (fast) alle auf einen begriff, der besonders wichtig zu sein scheint: die zahl.

Die lehrerin schlägt nun vor, ein TAFELBILD zu entwerfen, damit alle die möglichkeit haben, sich nochmals dem problem "mehr oder weniger" zu nähern:

Eine schülerin malt eine menge von acht knöpfen an die, tafel;

ein schüler kennzeichnet fünf knöpfe, die aus der umkreisten menge herausgenommen werden sollen, durch einkästeln. Die gesamte klasse überlegt nun, wie diese fünf knöpfe weggenommen werden könnten, und die schülerInnen einigen sich auf vier möglichkeiten:

1) möglichkeit: 1) auskreuzen der fünf knöpfe und abzählen der restlichen

eine menge von acht knöpfen

2) möglichkeit: 2) einzeln rausnehmen aus dem mengen-kreis durch pfeile

eine menge von acht knöpfen

3) möglichkeit: 3) an jeden der fünf knöpfe NO schreiben und damit nicht mehr beachten

eine menge von acht knöpfen

4) möglichkeit: 4) die fünf knöpfe als teilsumme einkreisen und mit einem pfeil die teilgruppe von fünf aus der gesamtmenge herausnehmen.

eine menge von acht knöpfen

Einigen schülerInnen ist immer noch nicht ganz einsichtig, warum die menge "weniger" wird, wenn von den acht knöpfen fünf auf irgendeine art und weise weggenommen werden, denn die knöpfe bleiben doch auf alle fälle noch da. Hier kann nur ein praktisches beispiel helfen, das in einem spiel verdeutlicht werden muß: DIE SUBTRAKTIONSMASCHINE.

Zwei tische werden gebraucht, drei schülerInnen und eine blechdose mit stiften. Es gibt eine eingabe-einheit (erste schülerin), eine bearbeitungs-einheit (zweiter schüler) und eine ausgabe-einheit (dritter schüler). Die maschine wird in gang gesetzt:

1. Durchlauf

stiftschachtel

eingabe -> eine schülerin nimmt aus der stift-schachtel acht stifte und steckt sie in die blechdose

bearbeitung -> ein schüler nimmt aus der blechdose fünf stifte und legt sie unter den tisch

ausgabe -> ein schüler nennt den inhalt der erhaltenen blechdose: drei stifte, nimmt sie heraus und legt sie in die Stiftschachtel

stiftschachtel

Arbeitsrichtung

Die rechenoperationen werden in mehreren durchgängen gespielt, so daß jedes kind in einer funktionseinheit der rechenmaschine tätig ist. Abschließend wird zur vertiefung nochmals der "rückwärtsgang" eingelegt, d.h. die arbeitsrichtung wird geändert, so daß aus der bearbeitungseinheit "wegnehmen" nun die einheit "zufügen" entsteht: Z.b. drei stifte werden in die blechdose gelegt, dazugefügt werden fünf stifte (der vorrat liegt unter dem tisch), als ergebnis werden acht stifte ermittelt.

Im auswertungsgespräch zur rechenmaschine wird den schülerInnen verdeutlicht, daß "mehr oder weniger" (piü o meno) einen umkehrbaren rechenprozeß darstellt, d.h. eine subtraktion durch den "rückwärtsgang", die addition, überprüft werden kann: Ist die rechenoperation richtig, dann ist jedesmal die eingabe-ziffer gleich der end-ziffer.

acht stifte weniger fünf stifte gleich drei stifte

drei stife plus fünf stifte gleich acht stifte

Die lehrerin schreibt dann mit hilfestellung der schülerInnen die funktionale rechenoperation als tafelbild an:

8 (knöpfe) - 5 (knöpfe) = 3 (knöpfe)

8 (stifte) - 5 (stifte) = 3 (stifte)

Dieser neue lernschritt wird anschließend in der einzelarbeit der schülerInnen vertieft. Jede/r bearbeitet im schülerInnen-heft die nachfolgenden rechenoperationen, wobei sowohl eine grafisch-zeichnerische wie auch eine zahlenmäßige darstellung gewünscht wird.

Jede operation wird von einem kind an der tafel als kontrolloperation ausgeführt, so daß die einzelnen schülerInnen das einzelne ergebnis mit dem tafelanschrieb'vergleichen können.

Beispiele:

fünf schmetterlinge minus zwei schmetterlinge

schmetterlinge

acht rechenkästchen minus vier rechenkästchen

rechenkästchen

sechs bäume minus zwei bäume

bäume

fünf hühnchen minus vier hühnchen

hühnchen

sechs eier minus drei eier

eier

acht menschen minus ein mensch

menschen

Abschließend konnte jedes kind eigene subtraktionsbeispiele erfinden und sie mit der nachbarin/dem nachbarn ausführen. Die lehrerin geht von tisch zu tisch und läßt sich die einzelnen beispiele vortragen. SchülerInnen, die noch einige schwierigkeiten bei der ausführung der rechenoperationen haben, werden aufgefordert, sich von anderen mitschülerInnen helfen zu lassen.

Pädagogische differenzierung und einbettunq

Meine besondere aufmerksamkeit während der mathematikstunde gilt in den einzelnen situationen immer wieder einem mädchen, Rosanna.

In einzelnen phasen fordert die lehrerin, Christina, sie auf, sich am unterrichtsgeschehen zu beteiligen bzw. einzelne aufgaben zu übernehmen. Diese situationen sind gekennzeichnet durch einen hohen grad von anschaulichkeit und bildhaftigkeit. So wird Rosanna aufgefordert, ihr kleineres knopfhäufchen laut vorzuzählen (drei knöpfe) und sie einzelnen kindern an ihrem gruppentisch zu zeigen. Sie bringt einen knopf in den großen plastiksack zurück und behält zwei knöpfe, die sie in ihre taschen stecken darf.

Bei der ersten tafelsituation (die vier möglichkeiten, knöpfe wegzunehmen) darf sie ihre beiden knöpfe mit den angemalten knöpfen vergleichen durch auflegen auf das tafelbild und nachfahren mit dem zeigefinger. Anschließend setzt sie sich an einen seitlich stehenden tisch und malt ihre knöpfe auf einen papierbogen und beziffert sie mit 1 und 2.

Im spiel mit der subtraktionsmaschine erhält sie die aufgabe, die eingabe- und ausgabe-einheit zu kontrollieren, d.h. die anzahl der eingelegten und herauszunehmenden stifte nachzuzählen und das ergebnis zu bestätigen. Sie nimmt dabei eine ganz wichtige funktion wahr, da ein neuer arbeitsgang nur dann anlaufen kann, wenn Rosanna das ergebnis bejaht hat.

Während die schülerInnen in einzelarbeit die verschiedenen beispiele bearbeiten, rechnet Rosanna mit hilfe der lehrerin das erste beispiel (fünf schmetterlinge minus zwei schmetterlinge gleich drei schmetterlinge) an der tafel durch aufzeichnen von schmetterlingen und bezifferung, so daß die mitschülerInnen ihre individuellen ergebnisse vergleichen können. Die "schmetterlinge" spielen dabei eine besondere rolle. Sie sind der "verbindungshaken" zum sprachunterricht, in dem Rosanna das neue wort kennengelernt hat und nun schreiben lernt (vgl. bericht zum unterricht in der teilungsgruppe im abschnitt 2.1.7.). Sie zeichnet nach dem tafelanschrieb "ihre schmetterlinge" von der tafel ab, beziffert sie und beschreibt jeden mit dem begriff: farfalla. Anschließe malt sie (wie auch die anderen schülerInnen) ihre zeichnung bunt aus.

"Interpretationen"

Beeindruckend ist für mich diese stunde durch das erleben eines abwechslungsreichen und vielfältigen unterrichts, in dem ein abstraktes thema: die Subtraktion den schülerInnen auf vielfältige art und weise und auf vielen unterschiedlichen "kanälen" sinnlich erfahrbar gemacht wird. Mit dem vorwissen, ein kind mit besonderen lernschwierigkeiten besucht diese klasse, gilt meine aufmerksamkeit immer wieder den unter-schiedlichen situationen, in denen dieses mädchen, Rosanna (mit großen schwierigkeiten in der spachlichen verständigung und problemen, sich über längere zeit zu konzentrieren), am unterrichtsgeschehen aktiv teilnimmt. Der lehrerin gelingt es, in jeder lernphase situationen zu schaffen, die die besonderen fähigkeiten des mädchens aufgreifen und ihm dazu verhelfen, individuell abgestimmte kleine lernschritte zu gehen, die sich in die gesamte lernsituation einbetten. Im gesamtzusammenhang setzen diese situationen an den bekannten gegenständen und begriffen an (z.b. schmetterling, ein neues wort, das Rosanna im Sprachunterricht erarbeitet hat und in der folgenden lingua-stunde weiter vertieft) und verknüpfen die besonderen vorlieben mit diesen besonders fein ausdifferenzierten lernschritten: Rosanna malt gerne, sie steht gerne vor der klasse und ist begeistert, wenn sie bestätigung durch andere schülerInnen erfahren kann. So scheint die situation im beispiel substraktionsmaschine und das vor "rechnen" der schmetterlingsoperation an der tafel genau auf sie abgestimmt zu sein, so daß sie innerhalb der lerngruppe einige lernschritte selbständig (mit kleinen hilfestellungen der lehrerin) vollzieht, die für das gesamte gruppenklima und die lern-fortschritte besondere akzente setzen. Wer hätte da nicht lust mitzulernen?

2.1.7. Geschichten zum schreiben- und lesenlernen

Thomas Quehl

Anne Heck

Eindrücke aus zwei teilungsg ruppen einer 1. klasse

Nach der frühstückspause und den "Richerca sulla matemätica" (vgl. abschnitt 2.1.6.) wird der unterrichtin der klasse lc der grundschule mit zwei lehrerinnen fortgesetzt. Eine kurze besprechung der beiden lehrerinnen über das fach und ein kurzgespräch mit den schülerInnen hat zum ergebnis, daß LINGUA im teilungsunterricht erfolgen solle.

Christina ruft einzelne schüler (Lucas, Matheo, Lorenzo) und eine schülerin, Rosanna, zu sich und erkärt ihnen, daß sie im nebenraum eine geschichte erarbeiten wollen. Der rest der klasse bleibt im klassenraum und wird von Rina, der zweiten lehrerin, unterrichtet.

Thomas bleibt bei dieser gruppe.

Anne setzt sich zu der kleinen gruppe in den benachbarten werkraum. Dort arbeiten die drei schüler und die schülerin Rosanna gemeinsam mit der lehrerin Christina.

Lucas, Matheo und Lorenzo gehören zu den besten schülern der klasse - sie können bereits sicher lesen und schreiben und denken sich gerne geschichten aus. Rosanna hat sehr große mühe, einzelne wörter zu lesen und zu schreiben und kann sich nur kurze zeit konzentrieren.

Christina erzählt eine kleine geschichte. Hin und wieder unterbricht geschichte etwas "auffällig" sei. Die drei sich umtiere handelt in der geschichte. Nach dererzählung wiederholen die schüler getretenentiere und erzählen von ihren eigenen erlebnissen mit diesen tieren bzw. von einem zoobesuch. Rosanna wird gefragt, ob sie auch schon diese tiere gesehen hätte, und sie bejaht: Einen schmetterling hätte sie gestern gesehen, ein fasan sei im garten gewesen, eine ameise hätte sie an der hand gebissen (dabei zeigt sie auf die stelle).

Die lehrerin wiederholt nun die geschichte - und dabei sollen die schüler und die schülerin alle ihnen bekannten tiere in ihr heft aufschreiben bzw. Rosanna soll sie zeichnen, falls sie den namen noch nicht schreiben kann. Auch mir als gast geht dabei ein licht auf, als ich in den heften der schüler folgende begriffe lesen kann:

Rosannas heft

Ein blick auf Rosannas heft zeigt, daß sie FARFALLA (schmetterling) schreiben kann, bei dem wort fagiano (fasan) das FA malt und dann eine ameise aufzeichnet. Die lehrerin ermuntert sie, bei ihrem nachbarn, Matheo, abzuschreiben. Matheo zeigt ihr das wort FASAN und hilft ihr dabei, die schreibstelle zu finden: FA... so daß Rosanna das wort zuende schreiben kann. Anschließend beschriftet sie mit Matheos hilfe noch die ameisenzeichnung.

Die erste auswertungsrunde schließt sich an. Die schüler lesen ihre notierten wörter vor, die lehrerin unterstützt sie beim lesen und hilft mit vorschlägen zur schreibweise. Nun macht Christina die kinder auf die besonderheit der geschichte aufmerksam: Die vorkommenden tiere und pflanzen bzw. pflanzenteile beginnen mit den gleichen buchstaben: mit f oder v. Die kinder sind sehr erstaunt darüber, daß es so viele tiere und pflanzen mit den anfangsbuchstaben f und v gibt. Gemeinsam überlegen sie, ob ihnen noch mehr tiere bekannt sind, die mit f oder v geschrieben werden. Dabei fällt Lorenzo der fink ein, den alle schnell in ihr heft schreiben. Rosanna folgt dieser lebhaften unterhaltung mit erstauntem gesicht und schaltet sich mit der frage ein, was ein fink sei. Die drei jungen ereifern sich nun, ihr die besondere art dieses vogels zu erklären, sie hüpfen dabei im zimmer herum und machen arm-flügelschlag-bewegungen, pfeifen dabei und erheitern sich im spiel. Rosanna greift die idee auf und schließt sich den Schülern an.

Christina bittet die schülerin, sich zu setzen, damit sie die geschichte fortsetzen könne. In einer einzelarbeit soll nun jeder schüler ihm bekannte tiere oder pflanzen aufschreiben, die mit den buchstaben f oder v beginnen. Jeder arbeitet still, murmelnd, buchstabierend vor sich hin. In der zwischenzeit unterstreicht Rosanna mit unterstützung der lehrerin die beiden unterschiedlichen anfangsbuchstaben auf einem vorbereiteten textblatt und überträgt einzelne wörter in ihr heft.

Die schüler lesen nun der reihe nach ihre gefundenen wörter. Christina verbessert die schreibweise und bespricht mit den drei jungen die korrekturen und die bedeutung der wörter, die sie gefunden haben. Einzelne schüler ergänzen in ihrem heft, so daß sie eine ziemlich lange wortliste von ca. 15 tier- und pflanzennamen aufschreiben.

Die schüler erhalten nun die aufgabe, die notierten wörter nach ihren anfangsbuchstaben in zwei spalten aufzuschreiben, so daß sie sie nach f und v ordnen.

In einer abschließenden runde - jedes kind hat nunmehr 10 minuten einzelarbeit erledigt - sollen sich die schüler eine kleine geschichte ausdenken, in der die notierten wörter vorkommen können.

Die beschäftigung von Rosanna entspricht derjenigen der schüler: Sie ordnet mit unterstützung der lehrerin die wörter des textblattes in zwei spalten, die die lehrerin für sie aufschreibt. Anschließend sucht sie sich aus jeder spalte zwei begriffe: farfalla und fiore als bei-spiel für f, und malt sie in schreibschrift in ihr heft, volpe und viola als beispiele für v.

Die teilungsstunde endet damit, daß die schüler der reihe nach dem mädchen ihre erdachte geschichte erzählen und als gegenleistung ihre schreibkünste bewundern.

Das thema für den größeren, im klassenraum gebliebenen teil der kinder ist ebenfalls die unterscheidung von "v" und "f". Alle buchstaben hängen sowohl in groß- und kleinschreibweise als auch in schreib- und druckschrift mit einer passenden zeichnung versehen an der wand.

Direkt neben und über der tafel hängend, ermöglichen diese zeichnungen eine ständige selbständige orientierung der kinder bei der verwendung der richtigen buchstaben. "F" ist mit einem schmetterling versehen für "farfalla", und hat als bild einen fuchs für "volpe".

Die lehrerin erklärt kurz, um welche buchstaben es gehen wird: "volpe" und "farfalla" sind den kindern bereits bekannt. So fragt Rina jeweils nach dem anfangsbuchstaben. und die kinder antworten reihum oder auch quer durch die tische. Es ist eine scheinbar sehr gewöhnliche. den kindern bekannte form mit einem fast spielerischen charakter, zu dem auch die tiernamen beitragen.

Interpretation

Im rahmen dieser teilungseinheit wird die differenzierung des Unterrichts hinsichtlich der besonderen fähigkeiten der einzelnen schülerInnen besonders deutlich: Die lernschritte hinsichtlich des schreibens und lesens und des erwerbs einzelner begriffe werden so auf die einzelnen kinder abgestimmt, daß in der jeweiligen Situation ein gewinn möglich wird, wobei die neuen begriffe und wörter in bezug gesetzt werden zu den bereits gelernten. Die abwechslungsreiche situation - verschiedene aktivierungsniveaus und unterschiedliche sinneseindrücke - unter-stützen den lernprozeß in einer form, die durch das ermuntern zur gegenseitigen hilfestellung gekennzeichnet ist.

Im laufe der nachfolgenden unterrichtsstunden wird deutlich, daß die drei schüler zu den lerneifrigsten und guten schülern gehören, die zu¬sammen mit einer schülerin unterrichtet werden, die in manchen Situationen besondere unterstützung benötigt. In der teilungsstunde wird deutlich, daß diese hilfe sehr wohl von einem "begabten" kind kommen kann, und dieses kind wiederum anregt, indem es bemüht ist, seine erklärungen verständlich zu formulieren und phantasiereich zu gestalten.

2.2. Die allgemeinen unterrichtsbedingungen an der mittelschule - (scuola media)

Jutta Schöler

Wer sich als deutsche besucherin/deutscher besucher einige tage an einer italienischen grundschule eingelebt hat und danach einen eindruck bekommen möchte, wie die nicht-aussonderung behinderter kinder weiter-geht, der findet in vielem an der mittelschule ähnliche bedingungen vor:

- Kleine klassen

Die klassen sind weiter relativ klein; wenn ein kind mit behinderung in der klasse ist, dann dürfen es nicht mehr als 20 kinder sein. - Gehört kein behindertes kind zu der klasse, dann liegt die gesetzliche höchstfrequenz bei 25.

Lernentwicklungsberichte statt zensuren

Es werden weiter lernentwicklungsberichte geschrieben und keine ziffernzensuren erteilt. Die anzahl und die form von klassenarbeiten ist den lehrerInnen nicht vorgeschrieben. - Es werden klassenarbeiten geschrieben, diese werden jedoch nicht zensiert (vgl. das beispiel einer mathematikstunde im abschnitt 2.2.1. und das beispiel eines klassenaufsatzes im abschnitt 2.2.3.).

- Kein sitzenbleiben

Sitzenbleiben ist nur dann möglich, wenn es für das einzelne kind für seine gesamte persönlichkeitsentwicklung als vorteilhaft eingeschätzt wird (vgl. das beispiel eines schwer im lernen verzögerten schülers, der die 1. klasse der mittelschule wiederholte, im abschnitt 3.3. und das beispiel einer schülerin, die die letzte klasse der grundschule wiederholte, um ein jahr später die besseren organisatorischen voraussetzungen einer anderen mittelschule nutzen zu können, abschnitt 3.4.).

Sitzenbleiben als "bestrafung" für das nichterreichen statisch vorgegebener lernziele in einzelnen unterrichtsfächern - diese "waffe" ist den lehrerInnen in Italien aus der hand genommen worden.

- Schwerbehinderte und geistig behinderte in der mittelschule

Alle kinder haben das recht, die gemeinsame mittelschule zu besuchen. Es gibt keine aufteilung in haupt- und realschule, gymnasium oder sonderschule. Vielen lehrerInnen, schulleiterInnen und sogar schulrätInnen fällt es noch schwer zu akzeptieren, daß auch die mittelschule neben der vermittlung von kenntnissen und fertigkeiten so ziale aufgaben zu erfüllen hat. - Auch die kinder mit schweren behinderungen haben das recht, die mittelschule zu besuchen - notfalls können ihre eltern es vor gericht einklagen. (Vgl. im abschnitt 3.5. einen zeitungsbericht, aus dem hervorgeht, daß noch 1987 schulleiter und schulrat einem schwer behinderten kind den zugang zur mittelschule verweigern wollten und durch die entscheidung des gerichts zu empfindlichen geldstrafen verurteilt wurden.)

- Freie wahl der lehrmittel

Die lehrerInnen der mittelschule können aus einem breiten angebot an schul- und sachbüchern die lehrmittel frei auswählen, die sie im unterricht einsetzen wollen. - Es gibt keinerlei staatliche zensur durch schulbuch-genehmigungsverfahren.

Pro unterrichtsfach und schülerIn steht ein geringer geldbetrag zur verfügung, der in absprache mit den gewählten klassen-eltern-vertretern ausgegeben werden kann. Schulbücher müssen von den eltern gekauft werden. Einkommensschwache familien bekommen gutscheine.

- Nicht-lehrendes personal

Wie an der grundschule unterstützen auch in den mittelschulen die bidelli die tägliche arbeit in den schulen. - Die ständige anwesenheit der bidelli in den fluren der schulen ist sicherlich ein wesentlicher grund dafür, daß die mittelschulen in Italien - im vergleich zu vielen haupt- und gesamtschulgebäuden, die ich aus Berlin kenne - keinen eindruck von vandalismus machen. (Das liegt sicherlich z.t. auch an der spezifischen situation von Florenz.)

- Die schulleiter

"I1/la preside" steht einer mittelschule vor. Er oder sie ist der/die verwaltungsmäßig verantwortliche für ca. 500 schülerInnen, für die ca. 30 - 40 lehrerInnen dieser schule, die 8 - 10 bidelli und die 3 - 4 sekretärinnen, eventuell noch eine schulbibliothekarin.

"I1/la preside" hat den lehrerInnen gegenüber keine weisungsbefugnis, was die inhaltliche gestaltung des unterrichts betrifft. Engagierte schulleiterInnen können aber durch stetige überzeugungsarbeit und - indirekt durchaus mögliche - einflußnahme auf die einstellung bzw. versetzung von lehrerInnen einer schule im laufe der fahre einen speziellen "ruf" verschaffen.

Fachlehrersystem

Die ständige anwesenheit eines oder zweier klassenlehrerInnen ist mit dem wechsel von der grund- zur mittelschule für die italienischen kinder beendet.

Wichtigste bezugsperson bleibt auch an der mittelschule die klassenlehrerin/der klassenlehrer. Sie oder er ist immer die fachlehrerin/der fachlehrer für "lettere". Das sind 9 unterrichtsstunden pro woche geschichte, sozialkunde, erdkunde und italienisch. Da die italienischen mittelschullehrerInnen eine unterrichtsverpflichtung von 18 stunden pro woche haben und tatsächlich nur in den von ihnen an der universität studierten fächern unterrichten dürfen, kann eine "lettere"-lehrerin/ein "lettere"-lehrer klassenlehrerIn in zwei verschiedenen klassen sein.

An zweiter stelle der wichtigkeit für die schülerInnen steht die fachlehrerin/der fachlehrer in "scienze". Das bedeutet für die schülerInnen 6 stunden pro woche mathematik und naturwissenschaften (physik, chemie, biologie), für die lehrerInnen: unterricht in drei verschiedenen klassen.

Die "lettere"-lehrerInnen und die "scienze"-lehrerInnen begleiten die schülerInnen meist von der 1. bis zur 3. klasse der mittelschule (scuola media), d.h. vom 6. bis zum 8. schuljahr. -

Durch diese regelung ist der wechsel vom reinen klassenlehrerInnensystem der grundschule zum reinen fachlehrerInnensystem (der mittelschule) nicht allzu schwierig.

Schwierig wird die situation oft für den unterricht in den fächern:

Educazione tecnica (entspricht etwa arbeitslehre)

Educazione artistica (kunstunterricht)

Educazione musicale (musik)

Educazione fisica (sport)

sowie in der fremdsprache (meist englisch, gelegentlich französisch, sehr selten deutsch).

Die fachlehrerInnen, die mit ihren zwei oder drei stunden pro woche fachunterricht in sechs oder neun verschiedenen klassen unterrichten, können die schülerInnen meist nicht persönlich kennenlernen. (Das fach musik wird manchmal nur mit einer wochenstunde unterrichtet, d.h. die musiklehrerin/der musiklehrer "wandert" durch 18 klassen, muß ca. 360 kinder unterrichten - da wird auch die verbale beurteilung zweimal pro fahr unsinnig.)

Die auswirkungen auf die methodische qualität des unterrichts (meist rein frontaler unterricht) und häufige disziplinschwierigkeiten machen erwachsenen und kindern das leben schwer.

Häufig müssen die fachlehrerinnen dieser fächer auch an zwei verschiedenen schulen unterrichten, weil ihre pflichtstunden an einer schule im stundenplan nicht abgedeckt werden können.

wochenstundenplan

Stützlehrerin an der mittelschule

Kinder mit behinderungen haben in der mittelschule ein anrecht auf mindestens sechs stunden pro woche stützunterricht. Stützlehrerinnen unterrichten an der mittelschule - wie alle ihre kollegInnen - 18 stunden pro woche.

Es ist den stützlehrerinnen einer schule überlassen, wie sie diesen stundenanteil einsetzen. Ich habe verschiedene regelungen erlebt:

- Eine gruppe von 4 - 6 stützlehrerinnen pro schule bespricht regelmäßig die Situation der ca. 12 - 18 kinder, für die sie speziell zuständig ist, und legt schwerpunkte der betreuung fest. - Z.b. zu beginn eines neuen schuljahres wird den "neuen" der schule mehr zeit gewidmet als den schülerinnen, die bereits seit einem oder zwei jahren an der schule sind. Diese stützlehrergruppe strebt an, daß jede/r von ihnen jedes kind mit behinderung so gut kennt, daß sie jederzeit von den fachlehrerinnen zur unterstützung herangezogen werden können. Besonders für die betreuung stark verhaltensauffälliger schülerInnen scheint sich dieses vorgehen an der mittelschule zu bewähren.

- Einige stützlehrerinnen spezialisieren sich im laufe der jahre - z.b. auf das unterrichten von kindern mit Down Syndrom. Sie betreuen diese kinder z.t. außerhalb des klassenverbandes und beraten die fachlehrerinnen in bezug auf die unterrichtssituationen, in denen keine stützlehrerin/kein stützlehrer in der klasse anwesend ist (vgl. abschnitt 3.3.).

- Viele stützlehrerinnen lehnen es prinzipiell ab, mit den behinderten kindern außerhalb der klasse zu arbeiten. - Sie nutzen die ersten Wochen des neuen schuljahres, um herauszufinden, mit welchen fachlehrerinnen sie am besten im unterricht kooperieren können, und/oder bieten eigene unterrichtsprojekte an, die sowohl die speziellen bedürfnisse und lernmöglichkeiten der betreuten behinderten kinder als das interesse einiger anderer kinder ansprechen (z.b. kochen, orchestermusik, archäologische ausgrabungen).

An einer mittelschule hat die gruppe der stützlehrerInnen im kollegium durchgesetzt, daß ein tag in der woche generell "projekttag" ist, an dem alle fachlehrerInnen und alle stützlehrerInnen jahrgangsübergreifende projekte anbieten.

Nach meinen beobachtungen hat sich die kooperation zwischen den stützlehrerInnen und den fachlehrerInnen in den vergangenen fünf jahren in den schulen, die ich regelmäßig besuche, entscheidend verbessert. Alle beteiligten haben viel gelernt.

Erst vom jahre 1981 an konnten lehrerInnen der. mittelschulen ihre ersten erfahrungen mit behinderten kindern sammeln. Die gesetzlichen vorschriften zur Integration galten vom schuljahr 1976/77 in der 1. klasse der grundschule und "wuchsen" erst 1981 in die mittelschule hinein, während das gesetz zur abschaffung der ziffernzensuren von 1977 an sofort für die grund- und mittelschulen umgesetzt wurde.

Vom schuljahr 1986/87 an haben alle mittelschullehrerInnen bereits zum zweiten mal die gelegenheit, mit behinderten kindern und ihren stützlehrerInnen gemeinsam das lernen zu lernen - oder es sind junge, in den letzten jahren eingestellte lehrerInnen, die sich von vorn herein auf diese unterrichtssituation einstellen müssen - sie allerdings aus ihrer eigenen schulzeit noch nicht kennen.

Auch an der mittelschule - wie bereits seit längerem an der grundschule - scheint es leichter zu werden, mehr stützlehrerstunden bewilligt zu bekommen als das minimum von 6 stunden.

Die beiden tauben mädchen z.b., die seit 1986 eine klasse der mittelschule besuchen, hatten in der grundschule gemeinsam eine stützlehrerin - was dort problemlos war, da der klassenlehrer und die klassenlehrerin mit der stützlehrerin sehr gut kooperierten.

An der mittelschule wurde jedem der beiden mädchen eine ganze stützlehrerstelle bewilligt. - D.h. während der gesamten unterrichtszeit steht den tauben mädchen in der klasse neben den fachlehrerInnen eine der beiden stützlehrerinnen zur verfügung (vgl. abschnitte 2.2.2. und 2.2.3.).

Diese - für die behinderten kinder - positive entwicklung ist mit Sicherheit zu einem großen teil darauf zurückzuführen, daß die fachlehrerInnen und die schulleiterInnen der mittelschulen inzwischen ihre ängste vor der/dem zweiten erwachsenen im unterricht zu einem großen teil abgebaut haben, die vorteile des zwei-lehrer-systems für die eigene arbeit erkannten und mit dem entsprechenden nachdruck stützlehrerstunden beim schulamt verlangen.

Ganztagsbetreuung in der mittelschule

Beim einschreiben in die grundschule ist die entscheidung der eltern, ob sie ihre kinder in einer ganztagsklasse oder einer halbtagsklasse anmelden, überwiegend alleine davon abhängig, ob die mutter arbeitet oder nicht.

Beim übergang in die mittelschule - wenn die kinder 11 oder 12 jahre alt sind, kommen andere überlegungen hinzu:

- Einige kinder sind schon sehr selbständig, sie können sich weitgehend selbst versorgen, alleine die schularbeiten machen und/oder besuchen nachmittags regelmäßig sportvereine, kurse, nehmen musikunterricht. - Die kinder wollen am nachmittag mehr zeit zu ihrer freien verfügung haben. - Nachbarn oder verwandte stehen als ansprechpartner eventuell zur verfügung.

- Einige eltern trauen es ihren kindern noch nicht zu, sich am nachmittag verantwortungsbewußt selbst zu versorgen.- Die konkreten bedingungen in den familien/in der nachbarschaft lassen die mütter und väter befürchten, daß das kind schlecht beeinflußt wird. - Die eltern wären beruhigter, wenn das kind auch am achmittag in der schule ist.

Ganztagsbetreuung (tempo pieno) oder halbtagsbetreuung (tempo normale), das wird an der mittelschule oft eine klassenteilung zwischen "problem"-klassen und eher mittelschichtorientierten, problemlosen klassen. - Die jeweiligen anteile sind von den wohnbezirken abhängig: Im problembeladenen neubauviertel Isolotto gibt es in der mittelschule neben fünf parallelklassen "tempo pieno", eine oder zwei klassen "tempo normale", im villenvorort Bagno a Ripoli ist das zahlenverhältnis umgekehrt.

In den letzten jahren experimentieren einige mittelschulen mit flexibleren zeiten für die nachmittagsbetreuung: "Tempo prolungato" oder eine mischung aus "dopo scuola" und "tempo pieno" sind die stichworte, mit denen diskutiert, experimentiert, dem schulamt zusätzlich lehrerstunden abgehandelt werden:

dopo scuola - das bedeutet: Die schülerInnen besuchen verpflichtend den vormittagsunterricht (8.30 - 13.30 uhr) und können freiwillig am nachmittag angebote der schule nutzen (hausaufgabenbetreuung, freizeitaktivitäten) -

Die lehrerInnen der "dopo scuola" werden von der kommune (und nicht vom staat) bezahlt. - Ein mittagessen wird meist nicht angeboten. -

tempo pieno - Die kinder besuchen die schule an fünf tagen in der woche von 8.30 bis 16.30 uhr. Die kinder haben die gelegenheit, in der schule mittag zu essen. Der nachmittagsunterricht ist so organisiert, daß kleinere lerngruppen (in der regel 10 schülerInnen pro gruppe) gebildet werden können, wenn lehrerstunden aus der "mittagessenzeit" in den nachmittag verlagert werden. -

tempo prolungato - Für alle schülerInnen einer schule wird die Unterrichtszeit täglich von 13.30 auf 14.30 uhr verlängert. - Bei gleichem unterrichtsstoff steht so mehr zeit zur verfügung - für übungen und hausaufgaben. Die "zwei-klassen-teilung" in "halbtags-" und "ganztagsklassen" wird überwunden.

Diese neuregelung, "tempo prolungato", wird vor allem von den linken lehrergewerkschaften seit 1985 diskutiert. -

Neben der allgemeinen gesellschaftspolitischen begründung, daß durch die aufteilung in ganztags- oder halbtagsklassen einer sozialen auslese vorschub geleistet würde, ist für die lehrergewerkschaften ein anderes argument wichtig:

Abbau von Lehrerarbeitslosigkeit!

tempo normale - das bedeutet: 30 stunden pro woche unterricht

tempo pieno - das bedeutet: 40 stunden pro woche unterricht. Der Anteil von ganztagsunterricht in der mittelschule ist jedoch - aufgrund der elternwünsche - geringer als 50 %

tempo prolunqato - das bedeutet 36 stunden unterricht pro woche

Die lehrergewerkschaften erhoffen sich von der allgemeinen, verbindlichen einführung von "tempo prolungato" eine vermehrte schaffung von festen lehrerstellen. - Im schuljahr 1986/87 konnte ich in den schulen noch nicht erkennen, wie diese entwicklung sich festigen wird.

Abschlußprüfungen und der übergang zu weiterführenden schulen

Die schülerInnen beenden die mittelschule mit einem abschlußexamen, das jedoch nicht selektiv ist. - Aus dem abschlußzeugnis, das keine ziffernzensuren enthält, sondern den stand der entwicklung verbal beschreibt, geht hervor, daß die schülerin/der schüler die mittelschule beendet hat. -

Für behinderte kinder sind die je individuell für sie formulierten lernziele die kriterien, an denen ihr lernfortschritt gemessen wird.

Rein formal hat damit jede/r jugendliche die berechtigung erworben, eine der weiterführenden schulen zu besuchen. - (Vgl. die schemazeichnung in abschnitt 1.1.)

Die beratung der jugendlichen - ganz besonders der jugendlichen mit behinderung - muß sich daran orientieren, was von ihnen in den weiterführenden schulen verlangt wird, und ob anzunehmen ist, daß sie dem dann einsetzenden auslesedruck gewachsen sind.

An den weiterführenden schulen gibt es bisher (noch!) keine zusätzlichen unterstützenden maßnahmen für jugendliche mit behinderung. - Allerdings ist es möglich, daß die ambulatorien oder die kommunen hierfür personal zur verfügung stellen.

Die gesetzliche regelung von unterstützungsmaßnahmen in allen zweigen der oberschule, "scuola media superiore", ist in Italien eine der weiterführenden forderungen zur fortsetzug der nicht-aussonderung behinderter menschen über die zeit der schulpflicht hinaus.

Die lehrerInnen sitzen zusammen in einer ecke des schulhofes - zwischen den spielenden kindern.

2.2.1 Mathematikunterricht in der 2. Klasse der mittelschule [15]

Jutta Schöler

"Francesco will Mathematik studieren"

Im Frühjahr 1985 kam ich an einem Tag etwas verspätet in den Mathematikunterricht. An der Tafel stand eine Schülerin, rechnete eine Aufgabe vor und erklärte sehr genau jeden einzelnen Rechen-schritt.

Mit den Augen - und ganz offensichtlich den Gedanken - verfolgten alle das Vorrechnen an der Tafel. Ich war "hineingeplatzt" in die Rückgabe einer Klassenarbeit (vergl. Kasten); die Arbeitsatmosphäre war jedoch eine völlig andere, als ich sie von der Situation "Klassenarbeit-Wird-Zurückgegeben" aus meier Schülerinnen-, Lehrerinnen- oder Didaktikerinnenerfahrung kenne.

Die Schüler/innen dieser 2. Klasse der "Scuola Media" (entspricht dem 7. Schuljahr) hatten am Tag zuvor eine Mathematikarbeit geschrieben, die Fachlehrerin hatte sich diese Arbeiten zu Hause angesehen und für jede/n Schüler/in notiert, welche Schwierigkeiten aufgetreten waren:

- Hatte sich der/die Schüler/in "nur" verrechnet? War eine Regel nicht richtig verstanden? Fehlte die Zeit (oder Lust), eine Aufgabe zu Ende zu rechnen?

Diese Notizen hatte die Lehrerin vor sich, während eine Schülerin oder ein Schüler, die/der die Aufgabe in der Arbeit richtig gerechnet hatte, an der Tafel noch einmal erklärte.

Abschnittweise sprach die Lehrerin gezielt einzelne der übrigen Schüler/innen an: Hast du gemerkt, was du falsch gemacht hast? Hast du es jetzt verstanden?

Meinst du, wir sollten das noch einmal üben?

In die Arbeiten der Schüler/innen hatte die Lehrerin nichts hineingeschrieben, darunter stand keine Punktzahl, keine Fehlerzahl und natürlich keine Zensur. Aus den Gesprächen zwischen Schüler/ innen wurde mir deutlich, daß von beiden Seiten ernsthaftes Interesse am Aufdecken von Schwierigkeiten bestand, um sie bearbeiten zu können.

Die Mathematiklehrerin war eine erfahrene Kollegin. Sie sah nichts Besonderes in dieser Stunde, teilte mir nur mit, wie sehr sie sich freute, daß Francesco so großes Interesse an "ihrem" Fach zeigte. In der Arbeit hatte sie ihm mehr Zeit gelassen als den übrigen Schülern, indem sie ihm zu Beginn der Stunde den Text bereits abgeschrieben gab und ihn rechnen ließ, während sie den anderen noch diktierte. Die Art, wie er die Aufgaben gelöst hätte, zeigte, daß er das Prinzip richtig verstanden hatte.

Er brauchte eben für alles sehr viel Zeit.

Mit einem Schmunzeln erzählte sie mir: "Francesco will Mathematik studieren! Das wird er natürlich nie schaffen, aber wenn er an dem Fach so viel Freude hat, warum soll ich ihm die Illusionen nehmen?"

Der Lehrerin gegenüber verhehlte ich nicht mein großes Erstaunen über die zweistündige konzentrierte Arbeit der Schüler/innen bei der Rückgabe einer Mathematikarbeit! Sie fragte zurück, womit ich denn vergleiche? Das war schwierig zu beantworten: 7. Schuljahr - rein formal wäre es eine Gesamtschulklasse, in der auch "Lernbehinderte" (dieser Begriff existiert in der italienischen Sprache nicht) und Francesco (ein "geistig" Behinderter) unterrichtet werden.

In Italien werden jedoch alle Kinder in allen Fächern gemeinsam unterrichtet, es gibt auch kein Fachleistungssystem. Es ist recht mühsam, einer Lehrerin, für die ein einheitliches Schulsystem selbstverständlich ist, die Unterteilung in Real-, Haupt- und Sonderschule zu erklären. Bei so vielen Rückfragen stutzte ich. Sie fragte mich: Entspricht das dreigliedrige Schulsystem bei euch noch einer dreigliedrigen Gesellschaft? Wonach entscheiden die Lehrer/innen, ob ein/e Schüler/in von den anderen abgetrennt wird? Glauben die Deutschen, mit dieser Schulform wird Arbeitslosigkeit von Jugendlichen vermieden?

Nach Berlin zurückggekehrt, bat ich einen Kollegen, der an einer Gesamtschule Mathematik unterrichtet, um eine Einschätzung dieser Arbeit. 2)

Interpretorische Anmerkungen zum Test:

"Abgesehen von der Aufgabe 1 wären die genannten Aufgaben in der Berlinder Schule von den Schülern einer 7. Klasse nicht zu bearbeiten.

Auch am Ende der 9. Klasse, wenn alle benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten behandelt worden sind, müßten die genannten Aufgaben als sehr schwierig an-gesehen werden, da die benötigten Voraussetzungen in keinem zeitlichen Zusammenhang in der Berliner Schule unterrichtet werden. Die Beurteilung des Schwierigkeitsgrades der genannten Aufgaben stellt sich als äußerst schwierig dar, wenn der vorangegangene Unterricht unbekannt ist.

Insbesondere ist nicht abzuschätzen, wie groß der eigene Anteil der Schüler an der Problemlösung ist. Es wäre denkbar, daß die Schüler Aufgaben des gleichen Typs nicht vorher geübt hatten und somit den mathematischen Kern des Problems selbstständig herauslösen mußten - dann wäre die Aufgabenstellung äußerst schwierig. Andererseits wäre es möglich, daß die Leistung der Schüler vorwiegend nachvollziehender Art wäre, d.h., daß der Aufgabentyp zuvor gründlich eingeübt wurde - dann wären die Aufgabenstellungen schätzungsweise von mittlerem Schwierigkeitsgrad.

Kritische Anmerkungen zum Text und zu den Aufgabenstellungen:

- Alle Aufgaben sind sehr abstrakt

- Die Schwierigkeit der Aufgaben ist gewissermaßen künstlich erzeugt. Die unterschiedlichen Kenntnisse, die benötigt werden, stehen mathematisch nicht in unmittelbaren Zusammenhang zueinander."

Die von Ingo Langner aufgeworfene Frage der Art der Vorbereitung dieser Arbeit kann ich nicht beantworten. Ich will die Frage offen lassen, ob es sich hier um eine Klassenarbeit mittleren oder hohen Schwierigkeit handelt.

Nicht alle Probelme gelöst

Es bleibt die Tatsache, daß von den Schülern verlangt wurde, sehr komplexe mathematische Probleme zu lösen. Es bleibt die berechtigte Kritik, daß alle Aufgaben sehr abstract gestellt sind.

Ich will nicht den Anschein erwecken, in der italienischen Regelschule wären alle Probleme gelöst. Nicht alle Lehrer/innen können mit den neu gestellteb Auf gaben der Nicht-Aussonderung von Kindern mit Behinderungen umgehen. Diese Mathematiklehrerin hat ihre fachliche Kompetenz für die Förderung aller Kinder sehr effektiv einsetzen können, davon hat auch Francesco profitiert, obwohl er in der 5. Klasse erst mit dem Lesen und Schreiben begann und nur mühsam bis zwanzig addierte und subtrahierte. "Geistigbehindert", dieser Stempel könnte ihm drei Jahre später wohl nicht mehr aufgedrückt werden.

Francescos Mathearbeit

Aufgabenstellung

Die folgende Tabelle ergänzen, da die Werte der Elemente zweier direkt proportionaler numerischer Mengen, X und Y, nur teilweise eingetragen sind. Deren Gleichung ausschreiben und die Werte in einem Koordinatensystem eintragen. Was für ein Diagramm ergibt sich?

Die Differenzen zwischen den Diagonalen eines Rhombus ist 14 cm, und eine davon ist 15/8 der anderen.

Das Umfangmaß und die Fläche des Rhombus berechnen!

In einem rechtwinkligen Trapez ist die längere Grundlinie 9/5 der kürzeren. Die Fläche des Trapezes ist 1.344 cm2 und die Höhe 32 cm. Das Umfangmaß des Trapezes berechnen!

In einem gleichseitigen Trapez ist der Schenkel50 m, die Höhe 24/25 des Schenkels und die Differenz der Grundlinie. Fläche und Umfang berechnen!

Benötigte Kenntnisse:

Aufg. Nr. 1

- proportionale Zuordnung kennen.

- Wertetabelle vervollständigen.

- Proport. Zuord. Graphisch im Koordinatensystem darstellen.

- Zuordnungsvorschrift in Form einer Gleichung aus der Wertetabelle entwicklen.

Aufg. Nr. 2

- Rhombus und seine Eigenschaften Klasse 8 kennen.

- Umfang eines Rhombus berechnen können.

- Flächeninhalt eines Rhombus berechnen können.

- Lineare Gleichungssysteme (zwei Gleichungen mit zwei Variablen) lösen können.

- Wurzel- und Potenzrechnung (zumindest Quadrate) können.

- Satz des Pythagoras kennen und anwenden.

Aufg. Nr. 3/4

- Trapez (rechtwinkl.) und seine Eigenschaften kennen.

- Flächeninhalt und Umfang eines Trapezes berechnen können.

- Lineare Gleichungssysteme (zwei Klasse 9 Gleichungen mit zwei Variablen) lösen können.

- Wurzel- und Potenzrechnen (zumindest Quadrate) können.

2.2.2. Erdkundeunterricht mit zwei tauben schülerinnen

Carsten Paeprer

Als wir in die klasse kamen, hatte der erdkundeunterricht bereits begonnen. Wir setzten uns ohne großen aufhebens an verschiedene tische. Die schülerinnen hatten sich in fünf arbeitsgruppen formiert, um fünf verschiedene nationalparks Italiens herauszuarbeiten. Von der lehrerin hatten die schülerinnen in der woche zuvor kleine broschüren und kopien bekommen, die diese durch bücher von zuhause oder aus bibliotheken ergänzten. So besaß jede arbeitsgruppe mehrere quellen, um sich über den jeweiligen nationalpark zu belesen. Endprodukt war ein großes blatt, worauf in bunten buchstaben groß der name des betreffenden parks stand und dann inhaltliche besonderheiten von tieren, pflanzen, standort u.v.m. vermerkt wurden. Die lehrerin stand allen gruppen zur beanwortung von fragen zur verfügung, ging rum und schaute sich zwischenergebnisse an, wobei die einzelnen gruppen sehr unterschiedlich schnell oder langsam arbeiteten. Problemlos konnten wir umhergehen, um einen überblick über alle gruppen zu bekommen. Wir waren mit der information in die klasse gekommen, daß hier zwei taube mädchen seit der 1. klasse dabei seien. Mir fiel eines der beiden an einem anderen tisch auf; das zweite bemerkte ich erst 10 minuten später am eigenen tisch. Beide mädchen, Letizia und Elena, verstehen es sehr gut, von den lippen zu lesen, und fallen auf den ersten blick (oder auch länger!!!) kaum auf, da sie sehr gut und differenziert sprechen; und zwar auch in nuancierungen, ob leise, normal oder laut. Beide tragen versteckt hörgeräte, so daß sie einen nicht geräuschlosen raum empfinden. Sie hören jedoch keine gespräche. Die stützlehrerin der beiden mädchen war an diesem tag krank und wurde offensichtlich nicht vermißt. Jedenfalls arbeiteten Letizia und Elena in zwei verschiedenen gruppen fleißig mit. Letizia wurde hierbei von ihrer gruppe so geschickt miteingebunden, daß sie nachher aufschreiben und zusammenfassen mußte, was die anderen drei gelesen hatten und für bemerkenswert hielten. Gab es wörter oder begriffe, die Letizia nicht vom munde ablesen konnte, so schlug die gruppe gemeinsam in dem bereitliegenden dicken wörterbuch nach, um den fehlenden begriff durch eine umschreibung zu erklären, was allen offensichtlich großen spaß machte. So mußte Letizia am ende alles verstanden haben. Es war für mich schon erstaunlich, wie einfach Letizia und Elena mit ihrer in meinen augen nicht unkomplizierten behinderung innerhalb des klassenverbandes zurechtkamen, ohne eine auffallende sonderrolle einzunehmen.

Helena und Letizia haben trotz ihrer behinderung keine sonderrolle in der klasse.

2.2.3. Aufsatzunterricht mit zwei tauben schülerinnen

André Dupuis

Jutta Schöler

20 kinder einer 1. klasse der "scuola media" - das entspricht dem 6. schuljahr, sind aufgeregt: In den kommenden drei stunden werden sie einen aufsatz schreiben! Der lehrer für "lettere" - d.h. für italienische sprache und für geschichte - hat extra mit seiner kollegin getauscht. Zum schreiben eines richtigen aufsatzes werden die schülerInnen mehr als zwei stunden brauchen. Der lehrer verteilt extrabögen! Die stützlehrerin für die beiden tauben mädchen - für Elena und Letizia - fehlt heute. Sie ist überraschend erkrankt. Das scheint den lehrer, der in dieser klasse auch die klassenlehrerfunktion hat, nicht zu erschrecken. Er beruhigt aber die beiden mädchen: "Ihr braucht jetzt erst einmal nicht zuzuhören! Ich erkläre die aufgaben für die ganze klasse und komme dann zu euch an den tisch und erkläre euch alles in aller ruhe!" Die beiden, die in den beiden vorangegangenen erdkundestunden an zwei verschiedenen gruppentischen gesessen hatten, sitzen jetzt an einem tisch ganz vorne in der klasse. Während Elena und Letizia sich lautlos - gegenseitig von den lippen ablesend - unterhalten, erklärt der lehrer für alle anderen: "Es gibt drei verschiedene themen, unter denen sich jeder von euch entscheiden kann! Hört euch die themen an, zu jedem thema sage ich danach etwas zur erklärung:

1. L'arrivo della primavera non si manifesta solo nella natura. Die ankunft des frühlings zeigt sich nicht nur in der natur.

2. Descrive lo sport che praktichi/che segni come spettatore. Beschreibe eine sportart, die du praktizierst oder die du als zuschauer verfolgst.

3. Sfogliando un vecchio album di fotografie. Blättere in einem alten fotoalbum.

Die schülerInnen überlegen, stellen einige rückfragen zu den themen, entscheiden sich. Von den 18 schülerInnen wählen je 8 das sportthema (nur jungen) und acht das thema: "frühling". Nur zwei wollen in einem alten fotoalbum blättern. Der lehrer bespricht mit den kindern: "An welchen erscheinungen spüren die menschen den frühling?"

"Sie halten sich mehr im freien auf, die kinder spielen andere spiele. Die menschen kleiden sich anders."

"Alles klar?"

"Dann beginnt ihr zu schreiben!"

Nun zu den acht jungen, die über sport schreiben wollen:

"Welche sportart praktiziert ihr?"

"Fußball! Schwimmen! Judo!"

"In einem verein? Mit freunden?"

"Welches sind die charakteristischen regeln?"

"Erinnert ihr euch an ein ganz besonderes ereignis?"

"Fangt an zu schreiben!"

Nun zu den beiden, die die angewohnheit haben, sich gelegentlich alte fotoalben anzusehen:

"An welche besonderen fotografien erinnert ihr euch?"

"Die hochzeit der eltern. Meine einschulung. Fotos vom urlaub." "Schreibt doch von einer ganz besonderen fotografie, an die ihr euch erinnert!"

Mit großer ruhe und direkter zugewandtheit hatte der lehrer nacheinander diesen drei gruppen von schülerInnen die aufsatzthemen erklärt. Die schülerInnen warteten ruhig, bis sie jeweils an der reihe waren. Es war offensichtlich, daß niemand die angst haben mußte, zu kurz zu kommen. Daß vielleicht gar am ende des aufsatzschreibens jemandem zeit fehlen könnte, daß dies auswirkungen haben könnte auf eine zensur - dies waren meine gedanken. Den schülerInnen in dieser klasse wäre eine solche idee völlig fremd gewesen.

Zum schluß Elena und Litizia. Beide sind seit ihrer geburt nahezu völlig taub. Über die hörgeräte, die die beiden tragen, können sie laute geräusche wahrnehmen - aber nicht die menschliche sprache. Sie waren immer gemeinsam mit normal hörenden kindern sowohl im kindergarten als auch in der schule. Mit ausgebildeten speziallehrern haben sie gut verständlich sprechen gelernt. Was sie verstehen wollen, müssen sie den sprechenden menschen vom mund ablesen. Der lehrer setzt sich zu den beiden an den tisch, erklärt die drei themen noch einmal. Mit ihnen bespricht er die aufgaben etwas ausführlicher und erklärt nebenbei den deutschen besucherInnen:

"Beim aufsatzschreiben macht sich bemerkbar, daß Elena und Letizia wegen ihrer behinderung einen geringeren wortschatz haben. Vor allem verfügen sie nicht im selben maße wie die anderen über abstrakte begriffe. Sonst hilft die stützlehrerin in solchen situationen verstärkt. Heute werde ich den beiden etwas mehr unterstützung geben."

Während der ca. zwei zeitstunden, die die kinder anschließend schreiben, wird ständig an formulierungen gefeilt, über genauere ausdrücke diskutiert; es werden sachfragen geklärt. Alle schülerInnen diskutieren untereinander - und trotzdem ist klar, daß jede/r schülerIn ihren/seinen eigenen aufsatz schreibt. Die aufsätze werden zunächst vorgeschrieben und anschließend noch einmal sauber abgeschrieben. Der lehrer entzieht sich den beratungen nicht. Er verweist auf fehler, wenn er sie sieht. Zwischendurch werden die rechtschreib-wörterbücher und die begriffserklärungssammlungen durchgeblättert, die auf den tischen liegen.

Ich selbst verlasse die klasse, um während der zeit mit dem schulleiter etwas zu besprechen.

André Dupuis war während der gesamten zeit anwesend und beschrieb die allgemeine atmosphäre während der klassenarbeit folgendermaßen:

Alle kinder bearbeiten ihre themen selbständig, reden aber durchaus gelegentlich miteinander und gehen auch einzeln zum lehrer und fragen ihn. Es herrscht eine insgesamt entspannte atmosphäre. Der lehrer gibt einzelnen kindern relativ laut, mit vielen gebärden erklärungen. Zwischendurch verläßt ein schüler die klasse, läßt die tür offen, kommt dann wieder, schaut bei den anderen herum, geht dann auf seinen platz und schreibt weiter. Alles geschieht, ohne daß irgend jemand laut herumschimpft.

Der lehrer setzt sich wieder zu Elena und Letizia, erklärt ihnen nochmals und hilft ihnen, weil er gemerkt hat, daß sie nicht weiterkommen.

Alle kinder schreiben zunächst auf einem notizzettel, daneben liegen längs gefaltete DIN A4 blätter bereit für die jeweilige endgültige fassung. Zwischenzeitlich kommt der lehrer zu uns und fragt uns nach der lage Berlins aus, aufgrund unserer schlechten sprachkenntnisse bekommt er eine zeichnung, auf der die transitwege und die mauer eingezeichnet sind. Dann geht er wieder zu einzelnen kindern, erzählt ihnen etwas und macht ab und an kleine witze. Es herrscht ein allgemeines "gebrabbel", wenn es dem lehrer zuviel wird, ruft er laut dazwischen, und es geht dann leiser weiter. Elena beansprucht den lehrer sehr, indem sie ihn ständig mit fragen löchert. Er erklärt ihr jedesmal sehr ausführlich mit deutlicher aussprache, geduldig und freundlich die fragen, die sie immer wieder an ihn richtet.

Eine stützlehrerin kommt in die klasse herein und diskutiert mit dem lehrer laut ein organisatorisches problem, das ein schüler einer parallelklasse hat oder verursacht. Dabei schreiben die schüler immer noch, haben aber zum großen teil ihre rohfassung fertig und schreiben in reinschrift. Der lehrer geht aus der klasse, alle arbeiten ruhig weiter, diskutieren miteinander. Dann kommt er wieder herein und steht für fragen wieder zur verfügung, die er alle freundlich beantwortet. Nach einer stunde haben sich auch die letzten an die reinschrift gemacht. Nach und nach geben die kinder dann ihre texte ab, keiner scheint unter druck zu stehen. Insgesamt fast zwei stunden schreiben die meisten an ihren texten. Während einzelne noch weiterschreiben, unterhalten sich die übrigen, balgen sich und machen quatsch. Währenddessen sagt der lehrer allen einen termin an, den die kinder in ihren kalender eintragen. Weder der lehrer noch die kinder fühlten sich von dem geräuschpegel genervt, die atmosphäre war insgesamt freundlich und zufrieden. Im gesamten verlauf des unterrichts ist der lehrer mit allen kindern alleine, eine stützlehrerin ist nicht anwesend.

Am ende der dreistündigen intensiven arbeit sind vier schüler nicht fertig geworden - sie werden morgen weiterschreiben. Der lehrer wird sich alle aufsätze durchlesen. Er wird veränderungsvorschläge aufschreiben, mit den schülerInnen besprechen. Er wird fehler korrigieren. Danach schreiben die schülerInnen ihre endgültige textfassung in ein besonderes aufsatz-sammlungs-buch. Zensuren? Wofür? Für jede/n schülerin wird der lehrer die art der formulierungen, der sicherheit des ausdrucks am ende des schuljahres in seinem bericht an die familie beschreiben! Dieser bericht wird für die eltern aufschlußreicher sein als eine 1-2-3-4-5- oder 6.

Gedanken aus Berlin:

üblich ist es beim aufsatzschreiben in der Berliner realschulklasse, die Carsten besucht, daß die schülerInnen die anzahl der wörter zählen. Eine vorher festgelegte mindestzahl ist notwendig, um eine 1, eine 2, eine 3 oder eine 4 zu erhalten. Die gesamtzahl wird durch die zahl der rechtschreibfehler geteilt.

Bei weniger als 20 wörtern pro fehler wird die aufsatzzensur um eine halbe note gesenkt. Carsten kann wegen seiner leichten spastik in den händen nur langsamer schreiben als seine mitschülerinnen.

Die deutschlehrerin gibt ihm keine zeitverlängerung.

Ihre begründung: "Das wäre sonst ungerecht für die anderen schüler!"

2.2.4 Erdkundeunterricht in einer 7. klasse

Gabriele Schremmer

Die 19 schülerInnen sitzen an zweiertischen hintereinander und gucken nach vorne. Eine ältere lehrerin steht vorne und macht mit ihnen erdkundeunterricht. Es werden verschiedene gegenden in bezug auf ihre vegetation und die dort vorkommenden tiere durchgenommen.

Es ist ganz normaler frontalunterricht, wie ich ihn aus meiner eigenen Schulzeit kenne. An einem tisch hinten rechts in der ecke arbeitet die stützlehrerin mit drei schülerInnen. Einer von ihnen ist Franco, der junge mit Down-Syndrom. Der tisch ist voller bücher und zeitschriften, in denen sie blättern und aus denen sie bilder ausschneiden, die sie auf eine große landkarte kleben. Wir vier besucher sitzen hinten in der klasse und gucken dem unterricht zu. Die erdkundelehrerin stellt fragen an die klasse, die schülerInnen antworten. Einige melden sich, aber die meisten reden ohne aufforderung. Immer wieder liest eine schülerin/ein schüler einen absatz aus dem erdkundebuch vor, der dann besprochen wird.

Zwischendurch geht die erdkundelehrerin nach hinten zur kleingruppe und gibt leise ein paar anweisungen oder hilft weiter.

Einmal fragt sie auch Franco laut etwas. Sie wiederholt ihre frage, die leichter ist als die fragen an die anderen schülerInnen, da Franco nicht gleich antwortet. Zwei von uns besucherinnen reden während des unterrichts lange und - wie ich finde - ziemlich laut mit der stützlehrerin, was scheinbar von keinem weiter als störend empfunden wird. Auch redet die stützlehrerin viel mit den schülerInnen der kleingruppe.

Die schülerInnen wirken auf mich mehr oder weniger gelangweilt, ab und zu dreht sich eine/r nach uns um. Franco steht eine weile mit einem klebestift in der hand herum und wackelt hin und her, aber auch das stört keinen, und nach einer weile klebt er weiter auf. Einmal nimmt die stützlehrerin ein tierbild und fragt Franco, wie es heißt. Franco weiß nicht so recht. Die stützlehrerin redet mit ihm über das tier, wiederholt ihre frage und antwortet selber deutlich. Am ende der stunde nimmt ein schüler Franco den klebestift aus der hand und macht ihn zu.

Nach dem pausenklingeln holen die schülerInnen nach und nach ihre brote heraus und stehen auf. Die meisten schülerInnen verbringen die pause auf dem flur vor der klasse, einige gehen auch nach unten. Die lehrerinnen und wir bleiben ebenfalls auf dem flur.

Franco hockt lange zeit alleine an einer wand auf der erde. Später versuchen einige schülerInnen, mit der hand den oberen türrahmen zu erreichen, indem sie anlauf nehmen und in der tür hochspringen.

Franco kommt dazu und versucht es auch. Die erdkundelehrerin, die die ganze zeit an der tür stand, hilft ihm, und beide lachen und freuen sich.

Später erfahre ich von den anderen, daß in der klasse noch ein anderer behinderter schüler war, der stark verhaltensauffällig ist, und mir nicht aufgefallen ist.

2.2.5. Der arbeitsplatz der lehrerinnen[16] in Italien

Renate Czerwionka Michael Jung

Wir sind den zweiten tag in Italien, haben unseren ersten Schulbesuch vor uns. Die "scuola elementare Vittorino da Feltre" liegt in einem vorort von Florenz. Wir fahren - der schulleiterin folgend - den hügel zur schule hinauf. Gleich haben wir einen panoramablick vom schulhof aus über den ins tal geschmiegten ort. Das zweigeschossige schulgebäude liegt hell im licht der frühlingssonne.

In der eingangshalle stehen einige frauen um einen kleinen schreibtisch herum. An der wand hängen ein telefon und eine liste. Hier trägt sich jeder ein, wenn er kommt. Von hier aus können vertretungslehrerinnen angerufen werden, wenn jemand nicht kommt.

Die schulleiterin hat ihr dienstzimmer nicht in diesem, sondern in einem anderen schulgebäude im nachbarort. Sie bringt uns noch zu "unserer klasse". Eine lehrerin kommt heraus, nimmt uns mit in den nebenraum und dann geht's los:

Simona ist eine der beiden stützlehrerinnen für Leonardo, das spastisch behinderte kind, das mit 13 anderen kindern zusammen eine 3. klasse dieser schule besucht.

Diese klasse hat ganztagsunterricht. Ihr stehen zwei klassenlehrerinnen mit der vollen stundenanzahl (je 24 stunden) und zwei stützlehrerinnen (mit insgesamt 27 stunden pro woche) zur verfügung.

Die beiden stützlehrerinnen sind auch der parallelklasse zugeordnet. Während der drei englischstunden und der beiden sportstunden kommen die beiden fachlehrerinnen zusätzlich zum unterricht hinzu.

Simona erzählt uns zwei stunden lang von Leonardo und seinen schwierigkeiten, zeigt uns arbeiten, lernberichte, lernkontrollbögen, lehrpläne und beantwortet alle unsere fragen. -

In diesem unserem bericht soll jedoch nicht das behinderte kind im mittelpunkt stehen, sondern die arbeitssituation der lehrerinnen und lehrer.

Der stundenplan

Schon der blick auf den stundenplan ist aufschlußreich:

Von den 40 zeitstunden pro woche ist die klassenlehrerin (P) nur vier stunden alleine in der klasse, die zweite klassenlehrerin (F) ist nur eine stunde pro woche alleine im unterricht. -

In allen übrigen stunden stehen zwei lehrerinnen zugleich für die klassen zur verfügung. In fünf stunden sind es sogar drei lehrerinnen (2 stunden am wochenbeginn beide klassenlehrerinnen und eine stützlehrerin;

2 stunden beide klassenlehrerinnen und die englischlehrerin;

1 stunde: klassenlehrerin, stützlehrerin, sportlehrerin).

Die unterrichtsfächer sind durch den stundenplan (außer englisch und Sport) nicht festgelegt.

Ein beruhigendes gefühl - da ist (fast) immer jemand, den man fragen kann.

Es ist eine besonderheit dieser schule, daß alle kinder vom 1. Schuljahr an englischunterricht haben.

die einteilung der stundenplan

Die einteilung der stunden auf die wochentage ist der entscheidung der beteiligten lehrerinnen überlassen - andere lehrerinnen wechseln auch von woche zu woche den vormittags- und den nachmittagsunterricht. In manchen klassen wird sonnabends unterrichtet, dafür bleibt ein nachmittag pro woche unterrichtsfrei. - Eine solche regelung ist aber nur möglich, wenn die eltern der klasse zustimmen.

Die eine der beiden klassenlehrerinnen (P) ist immer früh um 8.30 uhr in der klasse. Montags bleibt sie den ganzen tag - an den übrigen tagen kann sie um 12.30 uhr nach hause gehen.

Die zweite klassenlehrerin (F) kommt montags und donnerstags um 10.30 uhr, an den übrigen tagen um 12.30 uhr. Sie ist immer bis zum unterrichtsschluß um 16.30 uhr bei der klasse.-

Die einteilung im stundenplan bedeutet nicht unbedingt, daß zwei oder drei lehrerinnen zugleich im klassenraum sein müssen. Sie können auch mit einzelnen kindern oder kleinen gruppen außerhalb arbeiten, in einem nebenraum schülerarbeiten korrigieren, unterricht vorbereiten, materialien zusammenstellen, mit therapeuten sprechen usw. Mit den 24 stunden pro woche anwesenheit in der schule ist für die italienischen grundschullehrerInnen im wesentlichen die arbeitszeit abgedeckt. -

Hinzu kommen regelmäßig etwa einmal pro monat stattfindende elternabende. Einmal wöchentlich treffen sich die sechs lehrerinnen der beiden parallelklassen, um den jahresplan konkreter für die kommende woche auszuarbeiten.

Die jahrespläne werden in den ersten zwei wochen des schuljahres von dem team ausgearbeitet. Wenn die schulkinder noch in den ferien sind, müssen die lehrerinnen in der schule arbeiten.

Bezahlung und arbeitszeit

Etwas peinlich ist es uns beim mittagessen, als eine lehrerin nach der bezahlung der deutschen lehrer fragt: etwa das doppelte des italienischen lehrers - so finden wir nach umrechnung und übersetzung heraus. Eine lehrerin mit 30 jahren dienstzeit bekam 1.250.000 Lire (das entspricht etwa 1.800 DM)." Ein lehrerehepaar mit zwei schon älteren kindern kommt hier gerade über die runden. Stützlehrerinnen mit zusatzausbildung bekommen gleich viel geld wie grundschullehrerinnen, müssen ihre zusatzausbildung aber noch selbst tragen. Auch weiterbildung ist für lehrerInnen verpflichtend, muß aber von ihnen selbst finanziert werden - außerhalb der arbeitszeit!

Andererseits entspricht die gesamte zeitliche arbeitsbelastung einer grundschullehrerin in Italien etwa der zeitlichen belastung einer 2/3-stelle in Deutschland. - Die nervlichen belastungen erscheinen uns weitaus geringer: kleine klassen, wenig korrekturen, alle wesentlichen unterrichtsvorbereitungen und absprachen können während der anwesenheit in der schule stattfinden. - Die lehrerinnen bestätigen uns: Wenn sie nach hause kommen, dann haben sie zeit und nerven für ihre familie.

Arbeitslosigkeit; die unsichere stellunq der "supplente"

Später werden wir erfahren, daß ca. 0 % neue lehrerInnen in Italien eingestellt werden. Also sehen wir hier nur lehrerinnen, die bereits "sichere" stellen haben. Später sprechen wir mit Antonella, einer Lehrerin für den kindergartenbereich, die seit 7 jahren das wechselhafte schicksal einer "supplente" erfährt. Da wird es uns so recht deutlich, wie zweischneidig es sein kann, zwar nicht wie bei uns in Deutschland von vornherein keine chance auf dem lehrer-arbeitsmarkt zu haben, dafür aber lehrer auf abruf zu sein.

Antonella berichtet uns, daß es 1987 in ganz Italien 2 oder 3 stellen im kindergartenbereich gibt. Um diese offenen stellen gibt es landesweit alle zwei jahre einen "consorso" ... das ist eine prüfung, bestehend aus einem schriftlichen und einem mündlichen teil; Antonella bereitet sich gerade durch intensives lesen pädagogischer literatur auf den bevorstehenden concorso vor. Diejenigen, die den concorso bestehen, haben eine chance, eine von den wenigen offenen stellen zu besetzen. Wer dann tatsächlich den zuschlag bekommt, hängt von einer komplizierten punktewertung ab, die sich zusammensetzt aus der wertung des concorso, der eigenen qualifikation (uni-abschluß: "laurea", evtl. schon früher bestandene concorsi, ...), aber auch "sozialen" punkten etwa für verheiratete; keine zusatzpunkte für die chance einer festanstellung gibt es für praxis als supplente.

Wer den concorso besteht, trotzdem aber keine der offenen stellen bekommt, wird in die eingangs erwähnte liste der supplente gesetzt. Diese liste wird jahr für jahr neu mit einer punktebewertung im schulamt geführt, die einzelne lehrerin/der einzelne lehrer trägt sich in zwei schulen ihrer/seiner wahl ein (z.b. wohnort- und uni-nah). Wenn eine supplente-stelle frei wird, so werden in der reihenfolge der liste alle lehrerInnen von der Schulsekretärin angerufen; wer gerade frei ist und den höchsten rang hat, bekommt den zuschlag. Antonella berichtet uns, daß das auch einmal so aussah, daß zwei supplente-stellen am selben tag frei wurden: die eine für eine woche - die bekam sie als nr. 3 auf der liste; die andere für 1 jahr - die bekam die nr. 10 auf der liste.

Die rangfolge der namen auf der liste bestimmt sich wieder aus einer komplizierten punktewertung. Generell stehen die lehrerInnen mit dem. besten ergebnis aus dem concorso ganz oben und die durchgefallenen ganz unten; zusätzliche punkte gibt's für die eigene qualifikation und für die praxis als supplente.

Tja, für Antonella bedeutet das, sich alle zwei jahre einer prüfung auszusetzen, die über ihre chancen, geld in ihrem beruf zu verdienen, immer wieder neu entscheidet. Das arbeiten der supplente ist ein glücksspiel, einmal eine woche hier, dann vielleicht ein treffer - ein halbes fahr, dann wieder längere zeit nichts.

Für viele lehrerInnen ist es deshalb auch ein anreiz, eine höhere qualifikation - etwa die zusatzausbildung als stützlehrerin - "insegnante di sostegno" - zu erwerben. Man bekommt zwar nicht mehr bezahlt, aber man hat bessere chancen, überhaupt eine stelle zu finden.

... aber nun zurück zu den arbeitsbedingungen der lehrerinnen hier an der schule.

Ganztagsunterricht

Bei dem langen schultag (von 8.30 bis 16.30 uhr) kommt mir der gedanke, wie kinder das durchhalten, die lehrer wechseln ja meistens zum mittagessen. Gibt es strukturen? Während der vormittagsblöcke erlebe ich an beiden tagen konzentrierte arbeit (frontal und einzelarbeit), unterbrochen von einer langen pause (30 - 45 minuten) um 10.30 uhr.

Die beiden nachmittage verlaufen sehr unterschiedlich. Am montag ist gruppenarbeit (6 - 7 schülerInnen) gemischt mit parallelklassen mit ausschließlich musischen angeboten und zum abschluß eine kleine theatervorführung, die eine gruppe vorbereitete.

Am dienstag geht es nach dem mittagessen schon um 13.30 uhr mit einer sportstunde weiter, danach folgt eine italienischstunde, in der die kinder drei(!) gedichte in eigenen worten aufschreiben.

In der letzten stunde dieses tages kommt die englischlehrerin, es wird ca. 50 minuten in frage und antwort englisch gesprochen, über den ort Porte à Ema, seine geschäfte, fabriken, ämter und zum schluß zum thema "Was ist ein gesundes frühstück? ". Da ich ein gähnen kaum noch unterdrücken kann, gehe ich nach nebenan zu Lilia, der einen klassenlehrerin, die im klassenzimmer sitzt und schülerarbeiten korrigiert.

Lilia steht kurz vor der pensionierung, man merkt ihr an, daß sie gern lehrerin war, aber jetzt auch probleme sieht: - "Es sind zu oft zu viele lehrerInnen für so wenige kinder. Besonders die überbehütung von Leonardo gefällt mir nicht. Fast ständig sitzt ein erwachsener neben ihm. Wenn er geht, stützen ihn sogar zwei. "

Mir war schon aufgefallen, daß Lilia die enzige lehrerin war, die Leonardos selbständigkeit ab und zu herausforderte - auch gegen seinen widerstand.

Beim sportunterricht besteht sie z.b. darauf, daß Leonardo mit ihr als einziger stütze gehversuche an der wand entlang macht. - Lilia hat die stützlehrerin weggeschickt.

Während dieser sportstunde wird Lilia von einem bidello ans telefon gerufen. - Leonardos therapeut will etwas mit ihr besprechen. Sie erklärt dem bidello kurz die notwendigen gehübungen für Leonardo. - Der bidello übernimmt ihre aufgabe, während sie mit dem therapeuten telefoniert.-

Miteinander-umgehen

An den zwei tagen, die wir als besucher da sind, erscheint mir die atmosphäre des miteinander-umgehens an dieser schule als ziemlich konfliktarm und freundlich - und das, obwohl ich den unterrichtsstil im allgemeinen als stark konservativ und lehrerzentriert erlebe, und mir das gar nicht liegt.

In der pause stehen die lehrer in grüppchen an den türen der ebenerdigen klassenzimmer; es ist leicht, sich darzuzustellen und in einen ersten kontakt zu kommen. Die schule ist übersichtlich, man kennt sich, schnell hat sich herumgesprochen, daß besucher aus dem ausland da sind. Grüppchen von schülern kommen auf uns zu und fragen im chor auf englisch:

"Your favourite colour?" "Your favourite animal?" Besonders einer aus unserer gruppe wird umschwärmt und tauscht adressen aus.

Während wir dann im unterricht sind, kommt eine bidella vorbei und fragt, ob wir mit zu mittag essen wollen; das stört den unterricht nicht weiter; später entdecken wir sogar eine klingel im klassenzimmer, mit der ein bidello gerufen werden kann (z.b. um einen eimer mit wasser für ein physikalisches experiment zu besorgen). Ob das nun an der schönen sonne (nach dem eisigen winter in Berlin!) liegt oder an unserer freundlichen aufnahme - jedenfalls kriegen wir den eindruck eines insgesamt freundlichen miteinander-umgehens.

Keine absonderunq der lehrer

Es gibt kein "lehrerzimmer". Die lehrerinnen sind wie die schülerInnen in den pausen mit auf dem hof draußen. Auch das macht mir einen guten eindruck von gemeinschaft. Lehrerinnen und schülerInnen essen gemeinsam zu mittag - das gleiche essen. Offenbar brauchen die lehrerinnen hier schallmauer und heiligtum "lehrerzimmer" nicht. Schülerinnen und lehrer nehmen gegenseitig so viel rücksicht, daß es sich miteinander leben läßt - so ist meine interpretation.

Richtig laut ist's eigentlich höchstens mal in der pause auf dem kleinen fußballfeld und beim gemeinsamen mittagessen in der großen mensa.

Keine hetze

Das regime der klingel fehlt; ich sehe keine aufgeregt in der pause hin und her eilenden lehrer - es gibt einfach keine klingel. Die langen unterrichtsblöcke und langen pausen geben einen ruhigen rhythmus; ich habe den eindruck, daß sich lehrer wie schüler besser darauf einlassen können: auf den unterricht und auf die pause. Wenn mal länger gearbeitet wurde, wird die pause eben auch länger ausgedehnt.

Langsam komme ich ins grübeln: schule ohne hektik, ohne großen lärm, ohne viele konflikte zwischen schülern und lehrern. Die lehrer sind nett, die schüler brav. Ihr verhältnis scheint eher distanziert. Irgendetwas stimmt hier doch nicht! Ich denke: Jeder schont jeden, und alle sind füreinander da. Die lehrer stehen den kindern ganz zur verfügung und werden auch ein wenig umsorgt von den bidelli (kaffee kochen, telefongespräche und nachrichten werden überbracht).

Geht die lehrerin selbst hinaus, sieht eine bidella nach dem rechten und bleibt bei den kindern. Außerdem sind fast immer zwei lehrerinnen drin, eine unterrichtet, die andere macht korrekturen, ordnet material, hilft einzelnen kindern etc.

Es gibt kaum streß. Es ist immer zeit, um auch einmal miteinander zu reden, um kaffee zu trinken oder kurz zu hause anzurufen.

Die stellung des lehrers/der lehrerin ist unangetastet

Die lehrerinnen bestimmen: Sie klatschen in die hände und rufen die kinder von der pause in die klasse.... und - erstaunlich genug - die kinder stellen sich "husch, husch" an, ganz ohne hin und her. Die lehrerinnen schreiben gemeinsam mit den lehrerinnen der parallelklassen ihr eigenes jahresprogramm - der offizielle lehrplan ist sehr offen gehalten (s. anhang).

Die lehrerinnen sprechen miteinander ab, wer vormittags, wer nachmittags unterrichtet. Die schulleiterin hat nur administrative funktionen;

als sie einmal vorbeikommt, betritt sie gar nicht großartig die klasse, sondern guckt nur kurz und zur begrüßung rein.

Vorführstunden müssen italienische lehrerInnen nicht geben.

Die eltern haben wenig mitzuentscheiden ... bzw. haben wenig interesse und/oder kompetenz dafür - so berichtet uns die klassenlehrerin der 2. klasse, mit der wir näher ins gespräch kommen und die wir (abgesehen von den sprachproblemen) in ruhe über ihre erfahrungen befragen können. Formal räumt die schule den eltern mitbestimmungsrechte ein, die für uns undenkbar sind. So entscheiden sie, ob ihr kind eine ganztags- oder halbtagsklasse besucht, ob und welche schulkleidung eine klasse trägt. Bei der auswahl der schulbücher muß der lehrer die zustimmung der eltern einholen.

Es gibt keine vorschriften über die anzahl oder die form von klassenarbeiten. -

Diktate, aufsätze, mathematikarbeiten werden geschrieben und von allen beteiligten sehr ernst genommen (vgl. auch abschnitt 2.2.1. und 2.2.3. in diesem buch). -

Aber dies sind keine kontrollen, vor denen ein schüler angst haben müßte - sondern gelegenheiten, den lehrerinnen zu zeigen, was ein kind schon kann - und wo es noch hilfe braucht.

Diese arbeiten werden nicht zensiert, kein kind bleibt sitzen. Stattdessen erhalten die eltern halbjährlich einen kurzen bericht über die lernentwicklung ihres kindes. Die lehrer erstellen zu beginn eines schuljahres eine liste von fähigkeiten und kreuzen darin an, was ein kind kann oder eben noch nicht kann (+, -) (s. abschnitt 1.4.). Dieses verfahren wird halbjährlich wiederholt.

Die lehrer streichen nicht mit rotstiften in den heften der kinder herum. Ich habe erlebt, wie Lilia in einem heft radierte und selbst alles berichtigte. Im anschluß daran besprach sie mit dem kind einzeln diese arbeit.

Es wird viel geschrieben, ohne jedes murren oder meckern - mit großer selbstverständlichkeit.

Es gibt wenige zusammenstöße zwischen schülern oder lehrern und schüllern; die auftretenden konflikte werden meist kurz - manchmal heftig - ausgetragen:

Einmal stupst ein schüler unter den augen der lehrerin die schulmappe eines anderen mit dem fuß an ... die lehrerin reagiert sofort laut und energisch; danach ist der vorfall vergessen.

Der unterricht verläuft sehr lehrerzentriert: Die lehrerin teilt den schülerinnen die arbeit zu; interaktionen zwischen den schülerinnen finden kaum statt; die lehrerin sagt, ob das geschriebene in ordnung ist, ob die gemalte figur sauber genug ist und die richtige größe hat ... und das nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt.

Ein anderes mitglied unserer besuchergruppe macht auf dem schulhof folgende beobachtung als schiedsrichter: Hat er auf "foul" entschieden, kommen die kinder erst mal alle empört angerannt - bleibt er dann aber einfach kurz und energisch bei seiner entscheidung, nehmen sie es so-fort hin und traben davon.

Irgendwie - so erklären wir uns - ist hier die autorität der lehrerinnen noch unangezweifelt. Vielleicht wird sie hier tatsächlich nicht so oft wie bei uns in frage gestellt. Vielleicht gibt es eine art "stille übereinkunft" aller beteiligter (eltern, schulleiterinnen, lehrerkolleginnen, kinder) über das, was in der schule zu tun ist ... nämlich daß das, was der lehrer/die lehrerin sagt, gilt.

Der lehrer ist in seinem arbeitsbereich weitgehend autonom, eher auf kooperation mit kollegen, eltern und kindern orientiert als auf die erfüllung von vorschriften, die von einer anonymen verwaltung erlassen wurden.

Genug zeit für die kinder

Es sind eben bloß 14 kinder in der klasse.

Die kinder quengeln nicht, bis sie schließlich aufmerksamkeit bekommen. Wahrscheinlich sind sie gewohnt, daß die lehrerin genug zeit für sie haben wird. Sie gehen still zur lehrerin oder melden sich und warten dann, bis diese sich ihnen zuwendet.

Beeindruckt bin ich von dem material, das die stützlehrerin der 2. klasse speziell für das von ihr betreute kind angefertigt hat (in den unterrichtslauf der ganzen klasse eingepaßt). Das meiste davon hat sie in einem großen Din A4-heft selbst geschrieben und gezeichnet - welche arbeit! Aber auch toll für diebeziehung der stützlehrerin zu diesem kind mit besonderen schwierigkeiten.

In der schulbücherei

Gemeinsame verantwortung

Die teams werden jeweils für einen jahrgang, hier 2 klassen (davon 2 behinderte) (zusammen 30 kinder) zusammengestellt: bei "tempo pieno" bedeutet das: 4 klassenlehrerinnen und 2 stützlehrerinnen erstellen gemeinsame jahres- und wochenpläne, aber auch die besonderen förderprogramme für die beiden behinderten kinder.

Später, in einem gespräch mit mehreren Schulleitern erfuhren wir, daß auf die freiwilligkeit bei der entscheidung für eine jahrgangsstufe, für personen und für fächerschwerpunkte sehr viel rücksicht genommen wird. Auch in Italien haben viele lehrerInnen große schwierigkeiten mit der kooperation, und so manche/r lehrerin/lehrer zieht halbtagsunterricht in einer gruppe ohne behinderte schüler vor, um den damit verbundenen problemen aus dem weg zu gehen.

Meistens montags setzen sich die 4 klassen- und 2 stützlehrerinnen der beiden parallelklassen zusammen und entwerfen einen wochenplan. Beim täglichen mittagessen, wenn vormittags- und nachmittagslehrerin beide anwesend sind, bleibt zeit für kurze absprachen (auch diese mittagszeiten werden voll zu der bezahlten unterrichtsverpflichtung gerechnet).

Auf alle fälle - auch wenn die lehrerpersönlichkeiten noch so verschieden sind - entsteht dadurch mehr kompetenz für schüler und unterricht.

Die stützlehrerin von Leonardo aus der 3. klasse (Simona) konnte uns zu anfang unseres besuches so ausführlich über ihre arbeit und Leonardo berichten, weil sie wußte, daß der gemeinsam verantwortete unterricht von der klassenlehrerin auch ohne sie fortgeführt werden konnte - und daß diese auch Leonardo kompetent betreuen würde.

In der pause erzählt uns die klassenlehrerin der 2. klasse, daß sie früher als junge lehrerin allein mit 30 kindern in der klasse zu kämpfen gehabt habe und daß sie heute sehr viele vorteile in der kooperation mit den anderen lehrerinnen sehe. Allerdings glaubt sie, daß es schon einer besonderen inneren einstellung für die kooperation bedürfe. Andere lehrerinnen berichten (wiederum in der pause), daß die kooperation gar nicht gut funktioniere und es viele konflikte gebe, da die lehrer schlecht darauf vorbereitet seien. Sie würden auch lieber in "tempo normale" arbeiten, da "tempo pieno" viel zusätzlichen arbeitsaufwand und -zeit für absprachen mit den anderen lehrern bedeute; ... bei "tempo normale" sei man als lehrer freier. Hier bleibt uns für gezielte fragen wieder keine zeit, da die lehrerinnen in den unterricht zurück wollen.

Einmal erleben wir auch eine uneinigkeit zwischen der zweiten klassenlehrerin der 2. klasse und der stützlehrerin. Uber eine frage geraten beide mitten im unterricht in eine konträr geführte diskussion, bis die klassenlehrerin sich schließlich über die einwände hinwegsetzt. Beide erscheinen mir in diesem moment sehr starr und unflexibel.

Danach setzen die lehrerinnen die abgesprochene unterrichtsfolge fort. - "Es geht weiter! Man muß mit den unterschiedlichsten auffassungen leben" - das ist mein gefühl dabei.

Bei Lilia und Rita, den klassenlehrerinnen der 3. Klasse schien es gut zu laufen:

Rita war jung, Lilia stand kurz vor der pensionierung. Beide gingen sehr herzlich miteinander um. Offensichtlich gab es eine klare arbeitsteilung und klare absprachen hinsichtlich der verantwortlichkeiten.

Wer "macht" den unterricht, wer hat die aufsicht (z.b. während des mittagessens). Wir erlebten stunden, in denen sie beide in der klasse waren, aber auch solche mit gleichzeitigen verschiedenen angeboten für teilgruppen. Unterschiedliche kompetenzen und unterschiedliche zuständigkeiten wurden offensichtlich sehr verbindlich eingebracht, ohne daß während des unterrichts absprachen nötig oder wahrnehmbar waren.

Die stützlehrerinnen waren in diesen beiden klassen sehr unterschiedlich.

Simona war eine sehr kompetente, theoretisch fundiert arbeitende frau. Sie hatte ein universitätsstudium mit einer promotion abgeschlossen. Sie war federführend in der betreuung der beiden behinderten kinder in den beiden parallelklassen, sie arbeitete die speziellen programme aus und gab offensichtlich den anderen beteiligten lehrerinnen die Sicherheit, daß die behinderten kinder optimal versorgt werden. In zahlreichen gesprächen wurde deutlich, daß sie für die ganze schule eine große unterstützung ist. - Wir besucherInnen wurden von ihr sehr anschaulich und sachkundig informiert.

Von der zweiten stützlehrerin haben wir den eindruck bekommen, daß sie mitmacht und unterstützt, was ihr gesagt wird. Sie geht freundlich und mütterlich mit den kindern um - von ihr gehen aber keine besonderen aktivitäten aus. Zwei klassenlehrerinnen und zwei stützlehrerinnen haben wir an zwei langen schultagen etwas genauer kennengelernt und uns einen langen abend mit ihnen unterhalten.

Wir haben den eindruck gewonnen: Die vier akzeptieren sich gegenseitig in ihrer unterschiedlichkeit - sie behindern sich nicht - sie konkur,rieren nicht:

  • die junge, schwungvolle und die ältere, etwas würdige, sicherheit ausstrahlende klassenlehrerin sowie die

  • theoretisch fundierte, sehr professionell arbeitende und die eher zurückhaltende, auf anleitung wartende stützlehrerin.

Lorenzo - einer der vielen bidelli der "guten geister" in der schule.

2.2.6. Disziplin - anmerkungen eines deutschen besuchers in italienischen schulen über das (nicht-) erscheinungsbild von disziplinkonflikten

André Dupuis

Mitten im unterricht, während andere kinder den flächeninhalt eines würfels berechnen und die lehrerin das gerade erklärt, steht ein kind auf, geht zur klassentür und verläßt die klasse. Weder die lehrerin noch die mitschülerinnen nehmen davon großartig notiz, auch nicht, als das kind kurze zeit später wiederkommt. Etwas später tritt die "bidella" ein, redet mit der lehrerin, beide verlassen den raum. Die kinder sind sich für kurze zeit selbst überlassen. Kein gejohle bricht aus, keine schwämme, die durch die klasse fliegen, kein sich entladen der aufgestauten aggressionen. Nach einiger zeit kommt die lehrerin wieder und setzt ihren unterricht fort.

Dieses sind eindrücke, die ich während mehrerer tage in italienischen klassen erlebt habe. Daß kinder während des unterrichts aufstehen und ungefragt den klassenraum verlassen, erscheint für deutsche verhältnisse kaum denkbar.

Die zuletzt genannte situation habe ich kurze zeit später in einer Berliner grundschule erlebt:

Die lehrerin verläßt die klasse, um etwas zu erledigen, zwar sitzen die kinder alle an ihren plätzen, sie unterhalten sich aber etwas. Als die lehrerin zurückkehrt, sind diese unterhaltungen anlaß für disziplinierungen, welche weitere diskussionen unter den kindern auslösen. Häufig werden darüber in Deutschland auseinandersetzungen zwischen kindern und lehrerinnen geführt.

Wann dürfen kinder im unterricht sprechen?

In den italienischen klassen scheint es darüber kaum auseinandersetzungen zu geben. Das grundsätzliche verhältnis zwischen kindern und erwachsenen schien mir das entscheidende zu sein. Die kinder wurden von den erwachsenen (auch von den bidelli) als personen akzeptiert, kein kind wurde vor den anderen zur "schnecke" gemacht.

Die kinder schienen ein grundvertrauen zu haben. Es schien so, daß die kinder sich an unausgesprochene, selbstverständliche regeln hielten und diese auch akzeptierten.

Ein beispiel:

Die kinder spielen auf dem schulhof alle miteinander. Eine lehrerin stellt sich in die nähe der schultür und hebt ihre hand, die kinder strömen nach und nach zu ihr, um dann in ihre klasse zu gehen. Keiner trödelt noch in irgendeiner ecke herum oder muß von einem lehrer/einer lehrerin in die klasse "gezerrt" werden.

Die kinder akzeptieren die rolle der lehrerin/des lehrers. Lehrerinnen treten ihnen - den kindern - mit ihrem wissensvorsprung und ihrer kompetenz gegenüber und verhalten sich dabei ganz eindeutig so, daß sie die kinder mit ihrer jeweiligen Persönlichkeit akzeptieren. Es wird nicht ständig belehrend auf die kinder eingeredet.

Im unterricht wechselten phasen des intensiven, konzentrierten arbeitens mit phasen des miteinanderredens. Unruhe unter den kindern und heftiges diskutieren wurde nicht als störung an sich empfunden und gaben den lehrerInnen kaum anlaß, disziplinierend auf die kinder einzuwirken.

Die klassentüren waren offen, und sie wurden von kindern und erwachsenen im gleichen maße als offen genutzt. Hatten die kinder fragen, konnten sie darauf vertrauen, daß sie auch beantwortet werden würden. So fühlte sich keines der kinder zurückgesetzt oder wurde ungeduldig, weil sie/er schon wieder mit einer offenen frage nach hause geschickt wurde.

Sicher trug mit dazu bei, daß meist ständig mehrere lehrerInnen in den klassen waren.

Grundsätzlich bestand zwar die regel, daß die kinder sich melden sollten. Das hineinrufen in den klassenraum wurde aber nicht mit ständigen ermahnungen geahndet. Jeder, der etwas zu sagen hatte, kam auch an die reihe und wurde von allen wahrgenommen. Oberflächlich sah das dann so aus, als würde alles völlig ungeordnet, chaotisch verlaufen. Bei näherem hinsehen konnte man aber feststellen, daß es zwischen den anwesenden lehrerInnen genaue absprachen gab, die eingehalten wurden und an denen sich die kinder orientierten.

Auch in den pausen auf den schulhöfen blieben größere prügeleien und aggressionen aus. Die erwachsenen waren für die kinder greifbar, weil sie nicht irgendwo in ihrem lehrerzimmer saßen, sondern gemeinsam mit den kindern auf dem hof waren, manchmal auch spiele vorschlugen. So hatten sie auch in dieser situation nicht in erster linie aufpasser- und disziplinierungsfunktion, sondern erschienen den kindern eher als partner.

Ich denke, daß für die italienischen lehrerInnen der klassen, die wir besuchten, im vordergrund ihrer pädagogischen bemühungen das kind als persönlichkeit stand. Jedes kind konnte sich auf den erwachsenen verlassen, konnte darauf bauen, daß es nicht im nächsten moment vor den anderen bloßgestellt werden würde. Reglementierungen wurden dort, wo sie auftauchten, von den kindern angenommen, ohne großartige hinterfragung.

Es erschien mir jedenfalls so, daß kinder in dieser gesellschaft eine andere rolle spielen als bei uns. Kinder scheinen als kinder sehr viel ernster genommen zu werden. Konflikte, die bei uns lange diskussionen uns streitigkeiten auslösen, scheinen dort kein problem zu sein.

Sicherlich können die schilderungen nur einen kleinen ausschnitt der italienischen schulrealität wiedergeben, dazu war mein aufenthalt viel zu kurz. So konnte ich auch nicht hinter das "geheimnis" des verhältnisses zwischen kindern und erwachsenen kommen.

Reglementierungen für kinder habe ich auch gesehen, diese wurden von den erwachsenen aber nicht aufgrund ihrer macht durchgesetzt.



[14] Das märchen "I tre doni del vento Tramontano" (Die drei gaben des windes Tramontano) erzählt von einem armen bauern, der zum wind Tramontano geht, weil seine familie nicht genug zu essen hat. Der wind hilft ihm aus seiner not

[15] Dieser Bericht über den Mathematikunterricht ist bereits veröffentlicht worden in der Zeitschrift: päd: extra, Heft 9/1986, S. 37 - 39

[16] An der von uns besuchten schule gab es keine männlichen lehrer; deshalb werden wir nur von lehrerinnen berichten.

3. Kapitel: Kinder mit behinderungen in der schule

3.1. Wider die besondere beachtung der defizite - an den fähigkeiten ansetzen

Jutta Schöler

Die entwicklung einzelner kinder mit behinderung steht im mittelpunkt des folgenden kapitels.

Keines dieser kinder wäre in Deutschland in einer regelschule. - Bis auf den blinden Stefano würde wohl auch keines dieser kinder in eine der wenigen modellschulen integriert werden. - Die schwierigkeiten sind zu groß. - Die ängste der erwachsenen vor der behinderung verhindern die gemeinsamen lernprozesse von kindern und erwachsenen.

So lange die pädagogInnen sich an der feststellung der mängel dieser kinder festhalten, wird sich letztlich auch an deren aussonderung nur wenig ändern.

Die aussonderung an sonderschule kann leicht ersetzt werden durch eine aussonderung zur sonderbehandlung auf sonderbänken mit sonderlehrerInnen.

Es ist notwendig, daß die erwachsenen für alle kinder - besonders aber für behinderte kinder - eine grundsätzlich andere sichtweise erlernen:

Die fähigkeiten dieser kinder beachten!

Die normalität der behinderten kinder entdecken!

Die bedürfnisse der kinder und ihrer eltern respektieren!

Die zukunftsperspektive jedes einzelnen kindes nie aus dem auge verlieren. - Auch ein winzig kleiner lernschritt (z.b. alleine treppen steigen oder essen können) kann für den betroffenen menschen einen riesigen zugewinn an autonomie für das ganze leben bedeuten.

Die gesamte situation in der gegenwart beachten! - Jedes einzelne behinderte kind - und besonders jedes schwer behinderte kind - bedeutet für alle beteiligten eine herausforderun zu originellem und ganzheitlichem lernen,

Wie die italienischen lehrerinnen gelernt haben - mit Ricardo und Stefano, mit Francesco und Lorenzo, mit Nadja und Anna, Laura und Massimo - das kann für kein einziges anderes kind als methode übernommen werden. Es gibt weder in Italien noch in Deutschland einen zweiten Ricardo oder Stefano, eine zweite Nadja oder Anna, eine zweite Laura und einen zweiten Massimo. -

Trotzdem ist es nützlich, sich mit der entwicklung dieser kinder in Italien gründlich gedanklich auseinanderzusetzen, weil wir auch in Deutschland unter völlig anderen gesellschaftlichen rahmenbedingungen und anderen schulorganisatorischen voraussetzungen die andere sichtweise anwenden können: Wir können lernen, die fähigkeiten der behinderten kinder zu beachten.

Wenn wir uns von der defizit-fixierung lösen können und die normalität der behinderten kinder entdecken, dann wird jede/r, die/der es wirklich mit den kindern ernst meint, erkennen müssen:

Je schwerer ein kind behindert ist, um so notwendiger braucht es die anregungen aller seiner sinne, die ihm die lebendige umgebung anderer kinder bietet.

3.2 Stefano und Ricardo (Überschrift von bidok)

3.2.1. Stefano und Ricardo sind blind

Jutta Schöler

Im krankenhaus in Florenz kamen im herbst 1977 kurz hintereinander zwei kinder zur welt. Die bangen fragen, die während einer schwangerschaft wohl jede mutter, jeden vater gelegentlich beunruhigen, sind unnötig gewesen:

zwei gesunde kinder.

Zwei jungen, die etwas schwächlich und untergewichtig sind und deshalb einige tage in einem wärmebettchen verbringen sollten. - Aber hebamme und arzt gratulieren den beiden elternpaaren zu den gesunden kindern.

Am nächsten tag stellt eine krankenschwester fest, daß aufgrund eines bedienungsfehlers die luft im wärmebettchen zu warm und trocken eingestellt war. Die kinder sind erblindet!

Wer ist schuld? Es läßt sich nie klären! Wer wird diese nachricht den beiden elternpaaren überbringen?

Der psychologe, der für den wohnbezirk der eltern zuständig ist, wird hinzugezogen. Er übernimmt die schwierige aufgabe, mit den eltern über die sicherlich schmerzvolle und schockierende veränderung in der Lebensperspektive ihrer kinder zu sprechen. Wird es möglich sein, den eltern bei der verarbeitung dieses Schocks zu helfen? Werden mutter und vater es schaffen, ihr kind trotz dieser schwerwiegenden behinderung zu akzeptieren? Werden mutter und vater ihr kind so lieben, fördern und bestätigen können, wie es jetzt ist? Oder werden sie immer wieder das kind suchen, das es hätte sein können, wenn nicht ...? Diesen schock, die enttäuschung, die suche nach schuldigen kann kein außenstehender den eltern abnehmen. Vertraute oder in der beratung von menschen geschulte können aber den eltern bei der verarbeitung ihrer probleme eher helfen als das klinikpersonal.

Bei der ersten information der eltern über die medizinische diagnose eines defizits ihres kindes werden bereits die weichen gestellt: Wie können mutter und vater ihr kind annehmen?

Die materielle, psychische und soziale situation der mutter und des vaters, ihre beziehung zueinander und ihre stellung im nachbarschafts- und freundeskreis sind ganz wesentliche bedingungen für die entwicklungsmöglichkeiten, die sie ihrem kind geben können. Dies gilt für alle kinder, um so mehr für ein kind mit besonderen schwierigkeiten, hier: für zwei blinde kinder.

Über die unterschiedlichen sozialisationsbedingungen hinaus, die die einzelne familie ihrem kind bieten kann, wird es aber gerade bei einem kind mit offensichtlichen defiziten besonders davon abhängen, wie die weichen durch die gesellschaftlichen rahmenbedingungen gestellt werden!

Wird dieses blinde kind einen sonderkindergarten, eine sonderschule für blinde, ein internat besuchen, vielleicht in einer behindertengruppe sport treiben oder musik machen und später eine berufstätigkeit ausüben, die von den "normalen" für blinde vorgesehen ist: körbe flechten oder als sekretär, telefonist oder masseur arbeiten?

Wird der kindergarten um die ecke für diese kinder einen platz haben? Werden diese kinder eine "normale" schule besuchen, die schule, in der die eltern noch aus ihrer eigenen kindheit einige lehrer kennen und in die alle anderen kinder aus der nachbarschaft jeden morgen grüppchenweise eilen und nachmittags schwatzend heimwärts ziehen? Werden diese kinder sich auf dem heimweg verabreden können: für spiele auf dem hof am nachmittag oder erkundungsausflüge in die umgebung?

Das integrationsgesetz 517/77 war bereits verabschiedet. Von den gesetzlichen bedingungen in Italien war klar: Diese kinder werden auf eine normale schule qehen!

Keine mutter, kein vater ist auf ein leben mit einem behinderten kind vorbereitet.. Die unsicherheit, die sich auf das gesamte tägliche leben auswirkt, kann den eltern keine gesellschaft abnehmen.

Für den erblindeten Stefano und den erblindeten Ricardo war klar, als der psychologe Ludwig-Otto Roser zum ersten mal mit den eitern über die veränderte situation sprach:

- Für Stefano und Ricardo stehen plätze in einer kinderkrippe zur verfügung.

- Beide jungen können denselben kindergarten besuchen wie die nachbarkinder - über die geeignete vorbereitung und unterstützung müsse rechtzeitig gesprochen werden.

- Stefano und Ricardo würden dieselbe schule besuchen wie bereits die eitern und alle kinder der nachbarschaft.

- Zur entlastung der eltern und als unterstützung für aktivitäten mit gleichaltrigen in der freizeit kann eine betreuerin zur verfügung gestellt werden - vielleicht würde es aber auch nicht notwendig sein.

- Das berufliche spektrum, das ihnen offenstehen wird, wird vorrangig von ihrer individuellen entwicklung und der allgemeinen arbeitssituation für jugendliche in 15 oder 20 jahren abhängen. Gewiß auch von der spezifischen behinderung, die sie jedoch nicht bereits von geburt an auf ein ganz schmales berufliches spektrum, zumeist in sozialer isolation, festlegt.

Die beobachtungen aller bezugspersonen berücksichtigen!

Ricardo hat auf wunsch der mutter die kinderkrippe nicht besucht, den kindergarten nur sehr unregelmäßig.

Stefano besuchte beide einrichtungen gerne - und nach anfangsschwierigkeiten auch regelmäßig.

Ich habe Stefano im frühjahr 1982 kennengelernt, als er vier jahre alt war. Er besuchte seit einem jahr den kindergarten in seinem wohngebiet.

Regelmäßig, einmal im monat, fand eine konferenz unter leitung des psychologen Ludwig-Otto Roser statt. Alle, die an der entwicklung und förderung von Stefano beteiligt waren, nahmen daran teil:

Die mutter, Francesca, ist sehr ängstlich. Es fällt ihr schwer, ihren kleinen, blinden sohn aus der mütterlichen fürsorge zu entlassen. - Bei der schwierigen aufgabe, dem jungen den weg zu den anderen kindern zu erleichtern, wird sie von Stefania unterstützt.

Stefania ist knapp zwanzig jahre alt; sie hat eine ausbildung als erzieherin abgeschlossen und speziell gelernt, behinderte kinder in der gemeinschaft zu fördern. Sie ist mit einem honorarvertrag über insgesamt achtzig stunden pro monat im ambulatorium des stadtquartiers angestellt und betreut Stefano und einen zweiten, etwa gleichaltrigen blinden jungen. Sie berät die eltern und entlastet diese gelegentlich, indem sie mit den kindern am wochenende ausflüge macht o.ä. Sie berät die erzieher im kindergarten und unterstützt diese bei besonderen aktivitäten.

Raffaela und Paula sind die beiden kindergärtnerinnen der gruppe, Raffaela steht kurz vor der pensionierung, Paula ist etwa fünfzig jahre alt. Beide betreuen zum ersten mal ein blindes kind.

Auf meine frage sagen sie mir, daß sie am anfang recht unsicher waren gegenüber der neuen aufgabe. Aber neben Ludwig-Otto Roser und Stefania haben sie ja noch die unterstützung von Marguerita.

Marguerita ist blinden-sonderlehrerin - bis vor fünf jahren hat sie an einer blinden-sonderschule in Florenz unterrichtet.

Maria ist eine der putzfrauen des kindergartens. Sie hat gerade einen zusatzkurs bei Ludwig Roser abgeschlossen, in dem die "bidelli" in der förderung der behinderten kinder unterrichtet wurden.

Ludwig-Otto Roser eröffnet das gespräch und fragt nacheinander alle beteiligten nach ihren erfahrungen mit Stefano in den letzten vier Wochen.

Die mutter, Francesca, berichtet, daß Stefano in der letzten zeit besonderes interesse an tieren bekundet hat. Er freut sich über alle tiere, die er abtasten kann: holzpferdchen, kuscheltiere. Sie bedauert es, daß ihre wohnung für lebende tiere ungeeignet ist und sie daher ihrem Sohn den direkten umgang mit tieren nicht ermöglichen kann. Mit Stefanos allgemeiner entwicklung ist sie zufrieden. Das erleichtert es ihr, die behinderung ihres kindes zu akzeptieren: Er freut sich jeden tag, wenn es so weit ist, daß sie ihn in den kindergarten bringt, und ist fröhlich und ausgeglichen, wenn sie ihn nachmittags abholt.

Stefania hat in der letzten zeit versucht, bei den gemeinsamen ausflügen mit Stefano zufällige begegnungen mit hunden oder katzen zu nutzen. Er liebt es, die tiere zu streicheln oder sich mit deren besitzern über die eigenarten, schlafgewohnheiten und vorlieben der tiere beim fressen zu unterhalten. Stefania will versuchen, den kontakt zu entfernten verwandten zu nutzen, um an einem wochenende mit Stefano zu einem landwirtschaftlichen betrieb zu fahren, wo es einige pferde, kaninchen, ziegen und schafe gibt.

Die beiden kindergärtnerinnen berichten, daß Stefano immer noch schwierigkeiten hat, die kinder seiner gruppe wiederzuerkennen. Gemeinsam wird überlegt, welche kreisspiele oder gruppenspiele besonders geeignet sind, um über das gehör, den tastsinn und selbst das riechen die anderen kinder zu erkennen.

Außerdem wird besprochen, wie das im kindergarten vorhandene spielmaterial verändert werden könnte. Die würfel sind für Stefano schlecht zu ertasten; es sollen größere mit deutlich vertieften punkten angeschafft werden; an den domino-kärtchen müssen die umrisse der Symbole ertastbar gemacht werden.

Mit Marquerita wird besprochen, ob spiele mit symbolen der blinden-punkt-schrift für den kindergarten angeschafft werden sollten. Marguerita kennt sich genau in dem speziellen angebot aus und kann es aufgrund eines katalogs demonstrieren. Ihre vorschläge werden ernsthaft diskutiert, aber schließlich doch verworfen: Dieses spezielle angebot ist für spiele entworfen worden, die blinde kinder miteinander spielen können: kartenspiele, würfelspiele, steckspiele. Für ein gemeinsames spiel sehender und blinder kinder sind diese spiele meist nicht geeignet. Für alle sehenden kinder sind sie oft ungewohnt und zu teuer. Nach längerer diskussion erscheint es allen am gespräch beteiligten sinnvoller, die im kindergarten vorhandenen spiele und das allen kindern vertraute kommerzielle spielzeug daraufhin zu prüfen, ob es für das gemeinsame spiel einer gruppe sehender kinder mit einem blinden kind geeignet ist bzw. welche leichten veränderungen vorgenommen werden können. Stefanias Vater, der nicht mehr berufstätig ist, hat seine hilfe angeboten.

Maria berichtet, daß Stefano ihr gelegentlich beim wischen helfen will. Sie hat damit schwierigkeiten, weil er gelegentlich überschwemmungen verursacht, den wasserhahn nicht zudreht oder den eimer umstößt. In der diskussion wird deutlich: Das wasser läßt Stefano genauso gedankenlos laufen wie die anderen kinder. Er kann den wasserhahn alleine auf- und zudrehen! Wo der eimer steht, das allerdings muß man ihm sagen. Er kann ihn nicht sehen!

Maria wird von den anderen darin bestärkt, sie möge es geduldig weiter versuchen, sich auch von Stefano beim putzen helfen zu lassen. Auch diese arbeit ist eine wichtige erfahrung für ihn. - Maria fühlt sich ernst genommen und berichtet noch, welche fortschritte Stefano dabei gemacht hat, sich alleine in der toilette zu orientieren.

Ludwig-Otto Roser hat in diesem etwa zweistündigen gespräch keine eigenen erfahrungen mit Stefano beizutragen; es gibt für ihn auch keine offensichtlichen konflikte zu schlichten, keine spezifischen therapien zu empfehlen. Die rolle des psychologen ist hier nicht die des Spezialisten, der letztlich sowieso alles besser weiß als die mutter, die erzieherin oder die putzfrau und von dem die "nur-praktiker" die rezepte für die lösung ihrer probleme erwarten. Das berufsfeld des psychologen umfaßt hier das ganze spektrum der erfahrungen mit dem jeweiligen kind. Gemeinsam mit all denen, die handelnd mit dem kind umgehen, muß überlegt werden, wie die defizite, die aufgrund der jeweiligen medizinischen oder psychologischen diagnose festgestellt wurden, in sozialen prozessen ausgeglichen werden können, d.h. wie das einzelne kind in der gruppe lernt, wo kompensationstechniken erlernt werden müssen, z.b. blindenschrift, oder wo es notwendig ist, daß die äußeren bedingungen verbessert werden: z.b. den wischeimer nicht irgendwo stehen lassen, sondern wegen Stefano immer an einem bestimmten platz. Hierdurch wird auch gleichzeitig rücksichtnahme durch die sehenden kinder eingeübt!

Andererseits: Wenn eine mutter oder ein vater die regelmäßige beratung und betreuung durch den psychologen des ambulatoriums nicht wünscht, dann kann ihnen diese auch nicht aufgezwungen werden. -

Die eltern von Ricardo wünschten eine solche beratung nicht.

Es schneit! - Sehende kinder und ein blindes kind haben ein neues gemeinsames erlebnis

Ich hospitiere in der kindergartengruppe, in der Stefano mit den anderen kindern spielt. Er sitzt auf dem fußboden und baut mit legosteinen. Andere kinder spielen mit puppen und dem kaufmannsladen. Kein außenstehender könnte an dieser spielsituation irgend etwas besonderes erkennen.

Plötzlich schreit ein kind: "Neve, il neve!" (Schnee - es schneit). Alle kinder rennen zum fenster und verfolgen mit den augen die schweren, dicken schneeflocken, die aus einer schwarzen wolke langsam zur erde rieseln und auf dem boden sofort schmelzen. Neve - schnee! Eine kleine sensation in Florenz! Hier schneit es nicht sehr oft. Die vier-jährigen kinder, die in dieser kindergartengruppe sind, haben zuvor nie schnee gesehen, nur zwei waren schon mit ihren eltern zum winterurlaub in den bergen.

Stefano sieht den schnee nicht! Was ist das? - Schnee? - Er bleibt an seinem platz sitzen. Er läuft nicht zum fenster. Er drückt sich nicht die nase an den scheiben platt. Er fragt von seinem platz am fußboden aus zu den anderen hin: "Was ist das? Schnee?"

Ja, was ist das? - Die erzieherin und ich gucken uns ein wenig hilflos an: Wie sollen wir einem vierjährigen, der nichts sehen kann, erklären, was das ist: Schnee?! Wir stutzen und stocken - sind beide sprachlos. Stefano ruft wieder von seinem platz aus zu den anderen kindern hin: "Was ist das? Schnee!?" Er läßt nicht locker, er will es wissen! Was bedeutet das, was offensichtlich so wichtig ist, daß alle anderen kinder ihre gewohnten beschäftigungen aufgegeben haben und immer noch schweigend am fenster stehen?

Da dreht sich Lucca um, läuft zu Stefano, packt ihn schnell an der hand, zieht ihn hoch: Komm! - Sie rennen raus aus dem raum, über den flur auf den hof. Alle anderen kinder hinterher. Als letzte, immer noch ein wenig verdutzt: die erzieherin und ich.

Da steht eine gruppe aufgeregter vierjähriger kinder. Alle versuchen, mit ihren händen die schneeflocken zu fangen und sie Stefano zu bringen. Das geht nicht! Die schneeflocken schmelzen sofort.

Lucca nimmt Stefanos hand. Er führt sie und läßt ihn so eine schneeflocke fangen. Erwartungsvoll guckt er Stefano ins gesicht: Wird er jetzt wissen, was das ist? Schnee? Aber Stefano wendet sich mit enttäuschter miene zu Lucca: "Aqua?" (Wasser?) - "Pioggia?" (Regen?) Das, was Stefano auf seiner hand fühlt, ist wasser, ein tropfen kalten wassers, ein regentropfen! Sonst nichts! - Ohne worte wird aus Stefanos miene und dem klang in seiner stimme deutlich: Er ist enttäuscht!! Da stimmt etwas nicht! - Da muß es etwas anderes geben, was er nicht sieht, was er nicht versteht, was für alle anderen aber offensichtlich sehr wichtig ist.

Auch Lucca ist enttäuscht. Er wollte Stefano spüren lassen, was er nicht sehen kann. Lucca wird klar, daß schnee etwas anderes als regen ist - aber was? Die erklärungsversuche zweier sehender vierjähriger kinder und der tastsinn eines blinden vierjährigen reichen nicht aus um herauszufinden, was schnee wirklich ist.

Wir gehen alle gemeinsam in den gruppenraum zurück und versuchen, diese neue, fremde erscheinung "schnee" zu erklären. Die erzieherin fühlt sich überfordert, ich sowieso - mit meinen relativ geringen italienisch-kenntnissen. Wir erklären. Wir kratzen eis vom gefrierfach des kühlschrankes in der küche, ein kind erzählt vom winterurlaub in den bergen. Konzentriert arbeitet die ganze gruppe vierjähriger kinder an der klärung des begriffs "schnee".

An diesem vormittag haben sechzehn sehende kinder bei der klärung von begriffen viel gelernt, weil Stefano - ein blindes kind - in dieser gruppe ist.

An diesem vormittag hat ein blindes kind vieles gelernt, was vierjährige über schnee wissen.

- Sehen, erfahren, (be)greifen konnte Stefano den schnee nicht.

Ohne Stefano wären die anderen kinder dieser gruppe über die stufe der konkreten anschauung und sinnlichen wahrnehmung nicht hinausgelangt, hätten wohl nicht einmal die frage gestellt, was denn der unterschied zwischen regen und schnee sei.

Ohne all die anderen sehenden kinder - was hätte Stefano über "schnee" gelernt?

Eine erzieherin in einem sonderkindergarten hätte eine gruppe spielender blinder kinder höchstwahrscheinlich nicht in ihrem spiel gestört.

Überlegungen vor dem wechsel vom kindergarten in die schule

Zwei jahre später - im frühjahr 1984 - habe ich Stefano in der 1. klasse der grundschule wiedergesehen. In der parallelklasse habe ich Ricardo kennengelernt.

Von Stefanos und Ricardos lehrerinnen, von dem stützlehrer und der stützlehrerin habe ich mir berichten lassen, wie der übergang vom kindergarten in die grundschule vorbereitet worden war:

Voraussetzungen

Etwa neuen monate vor beginn des Schuljahres hatten alle eitern ihre kinder für die neuen ersten klassen angemeldet und ihre wünsche mitgeteilt:

Für Stefano und Ricardo war ganztagsbetreuung als günstigste form für die soziale und kognitive förderung angesehen worden.

Es konnten zwei ganztagsklassen mit je 17 kindern gebildet werden.

Von den 34 kindern der beiden ganztagsklassen hatten drei das "certificato" (vgl. den beitrag von Monika Schumann): bambino con handicap (kind mit behinderung).

Stefano und Ricardo sind blind, Sabrina ist stark verhaltensauffällig und psychisch gestört.

Wegen der besonderen schwierigkeiten von Ricardo - stark verhaltensauffällig und blind - war es gelungen, für ihn bei der schulverwaltung eine eigene stützlehrerin genehmigt zu bekommen. Für den blinden Stefano und die verhaltensauffällige Sabrina wurde die zweite stützlehrerin bewilligt.

Für 34 kinder (davon drei behinderte) steht also ein team von fünf Lehrerinnen und einem lehrer bei ganztagsbetreuung zur verfügung: d.h. bei vierzig stunden anwesenheit der kinder in zwei klassen, zweimal je ein zweier-team der klassenlehrerinnen (mit je 24 stunden unterrichtsverpflichtung) und zusätzlich ein stützlehrer mit blinden-lehrer-qualifikation und eine weitere stützlehrerin.

Barbara, die als stützlehrerin an dieser schule bereits gearbeitet hat, verfügt über eine zusatzqualifikation. Nach jahrelanger arbeit als grundschullehrerin hatte sie aufgrund des integrationsgesetzes von 1977 eine berufsbegleitende ausbildung absolviert und eine prüfung abgelegt. Sie ist nicht für eine besondere behinderungsart ausgebildet. Ihre aufgabe ist es, kinder mit lern- und verhaltensschwierigkeiten in der klasse zu fördern. Sie unterrichtet 24 wochenstunden und erhält dasselbe gehalt wie die klassenlehrerinnen in der grundschule.

Luciano ist blindensonderlehrer. Er hat zehn jahre lang an einer blindensonderschule unterrichtet, bevor er vor fünf jahren zum ersten mal mit der betreuung zweier blinder kinder in einer regelgrundschule begann. Diese kinder sind inzwischen an einer mittelschule. Luciano beginnt mit Stefano und Ricardo zum zweiten mal die förderung blinder kinder in der schule gemeinsam mit sehenden. Luciano hat 18 stunden lehrverpflichtung, weitere stunden stehen ihm zur verfügung, um die unterrichtsmaterialien der klasse in blindenschrift zu "übersetzen". Hierfür nutzt.er die technischen angebote der blindenanstalt. Die blinden-sonderschule ist aufgelöst worden, aber deren bestand an lehr- und lernmaterialien wird leihweise zur verfügung gestellt. In einer werkstatt mit dem notwendigen personal können spezielle, für blinde kinder geeignete unterrichtsmaterialien hergestellt werden.

Entscheidungen

Dies waren die voraussetzungen. Welche entscheidungen mußten vom lehrerteam gemeinsam mit der einzelbetreuerin, Stefania, und dem ps ychologen, Ludwig Otto Roser, getroffen werden?

- Stefano und Ricardo, die beiden blinden jungen - sollten sie in eine klasse gehen oder nicht?

- Wie sollte der lese- und schreibunterricht für alle kinder und, damit kombiniert, für die beiden blinden kinder aufgebaut werden?

Stefano und Ricardo, das sind zwei sehr verschiedene kinder, die nur eins gemeinsam haben: Sie sind beide blind!

In unserer gesellschaft sind wir den umgang mit behinderten so wenig gewohnt, daß zumeist die äußere erscheinungsform einer behinderterung alle anderen persönlichkeitsmerkmale überdeckt. Wir differenzieren nur zwischen der gruppe der "blinden", der "rollstuhlfahrer", der "geistigbehinderten" usw. Wir hatten nie die chance zu lernen, welche unterschiede auch zwischen menschen mit der gleichen behinderung bestehen! Wir, die sogenannten "normalen", müssen lernen, daß alle variablen, die zur persönlichkeitsentwicklung eines jeden menschen beitragen, auch die unterschiedlichen persönlichkeiten gleichartig behinderter ausprägen.

Für alle kinder müßte gelten: Jedes kind in seiner individualität fördern! Für kinder mit behinderungen gilt dies um so mehr: Zwei blinde kinder sollten deshalb nicht als "klein-gruppe: blinde" angesehen werden:

Stefano z.b. ist ein ganz normal entwickeltes, durchschnittlich intelligentes, aufgewecktes und interessiertes kind. Er ist emotional ausgeglichen, von seinen eltern, großeltern, tanten und onkeln wird er akzeptiert. Mit seiner älteren schwester und den spielkameraden im kindergarten hat er die üblichen streitigkeiten, gemeinsamkeiten und freundschaften.

Ricardo hat große schwierigkeiten, sich in einer gruppe zu verhalten. Er ist ein einzelkind. Ricardos mutter kauft alle spiele und didaktischen materialien, die für die intellektuelle förderung von vorschulkindern angeboten werden, und überfordert damit ihren sohn. Sie ist mißtrauisch allen außenstehenden gegenüber. - Die einzelbetreuerin Stefania darf Ricardo nur dann zu außerhäuslichen erkundungen abholen, wenn die mutter es ausdrücklich wünscht - und das ist selten! Der vater hat große schwierigkeiten, mit seinem blinden sohn umzugehen. Große verhaltensschwierigkeiten und massive eßstörungen sind Ricardos "handicap" - die tatsache, daß er auch blind ist, steht für die lösung seiner schulischen probleme im hintergrund.

Stefano und Ricardo gehen in zwei parallelklassen!

Für das lesenlernen benutzen die klassenlehrerinnen eine fibel, die sie vor allem wegen der ansprechenden abbildungen ausgewählt hatten.

Der stützlehrer Luciano zeigte mir Stefanos und Ricardos fibel: Es sind dieselben fibeln, die alle anderen kinder der klasse zum lesenlernen benutzen, von Luciano in blindenschrift übersetzt. Besonders stolz ist er auf die abbildungen: In vereinfachtem relief-druck können Stefano und Ricardo in dieser fibel dieselben abbildungen ertasten, die alle anderen kinder sehen können. - Die wichtigste grundlage für das gleichzeitige und gemeinsame lesenlernen aller kinder war am beginn der 1, klasse geschaffen worden: gemeinsames lehrmaterial.

Luciano erklärte mir auch, daß diese vorarbeit für Ricardo bisher nichts genutzt hatte. Ricardo kann noch nicht lesen, ist vor allem auch nicht bereit dazu. Seine abwehr gegenüber der anstrengung, mit den fingerspitzen die punktschrift zu ertasten und deren symbolgehalt zu erkennen, ist vergleichbar dem abwehrverhalten von Sabrina. Auch Sabrina kann - in der mitte des ersten schuljahres - außer ganz wenigen, sehr vertrauten silben - noch nicht lesen.

Die beiden: stützlehrer Luciano und stützlehrerin Barbara sprachen mit den vier klassenlehrerinnen ab, an welchen unterrichtsveranstaltungen sie sich in welcher form beteiligten, und wechselten ungezwungen zwischen den beiden klassenräumen, die nebeneinander auf einem flur der schule liegen.

Gemeinsames lesen- und schreibenlernen für blinde und sehende kinder

Bevor ich in der klasse hospitierte, in der der blinde Stefano gemeinsam mit sechzehn anderen kinder unterrichtet wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, wie das machbar ist.

Hinterher erschien es mir recht selbstverständlich. Ich war etwa zur mitte des 1. schuljahres in der klasse, also nach fünf monaten unterricht. Die klasse hatte nach einer methode lesen und schreiben gelernt, die etwa unserer morphem-methode entspricht, d.h. buchstaben-kombinationen wurden vermittelt: pa - po - bi - ba. In derselben reihenfolge, in der die sehenden kinder die buchstaben-kombinationen sehend erlasen, ertastete Stefano die buchstaben-kombinationen in punktschrift.

Wenn die sehenden kinder die buchstaben-kombinationen mit einer sichtbaren abbildung verknüpfen konnten, so stand für Stefano ein tast-bild zur verfügung, z.b. pollo - huhn. Allerdings hatten die sehenden kinder den vorteil, daß die wände des ganzen klassenraumes mit abbildungen und silben geschmückt waren. Trotzdem: Stefano konnte nach fünf monaten gemeinsamen unterrichts genauso viel und genauso schnell lesen wie der größte teil seiner mitschüler, einige waren weiter als er, aber einige andere zurück.

Parallel zum lese-lernprozeß war den kindern das schreiben vermittelt worden. Alle kinder schrieben mit bleistiften oder filzstiften in relativ großen druckbuchstaben und parallel dazu in schreibschrift in hefte mit unterschiedlichem zeilenabstand. Jeweils abhängig davon, wie die kinder ihre feinmotorik koordinieren konnten.

Stefano schrieb mit einem griffel auf kunststoff-folien, indem er auf die eingespannte folie die buchstabensymbole der punktschrift eindrückte. Ein einrastendes lineal half ihm, die zeilen einzuhalten. Der stützlehrer, Luciano, erklärte mir, daß Stefano erst dieses schreiben mit der hand ganz sicher beherrschen sollte, bevor dazu übergegangen werde, daß er mit einer spezial-schreibmaschine schreibt. Für Stefano wird es als sinnvoll angesehen, daß er auch unabhängig von der maschine schreiben kann.

Für Ricardo stand im 1. schuljahr die lösung anderer probleme als lesen- und schreibenlernen im vordergrund:

- Ricardo nahm von sich aus keinen kontakt zu den menschen um ihn herum auf, weder zu den kindern noch zu den lehrerinnen oder zu seinem stützlehrer.

- Ricardo bewegte sich nicht alleine im raum. Er wurde früh von seinem vater gebracht und an seinen platz vorne in der ersten reihe gesetzt. An der hand einer lehrerin bewegte er sich nur, wenn er auf die toilette gehen mußte. Zum gemeinsamen mittagessen mit seinen klassenkameraden ging er erst nach etwa sechs monaten. Zuvor hatte er sein von zu hause mitgebrachtes essen an seinem platz im klassenzimmer gegessen.

- Er aß nichts, was in der schule zubereitet wurde oder was andere kinder ihm gaben. - Auch keinen kuchen, wenn ein mitschüler geburtstag hatte. Aus einer plastiktüte holte er sich brot- und käsestückchen, die ihm seine mutter für das mittagessen in der schule mitgab.

Bei Ricardo, der bisher überhaupt nicht schreiben wollte, sollte demnächst versucht werden, ob er mit der schreibmaschine eher zu motivieren sei, das schreiben zu erlernen.

Als ich im märz 1984 in der 1. klasse war, schrieben die kinder gerade ihre ersten kleinen sätze. Die kinder meldeten sich und wurden nacheinander aufgerufen, um ihre kleinen werke vorzulesen. Die-klassenlehrerin konnte jedoch nicht erkennen, ob Stefano wirklich richtig vorlas, was er geschrieben hatte. Sie sagte mir, daß sie jetzt wohl doch beginnen werde, die blindenschrift zu erlernen. Sie sah es vor allem deshalb als notwendig an, weil sie nur so von Stefano voll akzeptiert würde. Drei mitschülerInnen konnten in der mitte des 1. schuljahres die blindenschrift bereits lesen.

Eine neue klassenlehrerin

Zwei jahre später - eine sehr schwierige unterrichtssituation - für alle kinder in Ricardos klasse:

Die klassenlehrerin hat zu beginn des 3. schuljahres gewechselt.

Als ich in die klasse komme, erkennen mich die kinder - inzwischen ist es das dritte mal, daß ich im frühjahr ein oder zwei tage in dieser klasse bin.

Die neue klassenlehrerin guckt gelangweilt von ihrem lehrertisch auf - den kopf auf die hände gestützt - und ordnet arbeitsblätter der kinder. Ricardo sitzt mit seiner stützlehrerin zwischen den übrigen kindern der klasse. - Alle anderen schwatzen, beschäftigen sich alleine. Die fotos vom vorigen jahr, die ich geschickt hatte, hängen an der wand.

Ricardo sitzt ganz ruhig dazwischen und schreibt - mit hilfe seiner stützlehrerin - auf einer punktschriftmaschine. - Langsam und stetig, ohne sich von den wuselnden kindern um ihn herum ablenken zu lassen. Ich gehe nach vorne zur klassenlehrerin, um ihr zu erklären, daß ich Ricardo seit der 1. klasse kenne, Stefano schon seit dem kindergarten, daß ich regelmäßig käme, um die fortschritte von beiden zu beobachten. "Wie schätzen Sie die fortschritte von Ricardo vom letzen jahr ein?" "Ricardo hat riesige fortschritte gemacht. - Ricardo hat ende der 3. klasse plötzlich angefangen zu schreiben und zu lesen. - Niemand weiß, warum bei ihm plötzlich der knoten geplatzt ist - er wollte es und hat es dann ganz schnell gelernt. - Endlich bewegt er sich auch selbständig im klassenraum, sogar auf dem weg zur toilette oder auf dem hof."

Diese lehrerin sieht keine besonderen schwierigkeiten in Ricardo, aber: Nach ihrer meinung bestehen alle anderen kinder der klasse aus einer anhäufung von schwierigkeiten. Mit abfälliger miene im gelangweilten gesicht schildert sie mir, womit sie sich tag für tag abplagen muß:

- kinder sehr junger eltern. - Sie zeigt mir zwei kinder, deren mütter bei der geburt erst 17 jahre alt waren

- eltern, die sich gegenseitig und die kinder schlagen

- einwandererkinder aus süd-Italien, die ihren dialekt, aber kein italienisch sprechen.

"Mit solchen menschen kann ich nicht arbeiten!"

Die ungünstigen voraussetzungen dieser kinder werden von der lehrerin offensichtlich als vorwand benutzt, um sich selbst nicht vorzubereiten, nicht anzustrengen. Sie steckt voller abwehr, fast abscheu gegen diese kinder, bietet ihnen an diesem vormittag nichts neues an.

Ihre augen leuchten auf, als sie von ihrer alten schule berichtet. - Dort konnte sie mit den kindern wenigstens arbeiten!

Sie ist gegen ihren willen an die schule versetzt worden, nachdem die bisherige klassenlehrerin plötzlich schwer erkrankte. Keine lehrerin hatte zuvor diesen wohnbezirk als besonders problematisch dargestellt. Es schien das persönliche problem dieser lehrerin zu sein. - Mit ironie und abfälligen bemerkungen behandelte sie die kinder. - Ich hielt es nicht lange aus.

Schon am vormittag wechselte ich in die parallelklasse.

Filmauswertung mit einem blinden kind, das den film nicht erlebt hat

Die klassenlehrerin von Stefano war an diesem tag sehr enttäuscht: Lange hatte sie einen gemeinsamen kinobesuch der klasse vorbereitet.

Den Film "Der blaue planet" hatte sie ausgewählt, weil er die schönheiten, den farben- und formenreichtum der natur in bildern und geräuschen zeigt. - Zu den bildern von regenpfützen, regentropfen und den wellen des meeres ist das rauschen, plätschern, glucksen des wassers zu hören. Der vogelflug und der gesang der vögel - die harmonie einer landschaft in bildern, untermalt mit einer entsprechenden musik. - Menschen, die sich lieben - und menschen, die sich streiten.

Ich selbst kenne diesen film nicht. Aber die engagierte erzählung der lehrerin machte mir deutlich, wie gründlich sie es sich überlegt hatte, daß gerade dieser kinobesuch ausgezeichnet geeignet wäre für ein gemeinsames erlebnis einer klasse, die auch ein blinder schüler besucht. - Der stützlehrer Luciano bestärkte sie: "Viele blinde menschen gehen gerne ins kino. - Die gesamte stimmung im kino, die gerüche und geräusche, die nähe der anderen menschen sind ihnen wichtig. "

Deshalb sollte dieses erste gemeinsame filmerlebnis der klasse auch nicht in irgendeinem raum stattfinden. Die ganze klasse fuhr in ein kino - nur Stefano fehlte an diesem tag! - Ein Mißverständnis hatte die eltern veranlaßt, gerade an diesem tag Stefano nicht in die schule zu schicken.

Die klassenlehrerin war traurig, enttäuscht, ein wenig ratlos. - Wie sollte sie den film jetzt auswerten? Sie hatte es sich so gut vorgestellt, daß Stefano jeweils darauf aufmerksam machen kann, was er gehört hat.

Sie meinte, es sei jetzt wohl am besten, Stefano geht mit seinem stützlehrer Luciano für die zeit der filmauswertung in einen anderen raum und macht etwas anderes.

Luciano hielt es jedoch für besser, wenn Stefano wenigstens die berichte seiner mitschüler über den film hört.

Also gut - oder schlecht - irgendwie muß die mißliche situation übe wunden werden - die klassenlehrerin und der stützlehrer werten gemein sam mit den kindern den film aus.

Stefano ist nicht beteiligt und scheint sich zu langweilen:

Mit fast ununterbrochenen schaukelbewegungen sitzt er auf seinem platz - nimmt zwischendurch seine zahnspange aus dem mund und betastet sie steckt sie wieder rein.

Er spielt mit zwei linealen, reibt das holz- und das plastiklineal aneinander, lauscht auf das geräusch, das dadurch entsteht - genervt nimmt ihm die lehrerin die lineale weg.

Stefano quatscht mit seinem nachbarn, holt ein bandmaß aus der tasche, rollt es auf und schlägt damit um sich - die lehrerin nimmt es ihm ab und knallt es wütend auf den lehrertisch. Noch einmal fragt sie den stützlehrer, ob er nicht doch mit Stefano aus der klasse rausgehen könne.

Luciano verteidigt seine entscheidung - Stefano soll bei dieser filmauswertung nicht aus der klasse gehen! Mir wird klar, daß hier ein konflikt zwischen der klassenlehrerin und dem stützlehrer zu schwelen beginnt. -

Stefano stört weiter. - Ich wundere mich über seine fantasie und raffinesse - er denkt sich immer wieder etwas neues aus: Er findet ein blatt Papier und stülpt es seinem nachbarn über den kopf; er bezieht die beiden mädchen hinter sich in sein quatschen mit ein.

Das geräusch der kreide zeigt ihm an, wann die lehrerin an der tafel schreibt - das nutzt er jedesmal aus, um sich die lineale oder das bandmaß vom lehrertisch zurückzutasten.

Ich bewundere seine ausdauer und geschicklichkeit - ich bedaure die lehrerin.

Endlich scheint die zusammenfassung des films fertig zu sein. - Gut gegliedert stehen stichworte an der tafel, die den sehenden kindern eine hilfestellung geben über die abfolge der ereignisse des filmes.

Die lehrerin legt die kreide zur seite und fragt:

"Wie würdet ihr eurer mama ganz kurz das wichtigste von diesem film erzählen? "

Stefano meldet sich, springt auf - wartet nicht, bis er aufgerufen wird, und gibt fließend ohne zögern und stocken die richtige zusammenfassung!

Alle kinder schreiben anschließend die stichworte von der tafel ab. Stefanos nachbar spricht beim schreiben laut vor sich hin und diktiert so seinem blinden nachbarn. Stefano schreibt auf seiner blindenschreibmaschine genauso schnell wie die anderen kinder.

Alle kinder gehen - auch der stützlehrer und die klassenlehrerin - gemeinsam in einen anderen raum zum mittagessen. - Es herrscht ein ohren¬betäubender lärm, der offensichtlich nur mich stört.

Danach spielen die kinder auf dem hof.

Die lehrer und lehrerinnen stehen grüppchenweise zwischen den spielenden kindern und unterhalten sich. Von einer nahegelegenen bar wird espresso gebracht. - Die nachmittagsklassenlehrerin trifft ein. - Ihr erzählt die vormittagsklassenlehrerin, was am vormittag geschehen war. "Stell dir vor, der Stefano war nicht mit im kino, hat die ganze zeit der besprechung scheinbar nur andere lachen im kopf gehabt - und am ende trotzdem alles richtig erzählt. - Und er hatte nicht einmal die stichworte als hilfe! "

Luciano verteidigt seine entscheidung, mit Stefano nicht aus der klasse zu gehen: "Selbst wenn Stefano am ende der stunde nicht so gut hätte zusammenfassen können, er hätte doch einiges mitbekommen. - Aber wichtiger erscheint mir folgendes: Gerade bei diesem film konnte Stefano aus den erzählungen, den fragen, den schilderungen der anderen kinder erspüren, daß kino etwas wichtiges ist. - Noch etwas anderes als fernsehen. - Das fernsehprogramm verfolgt er zu hause auch teilweise. - Außerdem: Wenn ihr beiden" - und er spricht direkt die beiden klassenlehrerinnen an - "in schwierigen situationen anfangt, den Stefano mit mir aus der klasse zu schicken, dann schafft ihr für ihn eine Sonderstellung, die nichts mehr mit seiner blindheit zu tun hat. Was hättet ihr getan, wenn eines der anderen kinder gestern gefehlt hätte und sich heute langweilt? Ein anderes kind hättet ihr nicht aus der klasse geschickt, sondern vielleicht doch mehr einbezogen. "

Nachdenklich und zustimmend nicken wir drei frauen. Die beiden lehrerinnen fallen Luciano lachend um den hals: "Wenn wir dich nicht hätten!" Und zu mir gewandt: "Wir machen das alles zum ersten mal - mit einem blinden kind. - Wir machen sicher viele fehler. Aber Luciano bestärkt uns immer wieder, daß es für Stefano - trotz unserer fehler - hier besser sei als auf einer blindenschule. - Auch Luciano will nicht mehr nur mit blinden schülern arbeiten."

Die vormittagsklassenlehrerin verabschiedet sich. Ihr dienst ist beendet.

Luciano geht mit mir vor dem ende der pause in den klassenraum zurück. Er will mir etwas zeigen.

Ein neuer arbeitsplatz für den stützlehrer

Lucianos traum

Luciano zeigt mir die schulbücher von Stefano und Ricardo, die er in blindenschrift übersetzt hat.

Sein neuestes werk ist ein englischbuch. - Ricardos klasse nimmt an einem Schulversuch zum englischfrühbeginn teil. Alle schüler lernen mit einem ganz neuen buch, das im stil eines comic-heftes aufgebaut ist. -

Für die sehenden kinder sind diese abbildungen notwendig! Stefano kann sie nicht ertasten.

Für Lucianos arbeit mußte bedacht werden, daß nicht jedes detail - das das auge vielleicht überfliegt - unbedingt für die erfassung der notwendigen begriffe und zusammenhänge ertastet werden muß. Die richtige auswahl - das richtige weglassen - war die pädagogische vor-arbeit, bevor die mechanische umsetzung der bilder beginnen konnte.

Solch eine arbeit würde Luciano gerne öfter machen! - Für alle blinden kinder in der Toskana eine art mediendienst einrichten. Zu ihm könnten die lehrerinnen und lehrer der blinden kinder kommen. Ihm könnten sie erklären, welche bücher sie für die ganze klasse gerne hätten. - Die besonderen fähigkeiten und interessen des stützlehrers Luciano können jetzt nur Stefano und Ricardo nutzen. - Luciano weiß, daß viele blinde kinder mit den einfachen punktschriftübersetzungen - ohne abtastbare bilder - unzureichend lernen müssen.

Luciano möchte das ändern.

Das ist Lucianos traum: die Schulverwaltung für die region Toskana dazu bewegen, einen mediendienst für blinde kinder einzurichten!

Die kinder kommen nach der pause in die klasse zurück. - Luciano bittet Stefano, mir doch ein kleines stück aus dem englischbuch vorzulesen. Stefanos finger tasten über die seiten. Genauso fließend wie dieser drittkläßler seine muttersprache liest, liest er mir mit einwandfreier betonung in seiner ersten fremdsprache: englisch einen kurzen text vor.

Ein jahr später:

Lucianos traum ist in erfüllung gegangen

Im frühjahr 1987 bin ich mit einer exkursionsgruppe wieder in Florenz. - Eine gruppe von lehrerinnen soll in die schule gehen, in der Stefano und Ricardo bisher unterrichtet wurden.

Wie bei all diesen schulbesuchen rufe ich kurz zuvor die schulleiterin noch einmal an. Sie sagt mir: "Stefano geht nicht mehr auf unsere schule! Seine eltern haben ganz überraschend ein schönes haus auf dem land gefunden. - Das war schon lange ihr traum gewesen, mit ihren beiden kindern aus der Stadt herauszukommen. Für Stefano ist das sicher ideal. - Er hatte in der schule keinerlei schwierigkeiten. In der neuen schule wird es für die lehrerinnen sicherlich schwierig. Die eltern sind so überraschend während des schuljahres umgezogen, daß eine ausgebildete stützlehrerin sofort nicht zur verfügung stehen kann. - Aber wir haben in Italien genügend arbeitslose lehrerinnen und lehrer. Da findet sich immer jemand, der bereit ist, parallel zum unterricht die notwendigen fortbildungskurse zu besuchen!"

Schade! Für die Berliner lehrerinnen, die sich besonders für die nichtaussonderung von blinden kindern interessieren, wäre es wichtig gewesen, Stefano kennenzulernen. Um so wichtiger wird das gespräch mit dem stützlehrer Luciano.

"Läßt sich der hospitationstermin auf jeden fall so festlegen, daß Luciano an diesem tag bei Ricardo in der klasse ist?"

"Auch Luciano hat uns leider verlassen! Ganz kurz vor beginn des 4. schuljahres hat er es endlich geschafft, die schulverwaltung davon zu überzeugen, daß auch die region Toskana einen mediendienst für blinde kinder braucht. - Er leitet jetzt diese arbeit und ist sehr glücklich. Aber für Ricardo und seine klassenlehrerinnen war es eine schlechte veränderung. Als stützlehrerin haben wir so plötzlich keine speziell ausgebildete lehrerin bekommen können. Es gibt wohl auch einige Probleme: Die neue stützlehrerin und die beiden bisherigen klassenlehrerinnen können nicht besonders gut miteinander kooperieren."

Die schulleiterin versprach mit jedoch: "Mit den beteiligten lehrerinnen spreche ich, damit die Berliner kolleginnen trotzdem in Ricardos klasse hospitieren können. - Wir beide kennen uns jetzt lange genug! Irgendwelche ganz fremden besucher würde ich in Ricardos klasse augenblicklich nicht hospitieren lassen. - Wir müssen alle erst sehen, ob die neue lehrerin sich in die klasse integrieren kann oder ob wir zum neuen schuljahr irgendeinen wechsel vornehmen. "

Ober die schwierige unterrichtssituation in Ricardos Klasse hat Christine Damm berichtet (s. abschnitt 3.2.2.).

Im frühjahr 1987 war für mich die zeit so knapp und mit anderen terminen so verplant, daß es weder möglich war, Luciano an seiner neuen arbeitsstelle zu besuchen noch in Stefanos neue schule zu gehen.

Die kontakte werde ich halten und nach dem frühjahr 1988 darüber berichten können.

Stefano und Ricardo sind blind.

Beide blinden kinder besuchen die italienische regelschule. -

An einigen stationen ihres bisher zehnjährigen lebens kann deutlich werden, von wie vielen faktoren ihre tatsächliche persönlichkeitsentwicklung abhängig ist:

- von den persönlichkeiten der jeweiligen eltern-

- von den persönlichkeiten der beteiligten lehrerinnen und lehrer-

- von der besonderen situation der wohnumgebung.

Über wohnort-, schul- und lehrerwechsel hinweg ist es in Italien inzwischen unbestrittene aufgabe der gesellschaft: Das zusammenleben von "behinderten" und "normalen" ist normalität.

An der verbesserung der damit verbundenen schwierigen lernprozesse zu arbeiten, ist die aufgabe aller beteiligten!

- Die mutter einer blinden tochter beschreibt den weg der nicht-aussonderung in süd-Tirol im abschnitt 4.3.

- über die unterrichtssituation mit dem blinden Ricardo berichtet Christine Damm im folgenden abschnitt (s. 3.2.2.).

3.2.2. Zwei tage zu gast in einer 4. klasse, in die ein blinder junge integriert ist

Christine Damm

Erster schultag in einer italienischen grundschule.

Wir - vier kolleginnen - stehen im nimmer der schulleiterin der "Scuola Matteotti" (einer schule im zentrum von Florenz; näheres in "Schule ohne Aussonderung in Italien", hg. J. Schöler, S. 58). Eine kollegin und ich werden in die 4a geschickt, in der Riccardo - ein blinder schüler - unterrichtet wird. Der unterricht hat schon begonnen, als wir, von der schulleiterin begleitet, in den klassenraum kommen. Ein kurzes gespräch mit der klassen- und stützlehrerin, wir setzen uns zu den schülern, der unterricht geht weiter.

Es geht um italienische grammatik. Die klassenlehrerin arbeitet mit selbst hergestelltem material, von matrizen abgezogene DIN-A4-seiten, auf denen übungssätze und zeichnungen zu sehen sind.

Der unterrichtstil ist frontal, die lehrerin hat "die klasse gut im griff", der umgangston ist humorvoll und freundlich.

Die stützlehrerin kommt zu uns, um die sprachmappen der schüler zu erläutern. Das material ist von ihr noch nicht vollständig in punktschrift übertragen worden, wir sind nicht sicher, ob es Riccardo so zur verfügung steht wie den anderen schülern. Sie erzählt uns, daß sie in ihrer ausbildung nicht auf die arbeit mit blinden vorbereitet worden sei und sich die Brailleschrift selbst beigebracht habe.

Durch die beschäftigung mit uns kommt sie nicht dazu, Riccardo den tafelanschrieb zu "übersetzen".

In zweierreihen aufgestellt geht die klasse dann mit den beiden lehrerinnen und uns durch das recht altmodische, respekt vermittelnde Schulgebäude zur turnhalle.

Nach kurzem herumtoben in der steinkalten halle - Riccardo freut das sicherlich - turnen die kinder zunächst an der sprossenwand. Riccardo hat große angst, verkrampft sich so stark, daß er keine kraft zum greifen hat. Die lehrerinnen halten ihn fest, er wird nicht gedrängt, etwas zu tun, was er nicht will. Sie tun jedoch auch nichts, um ihn zu motivieren, sich selbst festzuhalten, zu greifen oder zu klettern. Danach sitzen die kinder mit gegrätschten beinen im kreis und rollen sich mit zurufen einen ball zu. Selten habe ich einen rufnamen mit soviel zuneigung und hingabe (italienisches pathos!) aussprechen hören, wie jetzt den von Riccardo, wenn die kinder ihm den ball zurollen. Kann Riccardo den ball mal nicht fangen, läuft er recht sicher durch die turnhalle, um ihn wiederzuholen - unterstützt durch die aufmerksamkeit der mitschüler.

Zum schluß macht die klasse ein weiteres ballspiel, und Riccardo turnt auf einer matte am boden. Die stützlehrerin - mit engem rock und bluse - versucht, ihm hilfestellung zu geben.

Nach dem sportunterricht wird in zwei gruppen gearbeitet.

Die stützlehrerin geht mit Riccardos gruppe und uns in eine nische des geräumigen schulflurs. Die kinder sollen eine geschichte für uns erfinden und Riccardo sie mit seiner punktschriftschreibmaschine in blindenschrift aufschreiben. Einige mitschüler können blindenschrift schreiben, sie tippen abwechselnd mit ihm, andere sollen es noch lernen. Die kinder haben großen spaß beim erfinden und formulieren der geschichte - das geschrei ist groß, die Situation chaotisch. Als Riccardo von einem mitschüler zur toilette geführt wird und als es streit um die benutzung der maschine gibt, ergeben sich spielmöglichkeiten bzw. gelegenheiten zu raufereien. Die stützlehrerin unterbricht diese kontakte - wohl mit der absicht, die gesamtsituation "zu retten". Die "störmanöver" von Riccardo sind leichter aufzugreifen - zu verhindern - als die der anderen: Er fällt sowieso auf, sein störendes verhalten erst recht!

Wir als betrachter haben uns über diese form der kontaktaufnahme gefreut, weil sich für Riccardo bislang wenig berührungsmöglichkeiten mit den anderen schülern ergeben haben. Als für den unterricht verantwortliche hätten wir uns vielleicht auch geärgert.

Um 12.30 uhr gibt es mittagessen. Riccardo sitzt mit den anderen kindern zusammen und ißt brot sowie von zuhause mitgebrachtes öl und käse. Außer diesen nahrungsmitteln und vitamintabletten nimmt er nichts zu sich (vgl. Ludwig-Otto Roser in diesem buch). Wegen seiner eßgewohnheiten ist die gemeinsamkeit mit den mitschülern beim essen sehr eingeschränkt. Er sitzt in sich gekehrt am tisch, die anderen beachten ihn kaum.

Manchmal höre ich - vom nachbartisch aus -, wie jemand dieses "Ricci" sagt, das mir zum ersten mal in der turnstunde aufgefallen ist. Immer wieder ist es in diesen zwei tagen zu hören.

In der anschließenden pause spielen die kinder auf dem schulhof und im gebäude. Da am nächsten tag im rahmen der geburtstagsfeier einer mitschülerin eine tanz- und gymnastikvorführung stattfinden soll, wird noch geprobt. Riccardo wird von einigen mädchen in die übungen einbezogen, sie scheinen spaß daran zu haben, ihm etwas beizubringen, und er macht offensichtlich gern mit. Nach einiger zeit erlahmt das interesse der mädchen, und Riccardo verfällt, wie auch am vormittag, in "leeren momenten", in eine für ihn typische bewegungsstereotypie - eine art Indianertanz auf der stelle. Am tisch - beim essen oder im unterricht - macht er auch manchmal schaukelbewegungen oder spielt selbstvergessen mit seinen händen.

Am ende der einstündigen pause wird Riccardo von seinem vater abgeholt, er nimmt nicht am nachmittagsunterricht teil. Nachmittags erhält er auf wunsch seiner eltern psychotherapeutische behandlung, tanztherapie und eine besondere betreuung. Wir konnten nicht erfahren, ob diese aktivitäten mit der schule und der USL besprochen werden. Da die zusammenarbeit mit den eltern - nach auskunft der stützlehrerin - sehr schwierig ist, findet vermutlich keine kooperation statt.

Zu beginn unseres zweiten besuchstages geht die 4a in den musiksaal, um mit anderen klassen musikstücke anzuhören, die von mitschülern vorgetragen werden. Eine improvisierte aufführung, es entstehen gespannte aufmerksamkeit und gute stimmung.

Danach unterrichtet die klassenlehrerin italienische geschichte. Uns fällt auf, mit welcher selbstverständlichkeit die kinder von Etruskern und Römern sprechen - ganz so, als hätten die historischen ereignisse in ihrer nachbarschaft stattgefunden, die nähe ist spürbar. Riccardo hat einen teil des unterrichtsmaterials (ähnliche mappen wie im sprachunterricht) nicht mitgebracht, die an ihn gerichteten fragen beanwortet er richtig. Er kann sich offenbar vorstellen, was damals geschah.

Nach einer kurzen pause im klassenraum wird die klasse wieder in zwei gruppen geteilt. Wir gehen mit Riccardos gruppe in die flurnische. Heute soll gerechnet werden.

Die rechentafel von Riccardo hat ungefähr DIN-A4-format, ist in etwa zuckerstückgroße felder eingeteilt, auf denen jeweils sechs punkte angebracht sind, die sich einzeln nach unten drücken lassen. Drückt man die ganze taste mit verstärktem druck, werden einzeln gedrückte punkte gelöscht. Das gerät ist bei den kindern sehr beliebt.

Riccardo ist wieder in der rolle der lehrers, er rechnet die aufgaben mit der rechentafel, die anderen schüler im kopf. Abwechselnd bekommen sie gelegenheit, auch mit der tafel umzugehen.

Für ihn bietet die stunde eine gute möglichkeit, seine durchsetzungskraft zu erproben. Die situation ist nämlich wieder recht unübersichtlich. Wenn die stützlehrerin ihn anspricht, spricht sie in die runde, nicht zu ihm gewandt. Er spricht - wie sonst auch - ebenfalls nicht auf personen gerichtet.

Riccardo setzt sich gegen andere durch, die ihn von der rechentafel verdrängen wollen, und behauptet sich gegenüber der lehrerin, indem er lautstark die wiederholung der aufgaben verlangt oder das diktiertempo kritisiert. Er wirkt konzentriert, wenn er erklärt, wie er die rechen-aufgaben löst. Bei der unruhe und dem geräuschpegel eine beachtliche leistung!

Als sich die beiden gruppen wieder im klassenraum einfinden, entsteht geschäftigkeit. Riccardo macht seinen indianertanz.

Gleich findet die geburtstagsfeier statt. Es wird eine tanzvorführung mit gymnastischen einlagen dargeboten - nach diskomusik aus dem kassettenrekorder. Riccardo steht mit den beiden lehrerinnen dabei. Die kinder, die sich nach halsbrecherischen abgängen aus dem tanz lösen, stellen sich zu ihnen. Am ende klatscht er von allen am längsten.

Dann gibt es vom geburtstagskind mitgebrachtes tiramisu, kuchen, kekse und Saft. Die kinder sitzen an ihren tischen, die lehrerinnen verteilen pappteller und zünden die kerzen auf dem kuchen an. Riccardo bekommt etwas tiramisu auf seinen teller und beginnt es mit dem löffel in der linken hand zu untersuchen. Die stützlehrerin unterbricht seine bewegung, gibt ihm den löffel in die rechte hand und redet ihm danach zu, die süßspeise doch mal zu probieren. Schon am vortag hat sie uns erklärt, daß vor einiger zeit spezialisten angeregt hätten, Riccardos linkshändigkeit wegzutrainieren, weil für die beherrschung der Brailleschrift rechtshändigkeit angeblich vorteilhafter sei. Inzwischen würden eltern und lehrer ihn jedoch gewähren lassen. Auf ihre intervention - die ja im widerspruch dazu steht - angesprochen, erhalte ich keine zufriedenstellende antwort.

Die zweite klassenlehrerin, die für den nachmittagsunterricht verantwortlich ist, hat mich später auf diese begebenheit angesprochen. Sie betonte, es sei ihr und der anderen klassenlehrerin wichtig, daß ich wüßte, daß sie beide es richtig fänden, wenn ich - spontan - von der stützlehrerin erklärungen für ihr verhalten verlangte. Sie hätten das längst aufgegeben, eine verständigung mit ihr sei nicht möglich - sie würden keine gemeinsame sprache finden.

Nach dem ausblasen der geburtstagskerzen gibt es mittagessen. Als ich versuche, mit Riccardo ins gespräch zu kommen und mich von ihm zu verabschieden, kommt die stützlehrerin um zu erfahren, ob ich noch irgendwelche fragen habe.

Die pause verbringen die meisten kinder wieder auf dem hof. Riccardo tanzt vor sich hin.

"Es genügt nicht (aus den wahrgenommenen Verhaltensarten auf vermutliche zu schließen, d. Verf.), weil die Menschen nicht ebenso fertig sind wie die Bildnisse, die man von ihnen macht und die man auch besser nie ganz fertig machen sollte. Außerdem muß man aber auch sorgen, daß die Bildnisse nicht nur den Mitmenschen, sondern auch die Mitmenschen den Bildnissen gleichen. Nicht nur das Bildnis eines Menschen muß geändert werden, wenn der Mensch sich ändert, sondern auch der Mensch kann geändert werden, wenn man ihm ein gutes Bildnis vorhält. Wenn man den Menschen liebt, kann man aus seinen beobachteten Verhaltensarten und der Kenntnis seiner Lage solche Verhaltensarten für ihn ableiten, die für ihn gut sind. Man kann dies ebenso wie er selber. Aus den vermutlichen Verhaltensarten werden so wünschbare. Zu der Lage, die sein Verhalten bestimmt, zählt sich plötzlich der Beobachter selber. Der Beobachter muß also dem Beobachteten ein gutes Bildnis schenken, das er von ihm gemacht hat. Er kann Verhaltensweisen einfügen, die der andere selbst gar nicht fände, diese zugeschobenen Verhaltensarten bleiben aber keine Illusion des Beobachters; sie werden zu Wirklichkeiten: Das Bildnis ist produktiv geworden, es kann den Beobachteten verändern, es enthält (ausführbare) Vorschläge.

Solch ein Bildnis machen heißt lieben. " (B. Brecht nach Augustin/Brocke 1979, s. 191 - 193)

Pädagogisch zu arbeiten, bedeutet für mich, "sich in beziehung zu seten". Das wesentliche dieser art von beziehung finde ich hier bei Brecht beschrieben.

Ob die beziehung zwischen beobachter (pädagogen) und beobachtetem (kind, jugendlichem) produktiv wird, hängt auch davon ab, wie die mittel und möglichkeiten zur verständigung verteilt sind.

Die wahrnehmung von blinden ist gekennzeichnet durch die einheit von wahrnehmung und bewegung.

"Die Einheitlichkeit des haptischen Erlebens umschließt nicht nur eine Vielfalt unterschiedlicher Informationen, sondern ist Wahr-Nehmen im eigentlichen Sinn des Wortes, indem es als wesentliches Moment ein aktiv-motorisches Verhalten einschließt. Die erlebnismäßige einheit von wahrnehmung und bewegung, die V. v. Weizsäcker im 'gestaltkreis' beschreibt, gilt allgemein, doch nirgends zeigt sich diese verbindung enger als im haptischen.

Wir betasten eine-Vase: Die Hände bewegen sich darauf zu, verharren im Moment des ersten Kontaktes, fahren denn die Oberfläche entlang, indem jede Bewegung unmittelbar der Form folgt und sich ihr anpaßt. An glatten Flächen streicht die Hand rascher, bei Konturen und Ecken verhält sie und erkundet, die Finger umgreifen und umtasten die hervortretenden Teile. Das jeweils Wahrgenommene führt die Bewegung, und die Bewegung bedeutet zugleich das Wahrgenommene." (Spitzer/Lange 1982, s. 21).

In der arbeit mit blinden schülern müßte dies also berücksichtigt werden. Ebenso, daß die umgebung "für das blinde Kind wie auch noch für manchen Erwachsenen gekennzeichnet ist durch 'die Erfahrungen der Gegen-Ständlichkeit, der schmerzhaften haptischen Konfrontation mit den Dingen, des Ausfalls der optischen Entlastungsfunktion und des Bedroht-seins durch das Unvorher-Sehbare' (Werner Boldt: "Das blinde Kind in der Welt der Dinge", 1965; d. Verf.), so ist das Erleben einer freundlichen, angenehmen, lustbetonten Qualität dieser Welt umso notwendiger." (Spitzer/Lange 1982, s. 12).

Ich bin davon überzeugt, daß die verwirklichung des anspruchs, jeden schüler gemäß seinen individuellen voraussetzungen zu fördern, zur veränderung der arbeit in den regeleinrichtungen führt.

In der sonderpädagogik entwickelte erkenntnisse über wahrnehmungs- und ausdrucksmöglichkeiten sowie entsprechende arbeitsweisen werden also in die reguläre pädagogik aufgenommen werden müssen, um dann allen beteiligten zugute kommen zu können.

Im sinne des Brecht-zitates ist die arbeit mit Ricardo - so wie ich sie wahrgenommen habe - nicht produktiv. Es sind ihm kaum vorschläge zur veränderung seiner lage gemacht worden.

Wir haben gesehen, daß er an fast allen ereignissen des Schulalltags teilgenommen hat, seine teilnahme jedoch über ein "am-rande-stehen" meist nicht hinausging. Es war für uns nicht zu erkennen, daß sein soziales verhalten und seine schulischen leistungen angemessen gefördert werden. D.h., es fand zu wenig kommunikation zwischen Riccardo und seinen mitschülern statt, während des unterrichts sind erkenntnisse aus der pädagogik für blinde kaum genutzt worden. (Ich hoffe, daß dieser eindruck durch die vorangegangene kurze beschreibung vermittelt wird.)

Wenn man eine derartige schulsituation beobachtet, fühlt man sich entsprechend unwohl.

In der begegnung mit Michele, am letzten tag unserer Italienreise, war das anders.

Wir besuchten das "Istituto dei ciechi F. Cavazza" in Bologna. Michele saß beim mittagessen neben mir; wir unterhielten uns, und er lud mich ein, in der mittagspause mit ihm einen kaffee zu trinken. Er nahm mich also am arm bzw. ich ihn, und wir gingen fast eine halbe stunde lang durch das straßengewirr von Bolognas zentrum in eine typische italienische bar, in der Michele stammgast war. Natürlich kannte er den weg dorthin. Ober die ortskenntnis hinaus verfügte er jedoch über orientierungsmöglichkeiten - beim ausweichen vor parkenden autos, umgehen von bauzäunen, dabei noch die umgebung, innenhöfe, kolonnaden erläuternd -, die ich frappierend fand.

Wegen meiner sprachschwierigkeiten konnte ich von seinem fachwissen - er bildet am "Istituto F. Cavazza" stützlehrer aus - nicht so viel profitieren, wie ich es eigentlich wollte. Der spaziergang und das gespräch waren einfach schön und auch befreiend, weil sich trotz eingeschränkter möglichkeiten ein austausch von gedanken und ein zusammenspiel ergaben.

Als ich Michele danach fragte, worauf er seine selbständigkeit und sein selbstbewußtsein zurückführe, antwortete er, daß es für seine entwicklung entscheidend war, auch nach seiner erblindung (im alter von 17 jahren; er ist seit 14 jahren blind) eine regelschule in Bologna besuchen zu können. Außerdem seien die pädagogische förderung für blinde sowie die möglichkeit, blindenspezifische kommunikations- und hilfsmittel kennenzulernen, im "Istituto F. Cavazza" besonders gut gewesen. Schließlich sei es hilfreich gewesen, daß in Bologna schon viele menschen daran gewöhnt gewesen seien, selbstverständlich mit blinden umzugehen.

Wenn jedoch - wie bei Riccardo - die unterstützende mitarbeit der eltern sowie Sachkenntnis und engagement der lehrer fehlen und die zusammenarbeit aller beteiligter nicht gewährleistet ist, scheint mir die integration behinderter schüler in den italienischen schulalltag nicht in der weise erfolgreich zu sein, wie es aufgrund der gesetzlich vorgegebenen rahmenbedingungen möglich wäre.

Aufgrund der gesetzgebung wird sich jedoch die zahl derer erhöhen, die erfahrung im zusammensein mit 'menschen mit besonderen schwierigkeiten haben - eine wichtige voraussetzung zur verwirklichung von Bleichberechtigung.

Literatur

G. Augustin, H. Brocke: Arbeit im Erziehungsheim. Weinheim und Basel, 1979.

K. Spitzer, M. Lange (Hg.): Tasten und Gestalten. Waldkirch, 1982.

3.3. Francesco und Lorenzo

Jutta Schöler

In Deutschland wären beide auf einer geistigbehinderten-sonderschule

Zwei jungen, die wegen unterschiedlicher defizite bei uns in Deutschland in eine sonderschule für geistigbehinderte gehen müßten.

Sie wären nicht in derselben klasse. Francesco ist 1971 geboren.- Er besuchte 1987 im ersten jahr eine berufsschule für maschinenzeichner - nachdem er die italienische mittelschule erfolgreich abgeschlossen hatte.

Lorenzo ist 1975 geboren. Er besuchte 1987 im ersten jahr die mittelschule. -

Nicoletta war bzw. ist die stützlehrerin von beiden.

Ich kenne die entwicklung von Francesco und Lorenzo seit fünf jahren. - Francesco war im frühjahr 1982 in der 5. klasse der grundschule, Lorenzo in der 1. klasse der grundschule.

Francesco suchte den kontakt zu den anderen kindern. - Niemals wäre er damit einverstanden gewesen, wenn die stützlehrerin Nicoletta mit ihm aus der klasse gegangen wäre. Kontakte zu gleichaltrigen waren für seine entwicklung immer wichtig.

Francesco hatte bis zu seinem 10. lebensjahr unter heftigen epileptischen anfällen gelitten. Nur mit stark dämpfenden medikamenten, die ständig neu auf ihn eingestellt werden mußten, konnte er leben.

Francescos gesundheitliche schwierigkeiten zeigten sich erst nach den ersten Lebenswochen. Die eltern wußten lange nicht, daß sie ein behindertes kind haben. - Sie liebten Francesco so, wie er war.

Francesco besuchte trotz seiner häufigen und schweren epileptischen anfälle den kindergarten und die grundschule seines wohnortes.

Nach einer gelungenen hirn-tumor-operation im 10. Lebensjahr hat Francesco in der 5. klasse mit dem lesen und schreiben begonnen. Er machte große fortschritte im rechnen und spricht heute völlig normal.

Francesco ist der einzige sohn seiner eltern. Der vater ist beruflich viel unterwegs. Wenn er zu hause ist, dann widmet er sich fast ausschließlich seinem sohn. Es ist die lebensaufgabe für Francescos mutter, die entwicklung ihres einzigen kindes optimal zu unterstützen. Die mutter tat dies immer in enger kooperation mit der schule.

Für Francesco wurde vor beginn des schuljahres 1982/83 keine zusätzlichen stützlehrerstunden- zu den gesetzlich vorgeschriebenen sechs wochenstunden- bewilligt. Damals hätte sich der schulleiter dafür auch nichteingesetzt. Er hatte - wie auch die fachlehrerInnen seiner schule - keine erfahrungen mit behinderten kindern. An der schule gab es damals keine einzige ausgebildete stützlehrerin/keinen ausgebildeten

Mit dem verhalten von Francesco hatten die lehrerInnen an der mittelschule nie schwierigkeiten. - Er war ein ruhiger, angepasster, freundlicher und stiller junge. - Seinen erheblichen lernrückstand konnte er langsam und statig aufholen. - Die lehrerInnen ließen ihm die notwendige zeit. Die stützlehrererrin und die mathematiklehrerin sprachen miteinander ab, wer von den beiden sich jeweils speziell mit Franceso und einer kleinen gruppe der übrigen schüler beschäftige. - Sie blieben aber mit Francesco immer in der klasse.

Lorenzo wollte mit den anderen kindern nichts zu tun haben.Immer wandte er sich an erwachsene. Der bidello, der auch Lorenzo heißt, war sein enger freund. Am liebsten arbeitete er mit seiner stützlehrerin Nicoletta alleine.

Lorenzos eindeutige diagnose: Down-Syndrom (alter begriff: Mongoloismus). Seine eltern erfuhren es unmittelbar nach seiner geburt.

Lorenzos eltern konnten es nicht akzeptieren, ein "so" behindertes kind zu haben. -

Lorenzo besuchte keinen kindergarten. Mit beginn der 1.klasse begannen seine schwierigkeiten im umgang mit anderen kindern.

Lorenzo hat in der 3. klasse mit dem lesen und in der 5. klasse mit dem schreiben begnnen. - Beides machte ihm große mühe. Er kann nur wenig, einzelne, vertraute wörter lesen und schreiben - er zählt im 6.schuljahr bis fünf und kann nur schwer verständlich sprechen.

Lorenzos eltern halten kaum kontakt zur schule. - die lehrerinnen wissen nichts darüber, was die eltern an den wochenenden, in den ferien, an den abenden mit ihm machen. Die großmutter bringt ihn früh zum schulbus und holt ihn nachmittags ab. -

Für Lorenzo wurden rechtzeitig vor dem beginn des schuljahres 1986/87 zusätzliche stützlehrerstunden beantragt - und bewilligt. Nicoletta ist jetzt mit ihrer gesamten unterrichtsverpflichtung von 18 stunden pro woche für Lorenzo zuständig. An der schule arbeiten jetzt vier stützlehrerinnen, davon drei mit einer abgeschlossenen ausbildung. Sie sind für fünf behinderte kinder zuständig stützlehrer.

Lorenzo war immer freundlich, ruhig, unauffällig - und trotzdem waren die lehrerInnen mit seinem verhalten nicht zufrieden: Nie wollte er mit den kindern seiner klasse spielen.Nie fragte er seine mitschülerinnen um hilfe.In den pausen "klebte" er anden lehrerInnen oder am "bidello".

Lorenzo sollte sanft "gezwungen" werden, sich mehr mit den anderen kindern auseinanderzusetzen. Die lehrerinnen beschlossen, daß die erwachsenen ihn künftig weniger beachten sollten. - Vielleicht würde er dann doch auf die anderen kinder zugehen? - Die lehrerinnen wollten ihn absichtlich ein wenig "stehen lassen".

Die deutschen lehrerInnen, die Franceso und Lorenzo während der exkursion im unterricht erlebten, waren äußerst verwirrt.-

"Wenn das integration sein soll!? - Francesco macht das selbe wie alle anderen kinder.- - Die stützlehrerin kümmert sich um in z.t. weniger als um die anderen in der klasse. - Das einzig gute ist, daß er " Selbst und die anderen kinder sich anscheinend nichts daraus machen, daß er langsamer ist.- Eigentlich ist Franceso ein ganz normaler junge. - Da kann man wohl nicht von integration sprechen!"

Wenn das integration sein soll!? - Lorenzo spielt alleine, sitzt beim arbeiten in der klasse alleine. -Selbst die lehrerinnen beachten ihn wenig. Wir haben beobachtet, daß Lorenzo mit dem bidello spielen wollte - der hat ihn zu den anderen kindern geschickt.-Wenn wir (die deutschen besucherInnen) nicht heute in der schule gewesen wären, hätte Lorenzo niemanden gehabt, der sich mit ihm beschäftigt."

Die deutschen besucherInnen waren enttäuscht: In der einen klasse war nach ihrer wahrnehmung kein behindertes kind. - In der anderen klasse wurde das behinderte kind von den lehrerinnen zu wenig beachtet.

In den pausen spielten deshalb die besucherInnen mit Lorenzo fußball und erklärten ihm während einer wanderung die funktion des kompasses. Sie konnten nicht wissen, daß sie damit das erziehungskonzept von Lorenzos lehrerinnen gewaltig störten.

Gleichzeitig wurde aber deutlich, daß Lorenzo sehr zielstrebig durchsetzt, was ihm wichtig ist: Er brauchte offensichtlich den engen kontakt zu den erwachsenen.

Seine jetzige stützlehrerin - Nicoletta - respektiert dieses bedürfnis. Seitdem Lorenzo die mittelschule besucht, hat er "seine" stützlehrerin für 14 stunden pro woche "ganz für sich alleine".

Sie arbeitet mit ihm in diesen stunden in einer abgeschirmten ecke eines flures außerhalb der klasse.

Nur am projekttag arbeiten sechs schülerInnen, Lorenzo und die stützlehrerin gemeinsam an archäologischen ausgrabungen. - Einer der Schulbusse fährt die kleine gruppe dann an den ort, wo sie gemeinsam ein stück einer alten römischen handelsstraße freilegen. -

Während zwölf stunden pro woche ist Lorenzo ohne stützlehrerin am unterrecht seiner klasse beteiligt. -

Im frühjahr 1987 erklärte mir Nicoletta: "Lorenzo hat noch immer keinen richtigen kontakt zu den anderen kindern gefunden. - Er braucht die nähe und die sicherheit durch einen erwachsenen. Ich muß mich ganz auf ihn einstellen. - Gemeinsam mit mir kann er vielleicht lernen, langsam auf die anderen kinder zuzugehen. "

Nicoletta übt das malen, sprechen und schreiben außerhalb der klasse, alleine mit Lorenzo. Sie versucht aber, immer solche übungen zu finden, die auf gemeinsame aktivitäten mit den anderen kindern hinzielen. Den anderen kindern etwas zu erklären, mit ihnen gemeinsam etwas tun zu können, das wird für Lorenzo nach und nach eine starke motivation.

Lorenzo plant gemeinsam mit seiner stützlehrerin ein fest.

FESTA DILOERNZO

schreibt er als erstes über das blatt.

Dann zeichnet er die vielen, vielen luftballons, die von der zimmerdecke herunterhängen sollen. Dreißig "pallone"

vielen luftballons

Danach malt er einen großen rosaroten luftballon in die mitte.

p - p - p - pallone, oft muß er üben, bis er das p so scharf aussprechen kann, wie es für das wort "pallone" notwendig ist. -

Und die vielen nadeln, rund um den ballon? - Mit denen kann Lorenzo b - b - b - bumm machen - mit einem weichen b am anfang des wortes.

Die stützlehrerin greift die ideen von Lorenzo immer wieder auf, um daran mit ihm gemeinsam weiterzuarbeiten. Der lehrerin und Lorenzo macht dieses spiel offensichtlich spaß - und auch wir besucher verfolgen sehr gespannt die weitere planung von Lorenzos fest:

Natürlich muß ein großer tisch aufgebaut werden: Ein langer strich wird an den unteren rand des blattes gezeichnet.

Viele leckere dinge werden auf den tisch gestellt.

So mühsam wie Lorenzo schreibt, genauso mühsam spricht er auch. - Während des gemeinsamen Sprechens über das langsam entstehende bild strengt Lorenzo sich gewaltig an. Seiner stützlehrerin liest er immer wieder von den lippen ab.

Immer klarer spricht er die worte aus:

TONNO PANIN I CON

Brötchen mit Thunfisch. - Lorenzos Lieblingsspeise. - Er streicht sich genüsslich über den bauch und leckt sich die lippen. Auf den tisch kommen natürlich auch süßigkeiten:

FANTA COLA SPUMA TORTA

Die stützlehrerin bespricht mit Lorenzo: Wer wird denn alles zu deinem fest kommen? Alle anderen kinder - aber auch MAMMA und BABBO.

MAMMA und BABBO

Und was werden sie spielen? - Sie werden schaukeln!'(FANNO L'ALTALENA).

Diese einzelnen wörter schreibt und spricht Lorenzo, während er das bild malt - am ende der gemeinsamen stunde, in der er angestrengt und lustvoll mit Nicoletta gearbeitet hat, geht er zu den anderen kindern seiner klasse, um ihnen das bild zu zeigen und um ihnen auch zu erklären, was er alles für sein geburtstagsfest vorhat.

Die zwölf- bis dreizehnjährigen mitschülerInnen hören ihm zu. Sie fragen: "Wird es auch musik geben? Werden wir auch tanzen? " "Ja!"

Lorenzo will auch tanzen. - Mit MARIA - unter dem luftballon. Er zeichnet noch schnell in sein bild:

MARIA NEL PALLONE

Lorenzo hat mir sein fertiges bild geschenkt.

Lorenzo sein bild

Nicoletta erklärt uns: "Ich würde lieber auch mit Lorenzo in der klasse arbeiten. - Mit Francesco ging das zum schluß so gut, weil die lehrerinnen sich daran gewöhnt haben. - Ich dachte, mit Lorenzo kann ich das genauso machen. - Aber Lorenzo ist noch nicht so weit. "

Im anschluß an diese stunde mit Lorenzo traf ich mich im frühjahr 1987 mit Francescos mutter.

Ein jahr zuvor hatte ich sie schon kennengelernt, vor Francescos wechsel von der mittelschule in die berufsschule. - Jetzt war ich neugierig, wie es Francesco in der zwischenzeit auf der berufsschule ergangen war.

Gemeinsam erinnerten wir uns daran, was wir ein jahr zuvor besprochen hatten: Francesco wollte unbedingt eine berufsschule für metallverarbeitende berufe besuchen. - Die mutter hatte große ängste. Der weg dorthin war weit.- Francesco mußte lernen, ihn alleine zu bewältigen!

Und vor allem: An der berufsschule gibt es keine stützlehrerInnen!

Die mutter hätte zwar versuchen können, über das ambulatorium eine zusätzliche unterstützung zu bekomen. - Die lehrerInnen der berufsschule wären damit auch einverstanden gewesen. Aber: Francesco selbst wollte das nicht. Er wollte es alleine versuchen!

Francescos mutter berichtete mir:

"Er hat es nicht geschafft! - Allen beteiligten - vor allem auch Francesco selbst - ist in dem vergangenen jahr deutlich geworden, daß er ohne zusätzliche unterstützung die anforderungen der berufsschule für maschinenzeichner nicht schafft.

Francesco hat - wie alle anderen schülerInnen auch - das recht, die berufsschulklasse einmal zu wiederholen. - Das will er auch tun. Dieses mal mit der unterstützung durch einen vom ambulatorium bezahlten stützlehrer. "

Francescos mutter weiß, daß ihr sohn damals - zur zeit seines schulan fanges 1977 - in Deutschland eine sonderschule hätte besuchen müssen. Sie fragt mich, ob das immer noch so sei. Sie ist fest davon überzeugt, daß ihr sohn nur in der gemeinschaft mit den anderen kindern so große fortschritte machen konnte. Sie erzählt mir:

"Nachdem meinem mann und mir klar war, wie schwer unser sohn krank ist, zogen wir von einem spezialisten zum anderen. - Niemand konnte uns wirklich helfen. Kein arzt in Italien konnte uns sagen, woran es lag, daß Francesco ständig diese anfälle hatte. Er bekam immer stärkere medikamente, bis er kaum ansprechbar war. - Wenn wir die medikamente verringerten, so verstärkten sich die anfälle.

Es war damals überhaupt nicht daran zu denken, daß Francesco lesen und schreiben lernt oder mathematik. Alles, was nur ein wenig konzentration erfordert hätte, war für ihn unmöglich. - Er war einfach dabei und freute sich, wenn er die anderen kinder um sich herum erlebte.

Einem deutschen hirnchirurgen haben wir es zu vedanken, daß der tumor entdeckt und erfolgreich operiert wurde. -

Ich werde es nie vergessen: Kurz nach der Operation - da war Francesco zehn fahre alt - nahm er einen stift und ein blatt papier. Er krakelte etwas in der rechten unteren ecke des blattes und sagte: 'Jetzt fange ich mit dem schreiben an!' - Und er hat es dann wirklich ziemlich schnell gelernt. - Das haben wir den lehrerinnen in der grundschule und vor allem den anderen kindern zu verdanken!

Jetzt - sieben jähre später - sind für mich die schwierigkeiten mit der berufsschule sicherlich nicht leicht zubewältigen. - Aber wenn ich bedenke, was wir schon alles hinter uns haben, dann haben wir viel er-reicht!"

Sehr heftig und nachdrücklich ergänzte Francescos mutter:

"Wenn es bei Ihnen in Deutschland immer noch menschen gibt, die die meinung vertreten, kinder wie Francesco gehörten in eine besondere schule, dann müssen Sie die zu mir schicken! - Oder ich komme mit meinem Francesco mal zu Ihnen nach Berlin! - Kein mensch kann vorher wissen, wie weit sich ein kind doch noch entwickelt - solange man es wirklich mit den anderen kindern gemeinsam lernen läßt." -

3.4 Nadja - die Entwicklung eines schwer mehrfach behinderten Mädchens

Jutta Schöler

Als Nadja 1981 eingeschult wurde, waren alle Beteiligten unsicher, was sie in der Schule wohl lernen könne.

Nach einer schwierigen Geburt lebte Nadja als behütetes Sorgenkind in einer Familie, in der sich jahrelang alle Zuwendungen, alle Gespräche der Eltern auf Nadja bezogen.

Lange Krankenhausaufenthalte, immer wieder neue Besuche bei Spezialärzten, schlaflose Nächte, stundenlanges Füttern, beunruhigten die Mutter - beschäftigten sie so sehr, daß an eine Fortführung ihrer Berufstätigkeit oder ein zweites Kind nicht zu denken war.

Andererseits: Der behandelnde Spezialist, Prof. Milani-Comparetti, hatte der Mutter schon bei ihrem ersten Besuch,im Frühjahr 1975, als Nadja wenige Wochen alt war, die Sicherheit gegeben: "In ein Spastikerzentrum wird Nadja nicht mehr gehen müssen. Das Spastikerzentrum von Florenz haben wir seit 1958 aufgebaut - jetzt ist es an der Zeit, es wieder aufzulösen." (Vergl. den Beitrag über Milani-Comparetti in diesem Buch)

Das war zwei Jahre bevor in Italien das Integrationsgesetz Nr. 517/77 verabschiedet wurde. Im Raum von Florenz war mit der Auflösung der Sondereinrichtungen bereits Mitte der 60er Jahre begonnen worden.

Nadja besuchte seit ihrem 3. Lebensjahr einen Kindergarten in der Nähe ihrer Wohnung im Stadtgebiet von Florenz. Für die Grundschulzeit suchten die Eltern eine Alternative - weiter draußen, im Grünen sollte die Grundschule sein. Die Lehrerinnen sollten nach Möglichkeit nicht erst wegen des Integrationsgesetzes damit begonnen haben, erste Erfahrungen mit behinderten Kindern zu sammeln. Die Eltern suchten ein Einfamilienhaus in dem Vorort Bagno a Ripoli.

Dies ist eine Gemeinde, in der in den letzten Jahren viele Einfamilienhäuser gebaut wurden. Es ist eine reiche Gemeinde. Die kommunistische Mehrheit im Gemeinderat hatte dafür gesorgt, daß Bildungseinrichtungen besonders gefördert werden: Ganztagsklassen gab es hier bevor sie von der Zentralregierung in Rom finanziell gefördert wurden. Die

Gemeinde bezahlte Lehrerinnen für den Nachmittagsunterricht. Jede der sechs kleinen Schulen hat eine eigene Schulbücherei, die eine ältere Lehrerin betreut, welche sich aus Altersgründen vom Unterricht befreien lassen kann. In jeder der kleinen Schulen von Bagno a Ripoli können die Kinder, deren Eltern dies wünschen, während der Zeit des Ganztagsunterrichts ein Musikinstrument erlernen. Die Gemeinde stellt die Instrumente zu Verfügung und trägt die Honorarkosten für stundenweise beschäftigte Musiklehrerinnen. Die Schulen von Bagno a Ripoli haben einen guten Ruf und waren in den letzten Jahren für viele Familien ein entscheidender Grund, gerade in diesem Vorort ein Haus zu bauen oder eine der sehr teuren Wohnungen zu kaufen. Unmittelbar neben der Schule "Il Padule" baute die Gemeinde eine größere Wohnanlage für sozial schwache und kinderreiche Familien.

Nadjas Eltern schlossen einen Kaufvertrag ab für ein Haus in Bagno a Ripoli und meldeten ihre Tochter in der Grundschule an. Das Haus wurde aus verschiedenen Gründen nicht verkauft. Nadja wird seit 1981 jeden Tag von ihrer Mutter mit dem Auto in die Schule gebracht und am Nachmittag wieder abgeholt.

Als Nadja 1981 in die Schule kam, hatte sie bereits gelernt, zu krabben -

- aber laufen konnte sie nicht. Es war äußerst unklar, ob sie das jemals lernen könnte;

- sie konnte in einem kleinen Stuhl sitzen, der feste Seitenlehnen hatte und auf dem sie angeschnallt wurde;

frei auf dem Boden sitzen, konnte sie nicht. Am liebsten setzte sie sich zwischen andere Kinder, die sie stützten;

- sie konnte sprechen - nur wenige Worte, nicht ganze Sätze - nur sehr leise, man mußte ihr viel Zeit lassen, ihr genau zuhören, um sie zu verstehen;

- Nadja konnte einen Bleistift oder einen Löffel halten - ihre Hände hatten gelernt, sich um einen Gegenstand zu schließen und ihn nicht ohne Grund fallen zu lassen;

aber sie konnte mit dem Stift keine gezielten Bewegungen - keinerlei Zeichnungen machen, der Löffel konnte keine Suppe aufnehmen - eine Gabel konnte sie nicht zum Mund führen, sie mußte gefüttert werden. Zum Trinken mußte ihr ein anderer Mensch das Glas an den Mund halten. Am liebsten ließ sie sich beim Essen von anderen Kindern helfen.

- Nadja konnte nur hören, sie hörte immer aufmerksam zu.

- Nadja mußte regelmäßig gewindelt werden.

- In den Pausen wurde sie in eine Sportkarre gesetzt und von den MitschülerInnen herumgefahren - einen Rollstuhl hätte sie alleine nicht bewegen können.

- Nadja ist stark kurzsichtig. In der Zeit, als die Verständigung mit ihr noch sehr schwierig war, konnte ihr keine richtige Brille angepasst werden. Sie wollte sie auch nicht tragen. Seite der 3. Klasse trägt sie regelmäßig die für sie passende Brille, wodurch ihre Kurzsichtigkeit ausgeglichen ist.

Im Frühjahr 1982 besuchten die Studentin Viola und ich zum ersten Mal die Grundschule in Bagno a Ripoli.

So haben wir Nadja kennengelernt:

(dieser Bericht ist - in etwas anderer Form - bereits veröffentlicht in dem Buch von Renate Valtin - siehe Lit. Liste - und in der Zeitschrift päd:extra.)

In der Klasse

Bevor wir zu den Klassenräumen der 1. Klasse kommen, hält Signor Trentanove uns am Ärmel fest, er muß uns noch etwas Wichtiges sagen: "in der Klasse ist ein schwerbehindertes Mädchen. - Ich möchte Sie bitten, dem Kind keine besondere Aufmerksamkeit zu zeigen. Nadja kann zwar kaum sprechen, aber wir haben gemerkt, dass sie sehr sensibel ist - sie möchte wie alle anderen behandelt werden."

Auf dem Flur vor den Türen zu den beiden ersten Klassen wirbeln zweiunddreißig muntere Erstkläßler herum, dazwischen stehen drei Lehrerinnen: Patricia, Barbara und Fernanda. Wir werden vorgestellt. Freundlich werden wir um einen Moment Geduld gebeten - sie erklären: "Wir drei sind gerade bei den letzten Vorbereitungen für die nächsten beiden Stunden." Geregelt wird: Welche Kinder werden mit Patricia in einem Klassenraum Puppenspiele machen? Wer bleibt bei Fernanda, um Lese- und Schreiblehrgang fortzuführen? Die restlichen acht werden an dem großen Tisch auf dem Flur mit Barbara rechnen.

Jetzt die Frage an uns: "Wo wollt ihr mitmachen?" Die Studentin Viola entscheidet sich fürs Puppenspielen, ich gehe zum Lesen- und Schreibenlernen. Kinder, Lehrerinnen und die überraschend aufgetauchten deutschen Besucherinnen verteilen sich auf die drei "Lernorte" - die Klassentüren bleiben offen.

In dem Raum, in den ich mitgehe, hängen an der vorderen Wand große Zeichenblätter mit selbstgemalten Buchstaben und daneben Bilder, z.B. po- für "pollo" und ein fotografiertes Huhn oder pa für "pallone" und ein gezeichneter Ball.

Alle Kinder holen ihre Lese-Schreib-Hefte aus einem Regal. Das sind DIN-A4-Zeichenblätter, auf einer Seite gelocht und mit bunten Bändern zusammengehalten, das Deckblatt jeweils individuell gestaltet. Die Kinder stellen sich im Laufe des ersten Schuljahres ihre "Fibel" selbst her. Wir waren im Februar/März 1982 in der Schule, die Erstkläßler hatten seit gut vier Monaten Unterricht. Die Kinder, die in ihrer Leistungsfähigkeit etwa dem Durchschnitt entsprachen, lernten gerade die Silben po und pa mit anderen Buchstaben zu Wörtern zu kombinieren: POLLO, PALLONE, pollo, pallone. Parallel dazu in Schreibschrift stand an der Tafel: pollo - pallone. Das wurde von jedem Kind in "sein" Buch abgeschrieben und durch gemalte oder geklebte Bilder ergänzt.

Manchen Kindern schrieb die Lehrerin im Heft vor, andere schrieben von der Tafel alleine ab. Manche Kinder zogen sich mit großen Linealen die notwendigen Zeilen im Abstand von 1 - 2 cm, andere hatten 3 -4 cm breite Zeilen; manchen Kindern half die Lehrerin beim Zeilenziehen. Die zehn Einzeltische waren für diese Stunde zu einem großen rechteckigen Tisch zusammengestellt, die Lehrerin ging von einem Kind zum anderen. Acht Kinder verglichen gegenseitig, schwatzten miteinander und arbeiteten zugleich intensiv an demselben Tisch, zwei Kinder saßen dazwischen und hatten jeweils andere Aufgaben. Simona schrieb einen kleinen Aufsatz und Nadja malte einen Ball aus.

Dieses - für italienische Verhältnisse ganz normale Zusammenarbeiten von zehn Kindern unterschiedlichster Voraussetzungen - ging ganz einfach und ohne große Erklärungen vor sich.

Simona und Nadja

Damit wir deutschen Lehrer/innen oder Mütter/Väter diese eine Unterrichtsstunde mit unseren Erfahrungen von deutschem Normalunterricht verstehen können, muß ich viel erklären:

Als Simona die 1.Klasse begonnen hatte, konnte sie schon lesen und schreiben. Das erfahren italienische Lehrer gelegentlich genauso wie deutsche. Die Simona in Italien hat ihren Unterricht mit winzig kleinen Geschichten angefangen, die sie in ihr Buch schrieb. Sie zeigt mir stolz ihr Buch: Ein Satz, drei Sätze, eine halbe Seite; jedesmal weniger Fehler - mit unterschiedlichen Zeichnungen ergänzt.

An dem Tag, an dem ich in der Klasse war, hatte ihr die Lehrerin gesagt: "Simona, frag doch die Frau, wer sie ist, woher sie kommt und warum sie in unserer Schule ist." Das Ergebnis des kleinen Interviews schrieb Simona in ihr Heft, dazu malte sie ein Bild von mir.

Nadja, die zwischen den anderen Kindern einen Ball ausmalt, sitzt auf einem Holz-Kinderstuhl, der seitlich Lehnen hat, damit sie nicht hinunterkippt. Sie hat Mühe, den Filzstift zu halten, und freut sich, wenn sie einigermaßen die vorgezeichneten Begrenzungslinien des großen Kreises einhalten kann. Als gelesen wird, hebt die Lehrerin Nadja hoch. Die Lehrerin hält Nadjas Gesicht etwa 50 cm von der Tafel entfernt, mühsam artikuliert Nadja: P 0 L L 0; sie ist schwer zu verstehen, ihre Stimme ist sehr leise - aber: daß Nadja lesen kann, ist allen klar. Daß sie lesen will und stolz auf ihr Ergebnis ist, wird deutlich an ihrem zufriedenen Blick, den sie den Mitschülern zuwirft, als die Lehrerin sie auf den Stuhl zurücksetzt.

Nach der Stunde frage ich die Lehrerin, warum sie Nadja hochgehoben und vor die Tafel getragen habe. Fernanda erklärt: "Nadja ist so stark kurzsichtig, daß sie die 5 cm großen Buchstaben nur aus einer Entfernung von etwa 50 cm lesen kann. Wenn sie merkt, daß alle Kinder lesen, will sie das auch. Nur gut, daß sie so leicht ist, da schaffen wir es, sie immer dorthin zu tragen, wo es etwas zum Lesen gibt." Ich frage zurück: "Habt ihr kein Extraprogramm für Nadja?"

"Von den anderen getrennt? Nein! Nur durch die anderen Kinder bekommt sie immer wieder die Anstöße zum Lesen. Ihre Mutter und auch eine Psychologin, die Nadja gelegentlich nachmittags betreut, erreichen nicht das, was. ihr die Mitschüler als Anregungen geben können." Es erscheint mir etwas traurig, als Fernanda ergänzt: "Ob Nadja allerdings jemals schreiben lernen wird, das wissen wir nicht."

Nach zwei Jahren

Zwei Jahre nach diesem ersten Besuch habe ich mich mit Patricia, einer von Nadjas Lehrerinnen, unterhalten: Was kann Nadja zu Beginn des 3.Schuljahres? Nadja kann einfache Sätze lesen, soweit sie vorher geübt waren, z.B.: Täglich setzt sich eine Lehrerin zu einem geeigneten Zeitpunkt für etwa 10 - 20 Minuten in eine Ecke des Raumes und schreibt für Nadja einen Satz in großer Schrift in "ihr" Buch:

Mio fratello si chiama Chicco. (Mein Bruder heißt Chicco.)

Es wird immer ein Satz gewählt, der für Nadja persönlich wichtig ist. Diesen Satz liest die Lehrerin vor, Nadja spricht nach, mit Handbewegungen zeichnet sie in der Luft den Schriftzug nach. Wort für Wort wird auf einzelne Karten geschrieben, die verschieden geordnet und von Nadja gelesen werden. Einzelne Buchstaben kann Nadja noch nicht zu Wörtern zusammenfügen, zum Schreiben reicht die Koordinationsfähigkeit der Hände nicht aus. Auch über Zahl- und Mengenbegriffe verfügt Nadja nicht.

Einen ganz entscheidenden Fortschritt hat Nadja in der Zwischenzeit gemacht: Sie kann laufen! Zu Beginn des 2.Schuljahres wurde sie an den Beinen operiert. Sie konnte längere Zeit nicht in die Schule kommen und wurde darüber sehr traurig, immer ruhiger und empfindsamer. Sobald es medizinisch einigermaße vertretbar war, kam Nadja wieder in die Schule, weil sie es unbedingt wollte. Während der ersten drei Monate kam zwei- bis dreimal wöchentlich eine Physiotherapeutin in die Schule, zeigte und erklärte den Lehrerinnen und Mitschülern, wie sie Nadja beim Laufenlernen unterstützen könne.

Patricia betont:

"In der Schule hat die Physiotherapeutin nie etwas extra mit Nadja geübt. Sie hat und zuerst gezeigt, wo das Regal mit Nadjas Büchern und Heften stehen sollt, damit Nadja sich ihre Sachen alleine holen kann. Sie hat und gezeigt, wie wir Nadja stützen. Mit jeweils zwei oder drei anderen Kindern zusammen hat sie auf dem Korridor gespielt. Als Nadja zum ersten Male allein den etwa 20 langen Gang laufen konnte, waren wir alle, Schüler und Lehrerinnen, sehr stolz. Während dieser Zeit hat die Physiotherapeutin mit Nadja täglich nachmitttags zu Hause Gymnastik gemacht: Das Laufenlernen haben wir im wesentlichen in der Schule geschafft.

Es ist schwierig, den Lernerfolg eines Kindes einzuschätzen, wenn die vorangegangene Entwicklung nicht bekannt ist. Umso notwendiger ist es, den jeweils aktuellen Stand der Fähigkeiten ganz genau zu beobachten (notfalls auch bei den LehrerInnen zu erfragen) und dann zu überlegen, ob der eingeleitete nächste Schritt das Kind beim Erreichen seiner nächsten Entwicklungszone unterstützt. Dieser Grundsatz erzieherischen Handels von Erwachsenen gilt für alle Kinder.

Wie notwendig es ist, diesen fundamentalen Grundsatz nicht-aussondernder Erziehung zu beachten, wurde mir besonders deutlich, als ein Berliner Lehrer während der von mir geleiteten 2. Exkursion im Herbst 1984 von einem Unterrichtsbesuch in Nadjas Klasse berichtete: Einen ganzen Vormittag hatte er am Unterricht der 4. Klasse teilgenommen: Die Mitschüler/innen von Nadja hatten gelesen, geschrieben, gemalt, gerechnet, gespielt.

Aber: ...eine Kritik mußte er anbringen, Nadja hatte den ganzen Vormittag nichts anderes getan, als mehrmals ihren Namen geschrieben! - Immer wieder, nichts anderes als: Nadja - Nadja - Nadja. Mit dicken Filzern auf große Papierbogen.

Wenn das "Integration" sein soll?

Das Berliner Kollege hatte erhebliche Zweifel, ob Nadja in dieser Klasse genügend gefördert würde. Wenn das Integration sein soll???

Er erlebte Nadja als ein Mädchen, das wackelig und unsicher laufen konnte. Ihre mühsamen Versuche in der 1. Klasse, sich krabbelnd fortzubewegen, wenn sie nicht gänzlich auf den Rollstuhl angewiesen sein wollte, hatte er nicht gesehen.

Nadja konnte leise, undeutlich, meist nur Ein-Wort-Sätzen sprechen. Im 1. Schuljahr hatte sie begonnen, die ersten Silben zu artikulieren. Wegen der eingeschränkten Koordinationsfähigkeit ihrer Hände hatte sie damals mühsam lernen müssen, überhaupt mit einem Stift gezielt umzugehen (einen großen, vorgezeichneten Ball auszumalen) - ihre krakeligen Buchstaben waren für sie in der 4. Klasse ein enormer Fortschritt.

Wir müssen vorsichtig sein und geduldig

Am nächsten Tag besuchte ich gemeinsam mit dem Kollegen die Schule. Am Nachmittag nahmen wir am Gramatikunterrichtteil.Alle Schüler/innen bearbeiteten Arbeitsbögen mit verschiedenen Übungen für Satzkonstruktionen.

Im Kreis 12 Schüler/innen um einen Tisch. Jede/r löste zunächst mündlich, dann schriftlich die Aufgaben, deren Schwierigkeitsgrat sehr unterschiedlich war, und deshalb jedes Kind in der Gruppe intellektuell forderte. Jedes Kind hatte die Gelegenheit, seine Lösung oder seine Schwierigkeiten in Ruhe vorzutragen. Die Mitschüler/innen und die Lehrerinhörten aufmerksam, geduldig und interessiert zu. Leichte und schwierige Aufgaben wechselten. Die Schüler/innen korrigierten, ermunterten und lobeten sich gegenseitig.

Die Art der Aufgabenstellung und die Methode war prinzipiell für Nadja dieselbe wie für alle anderen Schüler/innen, lediglich auf einem einfacheren Niveau: Für alle Schüler/innen hatte Patricia, die Lehrerin, gemeinsam mit ihren Kolleginnen die jeweils passenden Aufgaben aus verschiedenen Arbeitsbogensammlungen ausgewählt, wie sie von Verlagen angeboten werden. Für Nadja hatte sie sieben Worte mit dicken Filzschreibern auf kleine Zettel geschrieben.

Nadja las und ordnete richtig, als sie an der Reihe war. Danach schrieb sie zwei Wörter. Während der gemeinsamen Arbeit sagte die Lehrerin zu einer Mitschülerin: "Hol bitte für Nadja ein Blatt Papier!" Ganz selbstverständlich holte die Mitschülerin das Paier aus dem Regal.

Kurz danach sagte Patricia: "Nadja, hol die Klebeflasche!" Nadja tappte unsicher los, alle Augen verfolgten sie, sie erreichte das 4 m entfernt stehende Regal, langte unsicher nach der Klebeflasche und griff sie beim dritten "Anlauf", wobei allerdings einige andere Gegenstände vom Regal fielen. Nadja lief zielsicher zu ihrem Platz zurück, klebte die Zettel fest, verschmierte sich die Finger mit Klebe und war die restliche Stunde damit beschäftigt, die getrocknete Klebe von den Fingern zu "polken". Ein Mitschüler ordnete die heruntergefallenen Sachen kommentarlos ins Regal.

Nach einer Stunde fragte ich Patricia, wie sie die Stunde einschätze. Sie war sehr zufrieden - eine Verabredung mit den Schülern war ihr wichtig gewesen: Sie sollten nichts für Nadja tun, was sie selbst könnte. "Ein Blatt Papier aus dem Regal holen, das konnte sich nicht, aber: die Klebeflasche kann sie alleine holen, da müssen die anderen sitzenbleiben!!!"

Patricia sah zu dieser Zeit ein großes Problem darin, daß die (über)eifrigen Mitschüler/innen Nadja in ihrer Selbständigkeitsentwicklung einzuschränken.

Ich fragte Patricia vorsichtig, wie sie es einschätzte, daß Nadja am Vormittag ncihts anderes getan hatte, als ihren Namen zu schreiben. Patricia erklärte mir: Nadja hatte entdeckt, daß die Mitschüler/innen auf gemalte Bilder immer ihren Namen schreiben, jedes "Werk" wurde gekennzeichnet. Auch Nadja konnte malen. Aus eigenem Antrieb geschieben hatte sie zuvor weder ihren Namen noch ein anderes Wort. Geschrieben hatte sie nur dann, wenn eine Lehrerin sich neben sie setzte und ihr einzelne Wörter buchstabierte Seit wenigen Tagen hatte sie den Ehrgeiz, ihre Bilder auch mit ihrem Namen zu kennzeichnen. Sie übte - ganz alleine - immer wieder, ihren Namen zu schreiben. Patricia wertete dieses Verhalten als großen Fortschritt in Nadjas Entwicklung zur Autonomie.

Etwas ungeduldig war auch Patricia. Das Schreibenlernen von Nadja könnte (vielleicht?) etwas schneller gehen! Aber wir müssen vorsichtig sein und dürfen ihren Willen nicht zerstören!

Ich fragte den Kollegen nach seiner Einschätzung des Nachmittags. Er blieb weiter sekptisch. Er kritisierte vor allem: Daß Nadja noch nicht einmal richtig mit einer Klebeflasche umgehen könne, liege wohl daran, daß eine Lehrerin alleine (und ohne Spezialausbildung!) mit zwölf Kindern und einem so schwer behinderten Kind überfordert sei! Ein Sonderschullehrerin hätte wenigstens die einfachsten "lebenspraktischen Übungen" mit diesem Kind erlernt.

Meine Erfahrungen sind andere: Ich kenne Kinder, die in der Bundesrepublik Deutschland wegen ähnlich schwerer Behinderungen am Beginn der Schulplicht als "nicht bildungsfähig" eingestuft wurden. Sie werden in Sonder-Tageseinrichtungen der Lebenshilfe oderderSpastikerhilfe betreut - jedoch total abgesondert von den gleichaltrigen Kindern. Diese Kinder haben über Jahre keine höhere Stufe an Autonomie erreicht.

Selbst wenn einige dieser Kinder mühsam Kulturtechniken erlernen, so verwenden sie diese Fähigkeiten meistens nur in unmittelbarem Handlungszusammenhang mit einem Erwachsenen. Worin liegt der Sinn der erlernten Kulturtechnik, wenn keine Motivation besteht, sie anzuwenden? Eine Frage, die für das schulische Lernen aller Kinder gilt!

Theorie und Praxis

Die Gruppe der fünf Lehrerinnen in Bagno-a-Ripoli hat sich das Arbeitskonzept füralle35 Kinder-durch regelmäßige wöchentliche Sitzungen erarbeitet. Diejenigen, die täglich mit den Kindern umgehen, sind mit der Arbeit und den Erfolgen zu-frieden. Bisher sind die Lehrerinnen und Eltern durch wissenschaftliche Forschungsprogramme in ihrer Handlungskompetenz nicht verunsichert worden.

Wir Erwachsenen müssen lernen, unsere Unsicherheiten zu überwinden und uns dem Lernrhythmus und den Motivationen der Kinder anzuvertrauen. Wir müssen endlich den Mut und die Geduld haben: Hinsehen-hinhören-erst helfen, wenn die Kinder von uns Hilfe fordern. Auch schwerbehinderte Kinder, entwickeln sich hin zu einer höheren Stufe der Autonomie, wenn ihnen die Lernanreize einer "normalen" Umgebung nicht genommen und die qualifizierte, spezifische sonderpädagogische Förderung zur richtigen Zeit gewährt wird.

Die Rolle derSonderpädagogen bei nicht-aussondernder Erziehung

Daß Regel- und vor allem Sonderschullehrer ihre eigene Rolle für den Lernprozeß der Kinder-allerKinder-gründlich überdenken müssen, will ich an dem folgenden Beispiel aus Nadjas Entwicklungsgeschichte deutlich machen:

Im Frühjahr 1985 war ich wieder mehrere Tage in der Schule. Am Vormittag hatten alle Kinder ihre Briefe an die gleich altrigen Kinder einer Berliner vierten Klasse geschrieben. Auch Nadja hatte ihren Brief geschrieben. Sie hatte - wie alle Mitschüler/innen ihre Briefpartnerin. Es war ihr Wunsch gewesen, mitzuteilen, daß sie kurz zuvor im Gebirge gewesen war. Sie diktierte der Lehrerin ihren Text, die Lehrerin schrieb Ort und Datum und buchstabierte dann den Text für Nadja, die ihn ganz alleine schrieb. Die Buchstaben "tanzten" noch recht ungeordnet auf dein Blatt, aber der Text ist klar zu erkennen 'und vor allem: Es ist Nadjas eigener Brief!! - IhreHandschrift!

Während der etwa zweistündigen Mittagspause wurde gegessen, die restliche Zeit stand für freie Spiele zur Verfügung, wobei es den Kindern überlassen blieb, ob sie sich im Haus oder im Freien aufhalten.

Tosca, eine der Lehrerinnen, ging mit mir auf dem Hof spazieren. Wir stutzten: Wo war Nadja? Die Lehrerin ging sie suchen und fand sie in der Klasse. Nadja spielte mit einem Steckspiel und wollte nicht auf den Hof gehen. Die Lehrerin ließ sie gewähren. Etwas später bat Tosca einen Schüler, doch mal zu versuchen, ob Nadja nicht doch auf den Hof käme. Dieser Junge spielte einige Zeit mit Nadja in der Klasse und kam dann mit ihr zusammen auf den Hof.

Die Lehrerin erkannte, daß Nadja von sich aus nicht den Anschluß an die Spiele der anderen Kinder gefunden hätte. Sie fragte sechs ballspielende Mädchen, ob sie zu einem anderen Ballspiel wechseln würden, das auch Nadja mitspielen könne. Die Kinder entschieden sich für "Roulett".

Alle Mädchen setzten sich in einem Viertelkreis um Nadja, die in der Mitte kniete. Der Ball wurde zwischen Nadja und den Mädchen immer hin- und herge-

schubst. Viele Schwierigkeiten und viel Spaß für alle steckten in dem einfachen Spiel, das die Lehrerin bei ihrer Weiterbildung gelernt und den Kindern vermittelt hatte:

Die anderen Mädchen mußten den Ball sehr genau - nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam - zu Nadja hinrollen, damit sie aus der Bewegung heraus den Ball zurückrollen konnte.

Nadja hatte bisher nicht gelernt, den Ball bewußt in eine genaue Richtung zu zielen - sie traf ungefähr. Der Reiz des Spieles für die anderen Mädchen bestand nun darin, möglichst viele von den "Zufallstreffern" zu bekommen. Sie mußten an einer Stelle sitzenbleiben, bei wem der Ball ankam, derhatte einen "Punkt". Nach einiger Zeit begannen zwei Mädchen zu nörgeln. Die auf der anderen Seite hatten schon sieben, acht Punkte. Sie selbst nur einen oder zwei. War es Zufall, daß danach der Ball auch in die bisher vernachlässigte Ecke rollte?

Ich weiß es nicht, aber ich vermute, Nadja hat - neben allem Spaß - in dieser Pause gelernt, genauer zu zielen.

Die Lehrerin hatte die Kompetenzen erworben, die (in aussondernder Erziehung) von einer Therapeutin in krankengymnastischen Übungen angewandt werden. Sie weiß, welche Bewegungsabläufe Nadja immer wieder üben muß, umgezielter und koordinierter handeln zu können. Diese Übungen werden jedoch dem einzelnen behinderten Kind nicht in isolierten "Therapiestunden" aufgedrängt, sondern es ist die Aufgabe der "Lehrerin mit sonderpädagogischer Zusatzqualifikation`, den Zeitpunkt und den Ort im Tagesablauf in der Schule zu entdecken, der geeignet ist, die notwendigen Übungen durchzuführen, ohne daß dadurch die soziale Situation der Kindergruppe gestört wird.

Wenn es dann auch gelingt, Spiele anzuregen, die allen beteiligten Kindern großen Spaß machen, sind die Motivation und der erzielte Fortschritt besonders hoch. Zweifellos wird diese Form der integrierten Therapie besonders erleichtert in Ganztagsschulen, die im Raum Florenz von etwa 50 % der Schüler besucht werden.

Die Probleme der Nicht-Aussonderung von schwer behinderten Kindern wie Nadja beginnen in der "Scuola Media". Zu den allgemeinen Unterrichtsbedingungen in der staatlichen Scuola Media s. Abschnitt 2.2 in diesem Buch.

Die Eltern von Nadja versuchten mit dem Schulwechsel die Einschulung in die "Scuola Citta Pestalozzi" zu erreichen. Dies ist eine kleine, überschaubare Schule im Stadtgebiet von Florenz und in unmittelbarer Wohnnähe der Familie. Den Kindergarten dieser Schule besuchte auch der kleine Bruder von Nadja.

Die"Scuola Citta Pestalozzi" ist eine Versuchsschule, in der die Kinder vom Kindergarten über die Grundschulzeit bis zum Abschluß der "Scuola Media", im 8. Schuljahr in einem Klassenverband bleiben.

Mit Beginn der Mittelschule werden im allgemeinen keine neuen Schülerinnen aufgenommen. Vor allem keine behinderten, wenn bereits zwei behinderte Kinder in der Klasse sind.

Nadjas Eltern haben jedoch die Zusage des Schulleiters der "Scuola Citta Pestalozzi" erhalten: Wenn Nadja die 5. Klasse wiederholt, kann sie im nächsten Jahr in diese besondere Mittelschule wechseln. Über die Unterrichtssituation mit Nadja im Frühjahr 1987 - also in einer für Nadja neuen 5. Klasse, mit neuen Lehrerinnen - wird in diesem Buch für zwei Unterrichtsfächer berichtet: siehe den Beitrag von Brigitte Schmitt,

Einführung in die Berichterstattung, Aufsatzunterricht und von Jutta Schöler Mathematikunterricht: Spezifisches Gewicht - Volumenberechnung

Im nächsten Jahr wird Nadja höchstwahrscheinlich in ihre neue Schule laufen können.

An eine derartige positive Entwicklung hätte vor fünf Jahren niemand geglaubt.

3.5. Grenzen der Integration Massimo lernt in der 2. klasse, alleine zu essen

Jutta Schöler

Den Anhang können sie unter folgender Url herunterladen:

http://bidok.uibk.ac.at/download/schoeler-grenzen-integration.pdf

Im frühjahr 1987 bittet mich Fernanda, einmal in ihre schule in einem vorort von Florenz mitzukommen. Die lehrerinnen dort hätten das gefühl, an ihren grenzen zu sein. - Sie würden gerne mit mir über Massimo sprechen.

Fernanda erzählt mir: "In einer unserer 2. klassen ist ein junge, dessen fortschritte sind sehr gering. Wir wissen oft nicht, was wir mit ihm machen sollen. - Massimo spricht nicht, er muß gefüttert und gewindelt werden. Wir wissen nicht, ob er überhaupt ein gedächtnis hat. - Es sind winzige kleinigkeiten, an denen wir einen sinn unserer arbeit erkennen. - Andererseits: Wir wissen auch, daß es keine alternative gibt. - Dieses kind lebt! - Die eltern können es nicht immer zu hause behalten. - Für solche kinder gibt es keine heime. - Ein heim wäre auch bestimmt nicht gut.

Massimo war bis zu seinem 8. lebensjahr nur zu hause. Er konnte nicht sitzen, nicht laufen. Er wälzte sich auf einem großen polster, geschüttelt zwischen heftigen epileptischen anfällen und apathischem dämmerzustand bei langandauerndem hohen fieber.

Die eltern polsterten ihm ein ganzes zimmer aus, damit er sich nicht wehtat. Alle nur möglichen anregungen: bilder, musik, kuscheltiere, geräuschspielzeuge gaben sie ihm in dieses zimmer. - Die mutter war immer bei ihm, der vater auf der ständigen suche nach einem mediziner oder wunderheiler. Die familie war total isoliert.

Die kindergärtnerinnen des dorfes erfuhren von nachbarinnen das leid der familie. Sie haben Massimo stundenweise in den kindergarten geholt, auf eine matte zwischen die anderen kinder gelegt. Die kinder haben ihn gestreichelt, ihm immer wieder dieselben lieder vorgesungen. Im kindergarten hat er sich zum ersten mal aufgesetzt. Die kindergärtnerinnen haben die familie aus der hoffnungslosigkeit und der isolation befreit."

Aus Fernandas erstem bericht wird deutlich, wie tief ihr mitgefühl mit der familie von Massimo ist - und wie groß ihre anerkennung für die zurückliegende arbeit der kindergärtnerinnen.

Fernanda berichtet weiter: "Gemeinsam mit 'seiner' kindergruppe wechselte Massimo zwei jahre später - als zehnjähriger - in die 1. klasse der grundschule. - Niemand wußte, was er in der schule wohl lernen könnte - es gab nur eine begründung für diesen wechsel: Die beziehung zwischen ihm und den anderen kindern. Massimo ist den kindern seiner klasse vertraut. - Er gehört zu ihrer gruppe, seitdem sie selbst mit drei oder vier fahren in den kindergarten kamen. Es ist sicherlich schwieriger, wenn sich ältere kinder an Massimo neu gewöhnen müßten. - Ob er die kinder erkennt, ist immer noch unklar. Lediglich zu einem mädchen scheint er eine beziehung zu haben.

Er läßt sich - ohne widerstand, aber auch ohne erkennbare vorfreude - jeden morgen .in den schulbus tragen, der ihn gemeinsam mit den anderen kindern in die schule bringt. Er erkennt offensichtlich seinen klassenraum. Dort verhält er sich ruhig. Wenn die lehrerinnen ihn in die schulbibliothek oder in einen fremden raum bringen wollten, dann reagierte er mit heftigen zuckungen, die als abwehr verstanden werden. Massimo hat eine ausgebildete stützlehrerin für sich alleine. Hinzu kommt für die mittagszeit eine frau, die ihn füttert und beim windeln hilft."

Fernanda begleitet mich in die klasse und stellt mich den kindern und den lehrerinnen vor. - Die kinder sind mit basteln beschäftigt: Sie zerrupfen zeitungspapier, tränken es in leim und bekleben damit aufgeblasene luftballons. - Masken sollen daraus später entstehen.

Ich erschrecke: Auf dem boden wälzt sich Massimo. Er krabbelt nicht - er wälzt sich wie ein wurm. Hilflos gucken die klassenlehrerin und die stützlehrerin zu ihm hinunter. Ihr blick fragt auch mich: Was sollen wir nur machen?

Die stützlehrerin erzählt mir: "Für Massimo konnte ich bisher nichts anwenden, was ich in meiner ausbildung und in meinen langen erfahrungen mit anderen behinderten kindern gelernt habe. -

Alle die materialien, die wir für ihn gekauft haben, interessieren ihn nicht - er scheint sie nicht einmal wahrzunehmen."

Sie führt es mir vor. Sie nimmt nacheinander die Montessori-materialien, glöckchen, trommeln, große bunte bälle, aus dem regal und versucht mit liebevollem reden und streicheln - oder lautem klatschen - wenigstens einen blick auf sich zu lenken - er reagiert nicht.

Es gibt eine einzige ausnahme: einen großen, alten, völlig abgeschabten plastikwecker mit einer glocke darin. - Den hat eines der anderen kinder vor kurzem mit in die schule gebracht. -

Massimo sitzt auf einer decke -irgendwo in der klasse oder - wenn auch die anderen kinder auf dem hof sind, dann draußen. Er klappert mit diesem wecker vor sich hin. Vor kurzem haben die lehrerinnen eine entdeckung gemacht: Wenn sie ihm diesen wecker wegnehmen, mit ihm dann etwas später aus einer entfernung von etwa vier metern klingeln, dann wird Massimo aufmerksam. Die lehrerinnen haben auch gelegentlich erreicht, daß er sich in die richtung des geräusches bewegt.

Und noch eine interessante beobachtung haben sie gemacht: Massimo wird nach dem mittagessen von dem schulbus abgeholt. - Das geräusch dieses busses scheint er zu kennen. Seine mitschüler und mitschülerinnen sind fest davon überzeugt, daß eine bestimmte unruhige bewegung von Massimo bedeutet: "Ich höre meinen schulbus. - Er kommt jetzt."

Die psychologinnen vom ambulatorium behaupten, Massimo habe überhaupt kein gedächtnis, aber - und jetzt wird die stimme und die mimik von Massimos stützlehrerin sehr resolut: "Wir wissen es besser! Er hat ein gedächtnis! Wir haben mehrere beweise: Er erkennt seinen klassenraum.

Er erkennt ein mädchen aus der klasse: Nur wenn Daniela ihn streichelt, dann lächelt er - bei niemandem sonst. - Und ..."

Die lehrerin führt mich zum fensterbrett. Neben der tür, die ebenerdig vom klassenraum auf den schulhof führt, steht auf dem fensterbrett ein leeres marmeladenglas mit zigarettenstummeln. Hier stehen meist die lehrerinnen in der pause, schwatzen und rauchen und drücken dann ihre zigaretten in diesem marmeladenglas aus. Die stützlehrerin erklärt mir:

"Es ist in der letzten zeit mehrmals vorgekommen, daß Massimo sich irgendwie bis zu dieser stelle bewegt hat. Dann hat er mit der hand zum fensterbrett hochgelangt und das marmeladenglas runtergeworfen. - Das gab jedesmal einen lauten knall. Scherben und zigarettenstummel flogen rum - große aufregung. Das kann kein zufall sein! Ich habe das gefühl, Massimo findet es gut, wie wir uns dann immer aufregen."

Basteln mit den kindern kann er nicht. - Die lehrerinnen haben es versucht: Er stopft sich die papierschnipsel in den mund, er patscht in einem unbeobachteten moment mit der hand in den leimtopf. - "Das können wir den anderen kindern nicht zumuten! Wir dürfen nie vergessen, wie die anderen kinder auf ihn reagieren. - Bisher ging alles gut."

Nach der pause räumen die kinder ihre bastelsachen zur seite. Die zweite klassenlehrerin kommt herein und rechnet mit den kindern. - Während dieser stunde trifft auch die helferin - Vittoria - ein, die beim windeln und füttern unterstützen soll. - Die stützlehrerin und diese helferin setzen Massimo zunächst gemeinsam in seinen rollstuhl.

Jetzt sitzt er auf einem etwas erhöhten posten und guckt. - Ob er gezielt die anderen kinder beobachtet, ist uns nicht klar. Während sich die stützlehrerin und die helferin Vittoria mit mir unterhalten, sitzt die mathematiklehrerin an ihrem tisch, korrigiert und erklärt einzelnen kindern ihre aufgaben.

Jedesmal, wenn ein kind quer durch den raum geht, kommt es an Massimo vorbei. - Wir sind uns nicht sicher: Sind das gezielte bewegungen von Massimo - versuchen seine arme, die kinder zu greifen?

Vittoria berichtet mir von ihrer arbeit:

Sie wird von der gemeinde bezahlt. Sie arbeitet bei den "Ambulanten Diensten" und ist für Massimo sowie für eine alte frau und eine junge, psychisch kranke frau zuständig. Vittoria begleitet Massimo morgens auf dem weg von der wohnung in die schule. - Massimo fährt gemeinsam mit den anderen kindern seiner klasse im schulbus.

Danach versorgt Vittoria die alte frau. Sie hilft ihr beim aufstehen, kauft für sie ein und macht ihr das frühstück. - Danach geht sie zurück in die schule. Sie hilft beim windeln eines spastisch behinderten jungen in der parallelklasse, bevor sie für etwa zwei stunden wieder bei Massimo ist. - Sie wird beim windeln und füttern gebraucht. Nach dem mittagessen begleitet sie Massimo auf dem weg nach hause. - Er fährt früher als die anderen kinder mit dem schulbus. Er muß sich nachmittags schlafen legen. -

Der schulbus bringt Vittoria zu der psychisch kranken frau.

Sie braucht eine gespächspartnerin, vor allem jemanden, der sie ermutigt, den kontakt zu den nachbarinnen zu halten.

Bevor Vittoria feierabend hat, guckt sie noch einmal bei der alten frau vorbei. - Die hat niemanden sonst, der sich um sie kümmert. Schon am nachmittag muß Vittoria sie ins bett bringen, denn sie selbst besucht am abend eine hebammenschule.

Vittoria finanziert sich mit dieser tätigkeit bei den Ambulanten Diensten ihren lebensunterhalt und ihre hebammenausbildung.

Vittoria unterbricht unsere unterhaltung: "Wir müssen Massimo windeln!" Während die stützlehrerin mit Massimo spricht, geht Vittoria in eine nische des raumes, klappt eine turnmatte, die an der wand befestigt ist, auf den boden und wischt die matte sauber. - Dann geht sie zur mathematiklehrerin und fragt sie, ob es ihr recht sei, wenn Massimo jetzt gewindelt wird. Ich wundere mich, weshalb sie fragt. Kurz darauf wird es mir klar: Jetzt beginnt ein ritual: Alle kinder unterbrechen ihr rechnen und beginnen, ein kinderlied zu singen. - Eines dieser italienischen lieder mit den unendlich vielen strophen und der immer wieder gleichen, schönen melodie. Die kinder singen das lied vor sich hin, packen dabei ihre mathematiksachen ein, trödeln durch den raum, gucken auch mal zu Massimo hin, sind aber offensichtlich im wesentlichen mit sich selbst beschäftigt.

Mit schnellen und sicheren handgriffen tragen die stützlehrerin und Vittoria den zehnjährigen - nicht ganz leichten - Massimo von seinem rollstuhl auf die matte. Während die eine ihn auszieht und blitzschnell neu windelt, kniet die andere hinter seinem kopf, redet beruhigend auf ihn ein und hält seinen oberkörper fest. -

Massimo wird wieder angezogen, in den rollstuhl zurückgesetzt, die matte wird desinfiziert und an die wand zurückgeklappt - die kinder beenden ihr lied und gehen zur pause auf den hof.

Die lehrerinnen erklären mir: "Das haben wir von den kindergärtnerinnen übernommen. Die haben Massimo immer gewindelt, während die anderen kinder sangen. - Dieses eine lied kennt er. Wenn die kinder anfangen, es zu singen, dann stellt er sich darauf ein, daß wir ihn windeln. - Ohne das lied läßt er sich nicht windeln."

Während die meisten kinder auf dem hof spielen, decken einige den tisch. - Die stützlehrerin verläßt die schule, sie ist jeden tag von ca. 8.30 bis 12.30 uhr mit im unterricht. Vittoria zieht sich einen kittel über, bindet Massimo einen großen latz um und bereitet sich auf das mittagessen vor.

Massimo sitzt in seinem rollstuhl, etwa drei meter entfernt von den anderen kindern. - Er sieht die kinder. Vittoria setzt sich seitlich so neben ihn, daß sie seinen blick zu den kindern nicht versperrt. - "Aber warum sitzt er nicht mit am gruppentisch?"

"Das wirst du gleich sehen! - Seit einem halben jahr lernt Massimo, alleine zu essen. - Augenblicklich machen wir gerade eine sehr kritische zeit durch."

Vittoria erklärt mir: "Wir sind davon überzeugt, daß Massimo alleine essen lernen kann. - Bisher wurde er nur gefüttert. Alleine essen zu können ist doch etwas sehr wichtiges! Wir wollen es versuchen. - Für dieses schuljahr haben wir uns dieses ziel gesetzt: Massimo soll alleine essen können!!"

Das ist wahrhaftig schwierig: Vittoria "fädelt" einzeln die nudeln, die dicken weißen bohnen oder ein kleines stückchen fleisch auf eine gabel. - Diese so präparierte gabel drückt sie Massimo in die hand, schließt seine finger um den stiel der gabel und beobachtet ihn gespannt: Wird er die gabel richtig in den mund führen, oder geht's daneben? Etwa jeder zweite bis dritte versuch landet tatsächlich im mund, das andere daneben. - Nach kurzer zeit ist die umgebung des rollstuhls mit essen gesprenkelt. Vittoria ist die ruhe in person - ab und zu schiebt sie sich mit der linken hand von ihrem teller mit ihrer gabel auch einen bissen in den mund und erklärt mir zwischendurch: "Das hat er schon gelernt: Den mund aufmachen und die nudeln mit den lippen festhalten. - Er spuckt sie nicht mehr aus. - Aber paß auf: Das scheint zur zeit sein spiel zu sein: Jedesmal, wenn er einen bissen genommen hat, wirft er die gabel in hohem bogen in den raum und lacht dabei! Deshalb können wir ihn augenblicklich nicht am selben tisch sitzen lassen wie die anderen kinder. Solange er gefüttert wurde, saß er bei den anderen kindern. - Das ging auch viel schneller und war bequemer. Aber wenn wir das immer weiter gemacht hätten, dann würde er sein leben lang gefüttert. - Wir wollen es wenigstens versuchen!"

Immer wieder läuft Vittoria in eine ecke des raumes, hebt die gabel auf. Mit einem etwas hilflosen blick zu mir, manchmal achselzuckend:

"Was soll ich denn sonst machen?"

Sie wischt die gabel ab, piekt aufs neue drei oder vier nudeln, eine dicke bohne und ein fleischstückchen auf, und das spiel beginnt von vorne.

Die klassenlehrerin kommt vorbei. - Die lehrerin und ich, wir erinnern uns, daß unsere kinder dasselbe spielchen mit uns gespielt haben - als unsere kinder etwa zwei jahre alt oder etwas jünger waren.

Vittoria hat keine kinder. - "Wie lange hat das bei euren kindern gedauert?"

Wir wissen es nicht mehr. - Aber es scheint Vittoria ein wenig zu trösten: Ist es ein durchgangsstadium zum normalen essenlernen, was sie gerade mit Massimo durchmacht?

Sie wünscht sich eine gute psychologische beratung für ihre arbeit! - Aber was soll sie von den psychologen halten, die von Massimo sagen, er könne nicht denken. "Die sind doch selbst 'stupido'! Wenn ich nicht mehr daran glaube, daß Massimo etwas lernen kann, dann höre ich hier auf!"

Vittoria fegt die umgebung von Massimos rollstuhl sauber, nimmt ihm den Latz ab, setzt ihn auf eine wolldecke auf den hof und gibt ihm seinen plastikwecker zum spielen. Dann zieht sie sich ihren kittel aus. -

Die anderen lehrerinnen der parallelklassen kommen herbei, rauchen ihre zigaretten, trinken ihren espresso, unterhalten sich mit mir und Vittoria.

Zwischendurch streift immer wieder ein mitleidiger blick diesen jungen, der auf der decke sitzt und mit dem plastikwecker klappert - während die anderen kinder über den hof rennen. - Die lehrerinnen fragen mich:

"Was sollen wir machen? Was macht ihr mit solchen kindern in Deutsch-

land?"

"Massimo wäre zu hause bei seiner familie oder in einem heim."

"Wo alle kinder so sind wie Massimo? - Diese arbeit kann man doch keinem menschen tagtäglich zumuten!"

Die lehrerinnen erklären mir: "Nur hier kann er die anderen kinder kennenlernen und die anderen ihn! Schade, daß Daniela heute nicht da ist.

Das ist seine freundin. Sie legt sich in der pause manchmal zu ihm. - Er erkennt sie und freut sich, wenn sie kommt."

Dann weisen die lehrerinnen mich darauf hin, wie Massimo plötzlich zappelt: "So zappelt er immer, wenn sein bus kommt." - Und tatsächlich, der schulbus biegt um die ecke. - Massimo muß den bus gehört haben, als er noch hinter der wegbiegung fuhr. Dieses geräusch scheint er besser zu hören als alle anderen. - Gleichzeitig vermittelt er den

eindruck, daß er nichts versteht.

Vielleicht versteht er mehr, als wir alle denken?

Nachdem Vittoria und Massimo mit dem schulbus abgefahren sind, erzählen mir die lehrerinnen:

"In einem ort etwas außerhalb von Florenz - in Impruneta - lebt ein junge, der ist ähnlich behindert wie Massimo. Die ganze kindergartenzeit und grundschulzeit war er in der schule. Die lehrerinnen haben gute arbeit geleistet, er hat große fortschritte gemacht. - Aber mit dem übergang zur mittelschule hatte er natürlich immer noch viele probleme.

Der schulleiter wollte diesen jungen nicht aufnehmen!

Alle, die die entwicklung dieses jungen kannten, befürworteten den übergang in die mittelschule.

Die eitern haben eine klage gegen die entscheidung der mittelschule eingelegt." - Die grundschullehrerinnen sind empört: "Wo kämen wir denn da hin, wenn mit solchen kindern beim übergang in die mittelschule die integration beendet sein soll?"

Mehrere wochen später schickte mir Fernanda einen zeitungsausschnitt:

Die eltern jenes jungen haben gewonnen!

Der schulleiter und der schulrat sind zu empfindlichen strafen verurteilt worden. - (siehe die übersetzung des zeitungsberichtes auf der folgenden seite).

Das gesetz schreibt die integration behinderter kinder vor. -

Auch ein kind wie Massimo hat das recht, mit den anderen gemeinsam zu

lernen. Er lernt im 2. Schuljahr, alleine zu essen.

Aus: "La Nazione"

Florenz - Samstag, 27. Juni 1987

Behindert? Keine Schule

Schulamtsleiter und Schulleiter verurteilt

Der Schulamtsleiter Herr Baldassarre Gulotta ist vom Amtsrichter Frau Eva Celotti verurteilt worden, weil er die Aufnahme eines behinderten Kindes in die erste Klasse der Mittelschule abgelehnt hat.

Die gleiche Verurteilung auch für Cesare Cristofolini, Schulleiter der Mittelschule "Accursio", die das Kind besuchen wollte. Der Schulamtsleiter hat eine Million Lire Geldstrafe erhalten sowie einen Monat und zwanzig Tage Amtsverbot. Für den Schulleiter war die Strafe milder: 750.000 Lire Geldstrafe und einen Monat Amtsverbot.

Das Kind, das von der Schule abgelehnt wurde, heißt Simone Degl'Innocenti und ist gerade in diesen Tagen 14 geworden. Simone lebt mit seinen Eltern, Fiorenzo und Daniela, in Via dei Ricci, in Pozzolatico. Das Kind leidet an chronischer Enzephalopathie, Gehirnwassersucht und zerebrovaskularer Insuffizienz. Es hat die Grundschule in San Gersole besucht.

Letztes Jahr haben seine Eltern ihn an der staatlichen Mittelschule "Accursio" in Impruneta angemeldet. Alles schien normal zu verlaufen, sogar die Anmeldung wurde am 5. Juli 1986 eingetragen. Aber kurz vor Beginn des Schuljahres, am 3. September, wurde die Anmeldung aufgehoben. Der Grund dafür: Simone ist nicht ein Kind, das beschult werden kann. Unter dieser Bezeichnung, dem Gesetz 118 von 1971 entnommen, verweisen die Schulbehörden auf jene Kinder, die nicht fähig sind zu lernen. Diese Regelung ist für die Mittelschule gültig, nicht aber für Kindergärten und Grundschulen, wo unter anderem die "bidelli" die Kinder auch körperlich versorgen.

Die Eltern von Simone gaben nicht auf, sie bezogen auch die USL, den Bürgermeister und den Arbeitskreis Schule-USL-Gemeinden des florentinischen Chianti in ihren Kampf mit ein. Zwölf Tage nach der Aufhebung der Anmeldung hat die Gruppe Schule-USL-Gemeinde, an der ein Kinderarzt, zwei Psychologen, zwei Sozialarbeiter, drei Rehabilitationstherapeuten und eine Krankenpflegerin beteiligt waren, ihre Meinung geäußert.

Nach der Meinung der Menschen, die den erzieherischen Weg von Simone verfolgt haben, "würde die mögliche Unterbrechung des Schulbesuches und die daraus folgende Beschränkung der vielfältigen Anregungen, die das Kind bis jetzt durch die Schule bekommen hat und die auf jeden Fall positive Folgen gehabt haben, den Aufwertungs- und Verstärkungsprozeß seiner Restfähigkeiten beeinträchtigen". In einem Brief an den Schulamtsleiter befürwortete der Hauptarbeitskreis "die Zweckmäßigkeit, dem Kind den Schulbesuch auch in der Mittelschule zu ermöglichen". Die Gruppe forderte gleichzeitig, daß ihre Beschlüsse nicht durch "Verwaltungsmaßnahmen für unwirksam erklärt werden, sondern, daß die Bedingungen für die Aufnahme des Schülers in die Mittelschule durch vereinbarte Maßnahmen zwischen Schulamt, der Mittelschule "Accursio" und der Gemeinde wiederhergestellt werden".

Auch der Kinderneurologe gab an, daß hinter jeder Behinderung "eine Kommunikationsstörung steckt, d.h. die Schwierigkeit, mit den anderen angemessen zu kommunizieren, Botschaften zu senden und zu erhalten" und hielt daher "den Schulbesuch für unentbehrlich".

Im Februar dieses Jahres haben die Eltern von Simone erneut den Aufnahmeantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Auch der "Verein der Erwerbsunfähigen und Versehrten" griff ein.

Zum Schluß beschlossen Vater und Mutter des Kindes, sich an den Amtsrichter zu wenden: Es wurde ihnen Recht gegeben: Schulamtsleiter und Schulleiter wurden wegen Unterlassung von Amtshandlungen verurteilt.

3.6 Laura ist psychotisch - Laura findet zu sich selbst

Wolfgang Podlesch

Es ist 8.30 uhr, für alle beginnt der unterricht, nicht für Laura. Im förderraum neben ihrer klasse wirft sie sich auf einer liege von einer seite auf die andere, schreit, schluchzt, reißt die arme hoch, zieht sich an den haaren. Einige lehrer stehen um sie herum und gehen nach und nach in ihre klassen, nur die stützlehrerin bleibt bei ihr.

Alltag in einer italienischen grundschule, die nicht nur von nichtbehinderten besucht wird. Von der schulleiterin erfahren wir, daß von ihren 490 schülern 16 behindert sind. Ihnen stehen neun stützlehrer zur verfügung, mehr als doppelt soviel wie die gesetzliche mindestregelung vorschreibt. Sie sieht nämlich für jedes behinderte kind nur sechs stützlehrerstunden vor. Hier in Isolotto wird die vorschrift übererfüllt, aus guten gründen. Der stadtteil Isolotto liegt im äußersten südwesten von Florenz. Isolotto ist ein sozial stark belastetes neubaugebiet mit hoher arbeitslosigkeit, insbesondere unter den jugendlichen und mit einem relativ großen bevölkerungsanteil aus süditalien. Hinzu kommen drogen- und alkoholprobleme mit den entsprechenden zerrütteten familienverhältnissen.

Als ich zwei stunden später die 2. klasse von Laura besuche, ist sie gerade dabei, gras zu malen. Im rahmen des projekts "von der pflanze zur ernährung" entsteht als abschlußarbeit eine große Collage (s. abb. 1), an der alle kinder beteiligt sind, selbstverständlich auch Laura.

Überhaupt werden projekte in Isolotto großgeschrieben. Bemerkenswert sind zwei klassenübergreifende dauerprojekte: theaterarbeit und die schulzeitung "lo zampino". Für beide bereiche hat die florentiner kommune zusätzlich zwei stellen genehmigt. So konnten eine schauspielerin und ein künstler eingestellt werden. Die zeitung hat einen eigenen redaktionsraum, in dem täglich zwischen 10.30 uhr und 12.30 uhr klassenübergreifend gruppen tätig sind und nach einem differenzierten plan an der fertigstellung der nächsten nummer arbeiten (s. abb. 2).

abb. 1

abb. 2

Zurück zu Laura. Sie hat ihre tätigkeit abgebrochen und verläßt ihre klasse. Ihre stützlehrerin folgt ihr und schlägt mir vor mitzukommen. Es habe überhaupt keinen zweck, Laura zu irgendwelchen arbeiten zu zwingen, dies würde zu einer totalen blockierung führen und lediglich das häusliche muster kopieren, erklärt mir Marzia. Sie erzählt mir, Laura sei psychotisch und leide unter ihrer tiefgreifenden beziehungsstörung zu ihrer mutter, die sie ablehne und gleichzeitig liebe, eine familientherapie sei inzwischen begonnen worden. In der schule habe es sich bewährt, Laura zunächst in allem freie hand zu lassen, um dann in der auseinandersetzung mit ihr die nächsten schritte und entscheidungen zu überlegen.

Laura hat inzwischen den kleinen förderraum erreicht, in dem an allen wänden ihre bilder, zeichnungen und geschichten hängen. Marzia fragt sie, ob sie schreiben oder schlafen wolle. Laura steht unentschlossen vor ihrem tisch und schaut auf ihr großes weißes blatt. Dann greift sie zu einem roten filzstift und beginnt zu kritzeln. Marzia interpretiert sofort: "Ach, du malst eine wiese, ja, gut, und jetzt malst du zwei kinder, sehr schön, und dazu scheint die sonne, wunderbar".Marzia schreibt zu den bildern "prato" "bambini", "sole". Die sinnstiftenden interventionen sollen Laura helfen, ihre arbeit zu begreifen: Sie hat eine geschichte "erzählt", darüber kann sie sich freuen.

Laura verläßt den raum und läuft zur küche, wir wieder hinterher. Gerade ist das essen in warmhaltepackungen aus der großküche geliefert worden. Laura reißt die deckfolie ab und riecht: "pollo", "fritti", "zuppa". Befriedigt geht sie wieder zurück und legt sich auf die liege. Marzia fragt:"Möchtest du schlafen oder singen?" "Singen." Marzia setzt sich zu ihr, beide singen einfache lieder, klatschen dazu in die hände, erfinden neue reime und melodien. Wenn Laura sich hinlegt, legt sich Marzia neben sie und streichelt sie. Es entsteht eine intime Atmosphäre, in der sich Laura entspannt und sich sehr wohl fühlt, im vergleich zu ihrer verfassung und befindlichkeit am morgen eine totale veränderung.

Zwei tage später lerne ich die zweite stützlehrerin von Laura kennen: Rossella . Sie erklärt mir, daß zwischen 8.30 uhr und 10.30 uhr alle schüller der schule italienisch und mathematik haben und es keinen zweck habe, mit Laura in der klasse zu bleiben, die lernvoraussetzungen und lernleistungen seien zu unterschiedlich für gemeinsame unterrichtsformen. Deshalb arbeite sie lieber mit Laura in ihrem förderraum. Wie Marzia erzeugt Rossella schnell eine herzliche atmosphäre (abb. 3), die es ihr erlaubt, singspiele einzuführen, bei denen es um zahlen und zählen geht.

Laura mit stützlehrerin

Laura macht begeistert mit. Sie hört plötzlich auf: Nebenan schimpft ihr klassenlehrer, sie geht in die klasse und kehrt nach kurzer zeit zurück. Mit einem roten filzstift malt sie in die obere ecke einen kreis.

"Il capino", "ein hündchen", ruft Rossella entzückt. "Wieviel beine hat er?" "Uno, due, tre, quatro?" Laura: "Quatro!"

"Bravo!" Laura malt weiter. Rossella: "Was ist das, ein pinienkern? Der hund sucht den pinienkern. Wie kriegt er ihn auf?

Er findet einen nußknacker. Dann kann er ihn essen!" Zeichnungen und texte entstehen im wechselseitigen bezug. Was Laura malt, wird von Rossella gedeutet und von Laura entweder akzeptiert oder abgelehnt. So entstehen ihre geschichten.

Zwischendurch werden immer wieder verschiedene sing- und klatschspiele ausgeführt, an denen auch mitschüler teilnehmen; denn ab und zu kommen kinder herein, legen sich zu Laura auf die liege, machen mit, wenn sie mit Rossella singt oder in die hände klatscht. Dann ist es 10.30 uhr , die projektarbeit wird fortgesetzt, Laura ist dabei. Heute besucht die halbe klasse einen bidello, der in der nähe in einem kleinen Häuschen wohnt, kaninchen hält, wein herstellt, salat anpflanzt, ein gewächshaus betreibt und zur zeit eine katzenmutter mit jungen versorgt, alles im krassen gegensatz zu den engen wohnverhältnissen von Isolotto.

Laura hat glück. Ihre beiden stützlehrerinnen haben gemeinsam ein entwicklungskonzept erarbeitet, das Laura die chance gibt, zu sich selbst zu finden. Dazu gehört als zentrale erkenntnis:

Lauras eigene wünsche, ideen, bedürfnisse sind die wichtigsten voraussetzungen für alle weiteren aktivitäten. Sie müssen sorgfältig beobachtet und ernst genommen werden. Nur so bleibt Laura motiviert, spontanes verhalten und spontane reaktionen zu zeigen, die der ausgangspunkt für identitätsbildende und ihr selbstvertrauen stärkende erfahrungen sind.

Erleichtert wird dieser entwicklungsprozeß durch die zweite wichtige erkenntnis von Marzia und Rossella: Laura braucht ein großes maß an persönlicher und emotionaler zuwendung. Wer sie verstehen will, muß sich ganz auf sie einlassen und von eigenen vorstellungen und zielsetzungen zunächst absehen.

4.Kapital Die änderung von strukturen-beispiele-personen-lösungswege

4.1. Pädagogische betreuung und beratung von eltern und lehrerInnen auf der grundlage von integration - Bericht über ein forschungspro,jekt am kinderkrankenhaus des Vatikanstaates

Monika Brunne

Im oktober 1986 begann ich meine tätigkeit als pädagogische mitarbeiterin im "Day Hospital" des kinderkrankenhauses in S. Marinella bei Rom. Für mich war dieser versuch, in einer rein medizinisch geprägten umgebung als pädagogin "fuß zu fassen", eine faszinierende und zugleich durch viele schwierigkeiten beeinflußte erfahrung. Die interdisziplinäre zusammenarbeit von ärzten, therapeuten und psychologen im "Day Hospital" sollte eine möglichst umfassende beratung der eltern gewähr-leisten, die sich mit ihren behinderten kindern an das ambulatorium wendeten.

Meine arbeit war der erste versuch, auch im pädagogischen bereich eltern, und lehrern hilfestellungen zu geben.

Die durch das gesetz nr. 517 von 1977 eingeleitete integrationspraxis wirft viele probleme auf.

Die eltern, die nach S. Marinella kamen, berichteten, daß sie sich mit den schwierigkeiten ihres behinderten kindes oft allein gelassen fühlten. Zuständige institutionen würden oft nur unzureichend oder gar nicht funktionieren.

Die lehrer der betroffenen kinder äußerten mir gegenüber ihre hilf- und ratlosigkeit in bezug auf die in ihren klassen integrierten kinder. Sie fühlten sich mit anforderungen konfrontiert, auf die sie in keinster weise vorbereitet worden waren.

Fast alle im "Day Hospital" betreuten kinder wurden in der regelschule unterrichtet; in sehr wenigen ausnahmefällen fand die beschulung in einer privaten sondereinrichtung oder zu hause (z.b. wenn das kind transportunfähig war) statt.

Zusätzliche therapien (z.b. logopädie, krankengymnastik) wurden fast immer zusätzlich nachmittags nach der schule durchgeführt.

Kinder, die eine ganztagsschule besuchten, wurden teilweise vom nachmittagsunterricht freigestellt, um die therapie wahrnehmen zu können. Der wunsch der eitern nach einer zusätzlichen betreuung ihres behinderten kindes richtete sich danach, in welchem maße sie die ausreichende förderung ihres kindes gewährleistet sahen.

Trotz des hohen aufwands an eigeninitiative, der den eitern abverlangt wurde, z.b das begleiten des kindes zur nachmittäglichen therapie, zusätzliche finanzielle belastungen, vermittelten mir die betroffenen eltern den eindruck, voll hinter dem konzept der integration der behinderten kinder in die regelschule zu stehen.

Diskussionen um das für und wider einer sondereinrichtung wurden gar nicht geführt, da integration als selbstverständlich galt.

So sehr sich diese eitern um eine verbesserung der förderung ihres kindes mit spezifischen problemen bemühten - genausosehr nahmen sie für sich und ihre kinder die gemeinsame erziehung mit nichtbehinderten in anspruch.

Eltern, die mich auf die schulische situation der behinderten in Deutschland ansprachen, reagierten entrüstet und mit unverständnis auf meine auskunft, daß bei uns die integration von behinderten in keinster weise selbstverständlich ist und daß es große widerstände gegen die abschaffung der sonderschulen gibt. Sie wunderten sich, daß die auf anderen gebieten so fortschrittlichen deutschen so rückständig eingestellt sind und die ghettoisierung der behinderten akzeptieren.

In den gesprächen mit den lehrern schilderten sie ihre ratlosigkeit und das gefühl, allein gelassen zu werden in einer ihnen unbekannten situation. Sie suchten nach hilfestellungen zur speziellen förderung des behinderten kindes in ihrer klasse und nach möglichkeiten, die arbeit mit den behinderten in die gesamtunterrichtsgestaltung einzubinden.

Befriedigende ansatzpunkte für ihre überlegungen fanden die Lehrer, wenn gute beziehungen zwischen den klassen - und stützlehrerinnen bestanden. In solchen situationen war auch ein wechsel der "kompetenzen" möglich, d.h., daß sowohl die klassen - als auch die stützlehrerin mit dem einzelnen kind und mit der gesamtgruppe arbeiteten. Mein ziel war es, den lehrerInnen zu verdeutlichen, daß die integration behinderter nur funktionieren kann, wenn wir die kenntnisse und fähigkeiten aller schülerInnen, nicht nur der behinderten, zur grundlage der unterrichtsgestaltung machen.

Wir wollen zu einem grundlegenden umdenken in der pädagogik beitragen, in der weise, daß der von uns festgestellte entwicklungsstand eines kindes (behindert oder nichtbehindert) ausgangspunkt aller pädagogischen planung und als ansatz für eine förderung verstanden wird.

Im rahmen des forschungsprojektes ging es uns darum, mit hilfe einer genauen betrachtung und analyse der situation des kindes zu hause und in der schule kompetenzen des kindes aufzudecken und als förderungsmöglichkeiten den eltern, Lehrern, verwandten und freunden transparent zu machen.

Das "Day Hospital" in S. Marinella/Rom

Das "Day Hospital" in S. Marinella ist ein dem kinderkrankenhaus "Ospedale Bambini Gesù" angeschlossenes ambulatorium.

Es existiert seit 7 jahren und ist unter der leitung des neurologen Dr. G. Albertini aufgebaut worden. Das dort arbeitende team besteht aus zwei neurologen, einer psychologin, zwei rehabilitationstherapeutinnen, einer kinderärztin, vier krankenschwestern, drei hilfsschwestern und einer sekretärin, die die aufgabe der kooperation von untersuchungen und terminabsprachen hat.

Im bedarfsfall können im direkt angegliederten kinderkrankenhaus weitere ärztliche dienste in anspruch genommen werden.

Der einzugsbereich des "Day Hospital" ist nicht eingegrenzt; der größte personenkreis von eltern mit behinderten kindern kommt aus dem weiten stadtgebiet von Rom, aus südlich von Rom gelegenen ländlichen gegenden und aus Sizilien, wo die ärztliche versorgung und betreuung behinderter kinder nicht vorhanden oder nur unzureichend ausgebaut ist.

Die gute medizinische betreuung durch Dr. Albertini und sein team hat sich unter den betroffenen eltern herumgesprochen, die deshalb zum teil seit 6 jahren immer wieder kommen.

In S. Marinella werden ca. 1.200 behinderte kinder (zum großen teil kinder mit Down-Syndrom) im alter von 0 - 15 jahren betreut.

Ältere jugendliche werden akzeptiert, um beratungen, die bereits vor jahren begonnen wurden, fortzuführen. Im verlauf von zwei tagen bis maximal einer woche werden alle für nötig befundenen kontrollen und untersuchungen (z.b. neurologische, pediatrische, therapeutisch-rehabilitative, psychologische usw.) durchgeführt.

Im "Day Hospital" werden diagnosen erstellt, aber keine behandlungen oder therapien organisiert. Die ergebnisse der untersuchungen werden im teamgespräch, an dem der neurologe, die psychologin, die therapeutinnen und die sekretärin teilnehmen, erläutert.

In diesem kreis wird durch den informellen austausch über das kind das abschlußgespräch von Dr. Albertini mit den eitern vorbereitet.

Bei ihrem zusammentreffen kommentiert der neurologe die befunde und macht therapie- und behandlungsvorschläge. Die eltern erhalten einen zusammenfassenden brief über dieses gespräch.

Anweisungen für eine therapie werden entweder direkt von den eltern an die therapeuten weitergegeben, oder die mitarbeiter des "Day Hospital" setzen sich mit den vor ort in den USL oder privatpraxen arbeitenden kollegInnen in verbindung.

In seiner arbeit wurde das team von S. Marinella mit fragestellungen konfrontiert, die, aus dem pädagogischen bereich stammend, von ihnen nicht beantwortet werden konnten.

Das waren z.b. fragen der eltern:

- ob es notwendig ist, eine stützlehrerin für die unterrichtung ihres kindes zu beantragen

- wie sich der entwicklungsstand ihres kindes aus pädagogischer sicht darstellt

- welche spiel- und übungsmaterialien für ihre kinder geeignet sind.

Fragen der lehrer:

- nach hilfestellungen für eine organisation des unterrichts, die es erlaubt, den behinderten am gesamtgeschehen des unterrichts teilnehmen zu lassen

- inwieweit und ob überhaupt eine getrennte unterrichtung des kindes mit einer behinderung (alleine oder mit einem anderen behinderten kind) gerechtfertigt werden könnte

- nach speziellen fördermöglichkeiten/-materialien z.b. für ein blindes kind

- zur diagnose des entwicklungsstandes des kindes aus pädagogischer sicht

Das bedürfnis von eltern und lehrerInnen nach mehr informationen aus dem pädagogischen bereich führte zu der überlegung, das von Dr. Albertini zunächst nur auf das medizinische feld beschränkte forschungsprojekt auf die pädagogik auszudehnen.

Die eltern, die gute erfahrungen mit der medizinisch/psychologischen betreuung gemacht hatten, brachten die lehrer mit, da sie sich auch in diesem bereich hilfe und unterstützung von Dr. Albertini und seinem team erhofften.

Es gab lehrer und therapeuten, die sich aus eigener initiative an das "Day Hospital" wendeten, um den austausch mit den kollegInnen zu suchen.

Im bemühen, den anforderungen von eitern und lehrerInnen gerecht zu werden, entstand die idee, in zusammenarbeit mit Dr. N. Cuomo von der Universität Bologna und Prof. Dr. Dreher von der Universität Köln den pädagogischen teil des forschungsprojektes zu gestalten.

Der organisatorische rahmen

Ich traf mich nur mit eltern von kindern im schulpflichtigen alter, da ich mich auf die schwierigkeiten der schulischen integration behinderter konzentriert hatte.

Die eltern und kinder entschieden, wer am gespräch teilnahm. Kinder, die während der wartezeit spielkameraden gefunden hatten, zogen es vor, draußen zu bleiben, allein oder mit einem elternteil. Nahmen sie jedoch an unserem treffen teil, versuchte ich, sie in die gespräche einzubeziehen, die durchschnittlich ca. 30 - 45 minuten dauerte.

Zielsetzungen meiner arbeit

Das vorrangige ziel bestand im sammeln von informationen über die schulische und die in enger verbindung zu ihr stehende familiäre situation des kindes.

Die arbeitshypothese des projektes lautete, daß lernen nur in aktiv gestalteten situationen stattfinden kann. Die daten sollten uns z.b. aufschluß darüber geben, in welchen momenten dem kind gelegenheit gegeben wird, sich aktiv an der "gestaltung von lernen" zu beteiligen.

An diese hypothese anknüpfend, wollten wir eine sog. "lernwerkstatt" organisieren, in deren rahmen weitere arbeitskonzeptionen aufgestellt würden, welche methoden und strategien umfaßten, die es in der Praxis zu überprüfen gälte.

In der "lernwerkstatt" sollte die unmittelbare zusammenarbeit der pädagogin mit den lehrerInnen und den eltern stattfinden; im bewußtsein haltend, daß die kinder, eltern und lehrerInnen die eigentlichen "fachleute" der situation sind und dementsprechend ernst genommen werden müssen.

Methodisch-instrumenteller rahmen

Unsere aufgabe bestand darin, ein möglichst umfassendes und übersichtlich strukturiertes arbeitsinstrument zu finden, das uns helfen sollte, die lebenssituation des kindes ganau zu betrachten, um so rückschlüsse auf den entwicklungsstand des kindes ziehen zu können.

Nach mehrfachem überarbeiten des fragekatalogs - zuerst war er zu eng gefaßt und zu schematisch, dann zu ausführlich und unhandlich in seiner durchführung - kamen wir dazu, eine liste von 11 fragen zusammenzustellen. Die antworten sollten nach den kriterien des "aktiven" und des "passiven", bezogen auf die bereiche der autonomie, des sozialverhaltens, des lernens, des wünschens und der heterochronie analysiert werden.

Die grundlage dieser untersuchung war die hypothese, daß lernen nur in "aktiv" gelebten situationen möglich ist.

Der begriff der "heterochronie" wurde von einer wissenschaftsgruppe um R. Zazzo geprägt.

Er beschreibt die tatsache, daß ein geistig behindertes kind unterschiedlich schnell in den verschiedenen bereichen seiner psycho-biologischen entwicklung heranwächst.

Das zeitlich chronologische biologische wachstum' verläuft also nicht synchron zur intellektuellen entwicklung.

Heterochronie bedeutet jedoch nicht "disharmonie", sondern meint "originelles gleichgewicht". Sie meint: ein "nebeneinanderbestehen" von gut entwickelten fähigkeiten (z.b. motorik, räumliche orientierung - organisation) neben anderen weniger ausgebildeten (z.b. konzeptioneller bereich) bei einer person. Das konzept der heterochronie beinhaltet die forderung nach komplexen organisations - und kommunikationsformen und komplexen didaktischen materialien. Weiter fordert es eine aufwertung der verschiedenen kommunikationsmodi (digitale - analoge - psychomotorische) und der verschiedenen intelligenzmodelle (räumliche intelligenz - konzeptionelle intelligenz). (Vgl.: A. Canevaro (hrsg.): "Handicap e scuola", 2. auflage, 1983, s. 438; übersetzung: Barbara Kern).

Der begriff der "heterochronie" nahm in unseren überlegungen eine zentrale stellung ein. Er stellt heraus, daß es bei der "liste" nicht darum geht, die abweichung eines kindes von der sog. "normalentwicklung" zu notieren, sondern darum, bei jedem einzelnen kind nach dessen individuellen fähigkeiten und kenntnissen zu suchen, um sie zum ausgangspunkt von pädagogischen planungen werden zu lassen.

Wir wollen situationen analysieren, nicht um ein "nicht-können" des kindes herauszustellen, sondern um herauszufinden, wo die kompetenzen des kindes liegen.

Die liste von 11 fragen, die durch einen katalog von sog. "schlüsselfragen" noch präzisiert und ergänzt wird, darf auf keinen fall als "geschlossener" katalog gewertet werden. Er ist im gegenteil "offen" und "lebendig", d.h. auch veränderbar, und zwar durch die mit diesem instrument arbeitenden pädagogInnen.

Grundlage der anwendungssituation des im folgenden abgedruckten fragenkataloges ist die nicht-aussonderung des behinderten kindes. -

Die zielvorstellung orientiert sich an der optimierung gemeinsamer handlungssituationen mit nichtbehinderten kindern und erwachsenen und an der je individuell zu bestimmenden erweiterung aktiver und autonomer handlungen, vor allem auch für schwer behinderte und in ihren Lernmöglichkeiten erheblich eingeschränkten kinder.

Fragekatalog

Den Anhang können sie unter folgender Url herunterladen:

http://bidok.uibk.ac.at/download/schoeler-fragekatalog.pdf

Liste der "schlüsselfragen":

a) allein

b) mit und/oder zu wem

c) in jeder situation (zu hause, in der schule, in den ferien

d) bevorzugt

e) immer

f) teilweise, manchmal

g) wann ja, wann nein

h) es liegen körperliche behinderungen vor (bei treppen, gehwegen, türen ...)

i) an jedem ort (in der schule, zu hause, auf der straße, auf dem land)

k) bittet um hilfestellung und/oder zusammenarbeit

l) das kind kennt die regeln (für den pädagogen wichtig zu erfragen:

handelt es sich um "passive" oder "aktive" regeln; das heißt: sind sie mit oder ohne die zusammenarbeit des kindes aufgestellt worden?)

m) das kind hilft

n) es kennt seinen platz, seine eigenen gegenstände und den platz für die sachen

o) es gibt einen festen platz für das kind und seine gegenstände

p) sind die gezeigten verhaltensweisen des kindes (in bezug auf jede frage) dem jeweiligen alter angemessen: in bezug auf den motorischen, sprachlichen, psychologischen und biologischen bereich: es soll aufgedeckt werden, ob die handlung eines kindes, falls sie dem chronologischen alter des kindes entspricht, ergebnis eines projektes ist oder nicht, und genauer: eines aktiv oder passiv erlebten projektes

q) das kind benutzt hilfsmittel

r) bevorzugt mit einer person

s) das kind hat mehr erfolg in einfachen - in komplexen - in strukturierten situationen

t) das kind zeigt größtes interesse an inhalten und situationen: wenn es handelt - wenn es zuschaut - alleine - mit den anderen

u) welche verbalen, non-verbalen, analogen usw. fähigkeiten und welche verhaltensmerkmale überwiegen beim kind?

Die analysekriterien des "aktiven" (A) und des "passiven" (P) sollen aufschluß darüber geben, inwieweit für das jeweilige kind im bereich der autonomie und des sozialverhaltens die momente überwiegen, in denen es einfluß auf die gestatung dieser momente hat, also "aktiv" ist, oder, wenn es nicht einbezogen wird, "passiv" bleibt.

Unter der spalte "lernen" soll festgehalten werden, in welchem ausmaß das kind z.b. an der organisation von lernsituationen beteiligt ist oder nicht, also "aktiv" oder "passiv" ist.

In der rubrik "wünsche" registrieren wir, ob das kind die gelegenheit erhält, wünsche auszusprechen/und auszuleben (aktiv) oder ob es sie unterdrücken muß (passiv), weil es z.b. gar nicht danach gefragt wird. Bis auf den 2. teil der 7. frage und die 9. frage sind alle fragen zunächst mit "ja" oder "nein" zu beantworten. Je nach der gegebenen antwort sind sie durch folgende zusatzfragen zu ergänzen:

- wenn ja, das kind hat es spontan erlernt oder durch ein unterrichtsprojekt

- wenn nein, es bestehen ängste, oder: das kind ist nicht dazu in der lage trotz angebotener projekte.

Beispiel zum fragekatalog:

Auf die 1, frage des fragekatalogs:

"Geht das kind allein zur schule, oder wird es vorwiegend begleitet?"

wurde geantwortet:

"Unser kind wird immer begleitet, da es sich nicht orientieren kann."

Die frage wurde verneint, und folgende zusatzfrage kann gestellt werden:

- wenn nein, bestehen ängste, oder ist das kind nicht dazu in der lage (allein zu gehen) trotz angebotener projekte?

Die mutter antwortete, daß sie zu große angst habe, das kind allein gehen zu lassen, da es sich nicht auskennen würde.

In diesem moment kann die liste der "schlüsselfragen" behilflich sein, um nach fragen zu suchen, die die situation noch präziser fassen könnten.

Z.b.: "Wird das kind immer begleitet, oder gibt es momente, in denen es allein losgeht, wie etwa zum bäcker um die ecke?"

Oder:

"Ist das kind in der lage, um hilfe zu bitten, falls es sich verläuft?"

Auf diese weise sammeln wir informationen, die uns ein umfassendes bild über die fähigkeiten und kompetenzen des kindes in seiner jeweiligen lebenssituation vermitteln.

Die pädagogin/der pädagoge hat die aufgabe, so lange zu fragen (mit hilfe der "schlüsselfragen"), bis sie/er sich ein klares bild darüber machen kann, ob eine situation vom kind "aktiv" gelebt werden kann oder "passiv" geduldet werden muß.

Vorausgesetzt, die oben angeführten zusatzfragen würden verneint, so sähe das folgendermaßen auf unserer tabelle aus:

tabelle

Unabhängig von der notierung der antworten in den jeweiligen spalten der tabelle, ist es wichtig, den wortlaut der antworten aufzuschreiben. Diese kommentare ermöglichen eine inhaltliche erläuterung der tabelle (z.b. um zu klären, welche art von projekten mit den kindern durchgeführt wurden; ob es sich um direktiv geleitete, passive oder aktive vorhaben handelte). Auch für eine nachträgliche betrachtung der gespräche mit den eltern und lehrerInnen sind die notizen wichtig.

Die tabelle hat die funktion einer zusammenfassenden übersicht der ergebnisse.

Im bereich des "lernens" wissen wir noch nicht, ob das kind überhaupt die möglichkeit hatte zu lernen oder ob es eventuell z.b. durch die überängstlichkeit der eltern davon abgehalten worden war.

In bezug auf die "wünsche" ist noch unklar, ob das kind den wunsch geäußert hat, "allein zu gehen", oder ob es gar nicht nach seinem bedürfnis, allein gehen zu wollen, gefragt worden war.

In der spalte "heterochronie" wird festgehalten, inwieweit die gezeigten verhaltensweisen des kindes (im bereich der autonomie, des Sozialverhaltens, des lernens und des wünschens) - hier am beispiel des kindes, das "nicht alleine geht" - dem chronologischen alter des kindes angemessen sind oder nicht. Durch zusatzfragen soll der pädagoge herausfinden, ob die präsenten handlungen des kindes ergebnisse aktiv oder passiv erlebter projekte sind bzw. wie zukünftige pädagogische vorhaben, anknüpfend an die situation des kindes, geplant werden könnten.

Nach unserem gespräch mit den eltern und lehrerInnen erhalten wir nicht nur einen überblick über die fähigkeiten und kompetenzen des kindes, sondern erfahren ebenfalls, ob die am erziehungsprozeß beteiligten personen (geschwister, verwandte, freunde ...) in der lage sind, situationen "aktiv" für das kind erlebbar zu machen oder nicht. Wir erhalten somit informationen auch über deren kompetenzen.

Unser ziel ist es vor allem, den eitern und lehrerInnen zu verdeutlichen, daß eine im bereich der autonomie vorkommende fähigkeit auch auf den lern- und sozialisierungsbereich übertragen, d.h. ein "transfer" geleistet werden kann.

Beispiel: Ein kind soll mit der straßenbahn allein zur schule fahren; es kann sich die nummer der straßenbahn nicht merken; wir legen ein heft an für den Schulweg, in das wir die fotografie der straßenbahn kleben, die es nehmen muß. Das kind sieht die form der 9, und es ist unwichtig, daß es über keinen mengenbegriff dieser zahl verfügt; später können die fotos durch schriftliche untertitel ergänzt werden, womit wir bereits im bereich des lesens und schreibens wären: Das kind begreift, daß das erlernen des lesens und schreibens sehr nützlich sein kann, weil es ihm z.b. dabei hilft, sich zu erinnern. Das kind lernt in der straßenbahn, sich unter fremden personen zurechtzufinden, und überwindet seine ängste.

Es wird deutlich, daß diese übung zur förderung der autonomie des kindes sowohl das sozialverhalten als auch die lernbereitschaft des kindes positiv beeinflußt.

Der fragekatalog verhilft uns zu einer genauen und umfassenden Betrachtung und analyse des entwicklungsstandes und der gegenwärtigen lebenssituation des kindes. Er gibt einerseits die möglichkeit, die erfahrungen von eitern und lehrerInnen aufzugreifen, um sie zum ausgangspunkt jeder pädagogischen planung zu machen, und lenkt andererseits die aufmerksamkeit auf entwicklungsfördernde momente.

Bei einer kontinuierlichen zusammenarbeit mit eitern und lehrerInnen ist beabsichtigt, die fragen nach einem zeitlichen abstand nochmals durchzugehen, um veränderungen, tendenzen und konstante festzustellen und projekte zu überdenken. Es gilt herauszufinden, ob und in welchen Situationen das kind schwerpunktmäßig "aktiv" sein kann bzw. "passiv" bleiben muß.

Das in meinem bericht vorgestellte forschungsvorhaben im "Day Hospital" von S. Marinella konnte leider aufgrund fehlender finanzieller mittel nicht fortgeführt werden.

In zusammenarbeit mit Dr. N. Cuomo von der Universität Bologna und Prof. W. Dreher von der Universität Köln versuchen wir diese arbeit in einem neuen kontext fortzuführen.

Unser projekt ist in einem durch integration geprägten kontext entstanden und kann nicht losgelöst von diesem umfeld betrachtet werden. Das von uns bereitgestellte "werkzeug" hilft, pädagogische rahmenbedingungen im hinblick auf eine zukünftige Integration zu verstehen, zu analysieren und zu verändern: "Die Analysekriterien des 'aktiven' und des 'passiven' geben Anregungen für den schulisch-didaktischen Bereich nicht nur in bezug auf die behinderten, sondern auch auf die nicht behinderten Schüler. Sie schaffen nicht spezielle, abgesonderte Situationen, sondern eröffnen neue pädagogische Möglichkeiten für alle." (Dr. N. Cuomo, Bologna 1987)

Integration findet überall dort ihren platz, wo erziehung und pädagogik sich ereignen.

4.2 Elternorganisation Eltern und integration -Eindrücke aus Genua und Florenz

Monika Schumann

Der folgende bericht aus' Genua steht nicht im unmittelbaren zusammenhang mit der exkursion der Berliner gruppe nach Florenz.

Vorher schon hatte ich mit einigen mitgliedern der projektgruppe "integration" an der "Reutlinger Evangelischen Fachhochschule für Sozialwesen" verschiedene städte Italiens besucht. Das programm dieses studienaufenthaltes haben prof. dr. Schumann und ich unter einbeziehung der jeweils unterschiedlichen fragestellungen gemeinsam entwickelt. Meine eindrücke zum stand der elternorganisation in Genua haben wiederum mein besonderes interesse an der vergleichbaren situation in Florenz geprägt. Ich möchte nun die elternarbeit in beiden städten gegenüberstellen und auf diesem hintergrund meine einschätzung dazu mitteilen.

Das "CEPIM" und die entstehung der "Unidown" in Genua [17]

Genua zählt zu den städten, in denen bereits zu beginn der 70er jahre auf allen ebenen für die reform des gesundheits- und sozialwesens und für die gesellschaftliche eingliederung von kindern mit behinderung gekämpft worden ist. Genua ist die hauptstadt der region Ligurien und eine der bedeutendsten italienischen hafenstädte. Dort leben ca. 1.045.000 einwohner, etwa die hälfte der gesamten region. Für ihre gesundheits- und sozialversorgung sind neun "Lokale Gesundheitsein¬heiten" (USL)[18]uständig, die je nach einzelgröße ihres "territoriums" je zwei bis fünf stadtteile betreuen.

Laut erfahrungen des "Dienstes für Mutter und Kind" in der "Lokalen Gesundheitseinheit" (USL 9) leben unter ca. 80.000 einwohnern in Genua etwa 100 kinder mit behinderung. Darunter sind alle andauernden behinderungsformen wie körper-, sinnes- oder geistige behinderungen enthalten, jedoch keine vorübergehenden störungen oder lernbehinderungen. Pro jahr werden in Genua etwa neun kinder mit Down-Syndrom geboren. Bis etwa 1970 waren kinder und jugendliche mit geistiger behinderung aus dem öffentlichen leben ausgeschlossen.

Sie lebten entweder ohne jegliche förderung zu hause, oder ihnen verblieb die perspektive der sondereinrichtungen, fernab von ihren familien. Diese "istituti", meist in kirchlicher oder privater trägerschaft, wiesen in ihrem inneren alle merkmale von "totalen institutionen" auf. Sie waren allenfalls (schlechte) bewahranstalten.

Falls jugendliche und-erwachsene mit geistiger behinderung überhaupt .arbeiten durften, dann nur in den. "beschützenden werkstätten"[19] der elternassoziation "ANFFAS".[20]. Diese kümmerte sich speziell um menschen mit geistiger behinderung, jedoch erst um solche ab 14 jahren. Für entsprechend jüngere kinder gab es laut "CEPIM"-information noch keine die elternwünsche befriedigende medizinisch-psycho-sozial an-gemessene versorgungsstrukturen. Die gründung des "Zentrums für mongoloide Kinder" ("CEPIM") fiel in einen zeitabschnitt des reformprozesses, in dem das bisherige versorgungssystem im gesundheitsbereich zugunsten der späteren "sozio-sanitären" Dienste der USL "Lokalen Gesundheitseinheiten" (USL) völlig umstrukturiert wurde.

Was ist das "CEPIM" und wie arbeitet es "vor ort"?

In Genua existiert ein riesiger krankenhauskomplex mit verschiedenen spezialabteilungen, die "paniere. Sie wurde zu anfang dieses jahrhunderts durch eine fürstliche stiftung gegründet. Noch heute ist sie eine privateinrichtung, die aber von der "Lokalen Gesundheitseinheit" (USL) beaufsichtigt und teilfinanziert wird. Die "Galliera" verfügt über eine international geschätzte "humangenetische abteilung", die seit 1975 allgemein als die wissenschaftlich am weitesten fortgeschrittene im bereich der pränatalen diagnostik gilt. Sie arbeitet im bereich der zellengenetik und zellenforschung, bietet genetische beratung für eltern an und führt diagnose und "prävention"[21] bei risikoschwangerschaften oder verdacht auf solche durch. 30 % aller dort vorstelligen frauen stammen aus Ligurien. Alle anderen kommen aus allen regionen Italiens, besonders häufig aus Süditalien.

Das "CEPIM"[22] wurde auf recht ungewöhnliche weise gegründet:

1973 ergab sich eine ungewöhnliche situation, als sich in der neugeborenenabteilung des kinderkrankenhauses plötzlich gleich-zeitig 5 säuglinge mit Down-Syndrom befanden, die bald darauf entlassen wurden. Die verzeifelten eltern wendeten sich nun an die pädiatrische beratung der abteilung und an die berater/innen der humangenetischen abteilung. Die in dieser situation entstan¬denen gespräche führten schließlich zur gründungsidee des "CEPIM". Kurze zeit später stellte die verwaltung der "Galliera" den aktiven eitern räumlichkeiten zu ihrer kostenlosen nutzung zur verfügung - heute sind es sogar 2 etagen! Das "CEPIM" versteht sich als zentrum zur unterstützung von familien mit kindern, die von einer geistigen behinderung betroffen sind. Es will von der pränatalen diagnostik, über die pädiatrische und rehabilitative beratung bis zur unterstützung der eingliederung der kinder in regelkindergärten, -schulen und in die arbeitsweit konzentriert alle hilfen anbieten, die die familien benötigen. Konkret funktioniert die arbeit so: Wendet sich ein paar mit risikoschwangerschaft an die humangenetische abteilung und entschließt es sich, das kind trotz behinderung zu kriegen, dann verweisen es die beraterinnen an das "CEPIM", wo es kontakt zu anderen betroffenen eltern erhält. Das "CEPIM" wird ausschließlich von eitern geleitet und verwaltet. Der vom zentrum angestellte und durch die USL finanzierte mitarbeiterstab hat beratungs-, aber keine entscheidungsrechte innerhalb des leitungsgremiums, dessen vertreter gewählt werden.

Inzwischen verfügt das "C'HPIM" über 16 therapeuten/innen:

- 4 logopädinnen

- 4 bewegungstherapeuten/innen

- 3 psychologen/innen

- 4 sonderpädagogen/innen

- 1 kinderpsychiater

Zur zeit betreut es 230 kinder aus Genua, 80 aus der region Ligurien und 1.200 aus anderen regionen Italiens.

Die eltern dieser kinder sind mitglieder der elternvereinigung und überwachen die arbeit der angestellten therapeuten/innen. Da das zentrum bald schon an seinen leistungsgrenzen angekommen war, wurde die gründung ähnlicher zentren in anderen regionen Italiens unterstützt. Daraus entstand schließlich die national organisierte elternvereinigung "Unidown", die sich für die gesellschaftliche integration ihrer kinder mit geistiger behinderung einsetzt.

Erfahrungsbericht und subjektive einschätzung

Sowohl die mitarbeiter/innen der humangenetischen abteilung der "Galliera" als auch die elternvorsitzende und 2 theratpeuten/innen des "CEPIM" widmcten uns während unseres besuchs der einrichtung genügend zeit für alle fragen. Wir konnten die räume beider großen etagen besichtigen. Die ausstattung war auffallend gut, besser als die oft ärmlich ausgestatteten dienste der USL.

In den räumen arbeiteten die therapeuten(innen mit höchstens 2 kindern zusammen. Die jüngsten kinder, die wir sahen, waren 4 jahre alt. In der regel besteht die "arbeit am kind" aus wahrnehmungstraining, feinmotorischer förderung, bewegungstherapie/raumorientierung und sprachtherapie. Die schulkinder werden auch in der erlernung der grundlegenden kulturtechniken unterstützt. Diese kinder mit geistiger behinderung besuchen alle den regelkindergarten bzw. die regelschule. Dem gesetz 517 entsprechend haben sie alle eine stützlehrerin. Meist zweimal pro woche werden sie aus dem regelkindergarten geholt, bzw. nach der schule ins "CEPIM" gebracht, um dort ihre einzel- bzw. "sonder"-therapie zu erhalten. Dieses therapieverständnis erscheint durchaus problematisch. Wird hier nicht wieder eine neue form der aussonderung praktiziert? Abgesehen davon bleibt offen, inwieweit die kinder aus dieser isolierten therapiesituation heraus transferleistungen zu ihrer gewohnten lebenswelt herstellen können.

Auf die frage, warum die therapeut/innen nicht in der regulären um-weit des kindes (kindergarten, schule, familie) mit ihm arbeiten, wurde geantwortet, daß dies problematisch sei. Allerdings würde die psychologin etwa einmal pro monat in einem kolloquium die stützlehrer/innen in kindergarten und schulen beraten. Sie hat das "monopol", außenkontakte für alle kinder des "CEPIM" herzu-stellen und aufrechtzuerhalten. Sie vertritt auch die therapeut/ innen, nach außen, sodaß zwischen den regeleinrichtungen des kindes und der therapie im "CEPIM" keine direkten berührungspunkte bestehen. Zu den außenkontakten gehört auch die aufgabe, lokale freizeitangebote wie sportgruppen, pfadfinder uws. für die kinder und jugendlichen mit geistiger behinderung zu erschließen. Die erfahrungen da-mit seien bisher gut angelaufen, aber noch weiter auszubauen. Schließlich wurden uns noch die einjährigen vorbereitungskurse für die männlichen und weiblichen jugendlichen auf die arbeitwelt vor-gestellt. Dort wurde im mehrwöchigen turnus in verschiedene vorwiegend kreative tätigkeitsbereiche eingeführt:

- umgang mit farben, keramik,

- herstellung von perlenketten aus ton und holz usw.

Soweit wie möglich sollen diese jugendlichen in die lage versetzt werden, anschließend an der "formazione professionale normale"[23] teilzunehmen, was aber große schwierigkeiten bereitet.

Nach kontakten zur elternorganisation "ANFFAS" befragt, betonten die "CEPIM" Mitglieder, daß es zwar gemeinsame berührungspunkte zwischen beiden gebe : Die interessensvertretung der menschen mit geistiger behinderung. Jedoch verfolge die "Unidown" im gegensatz zur "ANFFAS" viel offensiver das ziel der gesellschaftlichen integration. Dies läßt sich 1. aus der jeweils unterschiedlichen historischen phase der entstehung beider organisationen erklären. 2. Er-gibt es sich aus der unterschiedlichen altersstruktur der mitglieder: Während die "Unidown" aus jungen, die integration fordernden eltern von kleinen kindern mit geistiger behinderung besteht, vertreten die schon älteren mitglieder der "ANFFAS" ihre geistig behinderten erwachsenen töchter und söhne, die bereits eine "lebenslängliche aussonderungskarriere" mit den entsprechenden folgen durchleben mußten. Auf diesem hintergrund sei es besser zu verstehen, daß das klima in der "ANFFAS" kein "politisch-kämpferisches", sondern eher ein "lamentierend-resignatives" sei. Inwieweit diese einschätzung berechtigt ist, soll den leser/innen anhand des folgenden berichts selbst überlassen bleiben.

4.2.2 Das "Centro Occupazionale"der"A.N.F.F.A.S."[24] in Florenz

Die "ANFFAS",wurde 1964 in Rom gegründet, zu einer zeit, als es für (erwachsene) menschen mit geistiger behinderung außer psychiatrien und geschlossenen heimen keinerlei Strukturen gab. Diese mangelsituation trieb die schon damals oft älteren und überforderten eitern dazu, mit hilfe "ihrer" organisation zur selbsthilfe zu schreiten. Dem römischen beispiel folgten viele andere städte in ganz Italien. So entstanden die "ANFFAS" auf nationaler ebene. In struktur und in-halt ist sie etwa der deutschen "Lebenshilfe" vergleichbar. Die "ANFFAS" ist trägerin vieler schwerstbehindertenzentren für geistig und psychisch behinderte erwachsene, unterhält etliche tageszentren und "beschützende werkstätten", einrichtungen, die in ein "versorgungsvacuum" zielten.

Das "Centro Occupazionale" [25], das wir besichtigten, wurde 1967 von einem mediziner gemeinsam mit betroffenen eltern gegründet. Heute umfaßt die unterorganisation Florenz 104 mitglieder. Das leitungsgremium der "ANFFAS", bestehend aus der vorsitzenden und vier weiteren elternvertretern, wird im turnus von drei jähren gewählt. Es leitet und verwaltet in eigenregie das zentrum. Es trifft sich 14-tägig. Die übrigen "soci" [26] versammeln sich zweimal pro jahr. Wir wurden sehr offenherzig empfangen. Mehrere "ANFFAS"-mitglieder standen uns den ganzen tag zu gesprächen und hospitationsbegleitung zur verfügung. Nach der einladung zu einem gepflegten und reichhaltigen italienischen essen wurde extra für uns eine aussprache mit mehreren betroffenen müttern organisert. Wir wurden sogar ermutigt, nochmals zu hospitieren oder andere interessierte anzumelden.

Das "Centro" ist täglich, außer sonntags, von 8.00 bis 19.00 uhr geöffnet. Es liegt abseits auf den hügeln am stadtrand. Die dort "verasorgten erwachsenen mit geistiger behinderung werden morgens und abends mit dem "ANFFAS"-bus hin und her befördert. Im gespräch mit den müttern wurde deutlich, daß diese das zentrum gerne als wohnheim für ihre familienmitglieder geplant hätten. Dies scheiterte aus finanziellen gründen: Der regionalplan sieht dies nicht vor.

Vor der "gesundheitsreform" wurde es von der Provinz finanziert. Jetzt steht es unter fachaufsicht der USL des einzugsgebietes, die ihm dem regionalplan entsprechend die zuständigen mittel erteilt: Das gesetz 833 zur nationalen "gesundheitsreform" beinhaltet eine "convenzione"[27] wonach privateinrichtungen, die dienstleistungen im "medizinisch-psycho-sozialen" bereich anbieten, für diese die gleiche finanzierung er-halten, wie die "Lokalen Gesundheitseinheiten" (USL)auch:

Wenn also im beschäftigungszentrum der "ANFFAS" erwachsene mit geistiger behinderung "ver"sorgt werden, so erhält das zentrum entsprechend der anzahl der dort betreuten menschen durch die USL die zuweisung von mitteln . Die höhe der finanzierung richtet sich nach der festlegung im gültigen regionalplan. Seit längerer zeit sind im zentrum der "ANFFAS" konstant 90 erwachsene, die meist um die 35 jahre alt sind. Vorher haben sie in der regel ungefördert und ohne, je eine schule besucht zu haben, zu hause gelebt. Einige wenige waren auch zeitweise in der psychiatrie untergebracht. Jetzt schlafen die meisten von ihnen in ihren familien. Für diejenigen, die aktuellen familiären krisensituationen ausgesetzt sind, steht ein kontingent von 9 wohngruppenplätzen im zentrum der stadt zur verfügung. Niemand von ihnen kann selbständig leben. Das zentrum versteht sich für die dort betreuten menschen als dauer"lösung". Versuche, einige von ihnen in die arbeitswelt zu integrieren, werden in den letzten jahren nicht mehr unternommen. Die gründe dafür konnten wir nicht genauer erfahren. Andererseits hat das zentrum schon lange seine kapazitätsgrenzen erreicht, weshalb keine neuaufnahmen mehr möglich sind.

Wie gestaltet sich nun das alltagsleben "vor ort"? Die erwachsenen, die von den mitarbeiter/innen immer als ragazzi (jungen) bezeichnet wurden, sind mit ausnahme derer, die in den werkstätten arbeiten, in 6 dauerhafte gruppen von 9-11 betreuten und je 3 mitarbeitern (verschiedener beruflicher herkunft) aufgeteilt.

Im gegensatz zur gründungsphase sind die gruppen heute

1. nach geschlecht

2. nach grad der behinderung

homogen. Pädagogische begründungen dafür wurden uns nicht genannt. So sahen wir eine feste gruppe schwer behinderter männer, die nicht (produktiv) tätig sind. Ihre beschäftigung besteht im fernsehgucken, liegen im liegestuhl, manchmal spazierengehen, warten .....

Als nächste gruppe besuchten wir männer in der flechterei.

Die weniger behinderten männer stellen in der schreinerei kleinmöbel und werkstücke aus holz her. Weniger stark behinderte frauen arbeiten in der stickerei.

Früher existierte auch noch eine gruppe zur schmuckherstellung, die aber aufgegeben worden ist. In einem haus etwas abseits wurden uns eine weitere männergruppe und eine frauengruppe - geschlossene abteilung - vorgestellt. Der teilnehmerkreis der beiden "beschützenden werkstätten", der weberei und der keramikwerkstatt, ist gemischt. Hier wer-den einzeln oder in kleingruppen richtige kunstgewerbliche produkte angefertigt. In jeder werkstatt arbeiten zwei ausgebildete lehrer/meister. Es herrschte eine entspannte arbeitsatmosphäre vor. Besonders fasziniert hat mich Paolo, ein vielleicht 40-jähriger mit leichter behinderung, der sich als ausgesprochener kenner der klassischen musik erwies. Er war gesprächig und teilte mir die lebensgeschichten Beethovens, Mozarts und Karajans bis ins detail mit. Mit großer sorgfalt webte er an einem teppich, dessen motiv er sich selbst ausgedacht hatte: Unten notenlinien mit notenschlüssel und noten, darüber die skizze des kopfes von Beethoven. Seinem wunsch gemäß hatte ihm die meisterin die skizze auf dem stramin vorgezeichnet. Die keramikteller, vasen und gefäße waren teilweise auch mit kunstvollen zeichnungen versehen, die die dort tätigen in handarbeit auftrugen. In beiden werkstätten lagerten die fertigen produkte in den regalen und glasvitrinen. Die frage, ob sie sie schließlich verkaufen würden, verneinten sie. Die mitarbeiter informierten uns darüber, daß einmal jährlich von der stadt Florenz ein riesiger basar organisiert werde, auf dem viele unterschiedliche hersteller - so auch das "Centro Occupazionale" - ihre produkte anbieten würden. Allerdings werde wenig davon verkauft. Der knappe erlös wurde bisher für den kauf von süßigkeiten und genußmitteln für die "stationen" verwendet, jetzt für die finanzierung von ausflügen und sonderveranstaltungen aller gruppen, neuerdings auch der nichtproduzierenden abteilungen.

Schließlich wurde uns noch die schule im institut vorgeführt. Die vier stunden vormittagsunterricht werden von staatlich bezahlten lehrkräften durchgeführt. Behinderte, die schreiben können, sollen hier in wechselnden gruppen die gelegenheiten zur übung bekommen. Die anderen erhalten unterstützendes wahrnehmungstraining und malen. Ferner wird musik und sport unterrichtet. Die lehrer der "dopo scuola" am nachmittag werden kommunal bezahlt. Sie malen und musizieren mit den schulbesuchern und bieten ihnen freizeitaktivitäten an. Nach aussage der lehrer/innen hat die schule lediglich die funktion, die behinderten auf ihrem aktuellen status-quo zu halten, bzw. abbauprozesse zu verhindern. Es gilt nicht als ziel der schule, neue lernprozesse anzubahnen, die autonomieentwicklung zu fördern oder arbeitsplatzbezogene kenntnisse und fertigkeiten zu vermitteln. Da das "Centro Occupazionale" grundsätzlich alle kriterien einer traditicnellarbeitenden sondereinrichtung erfüllt, wundert es uns nicht, daß es kaum außenkontakte unterhält. Insgesamt war für uns von keiner seite her anstoß an dieser isolation zu erkennen. Bei den fünf müttern herrschte im gegenteil ein gefühl der entlastung vor, ihre töchter und söhne dauerhaft und ihren vorstellungen gemäß gut untergebracht zu wissen. In der "ANFFAS" sehen sie eine solidargemeinschaft, eine chance, sich gegenseitig zu (unter-) stützen: 'Wir haben uns das ganze leben lang geopfert. Wir leiden und haben immer gelitten. Von den anderen werden wir vergessen." Dies sind ihre lebenserfährungen, die sie uns sehr offen mitteilten. Vorsichtig versuchten wir nun das thema "integration" einzubringen: "Wenn Sie damals schon die möglichkeit gehabt hätten, ihre kinder mit geistiger behinderung in regelkindergärten und regelschulen zu geben, hätten Sie dann von dieser möglichkeit gebrauch gemacht?" Die mütter verneinten dies. Sie konnten und können sich einen erfolgreich verlaufenden integrationsprozeß auch heute noch nicht vorstellen. Sie äußerten die befürchtung, daß die behinderten kinder die anderen nur behindern und bremsen würden. Ihre kinder würden damit nur aggressiv. Es gäbe zwar jetzt das "integrationsgesetz" in Italien aber wie soll das alles funktionieren? Der standpunkt dieser betroffenen mütter, der sich explizit für die beibehaltung von sondereinrichtungen und institutionen ausspricht, spiegelt ihre sehr leidvollen lebenserfahrungen wider. Von daher ist er nachvollziehbar. Sie möchten endlich ein stück lebenslänglicher verantwortung für ihre töchter und söhne abgeben können. Sie sind müde und ausgelaugt.

Daß - und wie - die zu recht geforderte delegation von verantwortung an die gesellschaft auch anders organisiert werden kann, daß sie "normale" lebensbedingungen auch für erwachsene mit geistiger behinderung hervorbringen kann, dieses soll im kapitel 4.7 dargestellt werden. Es gibt bereits erfolgreiche alternativen zum "schonraum" sondereinrichtungen!! Daß auch menschen mit geistiger behinderung gesellschaftlich nützliche arbeit verrichten können, ist keine utopie mehr! Sie arbeiten ja euch im "Centro Occupazionale" - nur wird ihre dort geleistete arbeit nicht anerkannt! Die produkte erreichen nicht den markt. Eine ähnliche ansicht vertrat auch herr dr. Roser aus Florenz, den wir nach seiner einschätzung zum "Beschäftigungszentrum" der "ANFFAS" befragt haben. Im gegensatz zu anderen elternorgansiationen vertrete der verein "ANFFAS" einen konservativ geprägten elternwillen. In der "ANFFAS" seien nur etwa 30 % der eitern für integration offen. Diese minderheit könne sich vereinsintern noch nicht genügend durch-setzen. Aufgrund dieser interessenlage des trägervereins habe die sondereinrichtung bisher noch nicht aufgelöst werden können, obwohl in der bildung von kooperativen, wie z. b. der druckerei -kooperative, schon eine durchaus angemessene alternative zum angebot des "Beschäftigungszentrums"•bestehe.

Nach der darstellung der zentren "CEPIM" und des "Centro Occupazionale" der "ANFFAS" sollen beide noch einmal grundlegend im rahmen der italienischen entwicklung eingeschätzt werden.

4.2.3 Überlegungen zum stellenwert der elternorganisation im italienischen reformprozeß

Wie gerade das beispiel der entstehung der "ANFFAS"(1964)verdeutlicht, war der zusammenschluß der eltern in "ihrer" interessenvereinigung ein notwendiger schritt zum ziel, einen allgemeinen gesellschaftlich bestehenden und zu verantwortenden versorgungsnotstand endlich aufzuheben. Außer den betroffenen eltern selbst haben sich zu dieser zeit keine an-deren politischen kräfte dafür eingesetzt. Insofern sind die von den eitern erkämpften sondereinrichtungen, die endlich staatlich finanziert wurden, aber vom elternverband selbst getragen und organisiert wurden,

im vergleich zur vorher bestehenden situation ein eindeutiger fortschritt.[28]

Daß es sich zu dieser zeit nur um den aufbau von sondereinrichtungen handeln konnte, begründet sich

  1. aus dem bis dahin grundsätzlichen ausschluß von menschen mit behinderung aus dem öffentlichen leben,

  2. aus dem zeitgenössischen wissenschaftlichen und alltäglichen verständnis, wie menschen mit behinderung seien und wie sie dem -zufolge "richtig" zu versorgen seien (schonraum im abseits),

  3. aus der an den einzelnen behinderungsformen orientierten politischen interessendurchsetzung, um eine "praktische lösung" für die jeweils gleichartig betroffenen zu erreichen.[29]

Zu beginn der 70er jahre zeichnete sich schließlich allgemein ein politisch bedingter wandel in der einschätzung der pädagogischen und psycho-sozialen versorgung ab:

Anstelle medizinischer kategorien gewannen sozialwissenschaftliche orientierungen an gewicht. Die zersplitterung und das chaos im versorgungsbereich wurde kritisiert. Die umstrukturierung und vereinheitlichung der gesundheits- und sozialdienste wurde gefordert und in der "gesundheitsreform" 1978 schließlich auch auf nationaler ebene verwirklicht. Man kämpfte nun auch gegen die privatisierung eigentlich staatlicher zuständigkeiten. Die psycho-soziale versorgung der bevölkerung sollte nicht länger von den vielfältigen wohltätigkeits- und wohlfahrtsverbänden getragen, sondern staatlich organisiert werden. Die kritik an ausgrenzungsprozessen in psychiatrien und sondereinrichtungen standen im zentrum des engagierten kampfes der kritischen fachleute und deren bündnis mit eitern und aufgeschlossenen politikern. Auf pädagogischer ebene wurde die verbesserung der schulischen, vor-schulischen und außerschulischen situation für alle kinder (mit oder ohne behinderung) gefordert. Die kinder mit behinderung sollten nicht länger wegen ihrer behinderung ausgegrenzt werden, sondern in ihren herkunftsfamilien bleiben können, was eine angemessene materielle und pädagogisch psycho-soziale unterstützung der familien erforderlich machte.

Genau in diese zeit fiel 1973 die gründung des "CEPIM" in Genua, das nicht mehr wie

"ANFFAS" jahre vorher für den aufbau von sondereinrichtungen kämpfte, sondern stattdessen vorkämpferin für die durch-

Setzung der integrativen erziehung und für die familienorientierte unterstützung wurde. Mit der selbstorganisierten arbeit der elternorganisation sollte das neue ziel, die kinder mit behinderung in ihrer "normalen" umwelt (familie, regelerziehung) zu behalten, durchgesetzt werden. Die eltern der späteren Organisation 'Unidown" kämpften also für die gleichen ziele wie die kritischen fachleute, die vorreiter der späteren "Dienste für Mutter und Kind" in den "Lokalen Gesundheitseinheiten" (USL). Beide gruppierungen hatten in der aufkommenden "integrationsbewegung" gleiche forderungen. Inwieweit die gemeinsame zielperspektive der integration schon vor der durchsetzung der nationalen "gesundheitsreform" auf unter_ schiedlichem wege angestrebt wurde, läßt sich heute schwer nachvoll-ziehen. Bis 1977/78 schien sich der kampf für integration durch das "CEPIM" als auch durch die stärker gewordenen "Dienste für Mutter und Kind" in den "Lokalen Gesundheitsdiensten" (USL) politisch zu ergänzen. Mit der durchsetzung des "schulischen integrationsgesetzes" von 1977 zeichnet sich jedoch eine deutlicher hervortretende wende ab: Trotz des anfänglichen gemeinsamen kampfes für integration klaffen die wege, wie dieses ziel erreicht werden soll, immer klarer auseinander. Diese entwicklung führte faktisch zu einer verdoppelung des angebots... und letztlich zu einer konkurrenzsituation zwischen dem "Dienst für Mutter und Kind" (SMI) der "Lokalen Gesundheitseinheit" (USL) und dem "CEPIM". Mitarbeiter der USL brachten dies klar zum ausdruck, indem sie die jetzige situation so zusammenfaßten: "Eltern eines kindes mit Down-Syndrom müssen sich entscheiden, ob sie durch das "CEPIM" oder durch den "Dienst für Mutter und Kind" in der USL betreut werden wollen. Die alternative stellt sich bereits zu dem frühen zeitpunkt, wenn sie im gespräch mit den humangenetiker/innen in der "Galliera" die diagnose "behinderung" erfahren. Daß die "humangenetische abteilung" als auch das "CEPIM" in der gleichen privatinstitution angesiedelt sind, wirkt sich auf die entscheidung der eitern sicherlich beeinflussend aus. Die staatlichen dienste erscheinen den eltern dann stärker im abseits. Die "CEPIM"-mitglieder beschrieben dies so: "Die eltern haben mehr vertrauen zu uns, da wir unmittelbarer ihre interessen vertreten". Diese konkurrenz erscheint absurd! Warum können sich beide einrichtungen nicht ergänzen? Könnten die betroffenen eltern nicht gerade davon besonders profitieren?

Daß die wünschenswerte zusammenarbeit beider istitutionen sich in der praxis als unmöglich erweist, begründet sich allerdings aus dem unterschiedlichen anspruch und vorgehen beider einrichtungen. Die unterschiede sollen in der folgenden gegenüberstellung verdeutlicht werden:

Diese liste ist sicherlich noch nicht vollständig. Grundsätzlich ist die organisation von eltern, die ihre interessen gemeinsam einfordern und politish auf diese weise wirksam durchsetzen können, auf jeden fall zu unterstützen. Jedoch beinhaltet die art und weise , wie das "CEMPIM" seine arbeit konkret durchführt , eine gefährliche tendenz, die sich in den letzten jahren auch schon genauer abzuleichen beginnt: Daß dem grundsätzlichen ziel der integration letztlich entgegengearbeitet wird und das "CEMPIN" so zu einer "zeitgemäßeren" form der sondererziehung zurückkehrt. Diese gefahr ist in der tendenz zur verdoppelung von privaten und staatlichen versorgungsleistungen schon angelegt. Die möglichkeit dazu ergibt aus der "convenzione" das gesetzes zur gesundheitsreform. [30]. So kann sich eine von den reformen ungewollte entwicklung ergeben, die in Genua auch real sichtbar geworden ist: Private träger erhalten für ihre dienstleistungen die gleiche finanzierung wie die dienste der USL. Diese gelder, die also unvermittelt werden , werden den USL letztlich abgezogen. So werden die privaten träger weiter unterstützt , werden die öffentlichen dienste realtiv verarmen. Je "ärmer" sie werden, desto weniger können sie den bedarf an hilfeleistungen der bevölkerung angemessen erfüllen. Je unzureichender die arbeit der öffentlichen dienste wird, desto stärker bevorzugen besser gestellte bevölkerungsschichten private leistungsträger. Diese tendenz widerspricht aber den zielen und ansätzen der integration wie auch denen der "gesundheitsreform". In Genua ist die momentane entwicklung die folge der politischen entscheidung, daß das"CEPIM" während der reform 1978 nicht in die USL integriert worden ist. Dies wäre schon damals schwer durchsetzbar gewesen. Heute beklagen die mitarbeiter/innen der USL die auswirkungen der italienischen wendepolitik, die ihre arbeit deutlich behindert. Wie gezeigt werden konnte, arbeiten die USL nicht schlechter als die privaten träger. Letztere werden aber durch die wendepolitik stärker begünstigt. So sind die folgen daraus auch nur auf politischem Wege zu bekämpfen. Zur gemeinsamen durchsetzung ihrer berechtigten interessen sind starke elternorganisationen unbedingt notwendig. Aus den beschriebenen Genoveser erfahrungen läßt sich meiner einschätzung nach ableiten, daß elternorganisationen, die die gesellschaftliche integration ihrer behinderten kinder fordern, sich schwerpunktmäßig auf das reguläre staatliche bildungs-, gesundheits- und sozialsystem beziehen hissen. So scheint langfristig an ehesten das Prinzip der "normalisierung" und der "demokratisdren kontrolle" gewährleistet werden zu können. Weder in Italien noch bei uns sollte der "wohlfahrtsstaat" aus seiner verantwortung für alle mitglieder der gesellschaft entlassen werden.

Kommentar von Jutta Schöler:

Vereinigungen wie die "Lebenshilfe" in der Bundesrepublik Deutschland oder "ANFFAS" und "CEPIM"in Italien sind immer noch der deutlich sichtbare ausdruck einer situation, daß menschen mit geistiger behinderung gesellschaftlich ausgesondert werden. Die betroffenen eltern schließen sich zusammen, um speziell für'ihre kinder und für sich selbst eine bessere bewältigung der alltagsprobleme zu erreichen. Sie können dadurch in widerspruch geraten zu der allgemeinen emanzipatorischen entwicklung für alle menschen. Oder diese gruppierungen tragen (gewollt oder unbewußt) mit dazu bei, daß nur diejenigen, die in der lage sind, ihre privaten interessen zu vertreten, dies mit staatlicher finanzieller Unterstützung auch erreichen, während die sozial benachteiligten schichten der bevölkerung ihre lebenssituation (und vor allem die ihrer kinder) nicht entscheidend verändern können.

4.3 Integration in Südtirol

Logo: Arbeitskreis-Eltern-Behinderter Südtirol

Gertrud Gansbacher Calenzani

Italien gilt als das Musterland in Sachen Integration Behinderter. In Südtirol entwickelte sich Integration aber auch auf Grund der Verbindungen zum deutschen Sprachraum und auf Grund der bereits bestehenden Sonderschulen etwas anders. Während in den italienischen Kindergärten sowie Grund- und Mittelschulen mit Einführung des Gesetzes 517 von 1977 die Integration sofort einsetzte, geschah diese Entwicklung in der deutschen Schäle erst Jahre später und vor allem auf Grund der massiven Forderungen der Eltern. In Südtirol hatte man gute, jedoch nicht spezifisch nach Behinderungsform ausgebaute Sonderschulen und ALLE Schüler, die Probleme hatten, also echte Behinderungsformen, und solche die Probleme schafften, wie verhaltensgestörte und lernschwache, kamen in diese Klassen. Auffällige Kinder wurden von einem gemeindeeigenen medizinisch-psycho-pädagogischen Dienst getestet und in die bestehenden Sonderschulen eingeschrieben. Eltern hatten kein Mitspracherecht.

Dies als Vorwort zu "meiner Integrationsgeschichte", die ursprünglich den Titel haben sollte "Das Glück, Daniela zu haben".

Daniela ist meine heute 19jährige mehrfachbehinderte Tochter. Sie ist von Geburt an schwerstsehbehindert und durch eine cerebrale Verletzung linksseitig spastisch. Mit ungefähr acht Jahren zeigten sich immer häufiger auftretende Anfallsformen, die bis heute, trotz massiver medikamentöser Versorgung, nicht unter Kontrolle zu bringen sind. Ich habe Daniela in den ersten Jahren absolut nicht als behindert erlebt, obschon ich ab ihrer Geburt viel mit Ärzten und Therapeuten, sei es im Inland wie im Ausland, zu tun hatte. Sie war einfach ein Kind, das mehr Zuwendung, mehr Aufmerksamkeit und mehr Hilfe brauchte. Anders war es damals für meinen Mann. Er erlebte in den ersten Jahre, wie vielleicht mancher Vater, das Unvollkommene seiner Tochter als etwas Negatives und es hat Jahre gedauert bis beide einen gemeinsamen Faden zueinander fanden.

Vielleicht war es für mich gut, daß ich damals noch als Sekretärin halbtägig im Handelssektor tätig war. So mußte ich meine Tage sehr genau zwischen Haushalt-Arbeitsplatz-Kind und Therapie einteilen und hatte so keine Zeit, mich der Selbstbemitleidung hinzugeben. Während meiner Arbeitszeit brachte ich Daniela zu meiner Mutter, eine liebevolle, jedoch überbesorgte Oma. Ihr Erziehungsstil war jedoch nicht geeignet, Daniela "normal" wachsen zu lassen. Ab dem 2. Lebensjahr besuchte Daniela eine italienische Kinderkrippe (deutsche gab es keine), ab dem 3. einen italienischen Regelkindergarten, da man auf deutscher Seite Kinder erst ab 4 Jahren aufnahm.

Nun stellte sich uns als gemischtsprachiger Familie (Danielas Vater ist italienischer Muttersprache, ich bin deutscher Muttersprache) die Frage, ob Daniela die italienische oder die deutsche Schule besuchen sollte. Zudem war mein Mann aus beruflichen Gründen sehr wenig zu Hause und die Hauptlast der Erziehung (und der Entscheidungen) lag auf meiner Seite. So beschlossen wir, um dem Kind den Einstieg in die deutsche Schule zu erleichtern, sie die letzten zwei Jahre in einen deutschen Regelkindergarten zu geben. Sehr große Schwierigkeiten wegen ihrer Behinderung gab es bis dahin nicht. Meine Halbtagsbeschäftigung war zudem für mich keine besondere Belastung.

Dies soll etwa nicht heißen, daß ich nicht viele Tränen geweint, viele schlaflose Nächte verbracht habe. Daniela wuchs und mit ihr wuchsen die Probleme, aber hauptsächlich die Erkenntnis, daß Daniela für die anderen nicht "normal" war.

Und dann begann der steinige Weg der "Schule". Wie schon anfangs erwähnt, hätte Daniela auf Grund ihrer Behinderung in eine Sonderschulklasse eingeschrieben werden müssen; das war für mich unvorstellbar. Daniela hatte eine IQ von 110 und mein Gefühl sagte mir; daß ein solches, nur stark sehbehindertes Kind in einer Sonderschulklasse mit mehrfachbehinderten und schwer geistigbehinderten Kindern nicht optimal gefördert würde. Nur auf Grund des hohen IQ-Wertes, bestätigt durch ärtzliche Gutachten der Universitätskliniken von Mailand und Innsbruck, erreichte ich die Aufnahme in die Regelschule.

Waren auch die Kindergartenjahre nicht ganz reibungslos gewesen, so begann jetzt ein Jahre dauerndes Inferno! Und dies nur, weil ich die Aussonderung in ein Abseits für mein Kind nicht sinnvoll und nötig fand. Daniela sollte doch von gesunden Kindern lernen. Sie brauchte das normale Leben um sich. Ich mußte mit all meinen Kräften kämpfen - mit Direktoren, Lehrpersonen, Eltern, Psychologen. Viele wollten mich überzeugen, daß Daniela dieses "Normale" nie schaffen, daß sie sogar dabei noch mehr Schaden erleiden würde. Heute kann ich beruhigt behaupten, daß die Zweifler nicht recht hatten und daß ich meine jahrelangen Schuldgefühle vergessen kann.

Um kein falsches Bild von unserem Wachsen zu geben, muß gesagt werden, daß die ersten fünf Volksschuljahre für Daniela sicherlich eine Überforderung waren. Sie mußte, um der jeweiligen Klas¬se gerecht zu werden, das Gesamtprogramm schaffen (anderfalls stand ständig die Drohung der Versetzung in die Sonderklasse vor uns). Ich hatte in der Zwischenzeit, durch die Geburt unserer zweiten Tochter Claudia, meine Arbeit aufgegeben und konnte, bzw. mußte mich in verstärktem Maße der schulischen Förderung Danielas widmen.

Ich wurde in diesen Jahren gezwungenerweise zur Stützlehrerin meiner Tochter, denn Stützmaßnahmen gab es in der Regelschule keine. Das hat uns beiden nicht gut getan. Starke Verhaltensstörungen waren das Ergebnis. In der Schule selbst hatte ich wenig Hilfe. Mein Auftreten gab vielen Lehrern und Eltern zu schaffen und Daniela wurde dadurch sicherlich auch benachteiligt. Es gelang uns in diesen Jahren kaum mit Eltern und Mitschülern "warme" Kontakte aufzubauen.

Die Hölle, die mein Kind durchstehen mußte, kann ich heute nur er ahnen. Als sie acht Jahre alt war, kamen dann die epileptischen Anfälle in der Form des "petitmal" und eine neue, große Sorge hin zu. Viele Verletzungen, durch das plötzliche Hinfallen, viele rasende Fahrten zur ersten Hilfe)um Schnitte und Wunden zu vernähen. Auch hier erlebte ich oft heftigste Vorwürfe gegen mein Verlangen nach Normalität. Ich habe Daniela in all den Jahren nie als "arme Kranke" oder als "Hascherl" behandelt oder behandeln lassen. Ich habe aber auch gelernt, mich nie von einem Arzt, Therapeuten, Psychologen u.a. bevormunden zu lassen. Wenn auch der Dialog, die Gespräche für mich zu wissenschaftlich waren, so habe ich durch mein selbstsicheres Handeln als Mutter von Daniela viele Menschen davon überzeugt, daß die Mutter, daß die Eltern die ersten und wichtigsten Verantwortlichen für die Zukunftsplanung des eigenen Kindes sind.

Besonders wurde mir letzteres bewußt, als Daniela nach Abschluß der ersten fünf Grundschuljahre in die dreijährige Mittelschule gehen sollte. Aber noch viel mehr kam es mir später zum Bewußt-sein, als die Entscheidung der Berufsausbildung fiel.

Obschon das Integrationsgesetz Nr. 517/77 an den italienischen Schulen in Südtirol bereits angewandt wurde, war dies an der deutschen Mittelschule nicht so. Man hatte in Rom eine in Italien noch heute einmalige Sonderregelung für Südtirol erreicht - an bestimmten Mittelschulen wurden kooperative Klassen errichtet. Zehn behinderte und zehn sogenannte normale Schüler mit doppelten Lehr stellen für die Leistungsfächer Deutsch, Mathematik und Italienisch wurden teils gemeinsam, teils getrennt unterrichtet. Für mich brach wieder fast eine Welt zusammen; diese Form von Schule, weit entfernt von unserer Wohnzone hätte Daniela mehr geschadet als genützt.

Da fand ich endlich jemand, der mich und mein Anliegen ernst nahm Frau Direktor Ingeborg Bauer-Polo, eine sehr menschliche Mutter, war für die Mittelschule unseres Wohnbezirkes zuständig. Sie sagte damals wörtlich bei meinem Anlaufgespräch: "Ich habe bisher noch kein behindertes Kind an meiner Schule gehabt. Daniela wohnt aber hier und gehört zu uns. Versuchen wir es also."

Diese wunderbare Frau hat viele Kämpfe auf sich genommen; viel Kritik, viel harte Überzeugungsarbeit bei Eltern und Lehrern ge¬leistet. Daniela erhielt erst in den letzten beiden Schuljahren die gesetzlich vorgesehenen Stützmaßnahmen -.die integrierte Klas se, den Stützlehrer und wegen der Anfälle und Sehschwierigkeiten den vom Landesgesetz vorgesehenen Behindertenbetreuer.

Heute, nach fünf/sechs Jahren, besuchen alle behinderten Schüler unseres Einzugsgebietes mit den erforderlichen Stützmaßnahmen die-se Mittelschule. An allen Grund- und Mittelschulen des Landes gibt es beide Modelle der Integration - das kooperative Modell mit durchschnittlich sechs behinderten und zwölf nichtbehinderten Schülern mit doppelten Lehrstellen. Das integrierende Modell - ein bis zwei behinderte Schüler in einer Klasse mit insgesamt höchstens zwanzig Schülern mit den nötigen Stützmaßnahmen.

Daniela erlebte an dieser Schule etwas für sie eher Ungewohntes: viel Verständnis, viel Zuwendung und Wärme. Aber sie mußte lernen, ihr Verhalten den übrigen Mitschülern anzupassen, die Mitschüler mußten lernen mit dieser neuen, ungewohnten Situation umzugehen. Die Anfälle, die Sehschwierigkeiten schafften Probleme für die Schüler, aber manchmal weitaus mehr für die Lehrpersonen. Es hat viele gemeinsame Gespräche zwischen Schule - Fachkräften des Reha-Dienstes und der Familie gebraucht bis Daniela ein ihr angepasstes Programm erhielt. Die Abschlußprüfung, bzw. das Mittelschuldiplom, absolvierte sie gemeinsam mit ihren Mitschülern mit einem reduzierten, jedoch gesetzlich vollwertigen, Programm.

Wenn damals das Wort "Integration" noch Ablehnung, Verständnislosigkeit, oft Angst auslöste, so ist dies heute kaum noch der Fall. Es hat wohl Jahre harter Aufklärungsarbeit in den Schulen, bei den zuständigen Behörden, in der Öffentlichkeit, aber besonders bei den betroffenen Eltern gebraucht. Gerade bei letzteren mußte ein langwieriger Wachstumsprozess einsetzen. Es ist sicherlich einfacher und problemloser sich von anderen "verwalten" zu lassen, andere zu delegieren, als sich selbst als Eltern voll und ganz für die Rechte des eigenen Kindes einzusetzen.

Wie stark haben gerade wir Eltern von Daniela dies immer wieder erlebt, wie schwierig war doch der von uns eingeschlagene Weg! Nach Abschluß der Mittelschule standen wir vor einer dieser harten Entscheidungsphasen - was sollte mit Daniela weitergeschehen? Auf deutscher Seite gab es keine passenden Weiterbildungsmöglichkeiten, außer der Platz in einer Behindertenwerkstätte. Das war für uns jedoch nicht der richtige Ort, um Danielas schwer erworbene Kenntnisse adäquat zu fördern. In ausländische Rehs- oder Berufsbildungszentren (wie uns vielfach geraten wurde) wollten und konnten wir Daniela nicht geben. Hier hatte sie ihre Familie, ihre Umgebung und alle, die sie mit ihren guten oder schlechten Seiten kannten.

Nach wochen- ja monatelangem Suchen entschieden wir uns für einen etwas gewagten Schritt. Wir schrieben Daniela in der italienischen Berufsschule ein. Dort fanden schon seit Jahren (als mögliche Fortsetzung nach Abschluß der Pflichtschule) für behinderte Schüler einjährige Berufsfindungslehrgänge statt.

Diese Kurse sind im normalen Berufsschulzentrum, das von ungefähr 700/800 Schülern aus Bozen und nächster Umgebung besucht wird, untergebracht. Die behinderten Schüler besuchen eigene Klas¬sen mit reduzierter Schülerzahl, max. acht bis zehn, und treffen in den Pausen und beim gemeinsamen Mittagessen mit den anderen Berufsschülern zusammen.

Berufsschullehrer mit zusätzlicher Sonderausbildung versuchen in diesem einjährigen Kurs die verschiedenen Fähigkeiten des behinderten Schülers festzustellen. Es werden die normalen Lernfächer mit mehr lebenspraktischem Aspekt, aber besonders die verschiedenen handwerklichen Fächer (Weberei-Textilien-Buchdruckerei -Tischlerei -Graphik-Schlosserei-Küche und Haushalt) angeboten.

Nach Abschluß dieses Jahres kann der Jugendliche in einen für ihn passenden Sonderlehrgang, mit bestimmter berufsorientiertet Richtung, aufgenommen werden. Letzterer kann bis auf vier Jahre ausgedehnt werden, wobei jedoch in dieser Zeit getrachtet wird, ge zielt passende Arbeitsplätze mit den nötigen Eingliederungsmaß-nahmen (die das Behindertengesetz inzwischen vorsieht) zu erreichen.

Daniela machte in dieser Berufsschule im ersten Jahr einen enormen Fortschritt - sie wurde selbständiger und selbstbewußter. Der Umgang mit den italienischen Lehrern und Mitschülern stärkte ihr Selbstwertgefühl, sie schaffte den Übergang von deutsch auf italienisch überraschenderweise sehr gut und problemlos. Leider waren für sie die beiden darauffolgenden Jahre der Sonderlehrgänge nicht so erfolgreich; zum Teil auch weil diese Kurse nicht flexibel genug sind und zu starre Programme haben. Jedenfalls war Daniela und auch wir Eltern sehr unglücklich nach Abschluß des dritten Jahres.

Wieder haben wir gemeinsam mit ihr einen neuen Versuch gewagt. Daniela besucht seit einem Jahr eine sehr gut geführte Behindertenwerkstatt für Blinde (Landeseinrichtung) und hat dort wieder neue Möglichkeiten für ihre Weiterbildung entdeckt.

Die Leitung der Werkstätte ist unseren Wünschen sehr entgegengekommen und hat Daniela in kein starres Arbeitsprogramm eingeplant, sondern den Besuch mehrerer spezifischer Kurse intern ermöglicht.

Ob Daniela jemals einen "echten" Beruf erlernen wird, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht wieweit ihre Behinderungen, besonders die Anfälle, ihre Möglichkeiten für einen normalen Arbeitsplatz einschränken werden.

Über etwas sind wir jedoch froh: Daniela ist heute ein recht selbständiges, natürliches Mädchen, das mit ihrer Behinderung sehr normal umgeht. Sie hat trotz der vielen Widerwärtigkeiten nie aufgegeben, hat viel mehr erreicht, als ihr Experten (!) je zugetraut hätten.

Für mich als Mutter haben diese jahrelangen Kämpfe viel Kraft, viel Mut, besonders viel Ausdauer und Glauben an die Fähigkeiten unserer behinderten Kinder. gefordert. Wo ich mir dies alles geholt habe? Zum Großteil bei meinem tapferen Kind, aber zum Teil auch durch den Aufbau einer heute sehr starken und sehr selbstbewußten Elternorganisation.

Schon in den ersten Lebensmonaten von Daniela suchte und fand ich Hilfe beim Spastikerverband in Bozen.

Dort lernte ich viele Eltern kennen, unsichere, verängstigte, oft sehr verzweifelte. In einer Stadt wie Bozen war es möglich, uns öfters zu treffen, unsere Sorgen und Gedanken auszutauschen.

Aber immer mehr wurde mir bewußt, daß Mütter aus entlegenen Dörfern und Tälern völlig abseits standen. Viele dieser Frauen schämten sich, sie hatten nicht meinen Mut, mit allen über ihre Sorgen zu reden. und die Rechte ihrer Kinder zu verteidigen. So begann ich in den Tälern und entlegenen Dörfern kleine Elternrunden auf-zubauen. Inzwischen hatte mein Mann Beruf gewechselt, war nun regelmäßiger zu Hause und wenn auch nicht begeistert, versorgte er in meiner Abwesenheit die beiden Kinder.

Claudia, unsere zweite Tochter, wuchs zum Glück sehr problemlos mit und neben ihrer behinderten Schwester auf. Sie hat wohl öfters auf die negativen Aspekte des Behindertseins, der "behinderten Fa milie" mit Agressionen reagiert. Sie war auch eifersüchtig auf die Zeit und die Aufmerksamkeiten, die man Daniela widmen mußte. Aber als Eltern lernt man mit den Jahren auch hier den richtigen Weg zu finden, um dem einen Kind nicht zuviel und dem anderen nicht zuwenig an Liebe oder Strenge zu geben.

Aber zurück zum Aufbau unseres Elternverbandes.

Ich begann mit diesen kleinen Elternrunden, die anfangs hauptsächlich von Müttern, heute sehr stark auch von Vätern besucht werden. Diese Elternrunden hatten und haben für mich eine enorme Wichtigkeit für die Bewältigung des anfänglichen Schocks, ein behindertes Kind zu haben. Durch diese Gesprächsrunden wächst in de: Eltern langsam das Gefühl: wir sind nicht allein, auch andere haben ein ähnliches Schicksal.

Diese Gruppen wuchsen mit der Zeit und sie setzten ihre Kräfte überall dort ein, wo es galt, gemeinsame Wünsche und Ansprüche durchzusetzen. Um diese unsere berechtigten Forderungen bei den Politikern, der Schulbehörde, den verschiedenen Gremien und Ämtern konkret durchzusetzen, haben wir dann vor zehn Jahren den Verband "Arbeitkreis Eltern Behinderter" ins Leben gerufen. Unseren Hilferufen schlossen sich in all den Jahren viele Freunde an. Diese Menschen haben sich gemeinsam mit uns für ein gerechtes Behindertengesetz und für mehr Garantien für unsere behinderten Kinder eingesetzt. Im Juni 1983 verabschiedete die Landesregierung das L.G. Nr. 20/83, welches dem Behinderten zum Großteil sowohl die ärztliche als auch die schulische und für-sorgliche Versorgung sichert, bzw. regelt.

Was aber für mich wohl das erfreulichste Ergebnis dieser jahrelangen harten Arbeit ist: Eltern von Behinderten haben heute in allen Gremien (und es gibt deren unzählig viele, die über das Leben eines behinderten Menschen bestimmen wollen) volles Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht.

Das wichtigste aber ist, daß es uns weiterhin gelingt, dank unserer Kinder, eine immer humanere, sozialere und verständnisvollere Umwelt zu schaffen.

Wir leben sicher noch nicht im Paradies, der Weg dorthin wird weiterhin hart und steinig sein. Jedoch wollen wir Eltern und ich als Erste, daß unseren Kindern ALLE Möglichkeiten geboten werden, sich besser auszubilden, möglichst selbständig zu werden, um so morgen nicht von der Fürsorge abhängige Bürger zu sein, sondern Bürger mit normalen Rechten und normalen Pflichten.

Deshalb wollen wir, daß unseren Kindern. die Berufs- und Oberschulen geöffnet werden, daß die verschiedensten Formen der Arbeitsplatzbeschaffung durch Gründung von Genossenschaften, geschützten Arbeitsplätzen u.v.m. voll ausgeschöpft werden. Auch brauchen wir für unsere Jugendlichen Wohngemeinschaften und behindertengerechte Kleinwohnungen. Ausbau und Verbesserung der bestehenden Strukturen wie Behindertenwerkstätten (derzeit zwölf) und der Behindertenzentren (derzeit acht mit teilweiser Heimunterbringung) für die schwerer behinderten Jugendlichen und Erwachsenen ist bereits Selbstverständlichkeit.

Vielleicht ein kleiner Hinweis zur politischen Situation in der Behindertenarbeit: Eltern aller drei Sprachgruppen (Deutsche, Ladiner, Italiener) ziehen recht einheitlich an einem gemeinsamen Strang, erreichen für den jeweiligen Bedarfsfall die nötige Hilfe, ohne Schwierigkeiten besonderer Art.

Ich bin sicher, daß Eltern, die sich in erster Person für ihr Kind einsetzen, all das erreichen werden, was wir für eine möglichst sichere, möglichst gute und möglichst normale Zukunft benötigen.

Daniela und ich haben sehr harte, sehr Schwierige Zeiten durchgestanden; aber gerade dies läßt mich heute zutiefst überzeugt behaupten, daß dieses behinderte Kind für mich, für unsere Familie, eine große Bereicherung war und ist.

Sie war es, die mich das echte Leben gelehrt hat, die größte Freu-de und den tiefsten Schmerz auskosten ließ, die mich dabei aber immer gezwungen hat, ihre und meine Rechte überzeugt zu verteidigen. Meine Kraft, mein persönliches Wachsen, habe ich beim Durchsetzen der Rechte für Daniela erworben - also ist ein Großteil dieser Arbeit ihr Verdienst.

Gertrud Gänsbacher Calenzani

Bozen - Südtirol

4.4 Eingliederung von menschen mit geistiger behinderung in die arbeitswelt - Erfahrungen aus Genua/Ligurien -

Monika Schumann

Wie bereits im kapitel 4.4.1 beschrieben, erfolgte auch diese erfahrung außerhalb der exkursion nach Florenz. Erstmals hörte ich von der arbeit des "Dienstes zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" in Genua auf einem nationalen kongreß vom 25./26. Februar 1984 in Bologna.

Im rahmen des kongreßthemas "krise der wohlfahrt, behinderung, forderung neuer dienste" berichtete der vorsitzende des "Dienstes zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt", Prof. E. Montobbio, unter dem thema "behinderung, arbeitseingliederung und bewältigung ihres chronischen charakters" über die arbeit seines dienstes. Seitdem war es mein wunschtraum, diese arbeit vor ort kennenzulernen. Und nun kann ich nur jedem/r raten, es mir gleichzutun und dort hinzufahren. Es lohnt sich!! Von der gesamtzahl der jährlichen schulabgänger/innen in Genua sind 4-5 % in irgend einer form behindert. Das heißt, ungefähr 110 jugendliche mit behinderung verlassen dort jährlich das allgemeinbildende schulsystem. Die durchsetzung und anwendung der gesetze 517/1977 (schulische integration) und 180/1978 ("gesundheitsreform") hat dort ziemlich bald dazu geführt, die nachschulische situation behinderter jungendlicher kritisch ins blickfeld zu rücken. Sollte doch der bisher erfolgreich verlaufene integrationsprozeß nicht in der"sackgasse der beschützenden werkstätten" (lavoratori protetti) der A. N. F. F.A. S [31] enden! Immerhin bot sich dies für den betroffenen personenkreis noch als "regelfall" an. Das gesetz 482/1968 schreibt für betriebe mit mehr als 36 beschäftigten die zwangseinstellung behinderter vor

Im gegensatz zu unserem land können sich die betriebe nicht von dieser verpflichtung "freikaufen". Jedoch weist dieses gesetz etliche mängel auf, weshalb im parlament z. zt. (1987) heftige debatten um seine novellierung geführt werden

1..sind die kategorien, welcher personenkreis als behindert gilt, unzureichend. So fallen auch waisenkinder und witwen darunter;

2. bezieht sich die Einstellungsverpflichtung nur auf "träger von psychisch-physischen oder sinnesbehinderungen".[32]

Auf personen mit geistiger behinderung trifft somit die beschäftigungsverpflichtung gerade nicht zu!

Um das problem jugendlicher mit geistiger behinderung in Genua befriedigender als bisher zu lösen, bildete sich im Juni 1977 eine gruppe von 3 personen, die anwendungsbezogene modelle zur beruflichen integration für diesen personenkreis erarbeitete . Die gruppe wurde von der kommunalen - und provinzverwaltung unterstützt. Sie analysierte die bestehende arbeitsplatzstruktur in Genua und provinz, erarbeitete auf dem hintergrund klinischer erfahrungen und neo-psychoanalytischer theorien grundlegende notwendige voraussetzungen zur erfolgreichen integration von jugendlichen mit geistiger behinderung. Die beteiligten versuchten aus diesem herzu-stellenden gleichgewicht politische und methodische schritte für den integrationsprozeß abzuleiten.

Im rahmen der vereinheitlichung der gesundheits- und Sozialdienste wurde der inzwischen aufgebaute "Dienst der Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" [33] eine zentrale einrichtung der 12. "Lokalen Gesundheitseinheit". Heute umfaßt er 8 mitarbeiter/innen:

- 4 sozialarbeiter/innen unterschiedlicher berufsschwerpunkte

- 2 meister mit erfahrungen in der behindertenarbeit

- 1 verwaltungskraft

- 1 neuropsychiater, prof. Motobbio, der gleichzeitig den "Dienst für Alte und Behinderte" der USL 12 leitet.

Dieser dienst entwickelte in den letzten jahren ein umfassendes system zur beruflichen eingliederung für menschen mit geistiger behinderung, das im folgenden schema dargestellt wird:

Die genaue analyse der arbeitsplatzstruktur im "territorium" einerseits und der notwendigen pädagogischen und psycho-sozialen hilfen zur integration andererseits führten schließlich zum ersten modell der eingliederung der behinderten jugendlichen in die arbeitswelt mittels eines arbeitsstipendiums. [34]

Dieses Projekt wird von den lokalen ämtern der kommunen Genuas, der provinz und der region Ligurien getragen und hat die dauerhafte und "normale" tarifvertragliche einstellung junger menschen mit geistiger behinderung zum ziel. Die teilnehmer/innen dieses projekts sollen folgende ziele erreichen:

  • reifung im bereich der persönlichkeitsentwicklung zu einem größeren grad an autonomie, aufgeben des "infantilen status",

  • soziale integration im feld,

  • erwerb von arbeitsplatzbezogenen fertigkeiten,

  • finden einer neuen rolle als arbeiter/in innerhalb des sozialen gefüges der arbeitswelt.

Dabei handelt es sich um menschen mit geistiger behinderung zwischen 17 und 35 jahren. Sie müssen im besitz eines "zertifikats als zivilinvalide" sein, das durch die USL ihres einzugsgebiets ausgestellt wird. Ihre "invalidität" darf 34 % nicht unterschreiten. Die einhaltung dieser kriterien dient dazu, die teilnehmer/innen dem personenkreis des gesetzes 482 gleichzustellen, um für sie ebenfalls gesetzliche grundlagen zur späteren regulären dauerbeschäftigung zu schaffen. Während des einjährigen "arbeitsstipendiums" erhalten die teilnehmer/innen einen praktikumsstatus. Diese rechtsform soll es den beteiligten erleichtern, sich in das arbeitsleben vor ort einzufinden und die erforderlichen fertigkeiten zur ausübung der arbeit als auch die entsprechenden sozialen fähigkeiten als lernende/r auszubilden, ohne gleich dem unmittelbaren druck der "produktionslogik" ausgeliefert zu sein. Auf der anderen seite sollen die nichtbehinderten arbeiter/innen sich ihrerseits an ihre/n behinderte/n kollegen/in gewöhnen können. Vor allem sollen die unternehmer bzw. die betriebsleitung während dieser zeit ihr mißtrauen gegenüber den behinderten kollegen/innen abbauen. Das jahr im praktikumsstatus bietet ihnen die gelegenheit, die wahre leistungsfähigkeit der praktikanten/innen zu beobachten, ohne daß der betrieb in dieser zeit für die kosten aufkommen muß. Während des praktikums erhalten die praktikanten/ innen 13 monats stipendien zu je 250.000 Lire.[35] Abgesehen davon, daß die integration in die "normale arbeitswelt" für die betroffenen einen ganz anderen stellenwert einnimmt, als ihre arbeit im abseits der "beschützenden werkstätten", ist sie für den staat noch dazu billiger: 1 tag in einer solchen werkstatt kostet den Steuerzahler 80.000 bis 120.000 Lire! Diese staatliche unterstützung geht dann aber an die werkstätten, während den praktikanten/innen das geld direkt ausgezahlt wird. Die teilnehmer/innen kommen zur hälfte aus "beschützenden werkstätten" zur anderen hälfte aus den kursen der "ausbildung in der situation", dem 2. modell zur integration, das im anschluß beschrieben wird. Sie haben arbeitsplätze in staatsbeteiligten oder privaten fabriken und firmen inne, in staatlichen oder kommunalen ämtern, in kooperativen, handwerksbetrieben, kreditinstituten und im versicherungswesen. Die anzubietenden arbeitsplätze werden nach 4 parametern ausgewählt:

1. sie müssen ein einfaches technologisches niveau aufweisen,

2. die organisation der arbeitsteilung muß klar erkennbar und abgegrenzt sein,

3..das soziale klima muß angemessen sein,

4..der arbeitsplatz muß ungefährlich sein.

Der integrationsprozeß wird auf 3 ebenen vorangetrieben:

- auf der politischen ebene ( Leitungsgruppe)

- auf der ebene der zusammenarbeit (koordinationsgruppe)

- auf der "operativen"[36] Ebene (arbeitsgruppe)

Die "leitungsgruppe" hat die aufgabe, die politischen voraussetzungen für einen erfolgreichen integrationsprozeß zu schaffen, zu bewahren bzw. auszubauen. Sie soll institutionelle Schwierigkeiten ausräumen, neuen projekten den weg bereiten und neue initiativen im öffentlichen bereich fördern. Diese gruppe tagt zwei- bis dreimal jährlich und ist zusammengesetzt aus folgenden vertretern:

- bürgermeister der stadt Genua

- vertreter aus kommunalen und regionalen ämtern der bereiche "gesundheit und soziales"

- der präsident der 12."Lokalen Gesundheitseinheit"

- gewerkschaftsvertreter/innen

- vertreter der unternehmerverbände

- vertreter des handwerks- handels- und kooperativen bereichs

- vertreter des "Dienstes zur Eingliederung Behinderder in die Arbeitswelt"

- behindertenvertreter der kommunen und provinz

- vertreter des arbeitsamtes.

Die "koordinationsgruppe" besteht aus den 8 mitarbeiter/innen des "Dienstes zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt". Die gruppe tagt einmal wöchentlich. Sie organisiert die einzelintegration am arbeitsplatz, indem sie unter berücksichtigung der je individuellen situation den praktikanten/innen geeignete arbeitsplätze in fabriken, in familienbetrieben oder im dienstleistungsbereich vermittelt. Eine besondere rolle spielen dabei zum einen die soziale integrationsfähigkeit der kollegen/innen am arbeitsplatz, zum anderen persönliche eigenschaften der zu vermittelnden wie ausbildungsstand, alter, interessen, persönlichkeitsstruktur usw. Die einzelintegration wird immer paarweise von eine/m/r sozialarbeiter/in und einem meister vorbereitet und praktisch begleitet. Die koordinationsgruppe arbeitet mit den unternehmern, dem fabrikant, dem gewerkschaftler, den familien der praktikanten/innen und den mitarbeiter/ innen der jeweils zuständigen ambulatorien zusammen. Sie arbeitet auch neue integrationsprojekte aus, sammelt die anfragen nach dem "modell des arbeitsstipendiums" aus allen bezirken, stellt die bereitschaft zur annahme von praktikanten/innen in den betrieben her, erkundet die arbeitswelt nach geeigneten plätzen und bereitet sowohl die nichtbehinderten kollegen/innen als auch die praktikanten/ innen auf den integrationsprozeß vor ort vor. Auf der praxisnächsten ebene unterstützt die "arbeitsgruppe" die berufliche eingliederung der praktikanten/innen. Sie besteht aus einem vertreter der Unternehmensführung, einem/r gewerkschaftsvertreter/in und meister und sozialarbeiter/in des "Dienstes zu Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt". Hier wird der integrationsprozeß im alltag unterstützt, indem die belegschaft auf die praktikanten/innen vorbereitet wird. Außerdem werden dazu die nötigen mittel beschafft und konkrete daten wie arbeitszeit, arbeitsabläufe, organisatorische und inhaltliche kriterien der arbeit festgelegt. Diese gruppe legt das individuelle anlernprogramm für die praktikanten fest und beobachtet deren inhaltliche und persönliche weiterentwicklung. Anhand eines fragebogens, werden die jeweiligen fortschritte im bereich des beruflichen lernens und der sozialen weiterentwicklung dokumentiert. Am ende des einjährigen praktikums wird die festeinstellung zu tarifvertraglichen bedingungen eingeleitet (praxisbeispiele dazu folgen später). Seit 1977 erhielten mit dieser organisation der beruflichen eingliederung mehr als 200 junge menschen mit geistiger behinderung einen dauerhaften "normalen" arbeitsplatz. Sie arbeiten genau so effektiv wie ihre nichtbehinderten kollegen/innen und bedürfen keiner besonderen unterstützung mehr.

Das 2. modell, das der "Dienst zur Förderung der beruflichen Eingliederung entwickelte, ist die "ausbildung in der situation",[37] die bei individuellem bedarf dem "arbeitsstipendium" vorgelagert werden kann. Diese art der beruflichen vorbildung besteht seit 1978 und umfaßt jugendliche mit "intelligenzdefiziten" (deficit dell'intelligenza) und "beziehungsstörungen" (tratti relazinonali immaturi). Diese maßnahme ist vorwiegend für solche jugendlichen mit "psychischer behinderung"[38] bestimmt, die der "normalen beruflichen bildung"[39] nicht folgen können. In der regel wenden sich die kurse der "ausbildung in der situation" an jugendliche mit (geistiger) behinderung mittleren grades, während diejenigen mit leichter behinderung die einrichtungen der "normalen berufsbildung"und schwer behinderte vorwiegend auch heute noch tageskurse in "beschützenden Sondereinrichtungen" besuchen.

Die halbjährigen kurse werden vielfach als "puffer" nach beendigung der regelschulzeit oder für anwärter/innen aus den "beschützenden Werkstätten" angeboten, ehe sie mit oder ohne "arbeitsstipendium" in die arbeitsweit integriert werden. Die teilnehmer/innen haben in dieser zeit einen schülerstatus inne. Ihr alter liegt zwischen 16 und 25 jähren.

Zunächst wurden die kurse von der Provinzverwaltung Genuas organisiert und durch einen fond der EG finanziert. Seit 1981 wurde die leitung dieses modells dem "Dienst zur Arbeitsausbildung Behinderter" [40] der USL 12 übertragen. Aus den jeweiligen wohnbezirken melden die für sie zuständigen sozialdienste dieser stelle die dafür infrage kommenden jugendlichen mit behinderung weiter.

Auf der basis von gesprächen mit den anwärter/innen und ihren familien entwickelt man gemeinsam vorstellungen über die fähigkeiten der vorgestellten person, die dann die auswahl des arbeitsplatzes beeinflussen. Die kurse sind direkt in fabriken in der kleinindustrie oder der dienstleistungsbereiche angesiedelt. Die dort zu erfüllenden aufgaben sind einfach und beruhen auf der wiederholung. Dabei handelt es sich z. B. um aufgaben im bereich der lagerarbeiten, herstellung, abfüllung, verpackung, einschachtelung, zuteilung, reinigung von werkstücken, kleine büroarbeiten wie fotokopieren oder gebäudereinigung. Die kurse verfolgen das ziel, die schüler/innen direkt mit der arbeitswelt zu konfrontieren. Innerhalb des feldes sollen sie ihre neue rolle einzunehmen lernen. So können sie "vor ort" die am arbeitsplatz benötigten kenntnisse erwerben, ohne daß übertragungsleistungen mühsam über simulation angebahnt werden müssen. Die schüler/innen lernen im "wahren und konkreten". Die "ausbildung in der situation" ist eine geeignete methode, das "saper fare" mit dem [41] "saper essere" zu verbinden, da beide seiten im alltäglichen Lebenskontext schon enthalten sind und auch täglich neu erprobt werden können. In jedem kurs sind 15 schüler/innen, die von je 3 mitarbeiter/innen des "Dienstes zur Arbeitsausbildung Behinderter" begleitet werden. Das verhältnis 5:1 hat sich als besonders günstig erwiesen. Die schüler/innen "arbeiten" 5 stunden täglich und erhalten dafür eine finanzielle zuwendung von 1.000 Lire / stunde. Somit "verdienen" sie 100.000 Lire [42] im monat, die ihnen gegen ihre unterschrift direkt ausgezahlt werden.

Dieser "verdienst" soll sie einerseits auf den umgang mit geld vorbereiten, ihnen symbolisch eine gesellschftliche anerkennung ihrer tätigkeit vermitteln und sie gleichzeitig gegenüber ihren familien aus der "kinderolle" befreien.

Inzwischen existieren in Genua und provinz 6 kurse der "ausbildung in der situation" mit insgesamt 90 teilnehmer/innen. Ganz bewußt werden sie in fabriken mit weniger als 36 beschäftigten durchgeführt, da diese nicht im gültigkeitsbereich des gesetzes 482 fallen, d. h. sie wären behinderten sonst nicht zugänglich. Auf diese weise wird jedoch das angebot für die betroffenen erweitert, denn die einstellungsverpflichtung von menschen mit behinderung für größere betriebe bleibt durch diese organisation unangetastet. Außer daß die firmen ihren rahmen zur verfügung stellen, übernehmen sie keinerlei verpflichtungen. Durch den "Dienst zur Arbeitsausbildung Behinderter" wird ihnen außerdem regelmäßige unterstützung durch die mitarbeiter garantiert, so daß sie letztlich von der Anwesenheit der schüler noch profitieren können.

In Genua haben inzwischen schon nahezu 250 schüler/innen erfolgreich an der "ausbildung in der situation" teilgenommen. Bei ihnen allen konnte ein ernormer zuwachs an fertigkeiten, kenntnissen und selbständigkeitsentwicklung (busfahren, er-fassen der uhrzeiten) festgestellt werden. über ihre neue rolle als arbeiter/in bezogen sie alle ein stärkeres Selbstwertgefühl. Jedoch ließ sich in etlichen fällen ein "schereneffekt" erkennen: die positiven entwicklungen in der arbeitswelt setzten sich in den familien der behinderten nicht fort. So rutschten sie dort oftmals wieder in die kinderrolle ab, die ihnen zum teil seit jahrzehnten zugewiesen worden war. Aus dieser beobachtung heraus entwickelte der "Dienst zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" das dritte modell zur beruflichen eingliederung, den "arbeitsaufenthalt" [43]

Er dient dem zweck, den die jugendlichen mit geistiger behinderung zeitweise völlig aus dem starken rollengefüge des "instituts" oder der herkunftsfamilie herauszulösen, um ihnen neue Lebenserfahrungen in einem ganz anderen lebensumfeld zu ermöglichen. Je nach entwicklungs- und erfahrungsstand des/der jugendlichen dauert der arbeitsaufenthalt von einem monat bis zu vier monaten. Er kann aber auch verlängert oder wiederholt werden.

Vorzugsweise verbringen die jugendlichen diese zeit in landwirtschaftlichen betrieben oder in kinderferienkolonien, aber auch z.t. familienbetrieben, die vergleichbare bedinungen anbieten können. Fernab von ihrem bisher gewohnten alltag erfahren viele jugendliche zum ersten mal in ihrem leben eine ganz neue lebensweise ,die die bereiche "arbeit", "wohnen" und "freizeit" gleichzeitig durchdringt, aber auch alle miteinander verbindet. Viele von ihnen werden so zum ersten mal in ihrem leben in die lage versetzt, sich selbstständigum ihre kleidung und um häusliche belange wie zubereitung von mahlzeiten, aufräumarbeiten und hauspflege zu kümmern. Ihr verantwortungsgefühl und damit auch ihr selbstwertgefühl wachsen natürlich ganz besonders in der ihnen anvertrauten durchführung überschaubarer eigenverantwortlicher tätigkeiten wie tiere füttern, früchte ernten oder die gestaltung der gemeinsamen mahlzeiten. Da gerade im bereich der landwirtschaft feldarbeit, hausarbeit und gemeinsame freizeitgestaltung stark ineindandergreifen, also eine ziemlich ganzheitliche alltagsform beinhalten, bieten sich arbeitsaufenthalte in diesem bereich für solche jugendliche besonders an, die noch sehr jung, stark familienabhängig oder besonders verschüchtert sind. Die aufenhalte in den kinderferienkolonien erfordern hingegen schon ein bißchen mehr an selbständigkeit, beziehungsfähigkeit und rollensicherheit, denn arbeitszeit und freizeit sind in dieser alltagsorganistation deutlicher voreindander getrennt. Hier müssen die jugendlichen ihre interessen und bedürfnisse selber schon aktiv umsetzen. Sie sind meist mit der erfahrung der "ausbildung in der situation" vertraut. Die "arbeitsaufenthalte" können diese vorbereitungsform hervorragend ergänzen und vertiefen. Die jugendlichen haben in dieser zeit praktikantenstatus. Die aufgaben, die sie erfüllen können (sollen), werden vorher gemeinsam abgesprochen und allmählich stufenweise während des praktikums erweitert. Die gastgeber-einrichtung wird darüber schriftlich informiert. Die jugendlichen selbst erhalten für ihre arbeit ein monatliches taschengeld von 200.000 Lire, [44] während die aufnehmende einrichtung durch den die maßnahme begleitenden dienst 400.000 Lire als beitrag zu den zusätzlich entstehenden lebenshaltungskosten erhält.

Die praktikanten/innen haben bisher viel von den "arbeitsaufenthalten" profitiert. Ihre familien, die anfangs oft aus ängsten oder überbehütungstendenzen dagegen eingenommen waren, haben schließlich die positive Entwicklung ihrer behinderten mit-glieder bestätigt und akzeptiert. Hervorzuheben bleibt, daß einige praktikanten/innen später von den landwirtschaftsbetrieben vorübergehend oder dauerhaft eingestellt worden sind! Um nun auch jungen menschen über 18 jahren mit schwerer geistiger behinderung einen arbeitsplatz "draußen" anbieten zu können, hat der "Dienst zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" ein viertes projekt entwickelt: das "arbeitsstipendium auf unbegrenzte zeit:'[45] Hier wurden öffentliche ämter und vereinigungen , gärtnereibetriebe, großküchen usw. nach einfach auszuübenden tätigkeiten durchforscht. In diesem modell wird ganz bewußt akzeptiert, daß der betreffende personenkreis die allgemeinen ansprüche an die leistungsfähigkeit eines arbeiters/einer arbeiterin nicht erfüllen kann und auch nie erfüllen können wird. Eine dauerstellung zu "normalen" bedingungen würde weder den bedürfnissen der personen mit schwerer behinderung noch denen der arbeitgeber gerecht. Dennoch legitimieren diese grenzen noch keine "beschützenden werkstätten" als lebenslängliche perspektive. Das "arbeitsstipendium auf unbestimmte zeit" stellt also eine zwischenform dar, die personen mit "2/3-99% ziviler invalidität" dennöch dem "normalen" arbeitsmark zuzuführen, ohne einen dauerhaften arbeitsvertrag zu vereinbaren, wozu kein arbeitgeber bereit wäre. Auf diese weise erhält die betroffene person formal ihren status "arbeitslos" auf-recht und gleichzeitig damit den anspruch auf rente.

Personen, die für eine arbeit im rahmen dieses projekts infrage kommen, werden dem dienst aus den basisdiensten der jeweiligen wohngebiete gemeldet. Die mitarbeiter/innen vermitteln sie nach längerer pädagogischer und sozialer unterstützung jeweils einzeln auf arbeitsplätze, die zugleich

- einfache tätigkeiten ohne umweltbelastung beinhalten,

- mindestens drei aufgeschlossene und offenherzige kollegen/innen beschäftigen,

- den fähigkeiten und eigenschaften der einzugliedernden personen entsprechen ,

- völlig ungefährlich sind.

Ihren fähigkeiten und ihrem jeweils individuellen belastungsgrad entsprechend arbeiten die stipendiaten/innen dort vollzeit oder teilzeit, nicht aber unter fünf stunden täglich. Die arbeitszeit kann bei bedarf auch erweitert oder vermindert werden. Aus dem sozialfond der EG (40%) und aus regionalen fonds erhalten sie 13 monatsverdienste, die dem "arbeitsstipendium" ensprechen. Im ersten jahr werden sie und ihre nichtbehinderten kollegen/innen durch die mitarbeiter/innen des dienstes "vor ort" unterstützt, was dann später nicht mehr nötig ist. Dennoch stehen sie bei problemen als ansprechpartner weiter zur verfügung. In Genua und provinz sind nach diesem modell schon 27 männer und frauen mit schwerer geistiger behinderung auf unbestimmte zeit erfolgreich in die arbeitswelt eingegliedert worden. Als sich auch in Ligurien allmählich die auswirkungen der konjunkturellen wende zeigten, entwickelte der "Dienst zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" ein fünftes modell: fabriken, die aus eigeninitiative ohne verpflichtung dazu behinderte einstellen, erhalten für eine übergangszeit eine prämie. Diese beträgt für die beschäftigung von menschen mit psychischer oder geistiger behinderung 1.500.00 Lire [46] im moment der einstellung und weitere 1.500.000 Lire nach 6 monaten. Die gleiche summe wird auch bei der beschäftigung von sinnes- oder körperbehinderten menschen an die betriebe ausgezahlt, allerdings in diesem falle innerhalb von 2 monaten. Ein jahr lang erhalten die behinderten ein "arbeitsstipendium". Sie sind in der regel zwischen 18 und 35 jahre alt, haben schon eine berufsvorbereitung erhalten und sind in der lage, "produktiv" zu arbeiten. Z.t. werden sie ganz bewußt in dem betrieb auf ihre berufliche tätigkeit vorbereitet, in dem sie später auch dauerhaft arbeiten sollen. Die firma verpflichtet sich dazu, die betreffende person auf unbestimmte zeit, mindestens aber 3 jahre lang zu beschäftigen. Inzwischen wird dieses projekt auch in handwerksbetrieben und im handel realisiert Seit bestehen dieser neuenmöglichkeit wurde damit schon 20 menschen mit behinderung ein arbeitsplatz verschafft. Seit 1986 konnte auch das sechste modell der arbeitsgliederung behinderter politisch durchgesetzt werden:

Subunternehmen, die im rahmen des arbeitskräfteverleihs einfache tätigkeiten wie gebäudereinigung durchführen, müssen inzwischen auch von behinderung betroffene personen einstellen. Dabei wird dennoch darauf geachtet, daß ihre fähigkeiten mit den anforderungen des arbeitsplatzes übereinstimmen. In wenigen monaten wurden auf diesem wege neun neue beschäftigungsverhältnisse geschaffen.

Das letzte praktisch verwirklichte projekt zur eingliederung von menschen mit (geistiger) behinderung in die arbeitswelt ist das der Gartenbau-Kooperative"Rechen".

Großindustrien im raum Genua, die aufgrund ihrer produktionsbedingungen keine behinderten einstellen können, stellen diesen jedoch arbeitsplätze in anderen bereichen zur verfügung. So hat die firma Petroil an ein subunternehmen in kooperativfonn den auftrag vergeben, ihre gartenanlagen zu pflegen. In dieser kooperative werden nun vier arbeitsplätze von menschen mit behinderung besetzt.

Das achte modell der beruflichen eingliederung, das z. zt. noch in der vorbereitung steckt, ist das "null-kosten-modell". Es sieht vor allem die dauerbeschäftigung solcher menschen vor, die aufgrund der schwere ihrer behinderung nur zu 30 % "produktiv" arbeiten können. Zur zeit sammeln die mitarbeiter/innen des "Dienstes zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" all die firmen, die dennoch bereitschaft zeigen, diese menschen zu beschäftigen. Die firmen brauchen ihnen nur einen monatlichen lohn von 30 % [47] für ihre arbeitsleistung auszuzahlen, der an die Behindertenorganisation überwiesen werden muß. Diese zahlt den personen ihren lohn dann direkt aus. Das etwas umständich erscheinende verfahren wurde bewußt so gestaltet, um von vornherein möglichkeiten des mißbrauchs auszuräumen. Zusätzliche 40 % lohn erhalten die menschen mit behinderung als "arbeitsstipendium", so daß auch sie ihre monatliche lohntüte für ihre arbeit nach hause tragen können. Den firmen wird auch in soweit entgegengekommen, als sie diesen personenkreis niemals dauerhaft einstellen müssen. Diese erleichterung erhöht ihre bereitschaft, dieses "neuland" zu betreten.

Den interessen der menschen mit schwerer behinderung entspricht dieses modell dennoch, wird doch auf diese weise auch ihnen der weg in die "normale" arbeitswelt geebnet. Man bedenke, daß bis vor kurzem gerade diesem personenkreis nur arbeitsplätze in den "beschützen-den werkstätten" übrig geblieben sind!

In aller begeisterung möchte ich den leser/innen abschließend nicht vorenthalten, daß der "Dienst zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" mit diesem "baukastensystem" in seiner zehnjährigen arbeit bereits mehr als 290 menschen mit geistiger behinderung dauhaft in die "normale" arbeitswelt vermittelt hat! Das, was in unseren Ohren noch utopisch klingen mag, ist in Genua bereits gesellschaftliche realität! Diese realität ist machbar!!

Hervorzuheben bleibt, daß die mitarbeiter/innen dieses dienstes flexibel genug waren, selbst in der situation zu lernen. Ihre sorgfältige und regelmäßige analyse der vorherrschenden praktischen bedingungen und ihre immer wieder neue "rückkoppelung mit allen beteiligten vor Ort" waren genau der motor zur planung des folgenden schritts in die "nächste zone der entwicklung" des feldes. Die entscheidende voraussetzung dafür, besteht in der anfänglichen arbeit der gruppe,auf allen ebenen politische bereitschaft zur beruflichen eingliederung behinderter zu schaffen. Auch in Genua machten sich in den letzten jahren politische und wirtschaftliche schwierigkeiten im allgemeinen klima auf dem arbeitsmarkt bemerkbar. Die mitarbeiter/innen des "Dienstes zur tingliederung Behinderter in die Arbeitswelt" versuchten durch die weiterentwicklung ihres "baukastensystems" diesen problemen aber gerade durch politische vorarbeit und fachliche kompetenz angemessen zu entsprechen.

Um Ihnen einen eindruck von der alltäglichen umsetzung des eingliederungsmodells aus Genua zu vermitteln, möchte ich abschließend einige szenen beschreiben, die mich von den ergebnissen dieser arbeit überzeugt haben:

szene 1:

Nach dem modell des "arbeitsstipendiums" hat Gianni (ca. 25 jahre alt, geistig behindert) in einem jahr so viel gelernt, daß er nun von der kommune eines vororts von Genua auf dauer eingestellt worden ist. Er arbeitet mit vier nichtbehinderten gartenbauarbeitern in einer gemeindegärtnerei zusammen. Dort werden pflanzen und bäume groß gezogen und gepflegt, die dann später in öffentliche parks und grünanlagen verpflanzt werden.

Wie seine anderen kollegen leistet Gianni in der gärtnerei die gleiche arbeit vom unkrautjäten bis zum blätterzusammenfegen. Die arbeit macht ihm spaß. Seine kollegen empfinden ihn als große hilfe. Anfänglich mußte man Gianni stärker unterstützen, aber jetzt schafft er mit anleitung alle anfallenden arbeiten, nur daß ihm der überblick fehlt, welche tätigkeit als nächste auszuführen ist. Damit muß man Gianni immer beauftragen. Den gesamtüberblick wird er sicherlich nie erwerben. Aber die zugewiesenen arbeitsaufträge erfüllt er gewissenhaft. Inzwischen kann er sogar so gut mit geld umgehen, daß auch er turnusmäßig frühstücksbrötchen und kaffee einkaufen kann. Darauf ist er ganz stolz. Überhaupt bereitet ihm das alltägliche gemeinsame frühstück mit den kollegen große freude. Im arbeitsbereich haben die kollegen mit Gianni keine probleme mehr. Allerdings gibt es im bereich seiner privaten versorgung schwierigkeiten: Gianni lebt in einer betreuten wohngemeinschaft. Das betreuungspersonal dort vergißt öfter, ihm frühstücksgeld mitzugeben. Oft haben die kollegen ihn auch schon eingeladen, aber auf die dauer geht das nicht. Sie haben auch schon selbst beim betreuungspersonal angerufen. Aber der nutzen war nur kurzzeitig. Jetzt wenden sich die kollegen mit diesem problem an die mitarbeiter/ innen des ",Dienstes zur Eingliederung Behinderter in die Arbeitswelt". Da gibt es nämlich noch ein ähnliches ärgernis: Gianni wird fast nie entschuldigt, wenn er mal krank ist. Hinter ihm herzutelefonieren, ist aber nicht die aufgabe der kollegen. Sie sind ja in erster linie zum arbeiten da. Sollen doch die mitarbeiter des dienstes mal in der wohngemeinschaft Giannis nach dem rechten schauen! Zum glück gibt es diese unterstützung!

szene 2:

Ein krankenhausartig organisiertes riesiges altenheim mit über 1.200 plätzen: In der näherei des hauses arbeitet Elisabetta. Sie ist ungefähr 28 jahre alt und hat eine ziemlich schwere geistige behinderung. Nach mehreren jahren praktikun ist sie dauerhaft hier beschäftigt. Reden ist nicht so ihre stärke, aber von den vielen kolleginnen und kollegen, die zusammen mit ihr in der abteilung arbeiten, wird sie schon gemocht. Und sie selbst ist froh, daß sie hier arbeiten kann. Es gibt viel zu tun. Wenn die privatwäsche der bewohner/innen und die anstaltswäsche frisch gewaschen in der abteilung eintrifft, muß sie erst mal sortiert werden. Oftmals sind nähte aufgerissen, löcher in den nachthemden, oder es müssen flicken auf die bettücher genäht werden. Das alles kann Elisabetta, und sie tut es gern. Sie wird immer wieder dafür gelobt, wie sorgfältig sie ihre handnähereien erfüllt.

szene 3:

Im gleichen altenheim, nachbarabteilung:

In dieser halbautomatischen bügelei arbeiten 15 frauen und ein mann. Carlo ist der "hahn im korbe". Er ist schon über 30 jahre alt und hat eine schwere geistige behinderung. Die kolleginnen sind immer ausgelassen und lustig. Sie unterhalten sich oft bei der arbeit, lachen miteinander und sind immer zum scherzen aufgelegt. Mit ihnen zusammen kann es Carlo gar nicht anders als gut gehen. Am anfang fiel ihm das nicht leicht. Geredet hat er fast kein wort, gelacht schon gar nicht. Bisher hatte er in seinem leben auch nichts zu lachen. Vor einiger zeit kam seine mutter durch einen verkehrsunfall ums leben. Seitdem ist sein alter vater ganz und gar gebrochen, obwohl es ihm auch vorher schon schlecht . gegangen ist. Als rentner verbringt er fast seine ganze zeit im lehnstuhl vor dem fernseher. Großartige geselligkeit war Carlo sein leben lang noch nicht gewohnt. Bisher war er immer nur zu hause. Aber hier ist das alles ganz anders. Hier konnte Carlo in den drei jahren praktikum allmählich seine zurückgezogenheit und schüchternheit abbauen. Er geht jetzt ganz anders als früher. Jetzt schaut er seinem gegenüber immer mitten ins gesicht... und bei manchen gesichtern strahlt er... Früher hat er immer nur verlegen auf den boden geschaut. Manche kolleginnen sind mütterlich zu ihm, andere sind wie freundinnen. Da gibt es so-gar eine ganz besonders vertraute, die ihm gar auf die schultern klopfen darf oder ihm liebevoll über den kopf streicheln kann. So etwas können sich nicht alle kolleginnen erlauben. Aber alle betonen sie, wie großartig sich Carlo mit ihrer unterstützung entwickelt hat. Das hätte keine von ihnen geglaubt, daß so etwas möglich sein würde. Wie hilflos er war, als er hier angefangen hat zu arbeiten - er konnte zu dieser zeit nichts! Sie sind alle richtig stolz auf ihn - und ein bißchen auch auf sich. Jetzt hat Carlo hier einen dauerarbeitsplatz genau wie sie. Und er leistet die gleiche arbeit wie sie alle: Die bettwäsche aus den riesigen waschmaschinen in wäschekörbe packen, um sie darin an das Bügelfließband zu schleppen. Dabei ist Carlos hilfe nützlich, denn er ist ganz schön kräftig. Dann zu zweit die bettücher auf das Bügeltransport-band auseinanderfalten. Wenn der automat das geplättete und frisch gestärkte teil hinten "ausspuckt", muß es noch einmal gefaltet wer-den. Oft gerät es durch den Schwung des herausschleuderns durcheinander. Wie seine kolleginnen auch, sitzt Carlo in erwartung der hinausgeworfenen wäscheteile auf seinem Stuhl, um sie schließlich noch ein-mal kante auf kante zurechtzurücken. Diese arbeit liegt ihm besonders.

Er ist sehr sorgfältig. Unordnung verträgt er grundsätzlich schlecht. Er ist immer übergenau. Die teile kommen auch nicht zu schnell aus der maschine, sadaß er sie in aller ruhe sorgfältig behandeln kann. Zum Schluß müssen sie auf den transportwagen gestapelt werden, mit dem sie dann auf die stationen geliefert werden. Diese arbeit macht Carlo nicht. Er kommt immer allein mit dem linienbus zur arbeit. Auch das hat er inzwischen gelernt. Und das lachen! Schwierig wird es für ihn immer zur urlaubszeit. Er würde den ihm zustehenden urlaub am liebsten gar nicht antreten. Was soll er denn in den wochen schon zu hause anfangen, wo es hier immer so lebensfroh zugeht. Da sitzt er nur rum. Seitdem er hier arbeiten kann, fühlt er sich wie ein ganz anderer mensch. Und er genießt es, wenn 15 frauen stolz auf seine fortschritte sind..

szene 4:

In der personalkantine des gleichen altenheimes steht Maria im weißen kittel hinter der vitrine und räumt flaschen ein. In einer stunde setzt hier der essenbetrieb ein. Bis dahin muß alles gerichtet sein: Tiefe teller, flache teller, messer, gabeln, löffel, gewürze - alles muß bereitgestellt sein. Maria räumt die dinge in der großküche auf den geschirrwagen und fährt sie in den speiseraum. Dort stapelt sie sie an der essensausgabe wieder auf. In einer stunde wird sie auch bei der essensvergabe helfen. Das macht ihr besonderen spaß, weil dabei öfter ein kleines schwätzchen nebenbei abfällt. Alle bediensteten, die hier zu mittag essen, kennen Maria und loben ihre Selbständigkeit. Maria ist ungefähr 25 jahre alt und hat eine leichtere geistige behinderung. Früher hat sie in einer "beschützenden werkstatt" gearbeitet. Dahin will sie aber nie wieder zurück. Wie gut gefällt ihr dagegen die arbeit hier in der mensa! Inzwischen ist sie sogar fest eingestellt. Im arbeitsbereich, aber auch in ihrem privatleben, hat sie in den letzten jahren sehr viel gelernt. Neuerdings schminkt sie sich wie ihre kolleginnen. Weil ihr das an ihnen so gut gefallen hat, wollte sie es für sich ebenfalls mal probieren. Bisher hat sie dazu schon viele positive rückmeldungen bekommen. Neulich war sie sogar mit ihren kolleginnen in der disko. Das war ein solches erlebnis, daß sie noch einmal dort hingehen möchte. Interessiert fragt sie danach,'wie es leuten "wie ihr" in Deutschland gehe. "Beschützende werkstätten"? Niemals! Nein, da möchte sie wirklich nicht wieder hin! Warum auch, wo doch alle mit ihr zufrieden sind.

szene 5:

Vor zwei jahren sollte die firma "Aluplaste" bei Genua wegen konkurs geschlossen werden. Durch eine im schichtturnus über mehrere monate von der gesamten belegschaft eisern durchgehaltene sitzwache vor den fabriktoren konnte sie dann endlich die fortsetzung der produktion erwirken. Nun wird die fabrik als genossenschaft von den a rbeiter/innen selbst geführt. Alle dort ehemals beschäftigten haben als genossenschaftler/innen ihren alten arbeitsplatz zurückerhalten. Inzwischen erhält die genossenschaft auch wieder aufträge aus dem in- und ausland. In der fabrik werden verpackungen aller art hergestellt: tuben, blechdosen, plastikschachteln und behälter für flüssige und feste waren. In dieser fabrik ist einer der sechs kurse der "ausbildung in der situation" untergebracht. Der fabrikrat hat dem kurs dafür freundlicherweise seinen konferenzraum zur verfügung gestellt. Eine junge frau mit geistiger behinderung arbeitet schon seit einigen monaten in der betriebskantine. Sie leistet dort die gleiche arbeit wie Maria. Ein anderer mann mit geistiger behinderung ist über das "arbeitsstipendium" inzwischen fest eingestellt worden. Wie seine kollegen arbeitet er an der stanzmaschine. Fast hätten wir übersehen, daß er eine behinderung hat. In der verpackungsabteilung, in der nur wenige frauen arbeiten, treffen wir Claudia. Sie ist etwa 30 jahre alt und hat ein down-syndrom. Genau wie ihr kollege ist sie seit ablauf ihres. jahrespraktikums nach dem modell des "arbeitsstipendiums" inzwischen dauerhaft hier beschäftigt. Claudia ist besonders schüchtern. Sie spricht grundsätzlich wenig. Verlegen wendet sie ihren kopf beiseite als wir sie ansprechen. Trotzdem läßt sie sich durch uns nicht von ihrer arbeit ablenken, die sie recht eigenständig durchführt. Die in kartons angelieferten plastikdeckel müssen jeweils sortiert gewogen werden. Wenn das vorgegebene packungsgewicht erreicht ist, müssen die kartons verschlossen und gestempelt werden. Völlig selbständig stellt Claudia einen leeren karton auf die industriewaage und schaufelt so lange plastikdeckel hinein, bis der zeiger auf der skala eine bestimmte markierung erreicht hat. Claudia kennt die zahlen nicht richtig, dennoch irrt sie sich beim abwiegen der kartons nie, sagt ihre kollegin. Sie sei äußerst gewissenhaft. Danach schleppt Claudia den karton auf eins ablage, verschließt ihn und drückt einen stempel dar-auf. Claudia kann auch nicht sicher lesen. Dennoch benutzt sie immer die richtigen stempel. Sie kann sich inzwischen sehr gut merken, welcher stempeltyp zu welcher deckelsorte gehört. Um Claudia nicht zu sehr zu stören, entfernen wir uns etwas mit ihrer kollegin. Ohne Unterbrechung arbeitet Claudia unterdessen weiter. Außer Claudia wechseln die frauen in dieser abteilung wöchentlich ihre schicht, so daß diese immer wieder mit anderen kolleginnen zusammenarbeitet. Die frau, mit der wir uns gerade unterhalten, ist Claudias besondere vertraute. Mit ihr redet sie sogar. Sie teilt uns mit, wie gerne auch sie Claudia mag.

Außerdem sei sie ihr eine echte hilfe. Davon kören wir uns gerade mit unseren eigenen augen überzeugen.

Die fünf szenen haben mich überzeugt! Sie haben mir nicht nur plastisch vor augen geführt, daß eine eingliederung von menschen mit geistiger behinderung in die "normale" arbeitswelt möglich ist; sie haben auch gezeigt, wie gut sie möglich ist, wenn sie sorgfältig vorbereitet und begleitet wird. Dies wurde in den gesprächen auch von den nichtbehinderten arbeitskolleg/innen immer wieder bestätigt. In Genua haben politiker, fachleute, verwaltungskräfte, führungskräfte, eltern und die von der geistigen behinderung betroffenen menschen gemeinsam durch erfahrung gelernt. Wann werden die entsprechenden gruppen in unserem land den mut aufbringen, solche neuen erfahrungen und alternativen zu "beschützenden werkstätten" zu entwickeln?

4.5. Probleme des übergangs von der schule in die arbeitswelt

4.5.1. Eindrücke von einem gespräch italienischer expertlnnen

Elisabeth Wunderl

Während der exkursion im frühjahr 1987 fand an der universität von Florenz ein Seminar statt, das italienische expertlnnen aus dem bereich der beruflichen eingliederung von menschen mit behinderung die gelegenheit zu einem erfahrungsaustausch geben sollte.

In groben zügen wird im folgenden die zusammenfassende einschätzung dieser arbeitsgruppe zu dem oben genannten problem wiedergegeben:

- Für italienische jugendliche mit einer behinderung ist der übergang von der schule in die berufswelt nicht wesentlich leichter als für deutsche jugendliche. Die italienische gesellschaft ist eine "leistungsgesellschaft" westlicher prägung, die ähnliche probleme für ihre randgruppen produziert wie andere industriestaaten.

  • Die zukünftige entwicklung der integrationsbewegung wird sich widersprüchlich realisieren. Es ist anzunehmen, daß art und grad der behinderung einfluß auf die durchsetzung von berufseingliederungsmaßnahmen haben werden.

  • Einerseits machen die neuen technologien den einsatz. von arbeitskräften möglich, die in irgendeiner weise körper- und/oder sinnesbehindert sind. Andererseits verringern sich die möglichkeiten der menschen, die in irgendeiner weise "mental" behindert sind, einen arbeitsplatz zu finden.

  • Die kapitalkonzentration, die monopolisierung und der einsatz einer immer komplizierter werdenden technik vernichten arbeitsplätze in den "arbeitskräfteintensiven" bereichen (landwirtschaft, industrielle fertigung, handwerk), bereiche, in denen traditionell auch menschen mit "mentaler" behinderung arbeit fanden. Zivilcourage, phantasie und soziales engagement ist vonnöten, damit die eingeleitete reform der sozialen integration behinderter menschen nicht steckenbleibt.

Die italienischen teilnehmerInnen kamen aus der praxis: anleiterInnen für blinde schüler, erzieherInnen und lehrerInnen von vorbereitenden tagesstätten, ein neuropsychiater des öffentlichen gesundheitsdienstes (USL) mit schwerpunkt arbeitsplatzbetreuung von schwerstbehinderten menschen. Sie beschäftigten sich schon jahrelang mit den problemen der beruflichen eingliederung behinderter menschen. Wir spürten das große bedürfnis der italienischen teilnehmerInnen nach austausch, stellten deshalb unsere eigenen fragen zurück und verfolgten als zuhörerInnen die diskussion:

Die berufliche eingliederung behinderter menschen ist zum großen teil aufgabe der Provinzen und regionen, so daß es beträchtliche unterschiede des qualitativen und quantitativen niveaus der beruflichen eingliederung gibt. Einige gravierende unterschiede zu dem stand der beruflichen eingliederung in der Bundesrepublik konnten wir erkennen:

  • Das für die deutschsprachigen länder typische duale berufsausbil¬dungssystem existiert in Italien nicht.

  • Die italienischen betriebe können sich von der beschäftigungspflicht (quotierung) behinderter nicht "freikaufen".

  • Für die italienischen gewerkschaften war und ist die berufliche integration behinderter menschen ein thema, über das diskutiert wurde und wird.

  • Zu den verpflichtungen des öffentlichen gesundheitsdienstes gehören auch aufgaben, die die berufliche Integration behinderter menschen vorantreiben sollen.

  • Beschützende werkstätten als dauereinrichtung für behinderte menschen gibt es in Italien nicht mehr für die jetzigen schulabgänger.

Wenn jugendliche in der region Florenz nach beendigung der schulpflicht keinen arbeitsplatz finden bzw. nicht in die berufsschule aufgenommen werden können, haben sie die möglichkeit, in die vorbereitende tagesstätte zu gehen. Hier werden sie auf manuelle tätigkeiten vorbereitet; ziel ist die integration in die arbeitswelt, d.h. daß spätestens vier jahre nach eintritt in die tagesstätte für die jugendlichen ein arbeitsplatz gefunden werden muß. Nach der vorbereitenden tagesstätte gibt es für die jugendlichen zwei wege. Entweder geht sie/er zur berufsschule oder findet direkt einen arbeitsplatz.

Während der arbeitsgruppentagung entspann sich ein interessantes gespräch zwischen dem vertreter des öffentlichen gesundheitsdienstes, der alternativen zur vorbereitenden tagesstätte entwickelt hatte, und den vertreterInnen der tagesstätten. In einigen bezirken wird vom USL versucht, schwerstbehinderte menschen in kleinen unternehmen direkt in die berufswelt einzugliedern. Der mitarbeiter der USL vertrat die ansicht, daß die direkte eingliederung schwerstbehinderter menschen, auch wenn von ihnen keine "leistung" im üblichen sinne erwartet werden kann, für den behinderten menschen wesentlich zu dessen selbstgefühl beiträgt:

"Arbeit ist therapie". Die menschen sind dann dort, wo sie hingehören: in der gemeinschaft. Es werden ihnen gesellschaftlich nützliche aufgaben gestellt und damit ihre motivationunterstützt, sich in der umwelt zurechtzufinden.

Es war auffallend, daß keiner der italienischen teilnehmerinnen für "schutzräume" plädierte, sondern alle die änderung der bedingungen (besonders der gesetzlichen regelungen) forderten.

(Zur beruflichen eingliederung von menschen mit geistiger behinderung vgl. auch abschnitt 4.4.)

4.5.2. Chronik einer wunscherfüllung

Otto-Ludwig Roser

Die Firma

"Nuovo Pignone" ist eine metallverarbeitende Industrie am stadtrand von Florenz. Sie beschäftigt 3.500 arbeiter. Unter anderem werden hier die kompressoren für die erdgaszufuhr aus Sibirien gebaut.

Im "Nuovo Pignone", einem betrieb mit finanzieller beteiligung des staates (partecipazioni statali), sind arbeitsprozesse und personalpolitik streng rationalisiert. Dennoch muß die direktion, wie alle italienischen staatlichen und privaten betriebe, sich dem gesetz 482 aus dem jahre 1968 anpassen, das in etwa die anstellung von einem behinderten je 20 arbeiter bestimmt.

Es ist nicht möglich, sich freizukaufen!

Es war aber und ist zum teil heute noch üblich, mit dem schweregrad der behinderung zu jonglieren: Auch die amputation eines fingers ist eine behinderung. Das arbeitsamt erlaubte eine gewisse auswahl der behinderten unter berücksichtigung der charakteristik des zu besetzenden arbeitsplatzes.

Der betriebsrat fordert einstellung von schwer behinderten

1980 entschließt sich der betriebsrat des "Nuovo Pignone", die direktion aufzufordern, bei dem nächsten anstellungsschub "wirkliche" behinderte miteinzubeziehen. [48]

Die unterhandlung ist nicht einfach, bringt aber den ersten erfolg: Fünf schwerer behinderte, unter ihnen auch geistigbehinderte, sollen eingestellt werden. Die direktion nimmt mit dem arbeitsamt kontakt auf. Es werden fünf namen genannt: darunter ist Carlo, ein spastiker. Ich kenne Carlo seit seinem sechsten lebensjahr und hatte ihn zuletzt im frühjahr 1980 zu hause besucht, weil er unter anderem auch unter depressionen litt. Ein jahr nach dem abschluß der normalen regelschule (1979) hatte ihm nämlich das arbeitsamt noch keine stellung vermittelt. Nun endlich: Die anstellung in der wichtigsten fabrik der Toskana! Sein wunsch und der traum seines nicht zum fabrikarbeiter aufgestiegenen vaters hatten sich erfüllt.

Carolos arbeit: botendienste und postverteilung in den einzelnen verwaltungsbereichen und produktionsabteilungen. Vorher wurde diese aufgabe von arbeitern übernommen, die nicht mehr in den werkhallen und an den maschinen tätig sein konnten: kranke, arbeitsunfähige. Die frustrationen dieser menschen, ihr gefühl, beiseitegestellt worden zu sein, brachte es mit sich, daß die vermittlung zwischen den verschiedenen sektoren des betriebs nur sehr langsam lief und noch dazu in völlig un¬befriedigender weise. Carlo in seinem erwachenden metallarbeiterstolz hat diese tätigkeit in wenigen monaten zur perfektion gebracht.

Carlo hat schnell gelernt, sich in dem großen fabrikgelände zu orientieren. Sein gutes gedächtnis hilft ihm, namen und produktionsvorgänge, werkhallen und büros richtig einzuordnen. Er steht in ständigem und guten kontakt zu seinen kollegen: Ingenieure, technische zeichner, arbeiter haben gelernt, seine sprache zu verstehen.

Vertrauen wird in ihn gesetzt - in bezug zu seiner arbeit hat er selbstvertrauen gewonnen: Er fühlt sich wichtig. Er ist auch wichtig. Er läßt sich von niemandem gerne vertreten.

"Wir haben bemerkt, daß behinderte schneller und froher arbeiten als sogenannte nichtbehinderte - vielleicht, weil sie sich beweisen wollten", stellte die direktion fest, als unser team im auftrag der gesundheitsbehörde (USL) auf einladung des betriebsrates den "Nuovo Pignone" besuchte, um neue arbeitsplätze für behinderte ausfindig zu machen. Aber darüber zum schluß.

Ein problemkind

Carlo ist 1962 geboren. Seine mutter war 44 jahre alt und hatte die schwangerschaft erst im siebten monat bemerkt. Geburtsgewicht: 2,5 kg. Carlos geburt vollzog sich normal. Seine langsame entwicklung (laufen mit zwei jahren, spätes sprechen, begrenzte wahrnehmung) wurde von den kinderärzten auf das geringe geburtsgewicht, also auf eine globale unreife bezogen. Es ist die zeit, in der Prof. Milani Comparetti in Florenz für früherkennung kämpft und die kinderärzte beschuldigt, mehr um die beruhigung der eltern besorgt zu sein als um das erkennen entwicklungsstörender krankheitsbilder.

Die durch ihr alter und ihr lebensschicksal überängstliche und sorgenvolle mutter Carlos schickt das kind nicht in den kindergarten. Es wird als ein krankes kind erlebt. Erst kurz vor dem schulalter, am 10.9.68, sehe ich Carlo zum erstenmal. Es ist mir gleich klar, daß das kind vor allem motorische probleme hat, und ich schicke die familie zu Prof. Milani, der schon zu dieser zeit weltruf in der behandlung körperbehinderter kinder erlangt hatte. Seine diagnose: "Gemischte kinderlähmung mit leichter spastizität. Motorische fehlfunktionen des typs "choreoathetose" (= schnelle, unwillkürliche kontraktionen einzelner, wechselnder muskeln oder muskelgruppen; dadurch kommt das bild allgemeiner motorischer unruhe und ständigen grimassierens zustande, unwillkürliches schnalzen, grunzlaute - mit zunehmendem alter meist geringer werdend). Mein eindruck war, daß Carlo urch seine motorische Ungeschicklichkeit, seine sprachstörungen und die überbehütung der mutter seiner intelligenz nicht hat ausdruck geben können. Damals war noch der meist - begangene weg in diesen situationen die einweisung in einen sonderkindergarten. Carlo besuchte Milanis "Istituto Anna Torrigiani", machte krankengymnastik und sprachtherapie.

Die loslösung von der mutter während der acht stunden des tagesaufenthaltes im sonderkindergarten fiel Carlo sehr schwer. Er reagierte mit großer unruhe und Opposition. Drei jahre lang bemühten sich therapeuten, ärzte und psychologen, den eltern vertrauen in die fähigkeiten Carlos zu vermitteln. Es waren schwierige eltern: der vater leicht er regbar und aufbrausend, immer auf der suche nach den schuldigen der situation, immer bereit zu kämpfen. Er kämpfte allerdings auch, um aus der situation des kindes das beste zu machen.

Die mutter müde und verängstigt, denn ihr mann konnte auch gewalttätig sein. Von Carlos älterer schwester war nie die rede. Im institut Milanis, in dem ich damals als psychologischer berater einmal in der Woche mitarbeitete, verbrachte Carlo zwei kindergartenjahre und ein vorbereitendes schuljahr.

Schließlich, im sommer 1971, mein vorschlag: Carlo kann eine normale regelschule besuchen, er ist intelligent, wird seinen weg finden und das versäumte im kontakt mit einer normalen umwelt schneller nachholen, vor allem lernen, sich besser auszudrücken, sich anzupassen und seine schon erreichte autonomie auszunutzen. Die besten fortschritte hatte er in der fortbewegung erreicht: Er konnte ohne stützen gehen und laufen, war in allem selbständig geworden. Nur die arbeit der hände war noch stark durch lähmungen gestört. Zeichnen und schreiben waren für ihn sehr mühsam. Die sprache hatte sich sehr bereichert, aber sie war - durch Störungen im zentralnervensystem bedingt - noch schwer verständlich. Einmal aus dem institut "Anna Torrigiani" entlassen, sollte Carlo nur noch ambulant sprachtherapie und gymnastik in dem seiner wohnung am nächsten liegenden zentrum machen. Sonst aber ein normales leben leben.

"Wilde" integrationen

1971 - das war die zeit der ersten sogenannten "wilden" integrationen in Italien. Die schule hatte keine rechtsmittel, behinderte kinder abzulehnen! Aussonderung in sonderschulen war nicht obligatorisch, sondern nur naheliegend und der immer noch am häufigsten gewählte weg. Eine idee hatte sich verbreitet, die bald weite bevölkerungskreise beeindruckte: Sie hieß "antiemarginazione", d.h. dagegen zu sein, menschen an den rand zu drängen und in heime oder sonderschulen abzuschieben.

Welcher weg sollte da begangen werden, um die idee nicht im akademischen experimentieren und in reformistischen, zeitraubenden projekten zu verwässern?

Der radikalste weg führte zum abstandnehmen von den sondereinrichtungen, diesen sich selbst schließlich zum ziel habenden sondereinrichtungen. Durch ihre langsame schließung wurde in eine neue richtung gegangen: rehabilitieren in der normalität. Das bedeutet auch, eine kritik unserer bisherigen intentionen und arbeitsweisen zu wagen. Gerade zwischen 1970 und 1975 (also in Carlos ersten "normal"-schuljahren) hat sich ein kampf vollzogen, der den beteiligten unvergeßlich bleiben wird. Vor allem: Dieser kampf stützt sich auf einen glauben von der richtigkeit unserer ziele; und nicht, wie heute, auf die erfahrung der intensiven förderung, die ein kind in seiner funktionalen und sozialen entwicklung erfährt, wenn es von vorneherein nicht ausgesondert wird.

Wäre Carlo zehn jahre später in Italien geboren ...

Wenn ein junge wie Carlo in seinen schwierigkeiten früherkannt worden wäre,

wenn er die kinderkrippe besucht hätte, wie es heute für alle behinderten kinder vorgeschlagen wird,

wenn er dann den zonalen kindergarten besucht hätte,

wenn seine eitern frühzeitig psychologisch und sozialpädagogisch unterstützt worden wären, wenn er die erste elementarschulzeit nicht als ein tauziehen zwischen eltern, therapeuten und widerständigen lehrerinnen erlebt hätte,

dann wäre ihm vielleicht auch noch der besuch einer berufsschule möglich gewesen, und vieles leiden am sonderdasein wäre vermieden worden.

Am 1. oktober 1971, also erst mit neun jahren, wird Carlo in die regelschule seines wohnbereiches eingeschrieben. Er ist immer noch ein sehr unruhiges kind, schwierig im sozialen kontakt. Der direktor der schule empfindet trotzdem die eingliederung Carlos nicht als problematisch. Schwierigkeiten gibt es dagegen gleich mit seiner lehrerin. Die schule gehörte damals nicht in meinen arbeitsberich, aber die zuständige kollegin hat die entwicklung Carlos sorgfältig aufnotiert.

a) Was motivierte den direktor?

Nach so langer zeit und im rückblick auf die damalige, im vergleich zu heute völlig verschiedene situation ist es nicht einfach, die dynamik der schwierigkeiten zu rekonstruieren, die diese lehrerin mit Carlo hatte.

Sicherlich standen damals sehr viel mehr eitern und lehrer als heute der integration behinderter kinder in die regelschule skeptisch oder gar feindlich gegenüber. Dies provozierte auch eine viel härtere auseinandersetzung. Vielleicht war die gesellschaftliche auseinandersetzung auch sehr viel emotionaler als beispielsweise in Dänemark, wo zur gleichen zeit mit den gleichen überlegungen der gleiche weg eingeschlagen worden ist.

Behinderte kinder, die mit 9 oder gar mit zehn jahren eingeschult wurden, empfand man als "fremdkörper", man war überzeugt, sie müßten unter dem plötzlichen übergang leiden. In wirklichkeit litten die erwachsenen, denn trotz des kontaktes mit den fachleuten und trotz der sonderpädagogischen Programmierung wußte man nicht, wie der noch ganz auf Selektion eingestellte schulbetrieb der neuen situation hätte gerecht werden können. Der blickpunkt ist der gleiche gewesen, der heute noch vor allem in Deutschland befürchtungen wachruft: Wie reagiert das kind auf den übergang vom schonraum in die "grausame" realität? (Wobei die grausamkeit meist als von den "normalen" kindern ausgehend empfunden wird!) Was machen die lehrer und die lehrerinnen ohne sonderpädagogische vorkenntnisse? Wie kann man im betrieb einer normalen klasse den "besonderen" bedürfnissen eines behinderten gerecht werden?

Die nachfolgenden jahre haben die antwort gegeben: Behinderte kinder, die von vorneherein mit nichtbehinderten aufwachsen, haben nicht mehr probleme des sozialen kontakts als andere kinder; die behinderten kinder haben durch ihr dabeisein das schulwesen verändert, kindgerechter gemacht, sie haben der regelschule die selektionsangst genommen; die nichtfachleute unter den erwachsenen haben eine "sonderpädagogische phantasie" entwickelt: Es ist das bemühen, für jedes kind individuell, seinen bedürfnissen entsprechend, die mittel zu seiner förderung zu entdecken.

Diese gegenüberstellung von gestern und heute in Italien entspricht dem vergleich zweier gegensätzlicher einstellungen, die in der art und weise der menschlichen zuwendung ihren ausdruck finden. Gerade das beispiel Carlos läßt es uns klar erkennen: Wir sagten, daß ihn die lehrerin nicht akzeptierte. Es entstand ein zirkel, aus dem es keinen ausweg zu geben schien. Das gefühl dieser lehrerin, nicht mit Carlo arbeiten zu können, traf zunächst ganz schwer Carlos eltern, die von uns fachleuten überzeugt worden waren, daß das kind sich normal entwickeln könne. Die ängste der mutter entfachten die aggressivität des vaters. Carlo identifizierte sich mit der kampfaktion seines vaters und begann, seine lehrerin zu ärgern und willentlich zu stören. Die lehrerin quälte den direktor, sie von diesem joch zu befreien.

Zwei jahre blieb Carlo dennoch mit ihr zusammen. Auch eine feindschaft wird zur bindung, und wenngleich Carlos vater im pathos eines kreuzzuges dafür gesorgt hatte, daß die zeitungen über Carlos lehrerin sprachen, und obgleich der kampf mit der versetzung der lehrerin geendet hat, erbrachte diese zeit für alle auch sehr positive momente: zum beispiel lange gespräche mit lehrern, schuldirektoren und fachleuten über die notwendigkeit, der regelschule ein anderes antlitz zu verleihen, oder auch die erkenntnis, nicht die belange des erwachsenen in den vordergrund zu stellen, sondern die interessen des kindes.

Und hier die andere einstellung: In der dritten klasse bekommt Carlo einen lehrer.

Von ihm fühlte er sich akzeptiert, und von diesem augenblick an hat der junge keine probleme mehr mit der schule gehabt: Ohne unterbrechung hat er die grundstufe der regelschule (scuola elementare) und dann die mittelstufe (scuola media) absolviert.

Dieser wandel ist nicht leicht zu analysieren. Es ist sicher zu einfach gesehen, wenn man behaupten will, dieser lehrer hat Carlo lediglich besser zu nehmen gewußt. Ohne zweifel hat die verschiebung des Blickpunktes auf Carlos fähigkeiten sehr viel mehr erbracht als der intensive, ständig verbessernde angriff auf seine schwächen, wie es die lehrerin versucht hatte. Der lehrer hat Carlo die angst und die Unsicherheit genommen, so konnte er dann auch die leistungen erbringen, die vorher nicht denkbar waren (ein problem, das ja bekannterweise nicht nur die behinderten kinder betrifft). Eine große rolle hat sicher aber auch gespielt, daß die eltern mit Carlos lehrerin sich nicht haben befreunden können. Die verteidigungsmechanismen auf beiden seiten hatten gleich zu anfang jedes gegenseitige verständnis zerstört.

Für den lehrer dagegen war Carlos dabeisein ganz selbstverständlich. Vater und lehrer verstanden sich aber auch in der zielsetzung: Ihr kampfruf "Carlo wird eines tages arbeiter in einer fabrik" wurde zum symbol eines normalen lebensweges. Carlo hat gewiß seine kraft bewiesen, und eine fortgeschrittenere gesellschaft hätte ihn darin unterstützt.

Entspannung in der schule - spannungen in der familie

Mit dem übergang zur mittelstufe der regelschule kam Carlo wieder in meinen arbeitsbereich. Ich bemühte mich um einen häufigen kontakt mit der schule, aber eigentlich war Carlo ganz autonom: Er hatte schon seit einer weile begonnen, mit besonderem fleiß für die schule zu arbeiten. Er war in vielem, auch durch sein alter, reifer als seine mitschüler. Sein bemühen wurde zum ansporn, alle hatten sich an seine immer noch schwierig zu verstehende sprache gewöhnt. Die fortsetzung der Sprachtherapie hat nicht viel gebracht. Auch die schrift war schwer zu lesen, aber inzwischen hatte Carlo eine sehr leise elektrische schreibmaschine bekommen, mit der er auch in der klasse schreiben konnte ohne zu stören.

Meine arbeit konzentrierte sich in den nachfolgenden jahren auf den versuch, durch häufige gespräche mit der ganzen familie Carlos autonomie zu fördern. Die mutter war ängstlich geblieben, aber Carlo holte sich die freiheit, bestand darauf, trotz seiner motorischen Unsicherheit, allein zur schule zu gehen. Carlo lernte auch, die hilfe seiner mitschüler zu suchen, wenn er bei den hausarbeiten etwas nicht verstand. Allmählich wehrte er sich gegen den oft noch streitsüchtigen vater, versuchte zwischen mutter und vater auszugleichen. Inzwischen verschob sich aber auch die aufmerksamkeit, die bisher nur Carlo gewidmet war, auf die ältere schwester, die mit einem von den eltern nicht akzeptierten freund ihre eigenen wege gehen wollte. Carlos behinderung und der kampf um seine emanzipation hatten sie an den rand gedrängt. Zur gleichen zeit begann der vater an einer nierenerkrankung zu leiden, die dann nach wenigen jahren zu seinem tode führen sollte. Im februar 1978 (Carlo besuchte mit fast 16 jahren das vorletzte pflichtschuljahr) konsultierte die familie Prof. Milani, der den jungen lange nicht mehr gesehen hatte. Er schreibt in Carlos akte: "Die eltern klagen über große spannungen in der familie; Carlo ist rebellisch und besessen in seinem bedürfnis, in der schule gut und pünktlich zu sein, - zum teil wird es sich um spannungen des entwickiungsalters handeln, zum teil aber auch um schwierigkeiten im verhältnis zum vater, der im augenblick selbst große probleme hat."

Ich intensiviere meine hausbesuche und die gespräche mit Carlo: Ganz klar verträgt er auch nicht, daß er nicht mehr im mittelpunkt steht. Seine schwester ist aus dem haus gegangen, und dieses drama absorbiert alle aufmerksamkeit, vermischt mit der angst um die gesundheit des vaters. Carlos vater hat sein eigenes schicksal und die außenwelt immer als etwas feindliches erlebt. Carlo hat das von ihm übernommen und ist deprimiert. "Ich habe keine freunde, weil ich spastiker bin", sagt er zu mir. "Hat dein vater freunde?" frage ich ihn und versuche ihm zu beweisen, daß alle mitschüler ausgesprochen nett zu ihm sind, daß er es ist, der sich verschließt und der seinen mißmut auf die außenwelt projiziert. Im gespräch mit der ganzen familie kommt es zutage, wie pessimistisch im augenblick in Carlos zuhause:das leben und die umwelt eingeschätzt wird.

Ich sah damals den vater täglich, denn er arbeitete als koch in der geschützten werkstatt, in der ich als psychologe tätig war. Er versuchte seiner arbeit etwas kreatives zu verleihen, indem er fast zu jedem mittagessen mit neuen gerichten überraschte.

Weil er so gut kochen konnte, verziehen ihm alle sein grobes wesen und seine aggressionen. Er entschuldigte sie mit seiner krankheit, aber ei¬gentlich ist er immer so gewesen.

Auflösung der geschützten werkstatt

Zwischen 1978 und 1980 ist es unser aller bemühen, die 1966 aufgebaute geschützte werkstatt aufzulösen. Fast täglich sitzen wir alle zusammen, behinderte und nichtbehinderte, fachleute und putzleute, und diskutieren; oft kommen auch die angehörigen der behinderten dazu. Carlos vater ist immer dabei; er berichtet vom leben und lernen in der normalität, was die behinderten in unserer werkstatt nicht kennengelernt hatten. Das zentrum wird als ghetto empfunden, als künstliche arbeitswelt, ohne kontakt mit der außenwelt. Seit 1979 wird im zentrum nicht mehr gearbeitet, sondern nur noch diskutiert: Es entsteht ein programm der "eroberung der außenwelt".

Sechsergruppen begeben sich mit den bussen des zentrums auf arbeitssuche im wohnbereich der einzelnen behinderten. Carlos vater verändert das menü, damit die speisen auf diese exkursionen mitgenommen werden können. Es geht ihm immer schlechter, und er meldet sich oft krank; diese tatsache wird benutzt, um von unserer verwaltung zu erbitten, nicht mehr die mensa zu finanzieren, sondern den behinderten und dem personal zu erlauben, auf diesen wanderungen durch die stadt in Basthöfen zu essen. Praktisch bleibt das zentrum den ganzen tag leer. Nicht alle mitarbeiter haben diesen weg gehen wollen. Das zentrum bildet für sie einen ruhigen bezugspunkt; es bietet behinderten und nichtbehinderten Sicherheit.

1980 schließt das zentrum.

Es hatte in seiner "glanz"-zeit 50 jugendliche und erwachsene körper-und geistigbehinderte betreut. Ich hatte mich 1966 begeistert um den aufbau und den ausbau bemüht. Nun hatten wir alles drangesetzt, diese leerlaufende sondereinrichtung wieder abzubauen. Von den 50 "betreuten" haben 39 arbeit gefunden. Vier leben zu hause und stehen durch zivildienstleistende junge menschen im kontakt mit der außenwelt; drei leben in einer "casa albergo", vier in einem heim alter prägung.

Das personal arbeitet heute in den einrichtungen der nach der gesundheitsreform entstandenen gesundheitsbehörde (USL), zum großen teil in ambulatorien, die sowohl die zuhause gebliebenen behinderten betreuen als auch die arbeitenden, wenn sie heilgymnastik, untersuchungen, Prothesen oder rollstühle brauchen.

Carlos vater ist ein großer kämpfer für diese entwicklung gewesen; er hatte auch ein gewerkschaftliches und ein großes politisches interesse für die eingliederung behinderter in die normale arbeitswelt. Dies war ja auch von vorneherein sein traum für Carlo.

1979 bekommt Carlo seinen regelschulabschluß: Ein reguläres examen! Mit seinem eifer und seiner zähigkeit hat er großes lob geerntet. Sicher hatte er das bild seines kämpferischen vaters vor augen, wenngleich sie sich ständig in die haare gerieten. Nach dem schulabschluß war für Carlo klar, eine arbeit suchen zu müssen. Jede woche lief er aufs arbeitsamt - ein ganzes fahr lang. Der mißerfolg und das warten verstärkten seine depressionen. Sein vater hatte nun schon nicht mehr die kraft zu kämpfen und zu schimpfen. Dafür tat es Carlo um so mehr; bei streiks und umzügen humpelte er immer allen voran. Dann kam schließlich der große tag: "Nuovo Pignone" hatte fünf behinderte angefordert. Carlo wurde angestellt.

Im november 1983 ist Carlos vater gestorben. Carlo lebt nun allein mit seiner mutter. Sie erzählt mir, daß er über seine arbeit nach wie vor begeistert ist und daß er in diesen tagen im fabrikbereich einer neuen, verantwortungsreicheren aufgabe zugewiesen werden wird.

Er geht ganz in seiner arbeit auf, macht aber zu hause seiner mutter das leben schwer, wie es der vater getan hatte. Mutter und sohn leben nun alleine zusammen und werden alle probleme durchleben, die ein solches verhältnis mit sich bringt. Carlo sucht den psychologen schon lange nicht mehr auf, aber die mutter bittet öfters um rat und stütze.

Zwei aspekte stehen in dieser chronik im vordergrund.

Der eine ist, daß nicht die behinderung an und für sich hemmend in der entfaltung eines lebens ist, sondern wie sie vom betroffenen individuum und vor allem von der umwelt verarbeitet wird. Diese realität erklärt, warum therapie und rehabilitation oft mystifizierend an der oberfläche der probleme haften bleiben. Es ist nicht die gesundung des behinderten, die für die erfüllung seines lebenszieles entscheidend wird. Wie in jedem menschen ist auch für ihn das wohlbefinden ein verschmelzen der individuellen kräfte und bedürfnisse mit den bedingungen der außenwelt. Im menschlichen bereich kann die verschmelzung nur als reziproker prozeß verstanden werden.

Carlos sprache ist heute noch genauso schwer zu verstehen wie vor den zahlreichen therapieversuchen,

seine bewegungen sind noch ganz charakteristisch für das klinische bild, das seine bewegungsstörungen determiniert hat,

sein charakter erschwert freundschaften, wie es schon dem vater ergangen ist,

sein erfolg in der arbeit liegt in seiner zähigkeit und in seinem willen, tätig zu sein, was schon sein verhalten in der schule bestimmt hatte.

Das unverständnis seiner ersten lehrerin hat ihn im durchhalten geschult,

das vertrauen des nachfolgenden lehrers hat sein selbstvertrauen gestärkt.

Im zusammenspiel von selbstbestimmung und umweltgegebenheiten vollzieht sich ein schicksal, das aber nicht unbedingt charakteristisch für behinderung ist. Carlo ist ein mensch geworden mit grenzen und problemen, wie sie alle menschen haben.

Es ist auch bestimmt nicht die schule gewesen oder die jahre der rehabilitation, die seine behinderung kompensiert haben, noch hätte man sich eine ausbildung denken können, die imstande gewesen wäre, ihn so perfekt in die arbeitswelt zu integrieren. Wir hatten jahrelang den fehler begangen, rehabilitation als mechanistisches ergebnis von gesundung, ausbildung und anpassung an die bedürfnisse der umwelt zu verstehen. Vergaßen dabei, daß auch die menschliche umwelt anpassungsfähig ist, daß zivilisation sich entwickelt und daß ein mensch auch anders sein darf.

Und hier der zweite aspekt, der diese geschichte charakterisiert: Es gibt keine noch so hochgeschulte und spezialisierte umwelt, selbst in einer industriegesellschaft, in der nicht der behinderte mitwirken kann. Es kommt nicht so sehr darauf an zu bestimmen, was er kann und wie er zu schulen sei, sondern es kommt darauf an, ob man ihn will.

Das gleiche gilt für die schule. Nehmen wir auch an, daß man sich der logik beugen muß, einem arbeiter, der die beete in den anlagen einer fabrik säubert, kein metallarbeitergehalt geben zu können. Die leute im betriebsrat des "Nuovo Pignone" haben mir das gut erklärt. Carlos tätigkeit ist zu seinem glück unmittelbar an den teuren produktionsprozeß gebunden. Er bekommt heute das normale, gute gehalt eines metallarbeiters. Unsere arbeitsgruppe (ärzte, psychologen, sozialpädagogen) hat sich eine woche lang, zusammen mit dem betriebsrat des "Nuovo Pignone", damit beschäftigt, in dem riesigen betrieb zu entdecken, welche arbeitsplätze für ungeschulte, schwerer behinderte, auch geistigbehinderte sein könnten, die in der normalen berufsschule nicht mitgekommen sind. Wo kann man in einer solchen fabrik nur aus erfahrung lernen? Die arbeitsgruppe hat u.a. tätigkeiten herausgearbeitet, die diesen bedingungen entsprechen; z.b. streichen, spritzstreichen, säubern, ordnen, sammeln, stapeln, verpacken, in der mensa tische wischen, erfrischungskarren schieben, spülmaschinen vorbereiten, botendienste leisten und vieles mehr. Diese arbeitsgänge sind fast alle firmen anvertraut, die nicht zum betrieb gehören.

Eine arbeitsstunde in einer modernen, metallverarbeitenden industrie kostet unsummen (damit ist natürlich nicht das geld gemeint, das dem arbeiter für eine arbeitsstunde zukommt).

Deshalb werden verpackungsprobleme, pflege und reinigung der anlagen, kantinenbetriebe usw. firmen anvertraut, die mit geringeren kosten arbeiten können.

Der betriebsrat des "Nuovo Pignone" versprach, nicht nur im vertragsabschluß mit diesen firmen sich dafür einzusetzen, daß diese arbeiten schwerer behinderten in immer größerem maße zugänglich werden, sondern auch zusammen mit der direktion die kostenfrage und damit die arbeitsverträge im zuge der besetzung von stellungen dieser art einer neuen gewerkschaftlichen beurteilung zu unterziehen. Die logik der konkurrenzfähigkeit ist zwar vom wirtschaftlichen gesichtspunkt aus verständlich, kann aber nicht der einzige maßstab einer zivilisierten gesellschaft sein, wenn sie nicht an unmenschlichkeit erliegen will.

Das ziel ist, diese weniger "tüchtigen" menschen in unser leben einzubeziehen und sie nicht in einer werkstatt vor uns zu schützen. Das ziel ist auch, überhaupt behinderte in der arbeitsfindung zu privilegieren, denn für die meisten von ihnen wird arbeit zur kompensation und zum lebensinhalt, viel mehr als das für nichtbehinderte der fall ist. Produktiv ist dann ein jeder, der sein leben meistert.

Am 9.2. 82 richtet der betriebsrat des "Nuovo Pignone" ein schreiben an presse, gewerkschaften und gemeindeverwaltung, das einen erfahrungsbericht über die integration behinderter im betrieb enthält (s. anhang 5). Unter anderem ist darin zu lesen: "... Aus dieser Erfahrung haben wir gelernt, daß es falsch ist, Menschen nach festliegenden Produktionsnormen zu beurteilen. Ein Behinderter wird von vorneherein als unproduktiv erlebt und deshalb an den Rand gedrängt. Aber wir alle können behindert werden. Es handelt sich aber nicht darum, Menschlichkeit und Solidarität zu erwecken. Was wir wollen und was vorwärtsgetragen werden muß, ist ein politischer Kampf, der es allen Kräften unserer Gesellschaft erlaubt, sich zu entwickeln .../Um dies zu bewirken muß der Betriebsrat in engem Kontakt mit den Arbeitern stehen, die Probleme haben, denn nur so können falsche Vorstellungen und absurde Ängste abgebaut werden."

Florenz, August 1984

Otto Ludwig Roser

4.6. Die arbeit von Milani-Comparetti und ihre bedeutung nicht-aussonderung behinderter Kinder in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland[49]

4.6.1. Vorbemerkungen

Jutta Schöler

In meiner eigenen entwicklung gehört Adreano Milani-Comparetti zu den menschen, die mir sicherheit gegeben haben. In wenigen gesprächen hat er mir bewußt gemacht. welche falschen fragen ich immer noch stelle. Zugleich hat er mir die sicherheit gegeben, eigene wege in Berlin zu suchen, um auch für unsere kinder (ob behindert oder nicht behindert) ein breiteres spektrum an normalität zuzulassen.[50]

Milani-Comparetti hat 1979 in Berlin zum zwanzigjährigen bestehen des bundesverbandes für spastisch gelähmte und andere körperbehinderte gesprochen und seine entwicklung weg vom aussondernden - hin zu integrativem verhalten - gegenüber menschen mit behinderung dargestellt:

"Ich selbst hatte 1958 damit begonnen, mich mit den Behinderten zu beschäftigen, und habe an dem Aufbau und der Gestaltung der ersten Einrichtungen in Florenz mitgearbeitet. Diese Einrichtungen hatten ihren Erfolg in den sechziger Jahren. Im Jahre 1958 wurde ich Direktor des Centro di Educazione Motoria 'Anna Torrigiani" in Florenz. Dieses war eine Tages- und Heiminstitution für die Rehabilitation von CP-Kindern (spastisch behinderten Kindern).

Es ist unmöglich, hier einen vollständigen Bericht unserer Aktivitäten während der ersten zehn Jahre zu geben. Während dieser Zeit wurden viele neue Hilfsmaßnahmen und Spezial-schulen geschaffen sowie Schulungskurse für Sonderlehrer und Therapeuten; all dies wurde ausgeführt mit der Überzeugung, daß dies das beste war, was wir für die Kinder tun konnten.

Dies basierte auf der überkommenen Idee, daß eine Behandlung zuerst die Behinderung vermindern müßte, so daß dann später ein normales Leben möglich würde. Dagegen möchte ich jetzt betonen, daß Rehabilitation mit dem Einbeziehen in das normale Leben beginnt und ohne dies zum Scheitern verurteilt ist.

Die Aussonderung ist in sich selbst eine Behinderung. Ich meine nicht unbedingt körperliche Einschließung, sondern die subtile Art von Aussonderung, die heimlich in so mannigfacher Weise die diagnostische Prozedur bildet, wie man den Eltern die Behandlung ihres Babys erklärt oder die Wahl einer Behandlungsmethode begründet. Das ganze Leben eines Be¬hinderten kann in solcher Weise durch Behandlung bestimmt werden, daß es unausweichlich zur Aussonderung hinführt. Von allen neugeborenen Kindern ist es das behinderte, dem es passieren kann, daß es seine Mutter wochenlang nicht sieht, obwohl es eigentlich mehr menschlichen Kontakt benötigt. Es kann sein, daß es, weil es ja in der Säuglingsklinik bleiben muß, weniger menschliche Kontakte bekommt als das schon glückliche normale Baby. Es wird dann medizinische Behandlung erfahren, manchmal isoliert von seiner Familie im Krankenhaus und in Behandlungszentren. Es wird zum Zwecke der Behandlung aus seinem Leben herausgegriffen und wird seine Laufbahn in speziellen Behandlungszentren und Sonderschulen fortsetzen. Dieses Kind wird immer das nie erreichbare Ziel verfolgen, so normal zu werden, daß es endlich in die Gesellschaft integriert werden kann.

All das macht das Kind zu einem 'Behinderten' an Stelle eines Menschen, der eine Behinderung hat, macht ihn zu einem andersartigen und besonderen Menschen, setzt ihn außerhalb der Gemeinschaft und bereitet so seine endgültige Zurückweisung aus der Gesellschaft vor. Wenn endlich die langerwartete Integration möglich erscheint, ist das Kind älter und die Barrieren sind viel schwieriger zu überschreiten, und die Gesellschaft macht das Versagen akzeptabel, indem sie goldene Käfige bereitstellt. Wir brauchten in Florenz zehn Jahre um zu verstehen, daß dieser Ansatz eine Illusion war, um zu erkennen, daß die Sozialisation des Behinderten nicht ein Ziel für die Zukunft, sondern ein Mittel für die Rehabilitation selbst ist."[51]

4.6.2. Grundforderungen

In der zeit von 1979 bis 1982 wurden für schwerer behinderte kinder betreuungsmöglichkeiten außerhalb des zentrums gefunden. Danach war die berufliche tätigkeit von Milani-Comparetti und seinen mitarbeiterInnen geprägt durch die zweiteilung:

Einerseits in einem ambulatorium (s. abschnitt 1.8.) als zuständige kinderärzte - mit dem vorrangigen ziel der suche nach normalität. Andererseits das möglichst frühzeitige erkennen von störungen innerhalb der psychomotorischen entwicklung und die daraus folgende beschäftigung mit dem kind und seinen bezugspersonen.

Milani hat sich - gemeinsam mit geburtshelferinnen - sehr intensiv mit der entwicklung der kindlichen motorik beschäftigt. Er sprach von der "sprache der motorik", die sich in der 10. und der 20. Schwangerschaftswoche entwickelt. Aus diesen beobachtungen konnte er ableiten, daß bewegungsmuster, die aufgrund von störungen im zentralnervensystem bisher als gestörte bewegungen bezeichnet wurden, in frühen phasen der kindlichen entwicklung sinnvoll waren. Beim spastisch behinderten kind fehlen bewegungsmuster. Es konnten keine funktionalen alternativen aufgebaut werden.

Aus Milanis theoretischen arbeiten zur früherkennung von körperbehinderungen folgen vier forderungen für die praxis von medizinerInnen, therapeutInnen und Pädagoglnnen:

1. Den dialog mit dem kind aufnehmen!

2. Die drei dimensionen der beziehungen jedes kindes respektieren!

3. Die eltern als die eigentlichen experten ihrer kinder ernstnehmen!

4. Die normalität der kinder fördern!

Zu 1.: Den dialog mit dem kind aufnehmen!

Milani nahm die kinder so ernst, daß er sie nicht in eine testsituation brachte. Er sagte z.b.: "Früher wurden Sprungbereitschaftsreaktionen vom Untersucher ausgelöst; heute sieht man am Sitzen, daß die Sprungbereitschaftsreaktion vorhanden ist."

Während Milani sich mit den eltern unterhielt, nahm er mit dem kind langsam durch schnalzgeräusche, mimik oder gestik die kommunikation auf. Er vertrat den standpunkt, es sei aufgabe des untersuchers, als spezialist die "vorschlagende Identität" des kindes zu erkennen. Es ist nicht der erwachsene, der die vorschläge macht, und das kind hat irgendwie zu reagieren, sondern: Der erwachsene muß auf die vorschläge des kindes reagieren und mit ihm in einen dialog treten. Dazu gehört, daß immer gegenseitige mitteilungen ermöglicht werden müssen.

"Unsere Aufmerksamkeit ist also nicht so sehr auf das Studium der Antworten als auf das Studium der Vorschläge zu lenken, und das bedeutet, die reizgebende Arbeitsweise zu verlassen. Reize qibt man Versuchstieren, aber nicht Kindern; denn die reflexen Mechanismen und Antworten sind gerade die Negation der Botschaft, die wir erhorchen, und der Mitteilung, die wir fördern, und des Dialogs, den wir beginnen wollen. Reiz und Antwort erschöpfen sich gegenseitig und schließen einen Kreis, der zweidimensional bleibt und die dritte Dimension der Entwicklung und des Schöpferischen ausschließt."[52]

Zu 2.: Die drei dimensionen der beziehungen jedes kindes respektieren

  • Ganzheitliche seiner person

  • Zugehörigkeit des kindes außenwelt

  • Entwicklung, die seine zukunft betrifft

Im Gespräh mit Miliani berichtete ich von einem jungen mit einer spatischen behinderung in den armen und beinen, der mit etwa zehn Jahren zum ersten Mal in seinem leben allein schaukelte und dabei offentsichlich war. [53]

Der körperbehinderte pädagoge, der dem gespräch zugehört hatte, griff das beispiel auf:

Beim schaukeln lernen die kinder völlig falsche bewegungsmunster. Wenn die nicht rechtzeitig vermieden werden, ist es für immer zu spät.Das kind kann einen rundrüken kriegen und die hand ganz verkümmern.

Milanis antwort: "Wie gut, daß das kind endlich einmal das angenehme gefühl hatte zu schaukeln."

"Es gibt keine falschen Bewegungsmuster: Wenn wir isoliert die Haltung des angewinkelten Armes bei diesem Kind sehen und erschrecken vor der uns verkrampft erscheinenden Haltung, dann können wir überhaupt nicht wahrnehmen, daß das Kind im gleichen Moment eventuell die Beine anhebt, um nicht im Schwung auf dem Boden anzustoßen.

Für die Haltung des Armes gibt es Alternativen. Es gibt gute und schlechte Alternativen. Aufgabe der Therapeutin in einer solchen Situation wäre, dem Kind die guten Alternativen zu zeigen.

Wir müssen die ganzheitliche Dimension der Person des Kindes beachten: Arme und Füße zugleich sehen, den Dialog aufnehmen und an den Augen, dem Lachen oder der Mimik erkennen, daß es Spaß macht.

Für ein Kind ist es schlimmer, nicht schaukeln zu dürfen, als keinen Arm zu haben.

Zur Außenwelt eines normalen Kindes gehört es, auf einen Spielplatz zu gehen und zu schaukeln. Dort trifft es andere Kinder, knüpft Beziehungen. Aber stellen Sie sich bitte vor, was es für das Kind, seine Eltern oder die Erzieherin im Kindergarten bedeutet, wenn es ihm wegen angeblich falscher Armhaltung verboten wird zu schaukeln!"

Der körperbehindertensonderpädagoge entgegnete Milani, es sei doch möglich, daß das kind sich verkrampft oder von der schaukel fällt!

Milanis antwort: "Wenn Erwachsene diese Angst haben und zugleich erkennen, daß das Kind schaukeln will, dann müssen wir uns eine Schaukel einfallen lassen, aus der das Kind nicht herausfallen kann, oder es in der Schaukel anschnallen.

Unserer Erwachsenenängste wegen einem Kind all die Erfahrung nehmen, die es beim Schaukeln machen kann, bedeutet, seine Entwicklung hemmen." [54]

Zu 3.: Die eltern als die eigentlichen experten ihrer kinder ernst nehmen!

Wie wichtig für Milani die eitern als die eigentlichen experten ihrer kinder waren, will ich an einem bericht von Eckhard Jäger über die visiten im zentrum Anna-Torrigiani deutlich machen:

"Zuerst einmal geht es Milani-Comparetti darum, sich möglichst genaue Vorinformationen zum aktuellen Anlaß des Besuchs und zum bisherigen Lebens- und Leidensweg des Kindes zu verschaffen, noch bevor er mit den Eltern und dem Kind Kontakt aufgenommen hat. (...)

Nach dieser Vorbereitung beginnt die eigentliche Visite. Im Gespräch mit den Eltern geht es nicht so sehr um medizinische Anamnesedaten - (...) Katastrophenmedizin, sondern an erster Stelle steht das konkrete Problem, wie es sich den Eltern jetzt stellt bzw. in der vergangenen Zeit stellte. Ist die Tochter oder der Sohn, um die es ja eigentlich geht, in der Lage, sich irgendwie verständlich zu machen, beschränkt sich das Gespräch natürlich nicht nur auf die Eltern und Prof. Milani-Comparetti. Allein in der Mehrzahl der Fälle spielt sich das Gespräch wirklich nur zwischen den Er¬wachsenen ab. Dabei vermittelt Prof. Milani-Comparetti durch sein Verhalten den Eltern die Gewißheit, daß sie von ihm absolut und uneinqeschränkt ernst genommen werden! Die Position der Eltern ist hier nicht die der Unwissenden (der Arzt weiß alles, die Eltern haben von der Medizin keine Ahnung), nicht die der passiven Empfangenden (der Arzt allein sagt, was die Eltern alles tun müssen) und nicht die der Verurteilten (die Eltern erfahren unterschwellig eine Schuldzuweisung für die Krankheit des Kindes). Die Gesprächsatmosphäre bestärkt die Eltern ganz automatisch in ihrem Gefühl, zusammen mit ihrem Kind die Hauptakteure der Bahnung von Normalität zu sein.

Die Gewißheit der Eltern, selbst mitwirken zu können bei der Aufgabe, dem Kind alle Möglichkeiten zu geben, mit seiner Behinderung zurechtzukommen und sein Leben so gut es geht selbständig zu gestalten, ist eine zentrale Voraussetzung bzw. bereits der erste Schritt in Richtung der Normalität. Die Eltern werden dadurch viel aktiver, sie zeigen viel mehr Einfallsreichtum, was die Lösung irgendwelcher konkreten Probleme des Alltags angeht; einfach dadurch, daß sie sich verantwortlich fühlen für das Wohlergehen ihres Kindes. Diese Gleichwertigkeit der Gesprächspartner im Beratungsgespräch, das gemeinsame Suchen einer Lösung des Problems negiert natürlich nicht die höhere medizinische Sachkenntnis von Prof. Milani-Comparetti. Aber dieser Unterschied innerhalb der Fachkompetenz wird hier nicht mißbraucht für ein unbegründetes und auf jeden Fall unangebrachtes Positionsgefälle zwischen Arzt und 'Patient'. Milani-Comparetti versteckt sich nicht hinter seiner neuropsychiatrischen Kompetenz. (...)

Er erklärt z.B. den Eltern, warum diese oder jene Bewegungsweise für die motorische Entwicklung des Kindes sinnvoll ist oder weshalb auf bestimmte Punkte beim Sitzen oder Liegen geachtet werden sollte etc. Die Eltern ihrerseits haben vielleicht gegen den einen oder anderen Vorschlag irgendwelche Bedenken einzuwenden. Schließlich wird das gemeinsame Beraten zu irgendeiner Lösung führen, die einerseits vom klinischen Gesichtspunkt aus betrachtet die Verbesserung der Lage der Kinder verspricht und die andererseits von den Eltern akzeptiert werden kann und daher auch in die Tat umgesetzt wird. (...)

Sollen die Eltern die Verantwortung für das Wohlergehen ihres eigenen Kindes wieder selbst in die Hand nehmen, ist es unumgänglich, sie über die tatsächliche Situation ihres Kindes in Kenntnis zu setzen. Genau hier sind wir aber am 'Nerv' des Umgang mit den Eltern angelangt: 'Tausend Dinge sehen, aber nur ein Ding sagen' soll nicht als Verharmlosung der Realität verstanden werden. Den Eltern die volle Wahrheit über die Situation ihres Kindes mitzuteilen, bedeutet nicht, daß dies zwangsläufig ohne Respekt vor der psychischen Situation der Eltern geschehen muß, nur weil die Wahrheit in diesem Falle eben sehr hart ist und die Eltern früher oder später mit dem Schmerz konfrontiert werden müssen. Das Leid, welches mit einem behinderten Kind verbunden ist, kann nicht verhindert werden; es geht darum, die Eltern darin zu unterstützen, Kräfte zu mobilisieren, um mit diesem Leid leben zu können." [55]

Monika Aly, die längere zeit mit Milani-Comparetti zusammengearbeitet hat, hierzu:

"Es ist ein großer Unterschied, ob wir einer Mutter sagen; Ihr Kind wird in absehbarer Zeit sitzen können, Sie können dabei das Kind auf diese oder jene Art unterstützen, oder ob wir sagen: Ihr Kind ist schwer- oder schwerstbehindert und wird niemals laufen können." [56]

Zu 4.: Die normalität der kinder fördern!

Milani-Comparetti hielt es für unerläßlich, der suche nach den positiven zeichen den vorrang zu geben und nicht der suche' nach den defekten. Er verwies auf die positiven effekte dieses vorgehens für die familie. Für die entwicklung der motorik hat Milani-Comparetti nachgewiesen, daß es sich bei den bewegungsmustern, die bisher als krankhaft bezeichnet wurden, um einschränkungen handelt. - Bewegungen, die eventuell in der vorgeburtlichen phase funktional waren. Wenn das kind von sich aus keine funktionalen alternativen zu den fehlenden bewegungsmustern entwickeln konnte, dann müssen die therapeuten helfen, das vorhandene positive auszubauen.

Milani überträgt diese schlußfolgerungen auch auf die entwicklung von denkleistungen: Wenn aus irgenwelchen gründen die denkleistungen vermindert sind, dann muß bei dem vorhandenen positiven angesetzt werden!

Milani-Comparetti sagte bei seinem vortrag 1981 in Hamburg: "Merkwürdigerweise nimmt man es einem Blinden ab, daß er nicht sehen kann und hilft ihm, Alternativen zu finden (wenn er nicht von selbst auf sie stößt), die ihm ein möglichst normales Leben erlauben; dies geschieht aber nicht beim geistig behinderten Kind, dessen korrekte Antwort auf den gegebenen Reiz oder auf die zu leistende Aufgabe immer als eine Frage der Intensität, der besseren Sinnesvermittlung oder der geschickteren Motivation angesehen wird, auch hier nach dem Motto: je mehr Behandlung desto mehr Resultate. Wir wissen ja, was die Verhaltenspsychologie in dieser Beziehung aus den Primaten herauszuholen im Stande ist." [57]

Ein sehr konkretes ergebnis der theoretischen arbeiten von Milani-Comparetti ist der katalog der "verhaltens- und beziehungsweisen", den die basismediziner in der Toskana (familienberaterInnen, hebammen, kinderärztInnen) verwenden, um bei allen kindern im alter von einer woche bis zu drei jahren deren normalität zu entdecken.

Ich wiederhole Milani-Comparetti: "Um zu sehen, ob bei einem Kind die Sprungbereitschaftsreaktion vorhanden ist, brauche ich nicht seine Reflexe aufzulösen, ich muß gucken, wie das Kind sitzt."

Milani-Comparetti hatte empirisch nachgewiesen, daß alle störungen im zentralnervensystem durch kleinste veränderungen der bewegungsabläufe an den händen und den füßen eines kindes abzulesen sind. Dies muß der spezialist wissen. Die basismediziner konzentrieren sich auf die normalen verhaltens- und beziehungsweisen. Erst wenn festgestellt wird, daß da störungen vorliegen, setzen die genauen beobachtungen an.

ADREANO MILANI-COMPARETTI:

INDICES DER VERHALTENS- UND BEZIEHUNGSWEISEN:

aus: Milani-Comparetti (Lit.-Liste 1982, S. 310)

Obersetzung: Eckhard Jäger

1 - 2 Wochen: Wechsel Schlaf, Wachheit. Weinen und Trostfähigkeit (Körperkontakt, Stimme, Saugen). Begegnet dem Blick der Mutter während des Saugens.

1 Monat: Rhythmus Schlaf, Wachheit, Weinen, Tröstbarkeit. Beginn von oralen Selbsttröstern. Lächelt zum menschlichen Gesicht in der Nähe. Zeigt Aufmerksamkeit für die Personen in Bewegung und für Geräusche. Erkennt den Moment der Ernährung wieder.

2 - 2,5 Monate: Schlaf, Wachheit: längere Perioden ruhigen Wachseins. Weinen und Tröstbarkeit. Kann für kurze Zeit die Stimme akzeptieren in Erwartung des Körperkontakts; orales Selbsttrösten dauert an. Lächelt zu Personen auf Distanz. Hört Stimmen und Geräuschen zu. Vokalisiert auch in Antwort auf verbale Liebkosung.

3,5 - 4 Monate: Rhythmus Schlaf, Wachheit , Weinen und Tröstbarkeit: akzeptiert verschiedene Trostweisen, lacht zur Liebkosung, erkennt gewohnheitsmäßig erfahrene Situationen wieder (Stuhlgang, Urinieren und Säuberung). Produziert auch langanhaltende Gutturallaute und spielt mit den Lauten. Hat Interesse für die angebotenen Objekte und kann sie in der Hand halten.

6 - 7 Monate: Weinen und Tröstbarkeit: Kann getröstet werden, indem Objekte und Personen ausgetauscht werden. Eindeutiges Anhängen an der erwachsenen Partner, festgelegte Reaktionen auf Mimik und Klang der Stimme, heult und protestiert, wenn es liegen gelassen wird. Spielt mit den Händen und Füßen. Streckt die Hand gegen Objekte aus. Spricht einige erkenn-bare Silben aus und kann sie wiederholen.

9 Monate: Tröstbarkeit durch Angebot und aktive Suche nach Alternativen. Verhalten gut differenziert mit Familienangehörigen und Freunden. Faßt Objekte mit Pinzettengriff. Kann Zweiersilben aussprechen und wiederholen. Beginnt mit der Gestik-Imitation (Aufwiedersehen, Händeklatschen, Grimassen. Reaktion auf den Besuch beim Kinderarzt.)

12 Monate: Versteht einfache Sätze in familiärem Umfeld und spricht einige Worte. Versteht das "Nein" und widersetzt sich Begrenzungen der Experimente. Präsentiert verführerische Variationen des Verhaltens und läßt sich nicht verwirren von Variationen des Erwachsenen. Kann neue Beziehungsweisen er-finden (Wechselseitigkeit beim Spiel, Schlauheit etc.). Reaktion auf den Besuch beim Kinderarzt.

15 Monate: Kommuniziert intensiv mit anderen, auch mit verbalen Mitteln; beginnt den Austausch mit Gleichaltrigen. Kann für einige Zeit allein spielen (Kombinationsspiele und Spiele mit Gebrauchsgegenständen); ist zur (zeitlich; E. J.) verschobenen Imitation fähig (in Abwesenheit des Modells).

18 Monate: Kann (verbal oder gestisch) auf eine es betreffende Frage antworten. Versteht etwas kompliziertere Sätze und die Pronomen, beginnt, das Verb zu gebrauchen. Unternimmt eigenständige Versuche, bevor es sich an den Erwachsenen wendet (sich ausziehen, essen etc....).

2 Jahre: Kann das nicht ihm zugewandte Gespräch oder den Wert der Adjektive verstehen. Gebraucht die Pronomen (sowohl "ich" als auch "du") und die Verben (vollständige Sätze); kann seine Wünsche ausdrücken. Beginnt, in familiären Situationen Vorfälle zu erzählen und Vermutungen zu äußern.

2,6 - 3 Jahre: Das Spiel erweitert sich manchmal auf Gleichaltrige. Kann sich der alltäglichen Dinge bedienen und sie in seiner Fantasie ausarbeiten, ist von der Neuigkeit begeistert, deren Oberbringer der Erwachsene seines Vertrauens ist. Beginnt, den graphischen und gestischen Darstellungen Bedeutungsgehalt zu verleihen..."

Schulreform in Italien

Die arbeiten von Milani-Comparetti können nur richtig verstanden werden im konktext der gesellschaftsreformen in Italien nach 1968.

Zur psychiatriereform (gesetzliche regelung: mai 1978) und zur gesundheitsreform (dezember 1978) will ich hier keine spezifischen aussagen machen. [58] (Vgl. auch abschnitt 1.8. in diesem buch)

Viel weniger bekannt bei uns als die psychiatriereform [59] und zugleich für die arbeiten von Milani-Comparetti sehr wichtig ist die Schulreform.

1976 wurden die sonderschulen per gesetz in ganz Italien abgeschafft. Dies war nicht eine von oben verordnete plötzliche veränderung, wie viele bei uns meinen, sondern eine entwicklung wurde gesetzlich verankert, die seit ca. 10 jahren vorbereitet war. Die Democrazia Christiana sah sich gezwungen, diese initiativen aufzugreifen, um nicht weitere wählerstimmen zu verlieren. Das für ganz Italien gültige gesetz, nach dem jedes kind - unabhängig von der art und vom grad der behinderung - den anspruch hat, in eine regelschule aufgenommen zu werden, wurde mit den stimmen der Democrazia Christiana verabschiedet.

Entscheidenden einfluß auf diese entwicklung hatte das buch der schüler von Barbiana. Der katholische priester und pädagoge - Don Lorenzo Milani - war ein bruder von Milani-Comparetti.

Don Milani hatte erkannt und mit seinen Schülern der italienischen öffentlichkeit bewußt gemacht, daß die aussonderung an den schulen vor allem die arbeiterkinder und die kinder auf dem lande traf.

In ihrem "brief an eine lehrerin" schrieben die Schüler:

"Wem hätte es zugestanden, einem Menschen einhalt zu gebieten, der zwei von vier Schülern durchfallen läßt? Der Direktor hätte es tun können, oder der Schulrat? Aber sie haben es nicht getan. Die Eltern hätten es tun können. Aber solange Ihr (die Lehrer) das Heft des Messers in der Hand haltet, werden die Eltern still sein. Dann muß man also entweder Euch jedes Messer (Zensuren, Zeugnisse, Prüfungen) aus der Hand nehmen oder die Eltern organisieren. Eine ordentliche Gewerkschaft von Vätern und Müttern, die imstande sein muß, Euch zu erinnern, daß wir Euch bezahlen und daß wir Euch bezahlen, um uns zu dienen, nicht um uns hinauszuwerfen.

Das wäre zuletzt zu Eurem Besten. Wer nie von Kritik getroffen wird, altert übel. Er verliert den Kontakt zur Geschichte, die lebt und fortschreitet. Er wird zu einem so armseligen Geschöpf, wir Ihr es seid." [60]

1967 - einen monat nach dem erscheinen des buches - starb Don Lorenzo Milani.

Die studenten und die arbeiterbewegung griffen dieses buch 1968 auf. Die deutsche übersetzung, die 1970 erschien, hatte auch bei uns in den diskussionen um Schulreformen eine große bedeutung. Viele der forderungen, die in dem buch "Scuola di Barbiana" nachzulesen sind, sind bei den reformen der staatlichen italienischen schulen beücksichtigt worden. Es waren vor allem die mütter und väter in den Industriegewerkschaften, die diese reformen durchgesetzt haben. Heute sind die klassenfrequenzen in Italien erstaunlich niedrig.

In Italien sind an die stelle der ziffernzensuren beschreibungen getreten, die den eltern auskunft geben über den jeweiligen stand der entwicklung ihres kindes.

Es gibt keine schulreifetests: Jedes kind eines geburtsjahrganges hat das recht, gemeinsam mit den anderen gleichaltrigen kindern in die schule zu gehen.

Es gibt kein dreigliedriges mittelschulsystem (haupt-, realschule und gymnasium), auch kein kurssystem, sondern: Alle kinder besuchen eine einheitliche mittelschule. Am ende der schulpflicht erhält jedes kind eine bescheinigung, daß es die schulpflicht erfüllt hat - auch das kind, das bei uns als geistig behindert bezeichnet worden wäre. Mit dieser bescheinigung hat das kind das recht, sich in jeden zweig der oberschule einzuschreiben. Die eitern eines geistig behinderten kindes werden kaum den traditionellen zweig - gymnasium - wählen.

Wenn Milani-Comparetti die eltern der säuglinge beriet und seinen dialog mit dem kind aufnahm, dann konnte er dies tun in der sicherheit, daß sein bemühen um die förderung der normalität dieses kindes nicht mit dem beginn der schulzeit abgebrochen würde.

Wenn Milani-Comparetti die wahrung der ganzheitlichkeit in den drei dimensionen der beziehungen eines kindes forderte, dann konnte er dies tun, weil er wußte, daß das kind nicht wegen der fehlenden sehfähigkeit oder der fehlenden motorik bei der entwicklung anderer sinnes- oder körperteile eingeschränkt werden wird. Er wußte, daß dieses kind mit sicherheit den gemeinsamen kindergarten, die gemeinsame schule mit den geschwistern oder nachbarkindern besuchen wird, egal welche diagnose er stellt. Er wußte, daß die entwicklung der zukunft dieses kindes für einen langen zeitraum offen bleibt - zumindest bis zum ende der pflichtschulzeit. Die dimension seiner entwicklung, die die zukunft des kindes betrifft, ist in Italien - zumindest institutionell - nicht eingeschränkt.

Wenn Milani-Comparetti die eltern als die eigentlichen experten ihrer kinder ernst nahm, dann konnte er sicher sein, daß die eltern in dem maße ihm gegenüber ehrlich waren, wie es ihrem charakter von krisenverarbeitung entsprach.

Milani-Comparetti begann mit der förderung der normalität der kinder z.t. im alter von 1 bis 2 wochen. Er sah es als eine sehr wichtige aufgabe an, den eitern, die wegen der diagnose einer behinderung verunsichert waren, wieder sicherheit zugeben, indem er ihnen bewußt machte, welche anteile an normalität dieses kind hat.

Milani-Comparetti konnte dies tun mit der sicherheit, daß andere experten in anderen gebieten diese arbeit fortführen; z.b. sein kollege Otto-Ludwig Roser, der als psychologe regelmäßig in schulen geht und in gesprächen mit den lehrern diesen lehrern sicherheit vermittelt. Er bestärkt die lehrer darin, die anteile an normalität - auch der schwerer behinderten kinder - zu fördern. Milani-Comparetti begann seine arbeit am zentrum "Anna Torrigiani" 1957 in Florenz, als die italienische regelschule noch so aussondernd war, wie sein bruder Don Lorenzo Milani es mit den schülern von Barbiana 1967 beschrieb. Die auflösung des zentrums "Anna Torrigiani" nach 1967 wäre mit sicherheit nicht möglich gewesen, wenn sich in der zwischenzeit das italienische schulsystem (neben dem gesundheitssystem) nicht so gewaltig verändert hätte. Lorenzo Milani - als pädagoge und priester - und Adreano Milani-Comparetti - als mediziner und psychologe - hatten an dieser entwicklung einen großen anteil.

Milani-Comparetti vereinigte in seiner person seinen eigenen anspruch auf ganzheitlichkeit:

  • Als theoretiker und wissenschaftler war er sehr präzise und anspruchsvoll und in der auseinandersetzung mit fachkollegen oft hart und unerbittlich.

  • Zugleich war er den menschen zugewandt, weich und emotional, jeden dialog zulassend.

Er war einer jener menschen, die das problem der trennungen zwischen theorie und praxis bewältigt haben:

Er hat sich den respekt und die anerkennung seiner fachkollegen erarbeitet und zugleich den dialog mit allen menschen in der Praxis nicht abgebrochen. Er brauchte den praktikern, mit denen er kooperierte (therapeuten, hebammen usw.) nie theoriefeindlichkeit vorzuwerfen, weil er seine theorie in der Praxis so vermittelt hat, daß sie überzeugte. Ich bin ganz sicher, daß in Italien nach dem tod von Milani-Comparetti seine arbeit weitergeführt wird; es gibt dort viele menschen, die in den letzten jahren mit ihm zusammengearbeitet haben und mit ihm gemeinsam junge kolleginnen und kollegen ausbildeten.

Adreano Milani-Comparetti

Deutschsprachige Veröffentlichungen:

Integration - Wunsch und Wirklichkeit. In: Buch, Andrea und Heinecke, Birgit u.a.:An den Rand gedrängt, Hamburg 1980, S. 137-145 (Vortrag - Berlin 1979) rororo Taschenbuch

Adreano Milani-Comparetti und Ludwig 0. Roser:

Förderung der Normalität und der Gesundheit in der Rehabilitation - Voraussetzüngen für die reale Anpassung behinderter Menschen - In: Wunder, Michael und Sierck, Udo: Sie nennen es Fürsorge - Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Berlin 1982 (Vortrag - Gesundheitstag Hamburg 1981)

Englischsprachige Veröffentlichungen:

Milani-Comparetti und Gidoni:

Pattern Analysis of Motor Development and its Disorders

- Routine Developmental Examinaticn in Normal and Retarded Children. In: Develop. Med. Child Neur. vol 9,5 October 1967

Milani-Comparetti:

The Neurophysiologie and Clinical Implications of Studies an Fetal Motor Behavior. In: Sem. in Perinat, vol 5,2 April 1981

Italienischsprachige Veröffentlichungen

Milani-Comparetti und Gidoni:

Significato della semeiotica reflessologica per la diagnosi neuroevolutiva.

In: Neuropsichiatria Infantile; fasc. 121, Aprile 1971

dies.: Dalla parte del neonato: Proposte per una competenza prognostica. In: Neuropsichiatrialnfantile: fasc. 175, Gennaio 1976

dies.: Semeiotica neurologica per la prognosi; VIII Congressonationale della Societa Italiana die Neuropsichiatria Infantile, Firenze, 1-4 Ottobre 1980

Milani-Comparetti:

Le proposte del bambino; Simposio su: Il bambino come comucazione, Milano 3-5 Ottobre 1980

ders.: Protagonismo e identitá dell' essere umano nel processo ontogenitico; Giornate Italo-Americane di Ultrasonografia, Assisi, 25-27 Marzo 1982

ders.: Interazione fra sistema scolastico e sanitario. In: salute e territorio; fasc. 3, Maggio-Giugno 1983

Die Verweise auf italienisch- und englischsprachige Veröffentlichungen von Milano-Comparetti sind entnommen: der nicht veröffentlichte Wissenschaftlichen Hausarbeit von Eckhard Jäger:

Die Methode zur Früherkennung und Prävention köperbehinderter Kinder von Prof. Dr. A. Milani Comparetti,

Fachbereich Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen,1985

Bericht über die Arbeitsweise von Milani-Comparetti in: Monika Aly, Götz Aly, Morlind Tumler:

Kopfkorrektur - oder der Zwang gesund zu sein, Berlin (Rotbuch) 1981

Eindrücke über die Entwicklung des italienischen Schulsystems vermitteln:

Scuola di Barbiana, Die Schülerschule - Brief an eine Lehrerin, Berlin (Rotbuch),1970, Originalausgabe 1967

(der Initiator, Lehrer und "Vater" von Barbiana war Don Lorenzo Milani - ein Bruder von Adreano Milani-Comparetti).

Lisa Brink/Leonore Thies unter Mitarbeit von Gerd Iben: Nachforschungen in Barbiana, Weinheim u. Basel (Beltz), 1984



[17] CEPIM= Centro Piccoli Mongoloidi;"Zentrum f. kleine Mongoloide" Via A. Volta 19, 16 128 Genova, Sign. Carla Inglese

[18] vgl. kap. 1.9

[19] "lavaratori protetti"

[20] ANFASS, diese elternorganisation wird in 4.2.2 ausführlich vorgestellt und beschrieben.

[21] "Prävention" ist die offizielle bezeichnung. Faktisch gibt es bei chromosomenveränderungen keine "prävention", sondern nur das akzeptieren der daraus resultierenden behinderung oder die abtreibung. Diese erfolgt in der "Galliera", wenn beide elternteile diese wünschen und wenn sie vorher beratungsgespräche wahrgenommen haben.

[22] die namensgebung für das zentrum stammt von den eltern selbst und schien bisher noch keinerlei anstoß zu erwecken. Aus dem namen soll auch hervorgehen, daß es sich hauptsächlich um die unterstützung im kindesalter bei geistiger behhinderung handelt.

[23] Reguläre berufliche bildung. Auf diesen komplex wird im kapitel 4.5 noch umfassend eingegangen.

[24] A.N.F.F.A.S. "Associazione Nazionale Famiglie di Franciulli, e Adulti Subnormali", etwa:

Nationale Assoziation der Familien von Jugendlichen und Erwachsenen Unternormalen" - hauptsitz Via Varese 7, Rom - Florenz, Via Bolognese 232.

[25] "Beschäftigungszentrum"der Associazione

[26] Mitglieder der Assoziation

[27] Eine finanzierungsregelung

[28] Die parallelen zur deutschen "Lebenshilfe" fallen auf.

[29] Wie auch in unserem land gibt es in Italien elternverbände für "spastiker", für "blinde", für "geistig behinderte" usw.

[30] vergleiche Fußnote 11!

[31] vgl. kapitel 4.4.1

[32] portatore di handicap psico-fisico e sensoriale In: Progetto die inserimento lavorativo handicappati in aziende non sogette alla legge 482/68 der USL 12

[33] "Servizio inserimento lavorativo handicappati" - SILH

[34] "borsa di lavoro".

[35] ungefähr 360,-- DM / Umrechnungskurs 1987

[36] diese gruppe arbeitet unmittelbar in der Praxis.

[37] "formazione in situazione"

[38] Unter "handicap psichico" wird auch eine geistige behinderung gefaßt.

[39] "formazione professionale normale"

[40] "servizio addestramento lavorativo handicappati"

[41] das können und das neu bestimmte sein

[42] ungefähr 150,-- DM / Umrechnungskurs 1987

[43] "soggiorno lavoro"

[44] Diese zahl stammt aus dem jahr 1985 und beträgt heute ca. 290,-- DM / umrechnungskurs 1987

[45] "borsa di lavoro di teinpoindefinito"

[46] ungefähr 2.150 DM (umrechnungskurs 1987)

[47] 150.000 Lire im monat. Das sind ca. 215,-- DM / Umrechnungskurs 1987

[48] Der brief des betriebsrates, mit dem alle mitarbeiterInnen von NUOVO PIGNONE über diese entscheidung informiert wurden, ist im anhang 5 abgedruckt.

[49] Der hier aufgenommene text über die arbeit von Milani-Comparetti wurde erstmals veröffentlicht in der zeitschrift Behindertenpädagogik, Heft 1, 1987, s. 2 - 16. Es handelt sich um die überarbeitete fassung eines vortrages, den ich im mai 1986 an der Freien Universität Berlin gehalten habe aus dem anlaß des todes von Milani-Comparetti.

[50] Neben den von Milani-Comparetti oder, über seine arbeit vorliegenden veröffentlichungen war mir eine nicht veröffentlichte examensarbeit von Eckard Jäger eine wichtige grundlage für diese ausarbeitung. Eckart Jäger hat 1985 das 1. Staatsexamen im fachbereich Sonderpädagogik in Tübingen abgeschlossen mit der arbeit: "Die Methode der Früherkennung und Prävention körperbehinderter Kinder von Prof. Milani-Comparetti". Er hatte für diese arbeit von Milani-Comparetti die englisch- und italienischsprachigen veröffentlicheungen zur verfügung gestellt bekommen, die Milani-Comparetti als die wesentlichsten ansah (s. Literaturliste (kasten)). Milani-Comparetti arbeitete in enger kooperation mit dem psychologen Roser und den medizinerinnen Gidoni und Fantini; auch seine veröffentlichungen sind meistens das ergebnis dieser kooperation.

[51] Milani-Comparetti in: Buch, Andrea/Heinecke, Birgit: An den Rand gedrängt. Hamburg, 1980, s. 137 - 138.

[52] In: Wunder, Michael und Sierck, Udo: Sie nennen es Fürsorge. Berlin 1982, s. 82; dort auch die skizze; unterstreichungen: Jutta Schöler.

[53] Das gespräch, das ich am 6.3. 1982 gemeinsam mit zwei studentinnen aus Berlin und einem sonderpädagogik-studenten aus Reutlingen mit Milani-Comparetti führte, wurde auf tonband aufgenommen. Anhand des tonbandmitschnittes fasse ich den inhalt zusammen. Wo die aussagen wörtlich wiedergegeben werden, ist dies entsprechend gekennzeichnet.

[54] Vgl. hierzu auch Milani in: Wunder (s.o.), s. 78/79.

[55] In: Jäger (s.o.), s. 128 - 132. Eine mutter, die an einer meiner exkursionen teilgenommen hatte, fuhr mit ihrer schwerbehinderten tochter zu Milani-Comparetti, da keiner der zahlreichen deutschen mediziner, die sie zuvor besucht hatte, ihr eine eindeutige diagnose sagen konnte. Zweierlei hob sie bei ihrem bericht über die visite bei Milani-Comparetti hervor: Zum ersten mal fühlte sie sich als mutter ernst genommen. Er hatte sich mit ihr darüber unterhalten, wie es ihr während der vergangenen acht jahre gegangen war. Die diagnose: Es handelt sich um eine schwer progressive erkrankung. Das war die aussage, um die sich zu-vor alle spezialisten gedrückt hatten. Milani-Comparetti gab dieser mutter aber auch den mut, die medikamentenbehandlung nach und nach abzusetzen, die das kind in einem dauernden dämmerzustand gehalten hatte. Die mutter erlebt das kind, das von ständiger pflege abhängig ist und nicht sprechen kann, jetzt dadurch als mensch, daß es lächelt oder weint, tröstbar ist, seiner mutter zeigen kann, wann es sich wohlfühlt.

[56] In: Aly/Aly/Tumler: Kopfkorrektur - oder der Zwang gesund zu sein. Berlin, 1981, s. 29 f.

[57] Wunder (s.o.), s. 84.

[58] Basiglia, Franco: Die negierte Institution oder: Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt am Main, 1973.

[59] Hartung, Michael: Die neuen Kleider der Psychiatrie. Berlin 1980.

[60] Scuola di Barbiana. Berlin, 1970, s. 39/40, originalausgabe: 1967. Uber die entstehungsgeschichte dieses buches und die auswirkungen auf die italienische schulreform, siehe: Lisa Brink/Leonore Thies, unter Mitarbeit von Gerd Iben: Nachforschungen in Barbiana. Wein-heim (Beltz-Verlage), 1984.

Lorenzo Milani schrieb einen monat nach der veröffentlichung: Das buch ist "Frucht der Jugendlichen, außer meiner Regie (aber der Regie eines armen alten Sterbenden). (...) Es ist notwendig, daß eine oder zwei Zeitungen klarstellen, daß diese Arbeit von den Jugendlichen ist. Daß dies eine neue Art zu schreiben ist, und daß sie die einzig wahre und ernsthafte ist. Was als sehr persönlicher Stil Don Milanis erscheint, ist nur das monatelange Verweilen an einem Satz, um allmählich alles wegzustreichen, was man wegstreichen kann. Alle können so schreiben, wenn sie wollen! Es ist nur ein Problem des Nichtfaulseins.

An diesem Buch könnten wir noch monatelang arbeiten und es zu einem gründlichen Meisterwerk werden lassen, aber wir schreiben über Dinge, die zu schnell veralten. Deswegen haben wir uns entschlossen, es so, wie es ist, herauszugeben." (Milani, zit. n. Gesualdi, 1979, s. 274), s. Brink u.a., s. 95.

Anhang 1

Literatur zur schulischen situation in Italien - insbesondere zur praxis der nicht-aussonderung von kindern und jugendlichen mit behinderung

Die zusamnenstellung der literatur erfolgte - nach absprache mit Jutta Schöler - durch Ursula Mahnke.

  • Veröffentlichungen aus den jahren vor 1980 sind nur dann aufgenommen, wenn sie von uns als wichtig für die historische entwicklung eingeschätzt wurden.

  • Veröffentlichungen zur psychiatriereform wurden ausdrücklich weggelassen.

  • Die angeführten veröffentlichungen zum kindergartenbereich, zur gesundheitsreform und zur berufsausbildung sollen die hintergründe der schulreform verständlich machen.

  • In den italienischsprachigen veröffentlichungen sind für interessierte leserinnen zahlreiche weiterführende italienischsprachige literaturhinweise zu finden.

ABRAM, S.: Schule und Integration - ein Erfahrungsbericht, in: Behindertenpädagogik, 1/1985, S. 59 - 65 Ein Bericht aus Südtirol.

ALY, M./ALY, G./TUMLER, M. : Kopfkorrektur - oder der Zwang, gesund zu sein, Berlin 1981. Enthält auch Berichte über Italien.

ARNOLD; E.:Unterricht und, Erziehung im italienischen Bildungswesen. Deutsches Institut für internationale Pädagogische Forschung. Frankfurt 1981. Darstellung des italienischen Schulsystems insgesamt - vom Kinder-garten bis zur Universität, mit viel Zahlenmaterial. Zu den schulischen Voraussetzungen von Integration relativ kurz: S. 145 - 151

BALTSCHUN u.a.:Erziehung, Bildung und Therapie Körperbehinderter. Ein Vergleich Florenz (Italien) und Bremen (BRD) unter besonderer Berücksichtigung der Probleme der motorischen Förderung und der Persönlichkeitsentwicklung durch Krankengymnastik. Oberbiel 1986

BERNER, H. u.a.: Integration im deutschsprachigen Gebiet. Erfahrungen aus Südtirol, in: Behindertenpädagogik 20. Jg. 1/1981, S. 41-50

BIANCHI, M.-G.: Lehrerbildung für den Unterricht behinderter Kinder in Italien. in: DÖBRICH/KODRON/LYNCH (Hrsg.): Lehrerbildung für den Unterricht behinderter Kinder. Weinheim 1983

BLEIDICK, U.: Literatur zur gemeinsamen Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Schüler (kritische Rezension). in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 33. Jg. 12/1982,S. 890 - 902

BLUMENTHAL, L. v.: Die Betreuung der Behinderten im italienischen Schulresen, in: BLUMENTHAL, V. v.: Behinderte in ausländischen Schulen - Wege zur Integration, München 1982, S. 189 - 293

BRINK. L./THIES, L.: Nachforschungen in Barbiana, Alltag und Folgen der Schülerschule, Weinheim und Basel 1984 (s.a. Scuola di Barbiana)

BRUGGER, E.: Politische Bildung an Italiens Schulen, in: Contemporary History and Education, History and LIFE,1982 Vo. 10/1, S. 26 - 34 (in deutscher Sprache). Kurze Darstellung der Rechte von Lehrern, Schülern und Eltern.

BUCH, A. u.a.: An den Rand gedrängt. Hamburg 1980. Darin Berichte über die Integrationspraxis in Florenz.

BUCHELT, I.. Integration Behinderter in Regelschulen. Das Beispiel aus einer Mittelschule in Bologna, in: KASZTANTOWICZ, U.(Hrsg.): Wege aus der Isolation.Konzepte und Analysen der Integration Behinderter in Dänemark, Norwegen, Italien und Frankreich. Heidelberg 1986

BURLI, A.: Zur Behindertenpädagogik in Italien, England und Dänemark. Fakten, Beobachtungen, Anregungen, Luzern 1985. Die Situation in Italien wird am Beispiel der Region Parma dargestellt.

CECCINI, M.: Zur Situation der Integration von behinderten Kindern in Arezza. Italien, in Juni 1983, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 7/1986. S. 490 - 497

CALLIESS, E.,: Vertrauen und Offenheit - ein Beispiel aus Rimini, in: betrifft: erziehung, 4/1980 S. 57 - 59

CANEVARO, A.: Handicap e scuola,manuale per l'integrazione scolastica, Roma, 1983 Handbuch für die schulische Integration. Grundlegende Ubersicht über die verschiedenen Aspekte schulischer Integration. Aus dem Inhalt: die Monographie als Methode der wissenschaftlichen Begleitung/Instrumente zur Gruppenbildung/Die Zusammenarbeit mit den Gesundheitsdiensten/Glossar der wichtigsten Begriffe.

CANEVARO, A. u.a.: Scuola elementare e alunni handicappati: Ricerca sull' integrazione. Bologna 1981 Bericht über die wissenschaftliche Begleitung der Integration behinderter Kinder in Regel-Grundschulen in Bologna (erfaßter Zeitraum: 1978 - 1981)

CUOMO, N.: l'andicaps 'gravi' a scuola, interroghiamo 1'esperienza, Bologna 1982. Deutsche Obersetzung des Titels: Schwere Behinderungen in der Schule - wir befragen die Erfahrung. (Erscheint voraussichtlich im Smner 1988 in der deutschen Bearbeitung von Jutta Schöler).

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DICKENBERGES, M.: Soziales Lernen in Italien - Eine entschulte Reise - , in: betrifft: erziehung 1979, Heft 11, S. 84 - 88

DÖBRICH, P. Beschäftigung und Arbeitsbedingungen der Lehrer, Weinheim 1982

DÖBRICH, P./KODRON, C./KOLBE, M.: Lehrerbesoldung im internationalen Vergleich, Weinheim 1976

DÖBRICH,P./KODRON, C./LYNCH (Hrsg.): Lehrerbildung für den Unterricht behinderter Kinder, Weinheim 1983 (s.a. BIANCHI, M.-G.)

EUROPÄISCHE GEMEINSCHAFT (Hrsg.) : Das Sonderschulwesen in-der europäischen Gemeinschaft, Brüssel-Luxemburg 1980

FÄRBER, M./SCHUTTKE-BRUCHHÄU.SER, R.: Ich will mit meinen Schulkameraden nach Rom fahren, in: DEPPE-WOLFINGER, H. (Hrsg.): Behindert und abgeschoben. Zum Verhältnis von Behinderung und Gesellschaft, Weinheim und Basel 1983, S. 162 - 169

FALLER, E.: Die Integration Behinderter in Bologna, in: Demokratische Erziehung 7, 4/1981, S. 232 ff

FILTZINGER, 0.: Der Kindergarten in Italien, in: Sozialpädagogische Blätter, 4/1984, S. 113 - 119

FRÖHLICH, A. (Hrsg.): Die Förderung Schwerstbehinderter. Erfahrungen aus 7 Ländern, Luzern 1981. (s.a. ROSER, L. 1981)

GADOLA, B./SEILER- FREI, G.: Die Eingliederung behinderter Kinder in die öffentlichen Schulen Italiens - dargestellt an einem Fallbeispiel aus Parma, in: Vierteljahreszeitschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 2/1983, S. 244 - 250

GALLIANI, L.: Situation und Probleme der Sonderpädagogik in Italien, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 33. Jg. 4/1982,S. 193 - 203

HERMANN, G.: Das Auge schläft bis es der Geist mit einer Frage weckt. Krippen und Kindergärten_ in Reggio/Emilia, Berlin 1984

KASZTANOWICZ, U. (Hrsg.): Wege aus der Isolation. Konzepte und Analysen Behinderter in Dänemark, Norwegen, Italien und Frankreich, Heidelberg 1986 (2. erweiterte Auflage)

(s.a. BUCHELT, I.)

LUNETTA, F.: Die Integration behinderter Kinder in das "normale" italienische Schulwesen, in: Bildung und Erziehung 3/1985, S. 327 - 341

MARBURGER BUND (Hrsg.): Das italienische Gesundheitswesen im Umbruch vom Kassensystem zum nationalen Gesundheitsdienst, Erlangen 1981

MILANI-COMPARETTI, A./ROSER, L.: Förderung der Normalität und der Gesundheit in der Rehabilitation, in: Forum für Medizin und Gesundheitspolitik, Heft Nr. 19,Berlin 1982

NETZBAND, B.: "Nicht-an-den-Rand-drängen". Erfahrungen mit der gemeinsamen Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Schülern in Florenz, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 34. Jg. 3/1983 S. 181 - 184

PREUSS-LAUSITZ u.a.: Integrative Förderung Behinderter in pädagogischen Feldern Berlins, Berlin 1985

PRIESTER, K.: Schulkampf in Italien, in: Demokratische Erziehung 1/1975,S. 93 - 98

RAITH, W.: Gegenschulen in Italien, in: päd. extra 6/1977, S. 23 - 33

RAITH, W. u. X.: Manche Lehrer schluchzen um die guten alten Ziffern-Zensuren, in: päd. extra 5/1981, S. 37 - 39

RAITH, W. u. X.: Scuola di barbiana: die Linke hat eine Legende daraus gemacht, in: päd. extra 7/8 1981,S. 51 - 55

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RAITH, W. u. X.: Behinderte Kinder gemeinsam mit anderen, Reinbeck 1982

RAITH, W. u. X.: Ein tiefes Loch nach der Schule, in: päd. extra 9/1984, S. 10 - 11

ROSER, L.: Schule ohne Aussonderung in Italien - Widerstände und Schwierigkeiten, in: Berliner Lehrerzeitung 1/1981,S. 7 - 8

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ROSER, L.: Integration Behinderter in Italien: Anspruch und Realität, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 4. Jg. 1981, Nr. 3, S. 28 - 33

ROSER, L.: Wer hat Angst vorm behinderten Schüler? in: päd. extra 10/1981, S. 40 - 44

ROSER, L.: Die Förderung schwerstbehinderter Kinder im Florentiner Integrationsmodell. Individualisierte Betreuung in der sozialen Umwelt, in: FRÖHLICH, A. (Hrsg.): Die Förderung Schwerstbehinderter. Erfahrungen aus 7 Ländern, Luzern 1981, S. 199 - 222

ROSER, L.: Hilfe für Behinderte in der Gemeinde - Ursache oder Folgen der Auflösung von Behindertenzentren oder Sonderschulen? in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft,2/1982, S. 21-25

ROSER, L.: Schule ohne Aussonderung in Italien, in: DEPPE- WOLFINGER, H. (Hrsg.): Behindert und abgeschoben, Weinheim und Basel 1983, S. 155 - 161

ROSER, L.: Förderung Behinderter durch eine aufgeschlossenere Umwelt im natürlichen Lebensbereich. Erfahrungen und Vorschläge, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 1/1983, S. 45-50

ROSER, L.: Brücken zu Schwerstbehinderten, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 4/1983, S. 53 - 57

ROSER; L.: Die Förderung der Normalität der behinderten Kinder, in: PREUSS-LAUSITZ u.a. (Hrsg.): Integrative Förderung Behinderter in pädagogischen Feldern Berlins, Berlin 1985, S. 72 - 86

ROSER, L.: Gemeinsam lernen - gemeinsam arbeiten, in: PREUSS:LAUSITZ u.a. (Hrsg.): Integrative Förderung Behinderter in pädagogischen Feldern Berlins, Berlin 1985,S. 87 - 90

ROSER, L.: Ein unbequemer Mensch, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 4/1986,S. 2 - 5

ROSER, L.: Gegen die Logik der Sondereinrichtung, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 2/1987,S. 36 - 53

ROSER, L./MILANI-Comparetti, A.: Förderung der Normalität und Gesundheit in der Rehabilitation. Voraussetzung für die reale Anpassung behinderter Menschen, in: WUNDER, M./SIERCK, U. (Hrsg.): Sie nennen es Fürsorge, Berlin 1982, S. 77 - 88

SANDER, A.: Ein zweiter Besuch in Volterra, in: Behindertenpädagogik 24. Jg. 1/1985, S. 53 - 59. (s.a.: THANNHÄUSER: Integration behinderter Kinder in Italien)

SANDER, A.: Können wir von Italien lernen? in: Westdeutsche Schulzeitung (GEW Rheinland-Pfalz), 94/1985,S. 3 - 4

SCHÄFER-KUBLER, D.: Im ersten Schuljahr hat Francesca laufen und essen gelernt. Behinderte in der Regelschule - Das Beispiel einer Grundschule in Rom, in: päd. extra 3/1981,S. 22 - 25

SCHMEICHEL, M.: Schulische Integration Behinderter in kooperativen Klassen, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 8/1983,S. 545 - 550 Bericht über einen Besuch in einer deutschen Schule in Meran.

SCHOLER; J. (Hrsg.):Schule ohne Aussonderung in Italien. Eine Exkursionsgruppe berichtet von ihren Erfahrungen, Berlin 1983

SCHOLER; J.: Das Zusammenleben von "Behinderten" und "Normalen" ist Normalität - Integrationspraxis in Italien, in: VALTIN, R. u.a. (Hrsg.): Gemeinsam leben - gemeinsam lernen, Frankfurt 1984, S. 298 - 317

SCHÖLER, J.: Der mühevolle Weg zur Autonomie, Teil I: Nadja, in: päd. extra, 7/8 1986 S. 42 - 45, Teil II: Francesco, 9/1986, S. 36 - 39

SCHOLER, J.: Die Arbeit von Milani-Comparetti und ihre Bedeutung für die Nicht-Aussonderung behinderter Kinder in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Behindertenpädagogik, 1/1987, S. 2 - 16

SCHWEDTAUER, K.: Integration in Italien. Eindrücke eines Florenzbesuches, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 1/1983, S. 51 - 53

SCUOLA di Barbiana: Die Schülerschule - Brief an eine Lehrerin, Berlin 1970. Originalausgabe: Lettera a una Professoressa, 1967 Gibt einen Einblick in die Situation der italienischen Regelschule vor den Reformgesetzen der 70er Jahre. (s.a. BRINK/THIESS)

SPUDICH, H.: Die Bereitschaft der Gesellschaft, sich zu ändern, in: Lebenshilfe (Österreich),3/1984,S. 6 - 9. Ein Interview mit G. Dybward, ein amerikanischer Professor für menschliche Entwicklung, der einige Zeit in Italien gelebt hat.

STÄNDEL- BUCHMANN/STÄNDEL: Reggio: Stadt ohne Kinder? Wahrnehmung als Schlüsselwort der Pädagogik, in: Pädagogik heute 11/1986, S. 44 - 48

THANNHÄUSER u.a.: Integration behinderter Kinder in Italien, in: Behindertenpädagogik 22. Jg. 4/1983, S. 306 - 359 (s.a.: SANDER: Ein zweiter Besuch in Volterra)

THIEL; T.: Lernen mit dem Kopf und Lernen mit der Hand. Ein Beispiel aus Pavia, in: betrifft: erziehung 4/1980, S. 60 f

TRISCIUZZI, L.: L'integrazione degli handicappi nella scuola dell' obbligo, Teramo 1980

VOGES; W./HOSCHKA; A.: Die Wirksamkeit der Doposcuola. Eine empirische Untersuchung über schulbegleitende Hilfen für italienische Klassen der ersten bis fünften Klasse (DJI Forschungsberichte), Weinheim 1986

WORDEL- CAVIALLI, A.: Zehn Jahre danach. Ein Erfahrungsbericht zur Integration Behinderter in italienische Schulen, in: Zeit¬schrift für Heilpädagogik 5/1987,S. 366 - 369

WUNDER, M./SIERCK, U. (Hrsg.): Sie nennen es Fürsorge, Berlin 1982 (s.a. ROSER, L./MILANI-Comparetti, A.)

ZIMMER, J./DICKENBERGER, M.: Leben statt pauken. Soziales und gemeinwesenorientiertes Lernen in oberitalienischen Kommunen, in: betrifft: erziehung 3/1980, S. 20 - 35

ZWISCHEN Aussonderung und Integration. Aspekte der Erziehung und psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg (Hrsg.), Stuttgart 1986 Erfahrungsbericht einer Projektgruppe der ev. Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen aufgrund der mehrjährigen Zusammenarbeit mit der Provinz Arezzo.

Die Broschüre ist für 5 DM erhältlich bei: Ev. Fachhochschule für Sozialwesen, Reutlingen, Prof. Dr. W. Schumann, D-7410 Reutlingen 1, Ringelbachstr. 221.

Anhang 2

Gesetz 517/1977

Das Gesetz Nr. 517 wird in der deutschsprachigen, wie in der italienischen literatur verschieden zitiert. Die gelegentlich unzutreffende kennzeichnung 517/1976 geht darauf zurück, daß die gesetzesvorlagen im wesentlichen bereits im jahre 1976 abgeschlossen waren.

Richtiger ist. die bezeichnung 517/1977. Das gesetz wurde am 4.August 1977 verabschiedet, am 18. August 1977 veröffentlicht und trat bereits zum beginn des schuljahres 1977/78 - am 1. September - als gesetzlich verbindliche grundlage in kraft.

In diesem gesetz sind eine fülle von einzelfragen geregelt, die nicht alle im zusammenhang mit der integration behinderter kinder stehen.

Hier ist nur der, text wiedergegeben, der unmittelbar die situation behinderter kinder regelt.

Übersetzung: Patricia Monti-Straub

ARTIKEL 2

Unter erhaltung der einheit der klasse kann die didaktische planung zur erleichterung der durchsetzung des rechts auf bildung und der förderung der persönlichen entwicklung jedes schülers integrierende aktivitäten enthalten, die für gruppen von schülern einer oder mehrerer klassen organisiert werden, auch mit dem ziel, individuelle, auf die bedürfnisse jedes einzelnen schülers bezogene maßnahmen zu realisieren.

Im rahmen solcher aktivitäten verwirklicht die schule integrationsformen für schüler, die träger einer behinderung sind, unter mitarbeit spezialisierter lehrer, die den schulen durch den erlaß Nr. 970 des Präsidenten der Republik vom 31. Oktober 1975 in Artikel 9 zugeteilt werden (....).

Es müssen außerdem die notwendigen spezialintegrationsmaßnahmen, der sozio-psychopädagogische dienst und besondere stützmaßnahmen je nach zuständigkeit des staates und der kommunalverbände gesichert werden - im rahmen der verfügbarkeit des haushalts und auf der grundlage des vorab festgelegten programms des distriktschulrates.

Innerhalb des zweiten monats des schuljahres erarbeitet das lehrerkollegium den plan der aktivitäten (piano dell attivitä) auf der grundlage der allgemeinen, vom schulrat (consiglio di circolo) vorgegebenen kriterien und der vorschläge der klassenräte (consiglio di interclasse - gemeint sind wohl die lehrer der klassen eines jahrgangs, d.ü.) sowie in bezug auf das in der schule vorhandene personal, zur verfügung stehende raum- und hilfsmittel und die erfordernisse der umgebung (umwelt/milieu).

Im laufe des schuljahres wird der genannte plan vom selben kollegium nachgeprüft und verbessert.

Die klassenräte finden sich mindestens einmal innerhalb von zwei monaten zusammen, um die gesamte entwicklung der didaktischen aktivitäten in ihren klassen zu überprüfen und entsprechende veränderungen in der Planung (programma di lavoro didattico) vorzuschlagen.

ARTIKEL 4

Der oder die klassenlehrer sind gehalten, einen "scheda personale" des schülers auszufüllen und auf dem neuesten stand zu halten, der angaben über den schüler selbst und seine teilnahme am schulleben enthält sowie systematische beobachtungen seines lernprozesses und des erlangten reifeniveaus.

Aus den im "scheda" registrierten elementen wird vom Lehrer oder von den lehrern der klasse pro trimester eine angemessen informierende bewertung über das allgemeine reifeniveau des schülers erstellt, dessen inhalt den eitern des schülers oder deren stellvertretern erklärt wird, in verbindung mit eventuell für den schüler vorgesehenen maßnahmen (....).

ARTIKEL 7

Um die durchsetzung des rechts auf bildung und die gesamte persönlichkeitsentwicklung der schüler zu erleichtern, kann die didaktische planung schulische integrative, auch interdisziplinäre, aktivitäten und stützmaßnahmen enthalten, die für gruppen von schülern einer oder mehrerer klassen organisiert werden, auch mit dem ziel, individuelle, auf die bedürfnisse jedes einzelnen schülers bezogene maßnahmen zu realisieren.

Im rahmen der im vorigen absatz erwähnten didaktischen planung sind integrationsformen und stützmaßnahmen für schüler, die träger einer behinderung sind, vorgesehen, die mit den lehrern, die fest oder befristet angestellt sind, eine entsprechende spezialausbildung haben und einen antrag stellen, durchgeführt werden, und zwar mit einem lehrer pro klasse, in der kinder mit behinderungen sind und nicht mehr als sechs stunden pro woche.

Klassen mit schülern, die träger einer behinderung sind, dürfen nicht mehr als 20 schüler haben. In diesen klassen müssen außerdem die not-wendigen spezialintegrationsmaßnahmen, der sozio-psychopädagogische dienst und besondere stützmaßnahmen je nach zuständigkeit des. staates und der kommunalverbände gesichert werden - im rahmen der verfügbarkeit des haushalts und auf der grundlage des vorab festgelegten programms des distriktschulrats.

Anhang 3

Didaktische rahmenpläne der italienischen grundschule

Seit dem schuljahr 1987/88 sind in Italien für die grundschule neue rahmenpläne in kraft. Sie wurden mit dem dekret Nr. 104 am 12. Februar 1985 beschlossen und zuvor breit diskutiert. Der text lag in den wesentlichen teilen bereits seit dem frühjahr 1981 der Öffentlichkeit vor.

Diese neuen grundschulrahmenpläne lösen die seit 1936 gültigen pläne ab.

Hier sind die abschnitte aus dem einleitungsteil ungekürzt aufgenommen, die sich auf die integration der "schüler mit lernschwierigkeiten und träger einer behinderung" und auf "die bewertung" beziehen.

Von den insgesamt 76 buchseiten des gesamten rahmenplanes sind hier ungekürzt die programme für die fächer "Italienische Sprache" (im original 13 seiten) und "Mathematik" (im original ebenfalls 13 seiten) aufgenommen. Die seitenangaben beziehen sich auf den offiziellen text: MINISTERO DELLA PUBLICA ISTRUZIONE: Programm didattici per la scuola primaria, Roma, 1985.

Die texte wurden von Patricia Monti-Straub übersetzt.

Für die mittelschulen gelten weiter die rahmenpläne von 1962 und 1977. Dieser text liegt deutschsprachig in einer zusammenfassenden übersetzung vor. Beim "Projekt Ausländer" des Deutschen Volkshochschul-Verbandes wurde er 1979 als grundlage für die entwicklung und erprobung von "lehrgängen für ausländische junge erwachsene zum nachträglichen erwerb des hauptschulabschlusses"übersetzt.

Schüler mit lernschwierigkeiten und integration der träger einer behinderung (s. 10 - 1Z)

Die ausübung des rechtes auf erziehung und bildung im rahmen der Schulpflicht darf nicht auf grund der anwesenheit von lernschwierigkeiten verhindert werden, unabhängig davon,ob die lernschwierigkeiten mit behinderungen oder benachteiligungen verbunden sind; zwei situationen, die nicht miteinander zu verwechseln sind.

Die benachteiligung besteht aus familiären und emotionalen mängeln, sozialen und ökonomischen nachteilen und ist mit kulturellen und sprachlichen unterschieden verbunden, die durch mangelnde intellektuelle anregungen verursacht sind. Daher soll die erzieherische und didaktische planung so gegliedert und entwickelt werden, daß der aufbau und die verwirklichung von individuellen schulischen lernwegen vorgesehen ist. Die planung soll, unter berücksichtigung der verschiedenen ausgangsniveaus, eine reihe von nachprüfbaren, orientierten lernzielen festsetzen.

Der integrationsprozeß von schülern, die träger einer behinderung sind, insbesondere einer schweren, benötigt nicht ein "ärztliches attest", sondern vielmehr eine von den spezialisierten diensten vorbereitete "funktionale Diagnose", auf grund derer die schule den erzieherisch-didaktischen vorgang planen kann.

Die funktionale diägnose soll die wichtigsten potientellen möglichkeiten und mängel hervorheben, die in der betrachteten entwicklungsphase vorhanden sind, damit die notwendigen maßnahmen im rahmen der erzieherisch-didaktischen planung, für die die lehrer zuständig sind, den bedürfnissen und der leistungsfähigkeit des einzelnen schülers besser entsprechen.

Solche maßnahmen sollen nach der förderung eines höchstmaßes an Selbstständigkeit, sachkenntnis, ausdrucks- und kommunikationsfähigkeit und - soweit wie möglich - nach der beherrschung von sprach- und mathematikgrundkenntnissen streben. Auf jeden fall darf man nicht das lernen als ziel vernachlässigen oder sogar durch eine reine "daseins-sozialisation" ersetzen, da der sozialisationsprozeß größtenteils vom lernen abhängig . ist, und der mangel an angemessenen entwicklungsfördermaßnahmen weitere aussonderungsformen verursachen könnte.

Der schüler, der träger einer behinderung ist, fordert von der schule umfassendere erzieherische hilfe und didaktische unterstützung. Während in den meisten fällen die entwicklung, verfeinerung und differenzierung der didaktischen praxis genügen kann, sind in den nicht so zahlreichen fällen, wo schüler sich in einer besonders schweren lage befinden, qualifizierte und differenzierte didaktische maßnahmen notwendig, unterstützt durch therapie und rehabilitation. In diesem rahmen soll die schule von der zusammenarbeit mit experten, sowie mit den vorhandenen öffentlichen diensten und einrichtungen gebrauch machen können.

Es ist in solchen fällen notwendig, daß die arbeit der schule von solidarischen bemühungen seitens der familie begleitet wird, sowie von der kooperation des sozial-gesundheitlichen dienstes, der vorsorge, frühmaßnahmen und fürsorge organisieren soll.

Im fall von unfähigkeiten, die durch eine besonders schwere behinderung verursacht sind, ist es zweckmäßig, innerhalb eines schuldistriktes die gründung von entsprechend ausgestatteten dienststellen vorzusehen, die das ziel haben sollen, spezielle maßnahmen durchzusetzen, in enger zusammenarbeit mit der schule, den örtlichen gesundheitsdiensten und spezialisierten einrichtungen.

Die bewertung der schulleistungen behinderter kinder kann nur in zusammenhang mit den individualisierten lernschritten und erziehungszielen, die durch die didaktische praxis angestrebt werden, stattfinden.

Auf jeden fall sollte sich die schulische erfahrung des trägers einer behinderung nach einem einheitlichen, im wesentlichen kontinuierlichen verlauf entwickeln können, entsprechend der individuellen reife und lernfortschritte.

Die bewertung (s. 14)

Die lehrer sollen systematisch und kontinuierlich informationen über die entwicklung des kenntnis- und fähigkeitsniveaus, die Lernbereitschaft, den reifeprozeß des selbstbewußtseins jedes einzelnen schülers sammeln, mit dem ziel, eine effektive bewertung der ausgangs- und endpunkte, der vorgänge, der festgestellten schwierigkeiten und der kompensatorischen maßnahmen zu sichern.

Die informationen sind in synthetischer form und nach kriterien zu sammeln, die einen positiven vergleich der individuellen und kollektiven entwicklungsstände ermöglichen.

Die methode und die mittel der informationsaufnahme sollen unterschiedlich sein und immer der betrachteten aktivität entsprechen: In manchen fällen werden objektive leistungsmessungen angewendet, in anderen fällen aufnahmeformen bevorzugt, die einer weniger formellen didaktischen praxis entsprechen.

Die gesamten systematischen beobachtungen, die die lehrer im laufe der didaktischen praxis durchgeführt haben, werden das bestgeeignete mittel für die kontinuierliche anpassung der didaktischen planung sein, indem sie den lehrern rechtzeitige änderungen und ergänzungen ermöglichen werden.

Die mitteilung der ergebnisse solch einer bewertungstätigkeit an die interessenten (familien und schulen) soll auch die gegenwärtigen und zukünftigen maßnahmen der schule in bezug auf die entwicklung des einzelnen und der gruppe dokumentieren.

Die planungs- und bewertungstätigkeit soll den lehrern die gelegenheit bieten, die tiefe ihrer psychologischen, kulturellen und didaktischen bildung zu überprüfen, auch in hinsicht auf die weiterbildung.

Italienisch

Sprache und kultur (s. 16 - 17)

Kein gesamtbegriff kann die komplexität des sprachphänomens ausführlich weitergeben. Es sind aber teilbegriffe vorhanden, die sich nützlich verwenden lassen:

a) die sprache ist mittel des denkens, nicht nur weil sie es in wörter übersetzt (und so den menschen in die lage versetzt, mit sich selbst zu reden, d.h. zu denken), sondern auch weil sie die entwicklung der geistigen vorgänge, die auf verschiedene art und weise die erfahrungen ordnen, fördert und erleichtert;

b) die sprache ist mittel zur knüpfung sozialer beziehungen, genauer gesagt, ermöglicht sie es, mit anderen zu kommunizieren und zu handeln;

c) die sprache ist das mittel, durch das sich die rationale und emotionale erfahrung des menschen am deutlichsten ausdrücken kann;

d) die sprache ist ausdruck von gedanken, gefühlen, seelenzuständen, besonders in der ästhetischen form der poesie;

e) die sprache ist ein kulturelles objekt, bestimmt durch historische zeit, geographischen raum und soziale struktur.

Auf grund all dieser aspekte, spielt die sprache eine zentrale rolle in der grundschule, sowohl als grundlage für die gesamte entwicklung des kindes, als auch in form von sprachlicher kompetenz, als Voraussetzung für das weitere lernen.

Deswegen hat die grundschule auf diesem gebiet folgende aufgaben:

a) die vermittlung von sprachkenntnissen, die für verschiedene geistige operationen geeignet sind, wie z.b.: symbolisieren klassifizieren, aufteilen, reihen, quantifizieren, generalisieren, abstrahieren, zusammenhänge herstellen (zeitlich, räumlich, kausal usw.);

b) die verstärkung der fähigkeit, durch die anwendung der vielfältigen sprachkodes, -ebenen und -funktionen, in verschiedenen kommunikationssituationen mit -in bezug auf alter, rolle und status-verschiedenen partnern, zu kommunizieren;

c) das angebot von zunehmend artikulierteren und differenzierteren sprachmitteln, die das bewußtsein und den ausdruck der persönlichen erfahrungen ermöglichen;

d) die förderung der ausdrucksversuche des kindes und seiner annäherung an die literarische weit;

e) die einführung des schülers in die erkenntnis, daß die sprache mit der menschlichen gesellschaft lebt und deren zeitlich-räumlichen und sozio-kulturellen änderungen regristiert; die förderung der fähigkeit des schülers zum historisch-kritischen denken mittels der anwendung solcher merkmale der sprache.

Der lehrer soll die ausgangsspracherfahrung des schülers kennen, und darauf seine didaktische praxis aufbauen.

Jedes kind für sich

  • besitzt vielfältige verbale und nonverbale kodes (darunter die aus den massenmedien), wobei der verbale kode der dominierende ist;

  • hat die fähigkeit entwickelt, in einer sprache oder in einem dialekt mündlich zu kommunizieren;

  • kennt die existenz der geschriebenen sprache und möchte sie, deren wichtigkeit ahnend, beherrschen.

In der realität erscheinen und setzen sich solche eigenschaften bei jedem schüler anders zusammen. Die schule soll diese unterschiede berücksichtigen, indem sie die methode und die mittel entsprechend den individuellen lernbedürfnissen differenziert.

Besondere aufmerksamkeit soll der frühzeitigen erkennung von Sprachstörungen (schwerhörigkeit, stammeln, stottern usw.) und von legasthenie gewidmet werden, um spezifische didaktische maßnahmen vorzubereiten.

Stellen die lehrer durch geeignete beobachtungen und messungen auf der ebene der wahrnehmung und der feinmotorik unzureichende lernvoraussetzungen fest, die zum schreib- und lesenlernen notwendig sind, werden sie entsprechende maßnahmen, wahrnehmungsspiele, feinmotorikübungen und psychomotorische aktivitäten einführen.

Ziele und inhalte (s. 18 - 21)

Im bereich der sprachbildung verfolgt die grundschule viele allgemeine ziele, darunter sind einige wesentliche ziele, die für alle schüler gelten.

I Die schule setzt sich das ziel, dem schüler die fähigkeit zu vermitteln, den verbalen kode zunehmend ausdrucksvoll zu verwenden, ohne die kodes anderer art zu vernachlässigen (graphisch,zeichnerisch, plastisch, rhythmisch-musikalisch, mimisch usw.), die den verbalen kode nicht ersetzen, sondern ergänzen. Innerhalb dieses zieles sollte jedem schüler das bewußtsein beigebracht werden, daß

  • es verschiedene kodes gibt;

  • jeder spezifische möglichkeiten anbietet;

  • der verbale kode besonders günstig ist, da er ermöglicht, mit

  • wenigen einfachen elementen unzählige botschaften zu formulieren; - der verbale kode den zugang zu den anderen kodes und das nach-denken darüber und über sich selbst ermöglicht.

II Die schule setzt sich das ziel, dem schüler die fähigkeit zu vermitteln, in der nationalen sprache korrekt und auf verschiedenen ebenen zu kommunizieren; von den umgänglichen und informellen ebenen bis zu den gehobenen und spezialisierten. Die mögliche Anwendung eines dialektes sollte berücksichtigt werden, in hinblick auf die kulturelle identität der umgebung des schülers. Innerhalb dieses zieles sollte jedem schüler das erreichen folgender ziele versichert werden:

  • die sprache für die alltäglichen probleme in angebrachter form verwenden zu können;

  • in der lage zu sein, in kommunikationssituationen unterschiedliche gesichtspunkte zu bemerken;

  • die vielfältigen formen des sprechens in bezug auf verschiedene situationen (z.b. mit den spielkameraden, eitern und verwandten, mit dem lehrer usw.) zu erkennen.

III Die schule setzt sich das ziel, dem schüler eine gute schreib- und lesekompetenz zu vermitteln. Verschiedene geistige tätigkeiten benötigen diese fähigkeit und profitieren aus ihrer anwendung.

Das kind soll lesen können, d.h. die bedeutung von texten, die mit unterschiedlicher intention geschrieben sind, verstehen; es soll in der lage sein, informationen aus schriftlichen texten herauszusuchen und aufzunehmen, der beschreibung, dem bericht, der erzählung zu folgen und das wesentliche zu begreifen, die wirkung von sprache und ausdruck verschiedener schreibformen zu schätzen.

Das kind soll schreiben können, d.h. es soll indirekt mit verschiedenen partnern kommunizieren, daten und hinweise aufnehmen und ordnen, eindrücke und meinungen vermitteln, beschreibungs-, erzählungs- und argumentationstexte herstellen können.

All diese fähigkeiten fließen in der textausarbeitung zusammen (umschreibung, umsetzung, wiedergabe in unterschiedlichen zusammenhängen, ordnung von themen. In diesen vorgängen kann das kind seine orginalität und phantasie zeigen; eigenschaften, die keine alternative oder einen gegensatz zur rationalität darstellen, sondern wesentliche elemente der rationalität sind). Innerhalb dieses zieles sollte jedem schüler das erreichen folgender ziele versichert werden:

  • alltägliche texte lesen und verstehen zu können, deren bedeutung und kommuniksationsintentionen in bezug auf allgemeine bedürfnisse und situationen zu begreifen;

  • einfache, auch literarische texte zu lesen, die den interpretatjonsprozeß fördern;

  • einfache, praktisch-kommunikative texte für den persönlichen nutzen (z.b. notizen) oder zur kontaktaufnahme herzustellen;

  • einfache texte zu schreiben, die eine erste, den eigenen neigungen entsprechende, persönliche ausarbeitung verwirklichen.

In diesen rahmenplänen wird aus folgenden gründen keine feste gliederung in bezug auf jedes schuljahr vorgeschlagen:

  • man ist der meinung, daß solche gliederungen von den lehrern im rahmen der didaktischen planung und in bezug auf die bedürfnisse der klasse festgesetzt werden sollen;

  • man will dem risiko entgehen, daß manche hinweise zu eng interpretiert werden und ungerechtfertigte mißerfolge verursachen;

  • es ist nicht immer möglich, auf grund der besonderen natur dieses faches, auf einen festen lernvorgang für die verschiedenen Schuljahre hinzuweisen.

Es ist dennoch möglich, in bezug auf folgende bereiche unverbindliche hinweise zu geben:

a) Fähigkeiten, welche in dem ersten grundschuljahr zu fördern sind

b) Fähigkeiten, welche im laufe der gesamten grundschulzeit zu entwickeln sind

a) Fähigkeiten, die im ersten schuljahr zu fördern sind:

Es scheint zweckmäßig, in dem ersten grundschuljahr nach folgenden zielen zu streben:

  • Fähigkeit des kindes, sich verbal auszudrücken und zunehmend auf-ausführlich über themen zu kommunizieren, die es kennt und für interessant hält;

  • schreib- und lesefähigkeit, wenigstens bis zu der grundebene, welche die zugangsphase zu dem erfüllten und bewußten gebrauch des lesens und schreibens ist.

Insbesondere sollte bis zum ende des ersten oder maximal im laufe des zweiten schuljahrs die fähigkeit erreicht werden, fließend kurze und einfache texte zu lesen und die eigenen gedanken zu formulieren und schriftlich mitzuteilen, unter berücksichtigung der wichtigsten rechtschreibregeln.

b) Fähigkeiten, die im laufe der gesamten grundschulzeit zu entwickeln sind:

Folgende fähigkeiten sind schon ab dem ersten schuljahr zu fördern und im laufe der fünfjährigen grundschulzeit weiter zu entwickeln:

  • den inhalt des gehörten oder gelesenen zu begreifen und mit anderen worten wiederzugeben;

  • in allgemeinen kommunikationssituationen sich zunehmend zweckmäßig einschalten zu können und verschiedene gesichtspunkte zu erkennen;

  • die phasen von vertrauten tätigkeiten ordentlich zu beschreiben;

  • entsprechend ausgewählte und abgestufte texte verschiedener art still zu lesen und das verstehen des inhalts in unterschiedlichen formen, die immer mehr den kommunikationsintentionen des textes entsprechen, unter beweis zu stellen;

  • mit verschiedenen partnern inhaltlich und formell immer vielfältiger und differenzierter schriftlich zu kommunizieren;

  • texte verschiedener art herzustellen;

  • den grundwortschatz erwerben und ihn nach und nach erweitern, unter anwendung der von jedem fach angebotenen gelegenheiten;

  • für wortähnlichkeiten zwischen dialekt und sprache aufmerksam zu sein, mit dem ziel, unbewußte interferenzerscheinungen zwischen den beiden sprachsystemen zu verhindern;

  • die unterschiede in der aussprache zwischen dem regional- und dem sogenannten normitalienisch zu erkennen, was auch die grundlage für die rechtschreibung beinhaltet.

Es wird insbesondere empfohlen, ab dem dritten schuljahr folgende fähigkeiten zu fördern:

  • bekannte und unbekannte texte vorzulesen und das verstehen des inhalts durch entsprechende anwendung von pausen und tonfall zu beweisen;

  • in korrekter rechtschreibung, mit guter interpunktionsanwendung, mit angemessenem Wortschatz und entsprechendem satzbau zu schreiben;

  • in zunehmend zweckmäßiger und genauer art notizen zu machen;

  • beschreibungs- , erzählungs- und argumentationstexte herzustellen;

  • informationen aus verschiedenen texten herauszusuchen und aufzunehmen (bücher, zeitungen, wörterbücher, lexika usw.);

  • einfache, auch literarische1texte zu lesen, die den interpretationsprozeß des kindes fördern und seinen sinn für ästhetik entwickeln;

  • die bedeutung eines unbekannten wortes durch nachdenken über den kontext herauszufinden;

  • einige grundlegende übereinstimmungen der wörter in einem kontext zu bemerken und nach und nach in formellen schemata zu ordnen (beugungen, änderungen usw.);

  • die grundregeln des satzbaus durch nachdenken über die sprachanwendung (mündlich und schriftlich) zu erkennen;

  • die natürliche neugierde der kinder für neue Wörter dazu zu verwenden, deren entstehungsgeschichte und bedeutungsänderungen zu erkennen, auch im fall von fremdwörtern.

Didaktische hinweise

Diese hinweise sind als hilfe für die didaktische planung zu betrachten, welche auf jeden fall die obengenannten ziele anstreben oder erreichen sollen.

Das sprechen (s. 21 - 22)

Die erste und für den weiteren verlauf entscheidende sprachliche tätigkeit des kindes in der schule ist es, mit dem lehrer und den mitschülern zu sprechen.

In dieser phase sind sprachliches verhalten und benehmen des lehrers entscheidend: Er soll eine einfache, motivierende sprache anwenden, die der rolle desjenigen entsprechen soll, der für das kind ein bedeutsames vorbild ist.

Es ist wichtig, daß von anfang an in der klasse eine atmosphäre herrscht, die die sozialisation und daher den zunehmenden sprachlichen austausch begünstigt.

Dieses ist mit der fähigkeit des lehrers verbunden, den dialog zwischen den schülern zu fördern und zu organisieren (indem er ihnen unter anderem folgende gewohnheiten beibringt: sich zu wort melden; zu warten, bis sie an der reihe sind; das von den anderen gesagte zu berücksichtigen usw.). Er soll auch kommunikationsangelegenheiten für jeden schaffen und die bedeutung der beiträge in bezug auf das thema sichern. Hier stellt sich die Wichtigkeit des zuhörens heraus, gemeint ist nicht passives hören, sondern die fähigkeit, die botschaften zu verstehen und zu interpretieren.

Die mündliche kommunikation ist auch eine wichtige quelle, um den wortschatz des kindes zu erweitern; daher wird der lehrer das erwerben von neuen wörtern in den entsprechenden konkreten situationen fördern.

Es ist zweckmäßig, kommunikationssituationen zu erkennen und zu fördern, die es dem kind ermöglichen, unterschiedliche botschaften zu empfangen und zu senden, die den verschiedenen partnern und. umständen entsprechen. Der schüler soll dahin geführt werden, varianten in seinem eigenen reden und in dem der anderen zu bemerken und dadurch das bestehen einer reihe spezifischer sprachanwendungen zu erkennen.

Jede form der mündlichen kommunikation soll gefördert werden: beschreibung, bericht, erzählung, geschichte, diskussion usw.

Es ist angebracht, die schüler auf die in der klasse vorhandenen unterschiedlichen aussprachen aufmerksam zu machen und sie allmählich zu einer allgemein annehmbaren und deutlichen aussprache zu bringen, was auch für die rechtschreibung wichtig ist.

Das schreiben (s. 22-- 24)

Für die anfangsphase des schreibenlernens werden verschiedene methoden angewendet und jede stützt sich auf andere theoretische voraussetzungen, die man vor auge haben sollte, um eine wahl zu treffen.Einige methodische richtungen gehen von einer ganzheit (wort, satz) aus, die in später wiederzusammensetzbaren elementen analysiert wird. Andere dagegen gehen von den elementen aus und bilden mit deren zusammensetzung wörter und sätze. Werden diese methoden ohne unfruchtbare und de-motivierende belastungen eingesetzt, sind beide didaktisch wirksam.

Die wahl der lehrmethode sollte eine aufmerksame beobachtung und einschätzung des sensorisch-geistigen entwicklungsstandes der kinder berücksichtigen. Dennoch wird der lehrer, der vorteile der einzelnen methoden bewußt, auch in bezug auf lernbereitschaft und individuelle fortschritte der schüler seine entscheidungen treffen und die lernbedingungen vorbereiten. Das kind stellt schon in der anfangsphase des schreibenlernens unter anderem fest, daß die schreibvariation auf lautvariationen der sprache zurückzuführen sind; diese entdeckung ist durch nachdenken über die sprache begünstigt (wahrnehmung, analyse und aufteilung des lautflusses).

Da unsere sprache eine alphabetische schrift anwendet, ist es unvermeidbar, daß in dem lernprozeß eine vorübergehende trennung des sinnes von den formellen symbolen stattfindet (phoneme und grapheme). Es ist notwendig, daß der lehrer diesen übergang als vorbedingung für die wiederentdeckung des sinnes betrachtet. Das schreiben besteht nicht nur aus graphischem nachmachen (buchstaben zeichnen) und ist nicht ausschließlich ein problem der feinmotorik, es ist im grunde die Übertragung von inhalten, die die verschiedenartige erfahrung des kindes ausdrücken, auf papier mit hilfe geeigneter mittel (mobile buchstaben, schreibmaschine usw.).

Die inhalte, die sich auf die verschiedenen erfahrungen des kindes beziehen, können in unterschiedliche "textformen" übertragen werden. Das heißt aber nicht unbedingt und auch nicht gleich in ganzen sätzen. Der schüler soll auf einem möglichst breiten funktionsspektrum, ohne anwendung von maßnahmen, die seine individuelle art, sich schriftlich auszudrücken, einschränken könnten, zum schreiben gefördert werden. Es ist auf jeden fall wesentlich, daß schon ab dem ersten grundschuljahr dem kind wirklich motivierende schreibanregungen und -gelegenheiten angeboten werden.

Es wird bei jedem schüler andere momente geben, wo er von selbst sein schreibbedürfnis zeigen wird. Der lehrer wird jede art von text annehmen, den der schüler herstellen will, er wird mit ihm kooperieren, damit seine texte noch mehr seinen intentionen entsprechen.

Im allgemeinen wird diese situation nicht häufig vorkommen, von daher wird man besonders darauf achten, die motivation des schülers zu wecken, indem man berücksichtigt, daß das "schreiben" formulierung und graphische kommunikation des fühlens und des denkens ist.

Die verschiedenen schreibformen, wie die beschreibung, die erzählung, die geschichte, derbriefwechsel der bericht, das gedicht usw. sind bedeutsam, wenn sie von dem reellen interesse des kindes ausgehen, seine erfahrungen zu kommunizieren.

Der klasse ein thema, als anlaß für einen eigenen schriftlichen aufsatz zu diktieren, ist keine akzeptable didaktische praxis, wenn man sich nicht vorher bemüht hat, das interesse der schüler auf das thema zu richten, um damit nicht eine künstliche motivation bei dem kind zu wecken, seine gefühle, bemerkungen,überlegungen mitzuteilen.

Es kann notwendig sein, bezüglich der förderung des interesses und der darauffolgenden schreibmotivation des schülers das kriterium der nützlichkeit anzuwenden.Z. b.: Die schüler sind mit einer untersuchung oder mit einem einfachen naturwissenschaftlichen versuch beschäftigt: Man kann die notwendigkeit betonen, die phasen der aktivität -wenn auch synthetisch- anzumerken, indem man den kindern klar macht, wie nützlich es es sein wird, später die genaue reihen-folge der Phasen zu rekonstruieren. Oder man kann den kindern vorschlagen, notizen über das gelesene zu verschiedenen themen ordentlich und verständlich anzulegen, indem man betont, daß es von nutzen sein kann, diese notizen im richtigen moment nachzuschlagen. Es ist möglichst zu vermeiden, schreibübungen durchzuführen, die nicht mit dem spontanen oder hergestellten bedürfnis verbunden sind, die eigenen gedanken und gefühle zu kommunizieren.

Das lesen (s. 24 - 25)

Die erste leseerfahrung des kindes, die während der gesamten grundschulzeit fortgesetzt werden soll, ist es, dem erwachsenen zuzuhören, wenn er vorliest, d.h. wenn er verschiedenartige texte mündlich vorträgt (nicht nur erzählungen, gedichte, literarische texte, sondern auch kurze zeitungsnachrichten, briefe, schuldokumente usw.).

Lesen ist hauptsächlich ein prozeß der untersuchung, des verstehens und der interpretation der bedeutung des textes. Verschiedene faktoren tragen zur aktivierung solch eines prozesses bei: Die fähigkeit, das geschriebene wort zu dekodieren, die lexikalischen und morphosyntaktischen kenntnisse, die erwartungen an den text, der gelesen wird, das bewußtsein "worum es sich handelt" und über die situation, in der der text stattfindet.

Der lehrer regt die motivation des kindes zum lesen an und steigert sie, auch indem er seine persönliche lesegewohnheit zeigt und er wählt mit besonderer aufmerksamkeit texte aus, die wegen ihrer besonderen eigensachaften bedeutsam sind.

Um dieser aufgabe wirksam nachzukommen, soll der lehrer eine aufden letzten stand gebrachte und nicht oberflächliche kenntnis haben, über die bücher und veröffentlichungen, die für die kinder am geeignetsten sind: von erzählender und popularwissenschaftlicher literatur bis zu monographischen reihen, enzyklopädien usw. .

Außerdem, mit rücksicht auf das desinteresse am lesen der heutigen an fernseh- und kinobilder gefesselten kinder, wird der lehrer dafür sorgen, interessen zu wecken, die das lesebedürfnis und den lesegenuß anregen.

Auch das kind hat ein bedürfnis, die eigene erfahrung zu vermehren, das eigene kenntnis- und'gefühlsfeld zu erweitern: Es ist zweckmäßig, daß der Lehrer den schülern hilft, die bücher und die veröffentlichungen zu finden, die diesem bedürfnis förderlich und angemessen sind.

Die motivation zum lesen soll weiter gefördert werden: Der lehrer wird nachprüfen, inwieweit das lesen den kindern nutzt, sowohl auf der ebene der kognitiven vorgänge (d.h. wie die in den gelesenen texten dargestellte erfahrung in den schon bestehenden ideenkomplex aufgenommen wird), als auch auf den ebenen der gefühle und des verhaltens.

Die ursachen eines möglichen absinkens des leseinteresses sollen erkannt und eingeschätzt werden und das nicht nur in bezug auf das lesen in der klasse, sondern auch auf das lesen in der freizeit, zu dem das kind motiviert werden kann und soll.

Ähnlich wie für das schreiben in bezug auf die herstellung von nicht strikt schulischen texten, wird neben der anwendung von schulbüchern und büchern aus der klassenbibilothek auch für das lesen die anwendung von vielfältigen materialien empfohlen, die geeignet sind, das lesebedürfnis anzuregen. Die schule wird keine initiative vernachlässigen, die den schülern die bücher näher bringen kann.

So wird den schülern der direkte zugang zur bibliothek erlaubt,, die entsprechend zu diesem ziel ausgestattet wird; die schüler werden ermuntert zum kauf von büchern oder veröffentlichungen, an denen

sie besonders interessiert sind. Innerhalb der woche wird dem individuellen lesen ein angemessener zeitraum vorbehalten.

Die verbesserung (s. 25 - 26)

Für die gesamte sprachtätigkeit besteht das problem der beachtung einiger regeln, die das reden und schreiben "fehlerfrei" und eindeutig verständlich machen.

In dieser hinsicht ist man im Schulbereich von einer haltung der abstrakten strenge und der bewertungshärte zur bedingungslosen annahme und verweigung von verbesserung und bewertung übergegangen. Es ist dagegen erforderlich, zeitpunkte und methoden der verbesserung zu unterscheiden, damit dieses verfahren didaktisch fruchtbar und für die sprachaktivitäten nicht blockierend wird.

Es gibt eine phase, in der der schüler mit der kommunikationstätigkeit und der bedeutungskodierung und -dekodierung so beschäftigt ist, daß es nicht angebracht wäre, seine neigung durch technische maßnahmen oder handkommentare zu unterbrechen.

Das heißt nicht, den fehler außer acht zu lassen, sondern die diskussion darüber und die verbesserung bis zu dem zeitpunkt zu verschieben, an dem der schüler sich "verständlich gemacht" und "verstanden" hat. Dann ist es richtig, die fehler zu verbessern, indem man sie in bezug auf die sprachliche reife, die art des textes, die kommunikationsebene, das verstehen von regeln und die außersprachliche situation, in der die kommunikation stattgefunden hat, bewertet.

Das schließt nicht aus, daß bei anderen gelegenheiten die verbesserung des fehlers unmittelbar folgen kann, mit dem ziel, daß bewußtsein der vielfältigen auswahl zu fördern, die jede sprachebene zu bieten hat.

Es ist auf jeden fall möglich und wünschenswert, mittels einer abgestuften und systematischen methode, den fehler zu verhindern. Man kann z.b. die schüler auf die bestehenden ausspracheunterschiede zwischen regional- und sogenanntem normitalienisch aufmerksam machen, um die daraus folgenden, hauptsächlich schriftfehler zu vermeiden.

Das nachdenken über die sprache (s. 26 - 27)

Das kind hat eigene sprachinteressen. Weitere interessen können bei ihm geweckt werden: Das ist die aufgabe des nachdenkens über die sprache, ein bewußtes nachdenken, des sowohl in sich wirksamer anlaß als auch bestätigungsmittel von sprachkompetenz und -fähigkeiten zu betrachten ist.

Zu beginn, für einen längeren zeitraum,sollte das nachdenken sich dem bedeutungsbereich zuwenden (von wörtern und weiteren Spracheinheiten, die aus dem kontext herausgenommen werden). Dieser aspekt der sprache darf weder auf die gelegentliche erklärung eines unbekannten wortes, noch auf die mechanische anwendung des wörterbuches eingeschränkt werden; sondern es soll eine geplante aktivität veranlassen, die die neigung des kindes, mit der sprache zu spielen fördern, d.h. verbindungen zwischen formen und bedeutungen zu entdecken, wörterketten zu bilden und auch mit hilfe des lehrers "wörtergeschichten" zu rekonstruieren.

Später kann das nachdenken zur entdeckung einiger wesentlicher satzbauregeln führen: Prädikate, die die eigenschaft eines subjektes ausdrücken; prädikate, die ein Subjekt mit einem anderen element verbinden. Die bemerkungen für die form können anhand des textes gemacht werden und die funktionalität einiger formeller "merkmale" zeigen, die wörter miteinander verbinden oder besondere verbindungen andeuten.

Auf jeden fall ist es wichtig, daß die "grammatikalische" beobachtung aus mündlichen und schriftlichen texten hervorgeht und zu den texten zurückführt, um deren genauere und bewußtere deutung zu ermöglichen.

Die grammatik solldas bewußtsein um vorgänge heben, die der schüler schon hervorbringen und wahrnehmen kann. Zu diesem erweiterten begriff der grammatik gehört die textausarbeitung, eine sehr fruchtbare aktivität, die die verschiedenen sprachtätigkeiten zusammenfaßt.

Mathematik

Die mathematik und die bildung des denkvermögens (s. 29 - 30)

Die mathematische erziehung trägt zum aufbau verschiedener aspekte des denkens bei: Intuition, vorstellungsvermögen, planung, hypothese und folgerung, nachprüfung und darauffolgende bestätigung oder verneinung. Spezifisch strebt sie nach der entwicklung von begriffen, methoden und einstellungen, die zum entstehen der fähigkeiten beitragen, tatsachen und phänomene der realität zuordnen, quantifizieren und messen, sowie zur bildung der fertigkeiten, die für die kritische interpretation der realität und für das bewußte handeln in der realität notwendig sind.

Der mathematikunterricht in der grundschule ist für längere zeit

von dem bedürfnis geprägt worden, das kind frühzeitig mit den unentbehrlichen mitteln für das praktische handeln auszustatten. Die erweiterung der Schulbildung hat ein entschlosseneres streben nach bildenden lernzielen ermöglicht. In dieser situation, die eine größere planungsfreiheit bot, hat sich in fast allen ländern der weit der mathematikunterricht dem direkten erwerben von mathematischen begriffen und strukturen zugewandt und auch in Italien zahlreiche didaktische versuche gefördert.

Die umfangreichen erfahrungen haben aber bewiesen, daß es nicht möglich ist, zur mathematischen abstraktion zu kommen, ohne den langen weg zu durchlaufen, der die beobachtung der realität, die mathematische aktivität, die problemlösung und das erwerben der ersten formalisierungsebenen verbindet. Die neueste didaktische forschung hat durch die aufmerksame analyse der kognitiven vorgänge des mathematischen lernens die enorme komplexität, das graduelle wachsen sowie die nicht eindeutigen entwicklungslinien dieses lernens deutlich gemacht. In diesem zusammenhang hat man festgestellt, daß auch die algorithmen (d.h. die grundrechenarten) und das lernen der geometrischen figuren einen bildenden wert haben, der weit über die praktische anwendung hinaus-geht, die ursprünglich die aufnahme dieses stoffes in die didaktischen pläne begründete.

Ziele und inhalte (s. 30 - 37)

Aus gründen der klarheit werden hier einige mathematische themen unterschieden und in lernziele gegliedert. Der lehrer wird sich bemühen, diese themen koordiniert zu entwickeln und wird jede gelegenheit nutzen, sowohl um fragen mathematischer natur zu wecken, als auch um die mathematischen themen mit denen anderer fächer zu verbinden. Die aufgezeichneten lernziele haben verschiedene kennzeichen und zwecke. Einige beziehen sich auf das erwerben von eng miteinander verbundenen fähigkeiten und kenntnissen und sind in bestimmte reihen-folgen zu übertragen, sowie in spezifische indikatoren, die auf ihre sichere bzw. unsichere und mangelnde erwerbung hinweisen. .Es handelt sich hauptsächlich um lernziele, die natürliche zahlen und dezimal-zahlen, rechenfähigkeit und einige inhalte der geometrie betreffen. Andere lernziele betreffen weniger eng miteinander verbundene tatsachen, begriffe, grundsätze und vorgänge, die auf einer grundkenntnisebene einzuführen sind und in folgenden schulstufen entwickelt und vertieft werden.

Darunter kann man diejenigen nennen, die logik,wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und informatik betreffen. Die bewertung des erreichens der gesetzten lernziele soll daher solche unterschiede berücksichtigen.

a) Die probleme

Die aktivität der problemlösung ist für das mathematische denken bezeichnend und ist mit der neigung des kindes abgestimmt, fragen zu stellen und antworten zu suchen. Deshalb sollen die mathematischen grundkenntnisse auf konkrete problemsituationen gestützt und aufgebaut werden. Situationen, die aus den reellen erfahrungen des kindes hervorgehen und die gleichzeitig die gelegenheit bieten, sein bisheriges mathematisches lernniveau, seine eigenen lösungsmittel und strategien sowie seine schwierigkeiten festzustellen.

Es ist allerdings zu vermeiden, episodisch und unregelmäßig vorzugehen. Dagegen ist es wichtig, für eine aufeinander aufbauende organisation der kenntnisse zu sorgen.

Ziele:

  • Übertragung von in worten ausgedrückten grundproblemen in mathematische darstellungen, mit angemessener auswahl der rechenarten; danach finden der lösungen und richtige interpretation der ergebnisse; umgekehrt, deutung von gegebenen mathematischen darstellungen;

  • feststellung von problemsituationen im erfahrungs- und lernbereich, formulierung und begründung von lösungsmustern mit angemessener anwendung mathematischer mittel, arithmetischer bzw. anderer natur;

  • lösung sowohl von problemen, die einen einzigen verlauf und eine einzige lösung haben, als auch von problemen, die verschiedene mögliche annehmbare lösungen haben;

  • feststellung des mangels an wesentlichen informationen für die problemlösung und eventuelle ergänzung, umgekehrt erkennung von überflüssigen bzw. widersprüchlichen informationen, die die Lösung eines problemes verhindern.

b) Arithmetik

Die Entwicklung des begriffes der natürlichen zahl soll durch die miteinbeziehung der vorherigen erfahrungen des kindes gefördert werden, erfahrungen im zählen und erkennen von zahlenzeichen, die das kind im zusammenhang mit spielen und im familien- und sozialleben gemacht hat. Man muß vor augen haben, daß der begriff der natürlichen zahl komplex ist und deshalb eine vielseitige annäherung fordert (ordinalzahlaspekt, kardinalzahlaspekt, messung usw.); seine erwerbung erfolgt durch immer höhere internalisierungs- und abstraktionsebenen im lauf der gesamten grundschulzeit und noch darüber hinaus.

Der aufbau der rechenfähigkeit soll auf konkreten beispielen beruhen und mit problemsituationen engiverbunden sein, was aber nicht die vernachlässigung einiger automatismen bedeutet (wie z.b. das einmaleins), die als notwendige mittel für den schnelleren und zweckmäßigen aufbau der algorithmen zu betrachten sind. Die kenntnis solcher algorithmen und die ausarbeitung verschiedener vorgänge und strategien des kopfrechnens tragen eigentlich zu dem bedeutsamen aufbau der reihe der natürlichen ganzen zahlen sowie von anderen wichtigen zahlenfolgen (gerade, ungerade, vielfaches-von-zahlen usw.) bei.

Ziele des ersten und zweiten schuljahres:

  • Vorwärts und rückwärts zählen und die verbale zahlenreihe mit der handhabungs- und wahrnehmungstätigkeit richtig verbinden;

  • mengen von gegenständen vergleichen und feststellen, ob sie die gleiche anzahl von elementen enthalten, oder ob es mehr oder weniger sind;

  • die in ziffern bzw. in worten ausgedrückten natürlichen zahlen mindestens bis hundert lesen und schreiben; sie vergleichen und und einordnen, auch mit der anwendung folgender zeichen: =, > ,< ; außerdem sie richtig in den zahlenstrahl einsetzen;

  • einfache additionen und subtraktionen genau und schnell im kopf rechnen;

  • gegenstände in zweier-grüppchen legen und gleichzeitig in zweier-schritten zählen, gegenstände in dreier-grüppchen legen und gleich-zeitig in dreier-schritten zählen usw.;

  • mit hilfe von entsprechenden mengen von gegenständen das doppelte und die hälfte, das dreifache und ein drittel, das vierfache und ein viertel in gegenseitiger verbindung berechnen;

  • additionen und subtraktionen, sowie multiplikationen und divisionen (mit einstelligem multiplikator bzw. divisor) mindestens bis hundert vornehmen und zwar auch mit hilfe angemessener korrekter und graphischer darstellungen;

Ziele des dritten, vierten unf fünften schuljahres:

  • Die in ziffern bzw. in worten ausgedrückten natürlichen zahlen und dezimalzahlen lesen und sie entsprechend in tausender, hunderter, zehner, einer, zehntel, hundertstel usw. aufteilen;

  • die natürlichen zahlen und dezimalzahlen in ziffern bzw. als worte auch nach diktat schreiben, stellenwert der ziffern sowie bedeutung und anwendung von null und komma begreifen;

  • natürliche zahlen und dezimalzahlen vergleichen und entsprechend in den zahlenstrahl einordnen (z.b. mit hilfe von unterteilungen);

  • eine folge von natürlichen zahlen nach einer gegebenen regel schreiben; umgekehrt, die regel entdecken, die eine gegebene zahlenfolge bestimmt;

  • kommutativ- und assoziativgesetz der addition und multiplikation, distribitutivgesetz des produktes in bezug auf die summe und nichtkommutativität der Subtraktion und division intuitiv erkennen und anwenden können, auch um durch entsprechende strategien und annäherungen das kopfrechnen zu erleichtern;

  • die vier grundrechenart.en mit natürlichen zahlen und dezimalzahlen schriftlich vornehmen und die bedeutung der rechenverfahren begreifen; - natürliche zahlen und dezimalzahlen mit zehn, hundert und tausend teilen und die bedeutung dieser operationen begreifen ;

  • vielfache und teiler der natürlichen zahlen in gegenseitiger verbindung rechnen, primzahlen erkennen;

  • die brüche finden, die teile von angemessenen geometrischen figuren, von mengen von gegenständen und von zahlen darstellen; umgekehrt in angemessenen geometrischen figuren, in mengen von gegenständen und in zahlen den teil finden, der einem gegebenen bruch entspricht, mit besonderer aüfinerksamkeit auf die dezimalen unterteilungen;

  • die einfachsten brüche vergleichen und einordnen, den zahlenstrahl entsprechend anwenden (z.b. durch immer feinere unterteilungen);

  • die reihenfolge der ausführung der operationen in einem term beachten, die bedeutung der zeichen richtig interpretieren und die reihenfolge an sich begreifen; umgekehrt einen term konstruieren unter verwendung der entsprechenden zeichen zur einhaltung des operationsfeldes.

c) Geometrie und messung

Die geometrie ist in der anfangsphase als das graduelle erwerben der fähigkeiten zu betrachten, sich zu orientieren, gegenstände und formen zu erkennen und zu orten und im allgemeinen den raum zunehmend einzuteilen, auch durch die einführung angemessener bezugssysteme.

Die grundlage der geometrie wird sich durch die graduelle einführung von schematischen darstellungen der aspekte der physikalischen weit entwickeln, unter berücksichtigung der räumlichen erfahrungen des kindes; von der analyse und anfertigung von modellen und zeichnungen wird man zur kenntnis der geometrischen flächen und körper und ihrer einfachen abwandlungen kommen. Man wird besondere aufmerksamkeit der richtigen erwerbung folgender grundbegriffe widmen: Länge, fläche, volumen, winkel, parallele geraden, rechtwinklige geraden. Große bedeutung soll auch die einführung der größen haben, sowie die anwendung der entsprechenden meßverfahren, die auch in zusammenhang mit erfahrungen und problemen, sowie mit dem naturwissenschaftsunterricht zu lehren sind.

Ziele des ersten und zweiten schuljahres:

  • Gegenstände im raum orten, sowohl in bezug auf sich selbst als auch in bezug auf andere menschen und gegenstände; die ausdrücke vorne-hinten, links-rechts, nach-fern, innen-außen richtig anwenden;

  • sich auf - durch mündliche bzw. schriftliche hinweise - gegebenen strecken bewegen; die von anderen gelaufenen strecken mündlich oder schriftlich beschreiben, auch mit hilfe von entsprechenden graphischen darstellungen;

  • die einfachsten geometrischen flächen und körper in den gegenständen der umwelt erkennen und richtig benennen;

  • die symmetrie in gegebenen gegenständen und figuren feststellen; die symmetrie durch papierzusamnenfalten und -ausschneiden, durch zeichnungen usw. verwirklichen und graphisch darstellen;

  • längen, flächen, rauminhalte und zeitspannen mit anwendung von entsprechenden willkürlichen bzw. konventionellen einheiten und ihren unterteilungen vergleichen und messen.

Ziele des dritten, vierten und fünften schuljahres:

  • Die wichtigsten geometrischen flächen in verschiedenen zusammenhängen erkennen, benennen, zeichnen und basteln; einige einfache geometrische körper mit verschiedenen techniken und materialien basteln und einige ihrer eigenschaften beschreiben, wie z.b.bei den vielflächern: Anzahl der ecken, der kanten und der flächen;

  • gleiche flächeninhalte in einfachen flächen durch auseinandernehmen und wiederzusammensetzen erkennen;

  • umfang und flächeninhalt der wichtigsten flächen messen und berechnen, sich des theoretischen unterschiedes der beiden begriffe bewußt sein;

  • Stellungen und bewegungen in der fläche in konkreten situationen erkennen (punkte, richtungen, entfernungen, winkel als drehungen); solche situationen auch durch die anwendung von gittern von ganzen positiven koordinaten, karten, landkarten usw. darstellen;

  • folgende ausdrücke richtig anwenden: Senkrechte, waagerechte, parallele, (wind)schiefe und rechtwinklige geraden; parallele und rechtwinklige geraden, winkel und vielecke mit lineal, zeichendreieck und zirkel zeichnen;

  • eventuelle symmetrie in einer fläche erkennen, dreiecke und vielecke in bezug auf die symmetrie klassifizieren;

  • mit anwendung von konkretem material und mit zeichnungen die entsprechende geometrische figur darstellen, die durch die verschiebung, spiegelung, drehung, maßstäblicher vergrößerung bzw. verkleinerung einer gegebenen fläche entsteht;

  • die wichtigsten internationalen und gebräuchlichen einheiten für das messen von längen, flächen, volumen und gewichten kennen; sie für schätzungen und messungen richtig anwenden;

  • zum messen entsprechende mittel aussuchen, herstellen und anwenden; - von einem in gegebener einheit ausgedrückten maß zu einem anderen gleichwertigen übergehen; dieses verfahren soll auf alltägliche fälle beschränkt und der umgangssprache angepaßt werden, auch in bezug auf das währungssystem;

  • winkel in grade, zeitspannen in stunden, minuten und sekunden messen; in realen problemsituationen mit solchen einheiten umgehen.

d) Logik

Die logische erziehung soll eher thema des nachdenkens und der ständigen aufmerksamkeit des lehrers sein, als das eines ausdrücklichen und formalisierten unterrichts. Der lehrer hat nämlich die aufgabe, die kognitive entwicklung des kindes zu fördern und anzuregen und deren eventuelle schwierigkeiten und mängel frühzeitig zu entdecken: Besondere aufmerksamkeit wird dem erwerben von sprachgenauigkeit und vervollkommnung gewidmet, man sollte bedenken, daß insbesondere in den ersten Schuljahren die natürliche sprache eine vielfältige ausdrucksfähigkeit und logische Leistungsfähigkeit besitzt, die den lernbedürfnissen der Kinder entspricht.

Der lehrer wird von anfang an auf der erfahrungs- und konkreten handhabungsebene beschäftigungen vorschlagen, die reich an logischer bedeutung sind, wie z.b. klassenbildung auf grund von eigenschaften, einschließungen, reihenfolgen usw. Allmählich wird er einige abbildungen der logik und der mengenlehre einführen können (z.b. die diagramme von Eulero-Venn und andere graphische darstellungen), die für arithmetik, geometrie, naturwissenschaft, sprache usw. angewendet werden. Auf jeden fall wird er bedenken, daß die formale symbolisierung der Operation der Logik und der mengenlehre keine notwendige voraussetzung für die einführung der natürlichen zahlen und der rechenarten ist. Er wird außerdem bedenken, daß die einfachsten fragen kombinatorischer art ein bereich von problemen starker logischer bedeutung sind.

Ziele des ersten und zweiten schuljahres:

  • Klassenbildung von gegenständen, bildern, zahlen ... auf grund einer gegebenen aussage, umgekehrt die aussage erkennen, die eine gegebene klasse bestimmt;

  • feststellung aller möglichen kombinationen von gegenständen und eigenschaften in konkreten und besonders einfachen problemzusammenhängen;

  • entdecken und verbalisieren von regelmäßigkeiten und rhythmen in gegebenen reihenfolgen von gegenständen, bildern und klängen; umgekehrt die mündlich oder schriftlich ausgedrückten regeln für den. aufbau solcher reihenfolgen beachten;

  • darstellung durch grundmuster (z.b. pfeile) von zeitlich-räumlichen reihenfolgen, anordnungen und verknüpfungen in bezug auf konkrete situationen.

Ziele des dritten, vierten und fünften schuljahres:

  • Klassenbildung auf grund zweier oder mehr aussagen, entsprechende darstellung der klasse durch diagramme von Venn, von Caroll, baumdiagramme, tabellen, lochkarten ...;

  • richtige anwendung der formalen sprache der mengenlehre:Vereinigung, durchschnitt, teilmenge, auch in bezug auf die anwendung der logischen verknüpfungen und auf die verwendung in arithmetischen, geometrischen, naturwissenschaftlichen, grammatikalischen ... klassifizierungen;

e) Wahrscheinlichkeitsrechnung, statistik, informatik

Wichtige erzieherische bedeutung soll äuch den begriffen, grundsätzen und fähigkeiten zugeteilt werden, die mit der statistischen darstellung von tatsachen, phänomenen und vorgängen und mit der erarbeitung von urteilen und vermutungen unter ungewißheitsbedingungen verbunden sind.

Die einführung der grundelemente der wahrscheinlichkeitsrechnung, die gegen ende der grundschulzeit stattfinden kann, hat das ziel, bei dem kind ein intuitives verständnis vorzubereiten, auf das sich später die rationale analyse der ungewißheitssituationen stützen kann.

Der traditionelle begriff von wahrscheinlichkeit als verhältnis zwischen anzahl der günstigen und anzahl der möglichen fälle in symmetrischen ungewißheitssituationen darf nicht als ausgangspunkt aufgenommen werden, sondern stellt vielmehr das ziel von sorgsam abgestuften lernaktivitäten dar.

Im laufe der entwicklung dieses weges kann der aufbau und die analyse von numerischen bzw, nicht-numerischen vorgängen und algorithmen verwirklicht werden, und zwar auch mit einer ersten folgerichtigen und produktiven anwendung von angemessenen mitteln für die berechnung und die erarbeitung von informationen.

Ziele des ersten und zweiten schuljahres:

  • In problemsituationen aus dem leben und aus dem spiel folgende ausdrücke bedeutsam und folgerichtig verwenden: Vielleicht, es ist möglich, es ist sicher, ich weiß es nicht, es ist unmöglich usw.;

Ziele des dritten,. vierten und fünften schuljahres:

  • Einfache statistische beobachtungen und messungen durchführen; balkendiagramme, stabdiagramme, flächendiagramme zeichnen; arithmetische durchschnitte und prozente berechnen, und zwar auch mit der anwendung von taschenrechnern, wenn es sinnvoll erscheint; umgekehrt die von anderen durchgeführten darstellungen und berechnungen deuten;

  • in spielsituationen die wahrscheinlichkeit der verschiedenen ereignisse mittels entsprechender darstellungen vergleichen;

  • in einfachen kombinationssituationen alle möglichen fälle darstellen, nennen und aufzählen; einige grundwahrscheinlichkeitseinschätzungen daraus schließen;

  • flußdiagramme für die darstellung entsprechender vorgänge zeichnen und deuten.

Didaktische hinweise (s. 37-42)

1.

Am anfang des ersten schuljahres ist es angebracht, daß der lehrer die vorkenntnisse der einzelnen schüler in bezug auf die bedürfnisse des mathematischen lernprozesses aufmerksam überprüft. Die systematische beobachtung der bedeutsamsten verhaltensweisen, die in zusammenhang mit den didaktischen aktivitäten und mit den spielen auftreten, scheint diesem zweck zu entsprechen. Folgende fähigkeiten sind wichtige beobachtungsbereiche: Zusammenhänge erkennen und gegenstände in zusammenhang bringen, zählen (verbale zahlenreihe), gegenstände aufzählen (übereinstimmung zwischen aufeinanderfolgenden schritten in der verbalen zahlenreihe und gegenständen), sich räumlich orientieren (oben, unten, vorne, hinten ...), sich zeitlich orientieren (bevor, danach).

Die didaktische planung wird sich unter berücksichtigung der durch diese erste erkundung gewonnen informationen entwickeln, sie wird sich in erster linie dem aufbau einer gemeinsamen erfahrungsgrundlage zuwenden, auf die sich sowohl das nachdenken für die mathematischen begriffe und ihren aufbau, als auch eine leichtere verbindung mit dem kindergarten und mit den aktivitäten außerhalb der schule stützen können. Das wird auch durch einige beschäftigungen und spiele, die traditionell zur umwelt des kindes gehören, ermöglicht.

Es ist wichtig für das erreichen der verschiedenen ziele, konstruktiv und sinnvoll vorzugehen und die schüler mit einer angemessenen handhabungs- und darstellungsgrundlage zu versorgen. Jeder schüler soll am anfang in die lage versetzt werden, verschiedene gewöhnliche oder strukturierte materialien zu handhaben, die die entsprechenden muster der, in die verschiedenen handlungen verwickelten, mathematischen begriffe konkret darstellen. Es ist auf jeden fall wichtig, daß das kind ab einem bestimmten moment die handhabung der materialien aufgibt und in der durchführung und interpretation der gegebenen aufgaben zu der bloßen anwendung der entsprechenden geistigen darstellungen kommt.

Der übergang von der erfahrung zu der darstellung und der darauffolgenden formalisierung kann von den verschiedensten situationen ausgehen, darunter spielen eine wichtige rolle die, die am natürlichsten und spontansten sind, d.h. die spielsituationen. Jede spiel- und arbeitssituation, wenn gut gestaltet und geleitet, fördert eine gesteuerte geistige tätigkeit und erzieht in einer positiven sozialisationsatmosphäre zum austausch von ideen, verhaltensweisen und alternativen lösungen. Unter den spielen kann man sowohl diejenigen erfassen, die spontan sind oder vom kind in seiner kulturellen umgebung gelernt werden, als auch diejenigen, die spezifisch dem erreichen besonderer mathematischer fertigkeiten zugewandt sind.

2.

Besondere aufmerksamkeit soll sowohl dem erwerben des komplexen begriffes der natürlichen zahl gewidmet werden, als auch dem aufbau der fähigkeit, diese in dezimalschreibweise zu übertragen, in bezug auf den stellenwert der ziffern und auf die bedeutung und anwendung der null. Zu diesem ziel kann es zweckmäßig sein, zahlensysteme einzuführen, die sich in bezug auf die grundlage der zahlen vom dezimalzahlensystem unterscheiden. Es ist außerdem'zu bedenken, daß ein grundmerkmal der gesamten natürlichen zahlen ihre anordnung ist,und es daher wesentlich ist, daß das kind die fähigkeit erwirbt, die zahlen zu vergleichen und einzuordnen, auch mit hilfe des sogenannten "zahlenstrahles".

Bis ende des zweiten schuljahres sollen die schüler die natürlichen zahlen mindestens bis hundert beherrschen und anwenden können. In der dritten klasse ist es als minimalziel für alle angebracht, die schüler dahin zu bringen, mit zahlen bis tausend umzugehen, dieses mit additionen und subtraktionen ohne tausender-überschreitung, mit multiplikationen mit höchstens zweistelligen faktoren und divisionen mit einstelligem divisor. In der vierten klasse können diese grenzen über-schritten werden, es ist aber sinnvoll, bei schriftlichen berechnungen innerhalb der million zu bleiben.

Die einführung der dezimalzahlen soll ab dem dritten schuljahr erfolgen, die entsprechenden operationen sind im laufe der beiden letzten jahre nach und nach einzuführen. In der vierten klasse kann man sich auf additionen und subtraktionen beschränken, mit besonderer aufmerksamkeit für den bruchwert der ziffern, je nach stelle hinter dem komma und für das darauffolgende in-kolonnen-schreiben. In der fünften klasse sollen die multiplikationen und divisionen mit dezimalzahlen keine faktoren bzw. divisoren mit mehr als zwei stellen hinter dem komma haben.

Die hinweise, bestimmte zahlengrenzen nicht zu überschreiten, sind aus-schließlich als abhängig von der notwendigkeit zu betrachten, die aufmerksamkeit der schüler auf den grundbegriff von stellenwert und auf die entsprechenden überträge zu konzentrieren; dieser begriff soll in einfachen zusammenhängen völlig beherrscht werden, bevor man ihn in nach und nach komplizierteren zusammenhängen mit vielstelligen zahlen analog und allmählich erweitern kann.

Das sinnvolle erwerben der herkömmlichen techniken der grundrechenarten wird entsprechend verstärkt, indem man die schüler in die lage versetzt, durch die erarbeitung von jedesmal verschiedenen rechenmustern (algorithmen) das gleiche zahlenergebnis zu finden, dieses sowohl durch verschiedene zahlenzerlegungen als auch durch die angemessene anwendung der rechengesetze. All dieses, von der aneignung der notwendigen automatismen begleitet, wird die wichtige fähigkeit, genau und schnell im kopf zu rechnen, positiv beeinflußen. Man soll bedenken, daß diese fähigkeit nicht nur der annähernden voraussicht und nachprüfung der entwicklung komplexer schriftlicher operationen dient, sondern auch die kontrolle des ergebnisses solcher Operationen, wenn sie später mit dem taschenrechner durchgeführt werden.

Die handhabungen von konkreten materialien, das messen verschiedener physikalischer größen, die analyse wirtschaftlicher und demographischer angaben usw. können die gelegenheit bieten, sowohl mit zahlen des dezimalsystems, als auch mit zahlen anderer Systeme zu arbeiten; im dritten, vierten und fünften Schuljahr sind sie ein guter ausgangspunkt für das begreifen der potenzen und ihrer schreibweise.

Zu diesem zweck kann es besonders nützlich sein, die zahlen hundert, tausend, zehntausend durch potenzen der zehn zu schreiben und zu der umschreibung einer mehrstelligen zahl als polynom zu kommen.

3.

Die einführung in den geometrieunterricht soll auf eine natürliche weise mit den vielfältigen anregungen verbunden werden, die aus der wahrnehmung der physikalischen weit kommen. Es wäre äußerst einengend, den unterricht auf diesem gebiet zum bloßen auswendiglernen der traditionellen nomenklatur und der formeln für die berechnung von umfang, flächeninhalt und volumen von bestimmten figuren zu degradieren.

Dagegen soll eine vielseitige und abwechslungsreiche geometrische aktivität gefördert werden, die von der konkreten handhabung von gegenständen und von der beobachtung und beschreibung ihrer abwandlungen und gegenseitigen lagen ausgeht.

Die begriffe von umfang, flächeninhalt, volumen sollen auf der intuitionsebene auch in bezug auf unregelmäßige figuren eingeführt werden, so daß solche begriffe sich von den formeln lösen können, die einfach als mittel für die erleichterung der berechnung in wichtigen aber besonderen fällen zu betrachten sind.

Das geometrische zeichnen, zuerst aus der freien hand, später mit lineal, zeichendreieck und zirkel, soll mit ausmerksamkeit gepflegt werden, sowohl wegen der bemerkenswerten fertigkeiten, die es fördert, als auch um das aneignen von begriffen wie "parallele geraden" und "rechtwinklige geraden" zu erleichtern.

Außer den bezugssystemen kartesischer art, die gewöhnlich für die bestimmung von lagen auf einem gitter von ganzen positiven koordinaten (nagelbrett, kariertes papier, karten und landkarten) angewendet werden, könnte man andere, mit der lage des betrachters enger verbundene bezugssysteme einführen.

In bezug auf die berechnung von umfängen und flächeninhalten wird empfohlen, das lernen der sogenannten "unveränderlichen zahlen" (konstanten) nicht zu übertreiben, da dieses mechapische lernen in dieser altersstufe kaum verständlich ist. In bezug auf die zahl "Pi" wird der hinweis auf den näherungswert 3,14 ausreichend.

4.

Der lernweg für das messen, um die in dem-meßverfahrencenthaltenen schwierigkeiten zu berücksichtigen, soll folgende schritte beinhalten: Direkter vergleich, indirekter vergleich mit willkürlichen maßeinheiten, indirekter vergleich mit den konventionellen einheiten.

Das effektive begreifen der bedeutung von "messung" ist nur durch eine vielseitige erfahrungsgrundlage zu erreichen, ohne diese ist es unmöglich, nicht nur zu verstehen, daß "messen" bedeutet, eine ganze größe zu zerlegen, sondern auch die schwierigkeiten und die fehler zu entdecken, die man in einem meßverfahren finden bzw. machen kann.

Das nachdenken über die regionalen maßeinheiten der vergangenheit und, wo sie noch bestehen, der gegenwart, sowie über die maßeinheiten anderer völker und zeiten, wird dazu dienen, den vereinbarungscharakter des systems im gebrauch klarer zu machen.

In bezug auf die anwendung der konventionellen einheiten wird empfohlen, sich nach den bestimmungen des "Internationalen Einheitssystems" zu richten (siehe erlaß des Präsidenten der Republik Nr. 802 vom 12. Aug. 1982), die unter anderem vorschreiben, daß das symbol (einheitszeichen) ohne punkt, hinter den zahlenwert zu schreiben ist. Es wird außerdem empfohlen, übungen mit selten gebrauchten maßeinheiten, wie z.b. dem Myriagramm, zu vermeiden.

In bezug auf die anwendung der einheitszeichen in der problemlösung, ist es besser, sie in der rechnung nicht zu notieren. Es ist dagegen zweckmäßig, neben den operationen eine beschreibung des verfahrens zu notieren, die auch auf die maßeinheit jedes nach und nach gefundenen ergebnisses hinweist.

Es ist außerdem zu bedenken, daß man sowohl direkt erfaßbare aspekte der physikalischen weit (länge, zeit, gewicht, rauminhalt, temperatur als auch aspekte der ökonomischen und sozialen welt (produktion, völkerwanderung, geburtsratenveränderung.) messen kann. Das "messen" ist als kenntnismittel zu betrachten, das die möglichkeiten, tatsachen un Phänomene zu begreifen, steigert; umgekehrt kann man durch die analyse von tatsachen und phänomenen verstehen, daß das messen nicht nur auf die längen, gewichte und flächeninhalte begrenzbar ist.

5.

Die grundkenntnisse der logik und der mengenlehre haben als hauptziel die beherrschung der entsprechenden sprachen und deren anwendung in bedeutsamen zusammenhängen.

Der lehrer wird den schüler außerdem mit konkreten beispielen dahin führen, ausdrücke wie "alle", "einige" usw. richtig anzuwenden. Dieses wird allerdings nicht unbedingt die anwendung der mathematischen symbolik der mengen und der operationen, der logik und der mengenlehre nach sich ziehen.

Es wird empfohlen, keine kenntnisse fehlerhaft einzuführen, es ist besser, die genaue bestimmung eines begriffes zu verschieben, als schon falsch erworbene kenntnisse zu berichtigen. Es ist z.b. sinnvoll, das quadrat als sonderfall des rechtecks einzuführen, um die überzeugung zu vermeiden, daß ein rechteck um ein solches zu sein, notwendigerweise ungleiche seiten besitzen muß. Besondere aufmerksamkeit soll man auch der anwendung des gleichheitszeichens widmen, bei ketten von operationen wird man z.b. andere zeichen statt des gleichheitszeichens anwenden (das in diesem zusammenhang auf die vollendung einer Operation hin-weist und oft fälschlich benutzt wird).

6.

Die in verschiedenen zusammenhängen durchgeführten und entsprechend organisierten datensammlungen werden auch durch unmittelbare veranschaulichungen zu den ersten kenntnissen der deskriptiven statistik führen.

In bezug auf die grundkenntnisse der wahrscheinlichkeitsrechnung ist es wichtig, das kind dahin zu führen, ohne. beunruhigung ungewißheitssituationen zu akzeptieren. Dieses ziel ist durch das spielen leicht zu erreichen: Viele spiele haben einen ungewissen charakter bzw. teilen durch los besondere rollen zu. Die geschicklichkeit des spielers besteht darin, unter mehreren möglichen zügen, denjenigen zuwählen, der die größte siegeswahrscheinlichkeit bietet; man sollte daher in erster linie den schüler dahin führen, wahrscheinlichkeitsvergleiche vorzunehmen. Das kann zuerst in unbestimmten dann in gut strukturierten situationen erfolgen.

Auch die informatik erfordert besondere aufmerksamkeit: Auf der einen seite betont sie den begriff algorithmus, der schon in der arithmetik vorkommt, aber eine viel breitere anwendung haben kann; auf der anderen seite stellt sie den computer dar, als mittel der erkundung der zahlenwelt, der erarbeitung und der interaktion. Man muß bedenken, daß der computer ein wichtiges mittel in der zeitgenössischen gesellschaft geworden und daher nicht zu übersehen ist; aber gleichzeitig ist es auch sinnvoll, schwärmereien zu vermeiden, in anbetracht dessen, daß kein mittel - auch kein hoch technologisches - allein entscheidend sein kann.

Schließlich soll die einführung in das mathematische denken und in die mathematische aktivität zuerst den aufbau einer weiten erfahrungsgrundlage von tatsachen, phänomenen, situationen und verfahren anstreben, vor allem da, wo sie mangelhaft erscheint; auf dieser grundlage werden dann die intuitiven kenntnisse, die algorithmen und die berechnungsverfahren sowie die grundformalisierungen des mathematischen denkens entwickelt.

Man wird auf diese weise eine positive einstellung für die mathematik fördern, die sowohl als wirksames mittel für die kenntnis und kritische interpretation der realität, als auch als faszinierende aktivität des menschlichen denkens zu betrachten ist.

Für jedes unterrichtsfach schreiben die lehrerinnen zweimal pro jahr (früher dreimal) ihre beobachtungen in die zeugnisformulare und fassen sie dann in einer abschließenden bewertung zusammen. (Vergleiche abschnitt 1.4)

Die Zeugnisse für die mittelschule gleichen in ihrem gesamten aufbau denen der grundschule (entsprechend Art. 9 des Gesetzes 517/1977).

Seit dem schuljahr 1986/87 werden an etwa hundert mittelschulen - verteilt über ganz Italien - schulversuche durchgeführt mit einer neu-artigen form der bewertung.(Beispiel für die neuen formulare siehe seite XXXV und XXXVI.) Den besonderen problemen der bewertung an der mittelschule (vgl. abschnitt 1.4 und 2.2) soll mit diesem verfahren begegnet werden.

Für jedes unterrichtsfach sind bewertungskriterien formuliert. Die lehrerinnen kreuzen an, wie die schülerInnen die im jahresplan detailliert ausformulierten ziele erreicht haben. (Die jahrespläne, einschließlich der lernziele, werden - aufgrund der ministeriellen rahmenpläne - von den lehrerinnen aller parallelklassen einer schule festgelegt und zu beginn des schuljahres den eltern vorgelegt.)

Für kinder, die träger einer behinderung sind, werden abweichende lernziele formuliert, so weit dies aufgrund der gesamten entwicklung des kindes von den beteiligten als sinnvoll eingeschätzt wird.

Hier - als beispiel - die lernzielformulierungen für ein mädchen mit Down Syndrom

Lernzielformulierungen für ein mädchen mit Down Syndrom:

SPRACHLICHER BEREICH

  1. kann von einem Erlebnis berichten

  2. kann kurz etwas Erzähltes wiedergeben

  3. kann Wörter mit "Digrammen" richtig lesen

  4. kann Wörter mit Betonung und Doppelkonsonanten richtig lesen

  5. kann unter Einhaltung von Pausen lesen

  6. kann im Diktat Wörter mit "Digrammen" richtig schreiben

  7. kann im Diktat Wörter mit Betonung und Doppelkonsonanten richtig schreiben

  8. kann Wörter mit "Digrammen" von sich aus korrekt schreiben

  9. kann Wörter mit Betonung und Doppelkonsonanten von sich aus korrekt schreiben

  10. kann schriftlich von einem Erlebnis berichten

  11. kann etwas Erzähltes kurz zusammenfassen, dabei einer "Spur" folgen

  12. kann selbständig kurze Sätze schreiben, die einen vollständigen Sinn ergeben

  13. erkennt den Minimalsatz

  14. erkennt die "Eigenschaft"

  15. erkennt das Nomen (Geschlecht-Numerus)

  16. kann den Artikel dem Nomen zuordnen

  17. kann das Verb gebrauchen

LOGISCH/MATHEMATISCHER BEREICH

  1. kann ordnen

  2. kann Mengen nach den Charakteristiken der Gegenstände konstruieren

  3. kann gleichwertige Mengen konstruieren

  4. kann das numerische Symbol in Beziehung zur entsprechenden Menge setzen

  5. kann Addition und Subtraktion mündlich ausführen (mit Hilfe von Gegenständen)

Den Anhang können sie unter folgender Url herunterladen:

http://bidok.uibk.ac.at/download/schoeler-zeugnisformulare.pdf

Anhang 5

Schreiben des betriebsrates einer fabrik zur integration am Arbeitsplatz (vgl. abschnitt 4.5)

Florenz, den 9.2.1982

Überprüfung der integration behinderter in Nuovo Pignone

Einer der bedeutsamsten punkte, die die arbeiter in der vereinbarung vom Oktober 1980 erreicht haben, war die einstellung behinderter in Nuovo Pignone.

Nach vielen jahren und vielen gescheiterten versuchen wird jetzt, wenn auch nur teilweise, der wille einer gruppe von bürgern und der gewerkschaften in Nuovo Pignone verwirklicht. Am ende des jahres 1981 wollen wir, wie vereinbart, die verwirklichung dieser aufgabe, die das unternehmen Nuovo pignone übernommen hat, überprüfen.

Umberto, Walter und Paolo sind die jungen leute, die in den produktionsprozeß von Nuovo pignone integriert worden sind. Diese erste phase war nach dem willen des unternehmens und auch des betriebsrates ein versuch; wir sind der meinung,etwas positives erreicht zu haben, dieses nicht nur in bezug auf die drei jungen leute, sondern auf die gesamte gesellschaft. Umberto ist diplom-elektroniker, er arbeitet am schreibtisch, an einem bildschirm, der mit dem computer der datenverarbeitungszentrale verbunden ist; da er gelähmt ist, sitzt er aber in einem rollstuhl.

Paolo und Walter sind bei der verteilung der post und der technischen dokumentation in die verschiedenen betriebsbüros und -abteilungen beschäftigt.

Paolo ist leicht spastisch behindert, dieses reichte aber schon für seine bisherige aussonderung aus der gesellschaft der sogenannten "normalen".

Walter ist ein junger mann von 24 jahren, er wird seitens der gesellschaft und der medizin ausgesondert, die seine gedanken und seine wünsche nicht verstehen wollen; wünsche, die hier in Nuovo Pignone schon deutlicher werden.

Alle drei haben bei der ausübung ihrer arbeit das erfüllte gefühl, eine mauer niedergerissen zu haben, ein vorurteil besiegt zu haben, das schon zu lange in unserer gesellschaft herrscht.

Man kann in ihren worten dieses gefühl und das positive an dieser errungenschaft erkennen, aber auch das bedürfnis, daß das was in Nuovo pignone aufgebaut wurde, in der gesellschaft soweit wie möglich wiederholt wird.

Durch diese erfahrung haben wir alle nicht nur gelernt, daß es falsch ist, die menschen auf grund ihrer produktiven leistungen zu bewerten (in unserem fall kann man allerdings keinen unterschied bemerken), sondern auch, daß dieses sinnlos ist, wenn einem bewußt wird, wie einfa ein behinderter mensch ausgesondert werden kann: Und behindert können wir alle werden. Es handelt sich daher nicht nur um menschlichkeit und solidarität. Was wir teilweise getan haben und was wir noch machen müsse ist ein bewußter politischer kampf, der nach der förderung aller außenseiter und der gesamten gesellschaft strebt. Durch die überprüfung sind viele positive aspekte deutlich geworden, gleichzeitig aber haben sich auch einige grenzen, sowohl politischer, als auch organisatorischer natur gezeigt, die wir entfernen müssen.

Zuerst muß man, um die vereinbarung zu erfüllen, hier in Florenz zwei weitere junge leute einstellen; dann ist es notwendig, die heutige stellung derjenigen, die schon angestellt sind, gut zu überprüfen, um die möglichkeit der entstehung neuer erfahrungen im bereich der arbeit, der weiteren umgebung und der menschlichen beziehungen zu überprüfen.

Um dieses zu erreichen, wird der ausschuß des betriebsrates ständig mit den betroffenen arbeitern in verbindung bleiben, sowie mit der USL, die sich schon zur zusammenarbeit bereit erklärt hat und auch mit dem unternehmen, das durch diese erfahrung sowohl seine falsche einstellung, als auch seine sinnlose angst überwinden konnte.

Wir sind dann auf dem richtigen weg, das sagen uns Walter, Paolo und Umberto mit ihren worten und hauptsächlich mit ihrer anwesenheit; wir wissen und sie wissen ganz genau: Wenn unsere anregung in anderen situationen nicht übernommen und entwickelt wird, wird sich mit diesen drei jungen leuten ein anstoß erschöpfen, der heute die arbeiter, ein unternehmen und die gewerkschaft auszeichnet.

Der betriebsrat des unternehmens Nuovo Pignone

Deutsche übersetzung: Patricia Monti-Straub.

Anhang 6

vgl. abschnitt 1.8

"Certificati"-gutachten für kinder, die träger einer behinderung sind

1. S. , geb. 10. 12. 1978

Sie wird regelmäßig wegen des syndroms "Trisomie 21" mittleren grades von der abteilung "neuropsychiatrie und rehabilitation" der USL betreut.

Ihr entwicklungsniveau ist ziemlich gut und läßt auf ein gutes entwicklungspotential schließen - unter der bedingung eines individualisierten und geplanten lernprozesses,der integrierenden bestand-teile normaler lernangebote und auch der sozialisation in der gruppe der gleichaltrigen.

- beispiel einer "segnalazione"

Schüler die kein "certificato"

bekommen

An den rektor des 4. didaktischen zirkels

Betr.: beantragung einer begleitung für den jungen F.

Hiermit wird beantragt,daß der junge F., geb. am 4. 6. 1978, in Florenz, (wegen eines"neurologischen syndroms kleinhirnmäßigen ursprungs", das durch eine lern- und sprachverzögerung erschwert wird) im nächsten schuljahr in der schule von V. betreut wird.

Dieses umfeld erscheint uns zur entwicklung seiner aktuellen kompetenzen am besten geeignet.

Wir fordern außerdem die reduzierung der klassenfrequenz, um die entwicklung des jungen zu erleichtern.

Für den rehabilitationsdienst kinderpsychiaterin Dr.

Die autorinnen und autoren

Monika Brunne (27) arbeitet z. zt. als referendarin an einer sonder-schule in Aachen.

Nach jahrelangem studium der integration und mitarbeit in initiativen in Deutschland, ging sie nach dem 1. staatsexamen nach Italien und arbeitete - zunächst theoretisch - mit Dr. Nicola Cuomo von der universität Bologna.

Diese studien wurden vertieft durch eine achtmonatige tätigkeit als stützlehrerin im "Centro Educativo Italo-Svizzero" in Rimini und daran anschließende neunmonatige tätigkeit als pädagogische mitarbeiterin am kinderkrankenhaus des Vatikanstaates in Rom.

Renate Czerwionka (43) ist grundschullehrerin seit 1970 und arbeitet seit 4 Jahren als klassenlehrerin einer integrationsklasse in der Fläming-grundschule in Berlin.

Zwischenzeitlich war sie acht jahre lang wissenschaftliche assistentin im bereich grundschulpädagogik (Pädagogische Hochschule Berlin, später Technische Universität Berlin).

Ihr besonderes interesse gilt formen binnendifferenzierenden unter¬richts, insbesondere der Freinet-Pädagogik.

Sie war teilnehmerin an der Florenz-exkursion im frühjahr 1987.Renate hat einen zehnjährigensohn, der ebenfalls an der exkursion teilnahm.

Christine Damm bildet erzieherinnen an der Evangelischen Berufs-fach- und Fachschule in Berlin aus.

Sie war drei jahre lang die klassen- und pädagogik-fachlehrerin einer blinden schülerin, die inzwischen ihr examen erfolgreich abgeschlossen hat.

Christine Damm war teilnehmerin der Florenz-exkursion im frühjahr 1987.

Andre Dupuis (31) arbeitet seit 1979 im Kinderhaus Friedenau, einer Kindertagesstatte mit angeschlossenen schülerläden, die von den integrativen gruppen der Fläming-Grundschule besucht werden.

Seit 1978 arbeitet er in der GEW-integrationsgruppe und vertritt seit 1985 die interessen der erzieherinnen im Geschäftsführenden Landes-vorstand der GEW-Berlin.

Er hat sich seit längerer zeit theoretisch mit der entwicklung der integration im europäischen ausland und mit der psychiatriereform in Italien beschäftigt. Bei seinem ersten aufenthalt in Italien - im frühjahr 1987 - hat ihn vor allem der selbstverständliche umgang - auch mit schwer behinderten menschen - fasziniert.

Gertrud Gänsbacher-Calenzani ist mutter der jetzt 19jährigen tochter Daniela, die blind und zugleich linksseitig spastisch gelähmt ist.

Sie lebt in Südtirol in einer "gemischtsprachigen" familie. Danielas vater ist italienisch-sprachig, ihre mutter ist deutsch-sprachig.

Gertrud Gänsbacher-Calenzani hat in den letzten jähren nicht nur die integration ihrer eigenen tochter in regeleinrichtungen erkämpft. Sie hat sich auch zunächst im Spastikerverband Bozen und später im "Arbeitskreis Eltern Behinderter/Associazione Genitori di Minorati" gemeinsam mit vielen anderen menschen für mehr garantien für behinderte kinder eingesetzt.

Anne Heck ist diplom-psychologin und arbeitet in der aus- und Weiterbildung von erzieherinnen. Ihre eigenen arbeitsschwerpunkte sind: Entwicklungspsychologie, konzepte für differenzierte pädagogik bei integrativer gruppenarbeit, konzeptionen zur zusatzqualifikation für differenzierende pädagogik, gruppenberatung, kooperationsprobleme in der integrativen erziehung sowie pädagogisch-psychologische therapie bei kindern mit entwicklungsproblemen.

Anne Heck war teilnehmerin der Florenz-exkursion im frühjahr 1987.

Sigrid Heinze ist lehrerin und arbeitete während ihres referendariats an der Rothenburg-Grundschule in Berlin in klassen, in denen behinderte und nichtbehinderte kinder gemeinsam unterrrichtet werden.

Sie beteiligte sich an der vorbereitung und durchführung von exkursionen nach Florenz (seit 1982) und schrieb ihre erste wissenschaftliche hausarbeit über die tätigkeit der italienischen stützlehrerinnen. Ihre eigenen arbeitsschwerpunkte sind: Die entwicklung von pädagogisch-didaktischer phantasie und kreativität bei der differenzierung des unterrichts, formen der kooperation zwischen lehrerinnen, wege zur schulischen integration von kindern mit geistigen behinderungen sowie die lehrerinnen-aus- und -fortbildung für Integrative Pädagogik.

Michael Jung studiert pädagogik mit einem wahlfach (mathematik) und schreibt z.zt. seine erste wissenschaftliche hausarbeit über die möglichkeiten offener unterrichtsformen am schulanfang.

Die Florenz-exkursion im frühjahr 1987 war sein erster Italienaufenthalt.

Patricia Monti - Straub (34) arbeitete von 1974 bis 1985 als grundschullehrerin in Piemont und in der Toscana. Der schwerpunkt ihrer interessen war und ist die nichtaussonderung von kindern mit behinderungen und von kindern mit lernschwierigkeiten. Patricia lebt seit 1985 in Berlin und ist als freie übersetzerin tätig. Ihre tochter Maike ist zwei jahre alt.

Carsten Paeprer (22) hat bis zur Italienexkursion im frühjahr 1987 sonderpadagogik studiert und beginnt zum Wintersemester 1987/88 mit dem studium der grundschulpädagogik.

Beeindruckend war für ihn, wie wichtig in Italien jedes einzelne kind genommen wird.

Wolfgang Podlesch ist lehrer und diplompsychologe und arbeitet als wissenschaftlicher oberrat am Pädagogischen Zentrum Berlin in der leitung der wissenschaftlichen begleitung der Fläming-Grundschule Berlin.

Wolfgang Podlesch ist verheiratet und hat eine achtjährige tochter, die mit ihm an der Florenz-exkursion im frühjahr 1987 teilnahm.

Thomas Quehl (25) studierte mehrere semester sonderpädagogik, bevor er - u.a. unter dem eindruck der Italienexkursion im frühjahr 1987 - mit dem studium der grundschulpädagogik begann. Ihn beschäftigt vor allem die frage einer integration von grundschul- und sonderpädagogikausbildung.

Ludwig-Otto Roser (61) ist italienischer staatsangehöriger. Er studierte in Heidelberg und promovierte in Mainz.

Von 1956 bis 1980 war er mitarbeiter von Prof. Adriano Milani-Comparetti, Florenz, in der leitung von zentren für körperbehinderte und schwer-behinderte kinder und jugendliche. Seit beginn der italienischen gesundheitsreform arbeitet er als psychologe in einem ambulatorium der stadt Florenz in der kinder- und jugendberatung, in der eitern- und eheberatung, in der schulischen und beruflichen integration von menschen mit behinderungen sowie in der betreuung und behandlung von drogenabhängigen - in zusammenarbeit mit den ambulatorien für kinderpsychiatrie, für familienberatung, für erwachsenenpsychiatrie, für rehabilitation, für die behandlung von drogenabhängigen und für soziale probleme.

Brigitte Schmitt ist grund- und hauptschullehrerin mit der zusatz¬ausbildung als sonderschullehrin.

Sie war in der Lernbehindertenschule tätig und unterrichtete danach 11 Jahre schwerstmehrfachbehinderte in der Paul-Braune-Schule im Spastikerzentrum Berlin.

Seit dem schuljahr 1986/87 arbeitet sie an der Rothenburg-Grundschule, einer integrationsschule in Berlin. Sie ist davon überzeugt, daß auch kinder mit geistigen und schwersten mehrfachbehinderungen in der regelschule unterrichtet werden können.

Jutta Schöler arbeitet als hochschullehrerin im fachbereich Erziehungswissenschatten der Technischen Universität Berlin. Von 1964 bis 1967 unterrichtete sie an einer Hauptschule in Berlin und beteiligte sich zugleich an der planung der ersten Gesamtschulen. Von 1967 bis 1970 unterrichtete sie an einer Gesamtschule (fächer: Deutsch und lehre).

Von 1970 bis 1980 bereitet sie studentInnen durch seminare und didaktikumsbegleitung auf eine spätere tätigkeit als lehrerinnen auf Haupt- oder Gesamtschulen vor. - Seit 1980 schwerpunkt des interesses: Nichtaussonderung von kindern und jugendlichen mit behinderungen in der Sekundarstufe I, unterstützung von zahlreichen einzelintegrationen. Regelmäßige studienaufenthalte in Italien seit 1982. Die beiden töchter (geb. 1976 und 1978) fahren immer gerne mit.

Gabriele Schremmer(22) nahm an der Florenz-exkursion im frühjahr 1987 teil; dies war zugleich ihre erste Italienreise. Vor dieser studienreise studierte sie sonderpädagogik, danach wechselte sie zur grundschulpädagogik.

Monika Schumann (35) ist sonderpädagogin und psychologin und arbeitet z. zt. als wissenschaftliche mitarbeiterin im fachbereich Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Sie verbrachte ein studienjahr in Bologna und war teilnehmerin an der Florenz-exkursion im herbst 1982 sowie mitverantwortliche leiterin der exkursion im frühjahr 1987. Die alten und die neuen erfahrungen aus Italien prägen sehr stark ihre jetzige arbeit.

Gertraud Soldan (36) ist grundschullehrerin seit 1977. Sie ließ sich von 1981 bis 1984 vom schuldienst beurlauben, um zum thema "reform des geschichtsunterrichts in Italien" zu promovieren. Im rahmen dieser studien hielt sie sich auch ein jahr in Florenz auf. In Berlin hat sie zahlreiche private und berufliche kontakte zu kindern, jugendlichen und erwachsenen mit behinderungen. Sie unterrichtete einige zeit in körperbehindertenklassen.

Leonardo Trisciuzzi ist ordinarius für "Methodologie und Didaktik" an der universitat Florenz und direktor des dortigen Pädagogischen Instituts.

Er hat seit 1963 zahlreiche bücher und aufsätze zum thema "kinder mit behinderungen und deren integration in die regelschule" veröffentlicht.

Viola Weikert (29) ist grundschullehrerin und arbeitete während ihres referendariats an der Rothenburg-Grundschule in Berlin. An derselben schule unterrichtet sie z. zt. auch in klassen, in denen behinderte und nichtbehinderte kinder gemeinsam unterrichtet werden.

Sie beteiligte sich an der vorbereitung und durchführung von exkursionen nach Florenz (seit 1982) und schrieb ihre erste wissenschaftliche haus¬arbeit über die beurteilung schulischer leistungen in italienischen regelschulen.

Elisabeth W underl (34) ist diplompsychologin und seit 1977 in der Integrationsberatung tätig.

Sie ist als mutter und fachfrau tätig im verein "Eltern für Integration" und im Kinderhaus Friedenau Berlin (einer privaten integrationskinder¬tagesstätte mit angeschlossenen schülerläden).

Ihre zehnjährige tochter nahm mit ihr gemeinsam an der Florenz-exkursion im frühjahr 1987 teil.

Drei studentInnen, die selbst an der exkursion nicht teilgenommen hatten, unterstützten die redaktionsgruppe. Hiermit danke ich Kerstin S.A. Köppe, Marion Peters und Susanne Linke für ihre kritische mitarbeit.

Zur redaktionsgruppe gehörten außerdem Michael Jung, Carsten Paeprer, Thomas Quel und Gabriele Schremmer.

Gemeinsam haben wir entschieden, welche berichte aufgenommen werden. In zahlreichen gesprächen mit den autorinnen und autoren haben die mitglieder der redaktionsgruppe entscheidend dazu beigetragen, daß die endgültigen texte so geworden sind, wie sie sind.

"Italienische Verhältnisse" in den staatlichen regelschulen in Italien - viele Deutsche verschaffen sich in den letzten jahren einen eigenen eindruck - zahl-reiche zeitschriftenaufsätze sind erschienen.

Bisher lag jedoch keine deutschsprachige um-fassende buchveröffentlichung vor, die die hintergründe und die praktischen auswirkungen der schulreform in Italien dokumentiert.

"Italienische Verhältnisse" - das ist für viele eine abwertende kurzforme, für das gemeinsame leben und lernen von kindern mit behinderung in einer klasse mit allen anderen kindern.

"Italienische Verhältnisse" - dies ist für zweifler eine abwerende kurzformel, die es abzuwehren gilt. Die Italiener haben angeblich die sonderschulen abgeschafft, weil sie geld sparen wollten.

Hatten die Italiener je ein so gut ausgebautes sonderschulsystem?

Werden die behinderten Kinder in den normalen schulen genügend gefördert?

Deutsche besucherInnen und italienische experten beantworten zahlreiche fragen und geben anschauliche beispiele.

  • Das Buch wendet sich an eltern behinderter und nichtbehinderter Kinder, die konkrete vorstellungen und argumentationshilfen erhalten für eine veränderung der schule.

  • Das buch wendet sich an lehrerInnen und erzieherInnen ,studtenInnen und ihre ausbildnerInnen mit einer fülle von sachlichen informationen, wichtigen dokumenten - erstmals in deutscher übersetzung - zahlreichen unterrichtspielen, hinweisen zur leistungsbeurteilung ohne zensuren und zur kooperation von pädagogInnen.

  • Das buch wendet sich an alle menschen in schwierigen lebenssituationen interessiert sind.

Autorin:

Jutta Schöler

(Herausgeberin)

Verlag Klaus GUHL

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Gemeinsam mit einer exkursionsgruppe

Berliner lehrerInnen und studentInnen

Berlin: Guhl, 1987

ISBN 3-88220-359-5

© Verlag Klaus Guhl

1000 Berlin 19

Knobelsdorferstraße 8

Telefon 0 30 / 3 21 30 62

Gesamtherstellung Fuldaer Verlagsanstalt GmbH

Verzeichnis der Abbildungen

Das titelbild wurde von Sigrid Heinze entworfen

Fotografiert wurde von

Sigrid Heinze

Michael Jung

Carsten Paeprer

Wolfgang Podlesch

Brigitte Schmitt

Jutta Schöler

Zeichnungen:

Nadine Schöler

Quelle:

Jutta Schöler: "Italienische Verhältnisse" insbesondere in den schulen von Florenz

erschienen in: im Verlag Klaus Guhl, Berlin 1987. ISBN 3-88220-359-5. Das Buch ist vergriffen!

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.03.2012

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