Fallstudien: Nurgül - Der Duft der Rose kehrt zurück

Autor:in - Jutta Schöler
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buchbeitrag
Releaseinfo: Beitrag zum Buch: Forschen für die Schulpraxis. Was Lehrer über Erkenntnisse qualitativer Sozialforschung wissen sollten. Hrsg. von Hans Eberwein und Johannes Mand, Weinheim {Dt. Studien-Verlag) 1995
Copyright: © Jutta Schöler 1995

Vorwort

Ein Kind wird geboren! -Ein Mädchen!

Freudig begrüßt von einer glücklichen Mutter, zwei älteren Brüdern, einem Vater, der sich so sehr eine Tochter gewünscht hatte. Die Großeltern, Tanten, Onkel und viele Freundinnen und Freunde der Familie nehmen teil an dem freudigen Ereignis.

Es ist ein gesundes Kind, ein strahlendes Mädchen, mit dunklen Haaren und großen braunen Augen, mit viel Lebendigkeit und einer zarten Haut. Die Mutter ist sich ganz sicher: Die Haut dieses Kindes hat den Duft einer Rose. Das Mädchen erhält den Namen: Nurgül, das bedeutet: Der Duft der Rose kehrt zurück.

Dieses Kind blüht in der Familie auf wie eine wunderschöne, lachsfarbene Freilandrose. Sie erscheint der Familie so lebendig und voller überraschender Farbigkeit und Ausdrucksstärke wie jene Freilandrosen, die nur noch selten in den Blumengeschäften zu kaufen sind. Als "normal" gelten die gleichfarbigen, knallbunten, dünnstieligen Gewächshausrosen, denen der Duft weggezüchtet wurde.

Im Alter von zwölf Monaten erkrankt Nurgül an einer schweren Gehirnhautentzündung. Nach einem vierwöchigen Krankenhausaufenthalt können die Eltern ihre Tochter wieder nach Hause holen. Aber: Ihre zuvor so blühende Rose ist schlaff; sie läßt die Arme, die Beine, ihren Kopf hängen wie welke Blätter. Sie strahlt niemanden mehr an.

Die Eltern wandern mit ihr von einem Spezialisten zum anderen. Sie turnen mit ihr zwei Jahre lang nach der Methode Bobath und zwei Jahre nach der Methode Vojta. Langsam, ganz langsam lernt Nurgül, ihre Arme und Beine zu bewegen; sie tapst unsicher durch den Raum; sie beginnt, wieder zu lächeln. Ihre Eltern und Brüder lernen immer besser zu unterscheiden, was ihr gefällt und was nicht. Sie wird von ihrer Familie verstanden, - aber sie kann nicht sprechen.

Sie wird in einen Sonderkindergarten für schwer mehrfach behinderte Kinder eingewiesen. Die Eltern sind mit dieser Entscheidung nicht einverstanden. Sie haben immer wieder den Eindruck, daß alle Spezialisten nur das sehen, was Nurgül nicht kann. Die Mediziner und Pädagogen nehmen Nurgül in ihren Teilen wahr: Die Hände, die nicht greifen, die Beine, die das Gewicht des Körpers nicht tragen können, die Augen, die die Gegenstände mit ihren Blicken nicht festhalten, den Mund, der sich von alleine um den Löffel nicht schließt. Und für jedes dieser Körperteile gibt es eine extra Therapie: Eine spezielle Eßtherapie, eine Beschäftigungstheapie, ein Wahrnehmungstraining, eine Krankengymnastik. Was ihr Kind den ganzen Tag über nicht hat: Die Wahrnehmung anderer Kinder.

Die Eltern wollen, daß sie in eine normale Schule eingeschult wird. Nach vielen Kämpfen gelingt es tatsächlich, an ihrem Wohnort eine Integrationsklasse einzurichten. Sie lernt dort völlig andere Dinge als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler - , aber sie blüht auf

Ihr Leben ist nicht mehr ein täglicher Kampf ums Überleben; es macht wieder Freude, die Zeit mit ihr zu teilen. Dieses Kind ist wieder ein Ganzes.

Der Duft der Rose kehrt zurück.

Die Herausgeber dieses Buches haben mich gebeten, einen Beitrag zu schreiben "Zur Konstruktion einer Fallanalyse in der Pädagogik."

In einem Sammelband, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Lehrerinnen und Lehrer darüber zu informieren, was sie über die Erkenntnisse qualitativer Sozialforschung wissen sollten, scheint mir die "Konstruktion einer Fallanalyse" nicht angemessen. Lehrerinnen und Lehrer brauchen ihre "Fälle" nicht zu konstruieren, sie haben die Kinder in ihren Klassen. Für Lehrer und Lehrerinnen sind Kinder eine mehr oder weniger schwierige Gruppe, die zu unterrichten ist oder: Jedes Kind wird als eine einmalige Persönlichkeit wahrgenommen. Im Alltag liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Extremen.

Lehrerinnen, die alleine in der Klasse unterrichten, sind zumeist überfordert, um tatsächlich alle Kinder als Individuen wahrnehmen zu können, insbesondere dann, wenn mehr als zwanzig oder gar fünfundzwanzig Kinder in einer Klasse sind. Andererseits: Die Lehrer und Lehrerinnen müssen die Störungen irgendwie registrieren und auf sie reagieren. Die Kinder, die die Störungen verursacht haben, werden dann die "schwierigen Fälle".

Fallanalysen in der Pädagogik, Fallbesprechungen über Kinder sind sehr häufig die nachträglichen Versuche, sich über die Ursachen des Verhaltens von Schülerinnen und Schülern bewußter zu werden, die als störend wahrgenommen wurden. Die Lehrer und Lehrerinnen können über dieses Kind durch genauere Beobachtungen und durch Befragung der übrigen Bezugspersonen mehr Fakten und andere Einschätzungen erfahren.

Für die Lehrerinnen und Lehrer, die sich entschieden haben, in einer Integrationsklasse zu unterrichten, sind einige Kinder vom Beginn des gemeinsamen Lernprozesses an ein "besonderer Fall", - z. B. so ein Kind wie Nurgül.

Für die Lehrerinnen und Lehrer ist es notwendig, sich so viele Informationen wie möglich über die Fähigkeiten und besonderen Interessen des Kindes zu verschaffen. Aus der Beobachtung der Verständigungsformen, die die Familie mit diesem Kind gefunden hat, können auch die Lehrerinnen und Lehrer ihre eigene innere Sicherheit gewinnen, um mit diesem Kind in den Dialog einzutreten, um seine Vorschläge aufgreifen und die vorhandenen Fähigkeiten weiterentwickeln zu können.

Nach meinen pädagogischen Ansprüchen muß jedoch vor einer weiteren Faktensammlung den Beteiligten klar sein: Jegliche Etikettierung eines Kindes ist untrennbar mit den Einstellungen und Zielsetzungen der Beobachter und Beobachterinnen verbunden. Die neutrale Wahrnehmung eines Menschen ist nicht möglich. Eine Sammlung von Beobachtungen und Fakten über ein Kind ist in pädagogischen Zusammenhängen nur dann gerechtfertigt, wenn dies nur dem einen Ziel dient nämlich:

Dem Individuum zu einer Erweiterung der Selbstverwirklichung und Selbstverfügung über seine Entwicklungsmöglichkeiten zu verhelfen. (vergl. Gstettner 1981, 9)

Nach meinem Verständnis trägt eine Überweisung in eine Sonder-Institution gegen den Willen der Eltern in keinem Fall zu einer Erweiterung und Selbstverfügung über die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen bei. Wer also Daten über ein Kind sammelt, um damit letztlich die Aussonderung dieses Kindes aus der Gruppe aller anderen Kinder zu begründen, handelt nach meinem Verständnis gegen das Selbstbestimmungsrecht von Menschen (auch von Kindern), nutzt die Tatsache aus, daß Eltern ihre Kinder in die Schule schicken müssen. Auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die Integration (besser: Die Nicht-Aussonderung von Kindern mit Behinderungen) ist die Gefahr groß, daß Informationen und Beobachtungen über Kinder gesammelt werden, die dann von den Fachleuten gegen die Interessen der Kinder und ihrer Eltern genutzt werden.

So lange Eltern nicht die Sicherheit haben, daß gegen ihren Willen kein Kind aus der Regelschule in eine Sonderschule überwiesen werden kann, müssen sich alle Lehrerinnen und Lehrer sehr gut überlegen, welche Informationen sie von den Eltern erwarten (können) und auch, was an Daten über ein Kind und seine Familie gespeichert wird.

Dieses Vorwort ist für das richtige Verständnis der nachfolgenden Ausführungen notwendig, denn:

Lehrerinnen und Lehrer, die die Methode der Fallanalyse als eine Form der qualitativen Sozialforschung nutzen wollen, müssen sich auch der Gefahren dieser Methode bewußt sein und müssen ihre eigenen Ziele klar defnieren. Wollen sie, wie die ersten Anthropologen, die die "Wilden" im Urwald erforschten, sich den verwaltungspolitischen Konzepten der Kolonialmächte unterwerfen? Wollen sie durch ihre Forschungen die Rechtfertigungen dafür liefern, daß alle diejenigen Kinder, die nicht in das vorgefaßte Bild von "Normalität" passen, aufgespürt und als die "besonders interessanten Fälle" vorgeführt werden? Oder verstehen sich die Lehrerinnen und Lehrer, die für ihre Arbeit die Methoden der Fallstudien wählen, als Anwälte der Kinder, die ein Recht darauf haben, in ihrer jeweiligen Individualität respektiert zu werden?

Sowohl Lehrerinnen als auch die außenstehenden Erziehungswissenschaftlerinnen müssen ihre Ziele offenlegen, bevor sie damit beginnen, Informationen über ein Kind, eine Familie oder die soziale Situation in einer Schulklasse zu sammeln.

Diesen Anspruch formulierte auch Margaret Mead, die bedeutende amerikanische Anthropologin als Handlungsmaxime jeglicher anthropologischen Sozialforschung:

"Wenn wir uns für Veränderungen einsetzen, dann, um Ziele zu erreichen, die für wertvoll gehalten werden, nicht, um Daten aufzuhäufen. Gemeinhin werden unsere Experimente von der Geschichte selbst arrangiert, und die meisten unserer Variablen sind in den Fluß des menschlichen Lebens eingebettet und können nicht isoliert werden, da sie weder Anfang noch Ende haben, sondern sich über Zeiten entfalten. Anthropologen haben nie mit zufällig ausgewählten Populationen und Kontrollgruppen arbeiten können; ihre Daten rühren von der Beobachtung einzelner Individuen her und konnten nur verglichen werden, weil der Ort eines jeden bekannt war. Jede Lebensgeschichte und die Dokumentation jeder Gemeinschaft mit ihren eigenen ausgeprägten und untereinander verschachtelten Anpassungsmustern ist wertvoll und als einzigartiges Experiment zu dokumentieren." (Bateson 1986, 32)

Die Orte der Handlung

Inhaltsverzeichnis

Lehrerinnen, die damit beginnen, über ein Kind, das ihnen in der Schule anvertraut ist, Daten für eine Fallstudie zu sammeln, meinen häufig, der Ort der Handlung sei allen Beteiligten bekannt und bräuchte deshalb nicht dokumentiert zu werden. Dies ist in der konkreten Situation auch richtig und dennoch: Bedingungen verändern sich! Bedingungen des Handelns werden oft nicht genügend als bestimmende Momente der Entscheidungsmöglichkeiten bedacht. Bedingungen können verändert werden! Das genaue Registrieren, Aufschreiben, gemeinsam im Lehrerteam, mit den Eltern des Kindes und anderen im pädagogischen Prozeß Beteiligten über die konkreten Bedingungen nachzudenken, neue kreative Lösungen zu finden, das alles fällt erheblich leichter, wenn sich die Beteiligten die Mühe machen, die konkreten Rahmenbedingungen der Handlungen in all den Details zu dokumentieren, die als bedeutsam für die Entwicklung des Kindes eingeschätzt werden.

Zunehmend mehr hat es sich deshalb in den vergangenen Jahrzehnten in der anthropologischen Wissenschaft durchgesetzt, ökosystemische Zusammenhänge zu berücksichtigen, um das Handeln der Menschen zu verstehen. z.B.: Die Wechsel der Besiedlungen durch die Ureinwohner im Regenwald des Amazonas, welche den europäischen Forscherinnen jahrzehntelang unverständlich waren, konnten erst richtig gewertet werden, als die empfindlichen ökosystemischen Zusammenhänge erkannt wurden zwischen dem Säuregehalt der Gewässer, den Wanderungen der Fische (als einer der wichtigsten Nahrungsquellen der Menschen), und dem Jahreszeitenwechsel des Blühens und Reifens der wichtigsten Pflanzen. (Meggers 1971) Störungen in einem ökosystemischen Teilbereich können sehr schnell dazu führen, daß die Lebensgrundlage aller dort lebenden Menschen zerstört wird. Ähnlich darf in dem sozialen Gleichgewicht, das sich bereits nach relativ kurzer Zeit in dem Sozialgefüge einer Schulklasse bildet, die Bedeutung jedes einzelnen Kindes und jedes Erwachsenen in diesem System für die Entwicklungsmöglichkeiten jedes Beteiligten nicht vernachlässigt werden. Die mögliche Störung oder auch der Anreiz zu neuen Erfahrungsmöglichkeiten durch das Herausnehmen oder neu Hinzukommen eines Menschen darf nicht vernachlässigt werden. Dies kann Lehrerinnen und Lehrern leicht bewußt werden, wenn sie sich gemeinsam den Videofilm über einen zeitlich etwas zurückliegenden Unterrichtsvormittag ansehen und dann spontan Äußerungen fallen, wie: "Ach, das war ja zu der Zeit, als Monika noch nicht bei uns war!" Oder: "Das war in unserer 'Monster'-Phase!"

Der Anspruch, orientiert an Methoden der ökosystemischen Feldforschung, die Rahmenbedingungen unterrichtlichen Handelns möglichst vollständig zu erfassen und zu dokumentieren, kann aber auch leicht zu Überforderungen bei allen Beteiligten führen: Da ja letztlich alles mit allem irgendwie zusammenhängt, sind Entscheidungen über die Auswahl notwendig. Diese Auswahl müssen diejenigen treffen, die ihre Arbeit mit den Kindern in der konkreten Situation verbessern wollen, mit dem Ziel, die Selbstentfaltungsmöglichkeiten des Kindes zu steigern. Eine allgemeine Regel läßt sich hierzu nicht aufstellen. Nützlich ist die Orientierung an Beispielen. Die von Nicola Cuomo dokumentierten vier Monographien über die integrative Betreuung von schwer behinderten Kindern in der italienischen Regelschule erscheinen mir als gelungene Beispiele für diese bewußte Auswahl der Informationen, die als Ergebnis der Arbeit der unmittelbar beteiligten Lehrerinnen in anonymisierter Form nach außen gegeben werden können. (Cuomo, 1989)

Grundlage dieser Veröffentlichung waren die über mehrere Jahre durchgeführten Protokolle und Videodokumentationen über die Kinder, welche zunächst nur als Arbeitsmaterialien für die Lehrerrinnen und Lehrer und die Eltern der Kinder erstellt worden waren.

Mit meinem Beispiel von Nurgül möchte ich Lehrerinnen und Lehrern Anregungen für ihre eigenen Arbeiten geben, keine Rezepte!

Die Rahmenbedingungen

Wegen Nurgül wurde in der Grundschule ihres Wohnortes zum ersten Mal eine Integrationsklasse eingerichtet.

In dieser Grundschule war es seit vielen Jahren so üblich, daß zwei Lehrerinnen gemeinsam die Verantwortung für eine erste Klasse übernehmen und diese möglichst gemeinsam bis zur vierten Klasse leiten, wenn die Kinder auf die Oberschule übergehen. Praktisch bedeutete dies, daß die eine Lehrerin sich auf die Vorbereitung und die Neueinführungen für die Vermittlung der Kulturtechniken: Schreiben und Lesen sowie auf den Sportunterricht konzentriert, die andere auf den Mathematik- und naturwissenschaftlichen Unterricht sowie auf Musik. In alle Stunden, die als Förder- und Teilungsunterricht zur Verfügung stehen, sind beide Lehrerinnen anwesend. Sie planen ihren Unterricht gemeinsam, in der Regel einmal pro Woche für die laufende Woche und einmal pro Monat ausführlicher für einen längeren Zeitraum. Zusätzlich finden regelmäßige Besprechungen über einzelne Kinder, über die Formulierung der Berichtszeugnisse und die Vergabe der Ziffernzensuren in den dritten und vierten Klassen sowie über die Elternarbeit statt. Nach einer gewissen Zeit der Umstellung empfinden die Lehrerinnen jener Schule diese Art der Teamarbeit als eine Erleichterung und Bereicherung ihrer Arbeit. Es war am Anfang eine Umstellung gewesen, nicht mehr alles alleine entscheiden zu dürfen und zu müssen. (vergl. Schöler 1993, 72-102)

Erleichtert wird diese Organisationsform in dem konkreten Falle dadurch, daß die eine Lehrerin aus persönlichen Gründen teilzeitarbeitet und ihre Unterrichtsverpflichtung so reduziert hat, daß sie nur in dieser einen Klasse unterrichtet. Die andere Lehrerin arbeitet in zwei weiteren Klassen als Fachlehrerin.

An dieser Schule ist es außerdem seit vielen Jahren üblich, daß einmal in der Woche eine gemeinsame Veranstaltung aller Kinder jeweils einer 1., 2., 3. und 4. Klasse und ihrer Lehrerinnen stattfindet. Die Klassenräume dieser vier jeweils kooperierenden Gruppen liegen an einem Flur, in demselben Stockwerk. Die Türen sind häufig offen, die Flure und Nischen dienen als Gruppenarbeits- und Ausstellungsräume für alle Kinder.

Manchmal wird dieser Projekttag genutzt, daß jede Klasse den anderen die Ergebnisse ihrer Arbeit vorführt, da wird z. B. ein Lied vorgesungen oder ein kleines Theaterstück vorgetragen. Da werden kleine Ausstellungen in den Fluren eröffnet und erläutert oder gemeinsam ein Fest geplant oder ein Elternabend vorbereitet. Regelmäßig finden auch klassenübergreifende Unterrichtsprojekte statt: Erstkläßler und Viertkläßler gestalten gemeinsam einen Wandfries oder Dinosaurier mit plastischen Materialien. Ein- oder zweimal im Jahr werden auch größere, klassenübergreifende Projekte in Angriff genommen, wie z. B. die Neugestaltung des Schulhofes oder Schulgartens oder die gemeinsame Planung und der Bau eines Lehmhauses. Bei solchen Projekten entstehen auch wichtige Beziehungen über die Jahrgangsklassen hinweg, Freundschaften von "Kleinen und Großen", Patenschaften und Verantwortungen.

Dies ist die Ausgangssituation für die integrative Betreuung eines schwer mehrfach behinderten Kindes in einer Integrationsklasse: Ein geöffneter Grundschulunterricht mit vielen Anteilen von Teamabsprachen der Lehrerinnen und die Akzeptanz unterschiedlicher Entwicklungen von Kindern. (vergl. Wallrabenstein 1991) Die altersheterogenen Lerngruppen haben bereits zu einem Selbstverständnis unter den Lehrerinnen und Lehrern dieser Schule geführt, daß Kinder unterschiedlichster Entwicklungsniveaus gegenseitig viel voneinander lernen können.

Eine Integrationsklasse ist eingerichtet worden. Das Team der zwei Lehrerinnen wird ergänzt durch eine Sonderpädagogin, die regelmäßig den Unterricht für alle Kinder mit plant und zugleich die besonderen Belange der drei Kinder mit Behinderungen berücksichtigt. Manchmal zieht sie sich auch mit einem dieser Kinder in eine Nische des Klassenraumes zurück, manchmal verläßt sie mit einem Kind oder einer kleineren Gruppe den Klassenraum. Dies findet in jener Schule jedoch keine weitere Beachtung, denn: Die Türen zum Flur sind sowieso meist offen, es ist "normal", daß alle Kinder manchmal etwas Gemeinsames, aber oft etwas Verschiedenes tun. Wegen des schwer behinderten Kindes ist während der gesamten Unterrichtszeit eine Erzieherin anwesend. Nach einer relativ kurzen Einarbeitsungszeit hat das Team dieser vier Erwachsenen zu einer stabilen Form der Akzeptanz ihrer Unterschiedlichkeiten gefunden: Die vier Lehrerinnen stützen sich gegenseitig in ihren Problemen - auch in den privaten. Sie kämpfen ihre unterschiedlichen Meinungen offen aus (manchmal ganz schön heftig!), haben aber bisher immer wieder zu einvernehmlichen Lösungen gefunden, ohne daß die Eine oder die Andere als dominierend wahrgenommen wird.

Die Klasse, in die Nurgül eingeschult wurde, wird von insgesamt siebzehn Kindern besucht, sieben Mädchen und zehn Jungen, davon werden ein weiteres Mädchen und ein Junge als behindert bezeichnet. Deren Behinderungen machen ein anderes Lerntempo und manchmal besondere Aufgabenstellungen notwendig. Sie können aber mit der notwendigen Differenzierung dieselben Lernziele erreichen wie alle anderen Kinder.

An dieser Stelle reichen diese Informationen über den konkreten Lernort des Kindes, über das im folgenden ausführlicher nachgedacht werden soll, aus. Aber: Es soll noch einmal bewußt gemacht werden: Jede einzelne der hier aufgeführten Informationen kann zum Gelingen oder zum Scheitern eines integrativen Lernprozesses führen! Bisher sehen wir es in deutschen Schulen noch als normal an, daß das Scheitern eines gemeinsamen Lernprozesses dadurch gelöst wird, daß einzelne Kinder die Gruppe verlassen müssen.

Was wäre, wenn ...?

...wenn die Klassenfrequenzen so hoch sind, daß die Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit nicht mehr respektiert werden können?

...wenn die Klassentüren geschlossen bleiben?

...wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht offen untereinander über ihre eigenen Schwierigkeiten sprechen können?

Die Behinderungen für das Lernen von Kindern, die sich aus den Unzulänglichkeiten der Rahmenbedingungen ergeben, werden im deutschen Schulsystem immer noch zumeist uminterpretiert als "Behinderungen" des Kindes". (vergl. Antor 1992) Daraus wird allzu leichtfertig die "Nichtintegrierbarkeit" des Kindes abgeleitet, statt alle Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie die "Integrationsfähigkeit" des Systems Regelschule erhöht werden kann.

Das Kind

Nurgül und ihre Eltern hatten großes Glück. Nach langen und schwierigen Auseinandersetzungen war es ihnen gelungen, für ihre Tochter diesen Platz in der Integrationsklasse zu erkämpfen. "Normalerweise" wäre ein Kind wie Nurgül in eine Schule für geistig Behinderte eingeschult worden, eventuell auch in eine Schule für Körperbehinderte und dort in eine Gruppe für "schwer mehrfach behinderte Kinder". Wer sich an ihren Defiziten orientiert, gerät leicht in die Versuchung zu fragen: Was kann ein solches Kind in einer normalen Klasse lernen? Es nutzt für einen integrativen Lernprozeß nichts, sich auf die Defizite des Kindes zu konzentrieren. An den Fähigkeiten dieses Kindes müssen wir uns orientieren (vergl. Schöler 1994, 77 - 131)

Nurgül ist körperlich altersgemäß entwickelt. Sie läuft bei ihrer Einschulung selbständig, kann das Gleichgewicht mit Anstrengungn halten, wenn sie nicht allzu müde ist. Sie klettert. gerne auf Spielgeräte, braucht dabei jedoch oft noch Unterstützung weil sie Schwierigkeiten hat, die Arme, Beine und die Hände richtig in ihren Bewegungen zu koordinieren. Mit etwas Unterstützung hat sie in der Schule gelernt, mit dem Löffel alleine zu essen. Mit Hilfe eines Strohhalmes kann sie alleine trinken.

Visuelle und akustische Reize nimmt sie wahr; für die Beobachter ist jedoch nicht eindeutig zu interpretieren, wie sie diese Wahrnehmungen verarbeitet. Sie bevorzugt es, Handlungen mehrmals zu wiederholen, z.B.: Eine Tür öffnen und schließen, eine Schachtel mit Kreidestücken ein- und wieder ausräumen. Dosen und Schachteln wecken ihre Neugierde. Sie möchte wissen, was darin ist. Sie kann anderen Kindern und Erwachsenen in solchen Situationen sehr eindringlich deutlich machen, daß es ihr Wunsch ist, für sie diese Behältnisse zu öffnen, da sie selbst dies nicht kann. Sie spielt sehr gerne mit anderen Kindern, zeigt dabei auch deutliche Vorlieben. Sie sucht dabei den Körperkontakt zu den Kindern. Manche Kinder gehen darauf gerne ein, andere weichen ihr eher aus. Nurgül kann ihrer Umwelt sehr deutlich zeigen, was sie nicht mag. Es ist nicht klar, wie weit sie Verbalsprache versteht. In der Kombination von Wörtern und Gesten ist der Aufbau einer sprachlichen Kommunikation begonnen worden. (z. B. : "Komm", verbunden mit einer einladenden Armbewegung und dem Blickkontakt) Nurgül versteht Stimmungen und Gesten in der sozialen Situation und ist durch die ihr vertrauten Personen beeinflußbar.

Vieles, was für die allermeisten Kinder ihres Alters selbstverständlich ist, kann Nurgül nicht. Ihre Entwicklung läßt sich mit keinem Kind in ihrer Klasse vergleichen. Ihre Lernziele sind eindeutig andere als die der übrigen Kinder in ihrer Klasse. Und dennoch: Sie läuft nicht einfach so mit! Auch für sie müssen die Lehrerinnen Lernziele formulieren. Ihre Teilnahme am gemeinsamen Unterricht muß geplant werden.

Die Gefahr ist sehr groß, daß bei der integrativen Förderung eines Kindes, das in der Schule erst Fähigkeiten erlernt, die für andere Kinder selbstverständlicher Lerninhalt im Alter von wenigen Monaten waren, die beteiligten Erwachsenen die Geduld verlieren und den Wert ihrer eigenen Arbeit nicht erkennen. Welch ein großer Zugewinn an Erfahrungsmöglichkeiten ist es doch für ein Kind, wenn es sich zum ersten Mal alleine vom Rücken auf den Bauch drehen und den Kopf anheben kann. Wenn ein Kind alleine, oder mit geringer Unterstützung sitzen kann, wenn es einen Löffel halten und ihn mit einer gewissen Sicherheit so in den Mund führt, daß der Brei oder das Joghurt im Mund bleibt!

Eltern, die im Wartezimmer eines Kinderarztes die Entwicklungsfortschritte ihrer Kleinkinder untereinander vergleichen kennen diese Ängste: "Ist es noch normal, daß ..., daß mein Kind dieses noch nicht kann oder jenes schon mit aller Selbstverständlichkeit?"

Mit der Einschulung gehen wir davon aus, daß bestimmte Lernschritte abgeschlossen sein sollten. Mit einem so schwer behinderten Kind kommen ungewohnte Lernziele auf die Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern, aber auch auf die Mitschülerinnen und Mitschüler zu. Eine Klasse, in der das gemeinsame Lernen mit einem Kind wie Nurgül zur Selbstverständlichkeit geworden ist, registrieren auch die Mitschülerinnen und Mitschüler die kleinsten Lernfortschritte mit großer Aufmerksamkeit. Insbesondere die Jungen atmen häufig innerlich auf, wenn sie wahrnehmen können, daß auch ein Kind, das so vieles (noch) nicht kann, in der sozialen Gruppe akzeptiert wird. Bei dem harten Konkurrenzkampf, dem sie selbst ausgesetzt sind, um den Vorstellungen über das Verhalten eines "richtigen Jungen" gerecht zu werden (vergl. Schnack/Neutzling 1990), kann das Verweilen bei einem Kind wie Nurgül eine Erleichterung sein.

Die Lehrerinnen und Lehrer sind in der Arbeit mit (schwer) behinderten Kindern einer besonderen Gefahr ausgesetzt, der es vorzubeugen gilt: Die Fortschritte sind häufig so gering, daß sie kaum sichtbar sind. Es muß auch mit Rückschritten gerechnet werden! Bei manchen Behinderungen gehört dies zum Erscheinungsbild, daß Fähigkeiten, die erlernt wurden, auch wieder vergessen werden.

Außenstehende Beobachter können Lehrerinnen und Lehrer leicht verunsichern, insbesondere dann, wenn es sich um "Autoritäten" handelt, die von sich meinen, über eine soziale Situation urteilen zu können, in die sie sich selbst nicht hineinbegeben haben.

Die Einmaligkeit des Kindes (insbesondere des Kindes mit Behinderungen) kann durch eine Fallstudie, mit der die Entwicklung über ein längeren Zeitraum dokumentiert wird, am besten verdeutlicht werden.

Es ist nichts Neues, daß Lehrerinnen und Lehrer über Kinder eine Art Tagebuch führen oder, daß sie angeregt werden, durch detaillierte Beobachtungen eine größere Bewußtheit über ihr pädagogisches Handeln zu gewinnen. Alois Fischer beschreibt diese schwierige Aufgabe einer deskriptiven Pädagogik 1914: "Genau beschreiben, was der Schüler tut - wenn er z. B. ein Gedicht interpretiert, einen Satz kopiert, eine eingekleidete Rechenaufgabe durchdenkt, um den Ansatz zu finden, erfordert eine hochentwickelte psychologische und pädagogische Achtsamkeit, die als Naturgabe nicht häufig, erst als Resultat einer guten Schulung zu erlangen ist. Dabei meine ich mit Beschreibung ... die genaue und erschöpfende Wiedergabe der im Bewußtsein des lernenden Kindes selbst in verschiedenen Einzelheiten des Erlebnisses sich abspielenden Vorgänge." (zitiert nach Muth, 1991, I0)

Die detaillierten Beobachtungen fordern Alois Fischer und mit ihm Jakob Muth, um das richtige Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeiten von pädagogischer Theorie und Pädagogischer Praxis zu sichern. Bei der Förderung von Kindern mit Behinderungen sind diese sehr genauen Beobachtungen notwendig, um einen dauerhaften Prozeß der gemeinsamen Erziehung zu gewährleisten. Zu groß ist die Gefahr, daß sich nach einer gewissen Zeit Resignation unter den Beteiligten ausbreitet, die dann tatsächlich zu einer Stagnation der Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes führt. Die gemeinsame Erziehung kann nur in den seltensten Fällen die vorliegenden Schädigungen "heilen". Sie bleiben Bestandteil der Persönlichkeit dieses Menschen und müssen auch als Persönlichkeitsmerkmale akzeptiert werden. Hierauf verweisen uns die Autobiographien behinderter Menschen. (vergl. Brown 1959, Lusseyran 1989, Nolan 1989, Schlett 1984)

Für die Aufgabe der gemeinsamen Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder erscheinen mir zwei Vorgehensweisen zur Dokumentation von Fallstudien geeignet: Die regelmäßige Dokumentation durch Videoaufzeichnungen und die Dokumentation der "Krisensituationen".

Die regelmäßige Dokumentation durch Videoaufzeichnungen:

Mit den heutigen technischen Möglichkeiten der Videoaufzeichnungen ist es für Lehrerinnen und Lehrer relativ leicht, sich einer Dokumentationsmethode zu bedienen, die bei geringem Aufwand sehr viele Vorteile mit sich bringt.

Nach meinen Erfahrungen gibt es in jeder Klasse Mütter oder Väter, Großeltern oder Tanten, die gerne bereit sind, ihre Aufzeichnungsgeräte und ihre eigenen Kenntnisse im Umgang mit der Videokamera, die sie sonst nur für den Urlaub oder Familienfeiern nutzen, als Unterstützung der schulischen Förderung ihres Kindes zur Verfügung zu stellen, wenn man sie nur darum bittet. (Es ist selbstverständlich, daß ein solches Vorhaben bei einem Elternabend erläutert wird und, daß das Einverständnis aller Eltern vorliegen muß.) Selbst wenn keine zusätzliche Kamerafrau oder ein Kameramann zur Verfügung steht, kann durch eine Videokamera, die in einer Ecke des Klassenraumes auf einem Stativ montiert ist, eine Dokumentation des Unterrichts erreicht werden. Weitaus günstiger ist es jedoch, wenn nach Absprache mit den unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrern bereits bei der Videoaufzeichnung bestimmte, vorher festgelegte Schwerpunkte gesetzt werden, z. B.:

In der Eingangsphase eines Schultages wird mit der Kamera festgehalten, wie Nurgül Kontakte zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern aufnimmt und wie die anderen Kinder auf sie reagieren. Die Filme können im Verlauf der pädagogischen Arbeit vielfältig genutzt werden:

Bei Planungs- und Auswertungsgesprächen der Lehrerinnen und Lehrer

Bei regelmäßig statt findenden Planungs- und Auswertungsgesprächen der Lehrerinnen und Lehrer ist es sehr hilfreich, sich gemeinsam den Unterricht anzusehen und sich der eigenen Leistungen zu vergewissern: "So schlecht sind wir ja gar nicht!" Gegenseitig kann man sich beim Anschauen (und Anhalten) eines Videofilmes auch leichter auf unterschiedliche Einschätzungen aufmerksam machen. Außerhalb des konkreten Handlungsdruckes, der im Unterricht die spontanen gegenseitigen Korrekturen manchmal doch zurückstecken läßt, ist es einfacher, sich gegenseitig zu kritisieren: "Da hast Du wohl vorschnell eingegriffen! Ich hätte noch einen Moment gewartet, vielleicht hätte Nurgül es auch alleine geschafft, die Dose zu öffnen."

Wo solche konkreten Gespräche nicht stattfinden können, ist die Gefahr recht groß, daß aus den unterschiedlichen Einschätzungen gegenseitig pauschale Urteile aufgebaut werden: "Du überforderst/unterforderst die Kinder!"

Mit Hilfe dieser Videoaufzeichnungen ist es auch leichter, einem außenstehenden Berater, z.B. einer Sonderpädagogin, die speziellen Probleme zu erläutern, für die die Lehrerinnen gerne eine Anregung oder Unterstützung hätten.

Bei einem Elternabend

Die Eltern können es sich häufig nicht vorstellen, wie der Unterricht in einer Klasse abläuft, in der sehr unterschiedliche Fähigkeiten von Kindern berücksichtigt werden. Wenn bei einem Elternabend ein Ausschnitt aus den Videodokumentationen gezeigt wird, dann können die Eltern sicherer werden. Es kann auch hier konkret nachgefragt und am Beispiel erläutert werden, wie die Arbeit für alle Kinder gestaltet wird. Deshalb ist bereits bei den Filmaufnahmen darauf zu achten, daß tatsächlich alle Kinder ins Bild kommen. Jede Mutter und jeder Vater möchte das eigene Kind sehen, sich ein eigenes Bild über das Verhalten des Kindes machen, auch wenn allen beteiligten bewußt ist, daß das besondere Interesse einem Kind gilt, das andere Lernbedürfnisse hat als die Mehrheit aller anderen Gleichaltrigen.

Den Eltern sollte auch angeboten werden, daß sie sich diese Filme ausleihen oder kopieren. Es sollte nicht unterschätzt werden, wie wichtig es ist, daß sich auch die Großeltern und Freunde der Familie ein konkretes Bild machen können.

Zur langfristigen Dokumentation der individuellen Entwicklung des Kindes

Großen Wert haben diese Videodokumentationen, wenn sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit über einen längeren Zeitraum angefertigt werden. Die kleinen Fortschritte sind den Menschen, die täglich in derselben sozialen Situation mit einem Kind leben, oft nicht bewußt. Wenn Außenstehende zum ersten Mal nach einer gewissen Zeit des gemeinsamen Unterrichts in die Klasse kommen, können sie den tatsächlichen Lernfortschritt des Kindes mit Behinderungen nicht richtig einschätzen. Für Lehrerinnen und Lehrer, die zu einem bestehenden Lehrer-Team neu hinzukommen, ist es sehr hilfreich, sich alleine oder, noch besser: Begleitet durch die Kommentare der Kolleginnen und Kollegen einige Ausschnitte aus der bisherigen Entwicklung des Kindes mit dem besonderen Lernverhalten ansehen zu können. Die integrative Arbeit der Erwachsenen wird in hohem Maße erleichtert.

Als Anregung für die methodische und inhaltliche Gestaltung des Unterrichts

Aus der genaueren Analyse einzelner Unterrichtssituationen können hilfreiche Ideen für die methodische Gestaltung des Unterrichts gezogen werden.

Für die Lehrerinnen von Nurgül z. B. war es immer eine schwierige Aufgabe, gemeinsame Lernsituation zu gestalten, insbesondere, wenn für die Mehrheit ein neuer Unterrichtsinhalt systematisch eingeführt werden sollte. Ein Beispiel aus dem Mathematikunterricht: Mit Hilfe einer Balkenwaage wurden Prinzipien von Gleichheit und Verschiedenheit einer Menge verdeutlicht. Alle Kinder zeigten großes Interesse an dem theoretisch-abstrakten Problem, das durch konkrete Handlungen der Lehrerin verdeutlicht wurde. Nurgül interessierte sich für die Gewichte. Sie wollte immer wieder nach ihnen greifen. Sie störte die Lernsituation aller anderen Kinder, die nur mit abwehrendem: "Nein, Nurgül, Nein!" reagieren konnten. Die Erzieherin wußte im Moment keine andere Lösung als Nurgül von den begehrten (Objekten wegzuziehen. Beim Betrachten des Videofilmes konnten die Lehrerinnen und die Erzieherin gemeinsam überlegen, wie sie sich in Zukunft in ähnlichen Situationen angemessener verhalten könnten: Alle Kinder müssen zu ihrem Recht auf Unterricht kommen, Für Nurgül muß eine für sie bedeutsame Aufgabe gefunden werden. Man kam zu dem folgenden Ergebnis: Da Nurgül so gerne Dinge ein- und aussortiert würde sie - unterstützt durch die Erzieherin- in ähnlichen Situationen die Gewichte aus einer Schachtel oder einem Stoffsäckchen herausholen und der Lehrerin oder einem Mitschüler geben. Es sollte versucht werden, ihr eine eigene Rolle in dem sozialen Lernprozeße aller anderen Kinder zu geben.

Einbeziehen der MitschülerInnen in die pädagogische Planung

Teile eines solchen Videofilmes können auch sehr sinnvoll mit den Schülerinnen und Schülern genutzt werden, um sich mit ihnen über die Gestaltung des Unterrichts zu unterhalten. Auch den Mitschülerinnen muß ihre Rolle in bezug auf ein Kind, das Anderes lernt als sie selbst, bewußt gemacht werden. So konnten alle Kinder in dem Videofilm erkennen, daß Nurgül großes Interesse daran hat, die Creme-Dose selbst zu öffnen. Sie schaffte es nicht. Gemeinsam wurde die Frage diskutiert: "Gibt es vielleicht andere Dosen, die leichter für Nurgül zu öffnen sind?" Daraus entstand ein kleines Projekt, in das schnell auch die Kinder der anderen Klassen einbezogen waren. Eine Sammlung von Dosen wurde zusammengetragen: Kleinere und größere Dosen, Tuben, Schachteln in vielen Formen und Farben, Gläser mit Schnappverschlüssen, Behältnisse mit unterschiedlichsten Griffen und Henkeln. Was für die Kinder zuvor so selbstverständlich war, wurde zu einem interessanten theoretisch-praktischen Problem.

Grundlage für intensive Elterngespräche

Für die Eltern eines Kindes mit einer Behinderung kann es sehr beruhigend sein, wenn sie sich anhand eines Videofilmes ein eigenes Bild davon verschaffen können, wie es ihrem Kind in der Schule ergeht. Aus der konkreten Anschauung, daß ihr Kind in der Schule sich etwas zutraut und auch schafft, was ihm zu Hause eventuell nie zugemutet wird, kann bei einer Mutter oder einem Vater die innere Sicherheit entstehen, es zu Hause auch zu versuchen. So ist Nurgül z. B. zu Hause noch gefüttert worden, als sie in der Schule bereits begonnen hatte, alleine zu essen.

Umgekehrt kann es für die Lehrerinnen sehr hilfreich sein, wenn sie auch einmal die Gelegenheit haben, sich gemeinsam mit den Eltern einen Videofilm anzusehen, der zu Hause aufgenommen wurde. Eltern, Geschwister oder Großeltern haben häufig eine selbstverständlichere Art als Pädagogen, auf die Vorschläge der Kinder einzugehen. Wenn Nurgüls Vater sich mit seiner Tochter im Kinderzimmer auf den Boden zwischen die Spielsachen setzt, dann hält er ihr nicht das eine oder andere Spielzeug nach seiner Wahl entgegen. Er wartet ab, was sie ihm zum Spielen vorschlägt. Ihre Vorschläge sind für Außenstehende oft nicht leicht zu verstehen. Die Lehrerinnen können dies jedoch von den Personen, die länger und häufiger bereits Erfahrungen im Umgang mit dem behinderten Kind haben, anhand eines Videofilmes sehr leicht lernen.

Ein solches Vorgehen ist natürlich auch aufgrund von Besuchen und Beobachtungen zu Hause möglich. Nicola Cuomo verweist in seinen Fallstudien immer wieder darauf, das Zuhause eines schwer behinderten Kindes in die Überlegungen für die Planungen in der Schule einzubeziehen (Cuomo 1989, 53-58)

Wenn für die Eltern eine Videoaufzeichnung unproblematisch ist, dann sind damit die Vorteile der wiederholten Anschauung, der gemeinsamen Analyse und der Dokumentation für einen späteren Vergleich der Entwicklung möglich.

Die regelmäßige Dokumentation der Entwicklung eines Kindes ist zumeist nur den unmittelbar im gemeinsamen Handeln Beteiligten möglich. Das Filmen können die Lehrerinnen und Lehrer selbst übernehmen; sie können Familienangehörige der Kinder oder Freunde, Praktikantinnen oder Zivildienstleistende um Unterstützung bitten. Als sinnvoll hat es sich erwiesen, im Abstand von etwas drei bis sechs Wochen zu filmen und dieses Material in anschließenden "Fallbesprechungen" gemeinsam für die Analyse der Veränderungen und die Planung neuer Zielsetzungen und Unterrichtsmethoden zu nutzen.

Wenn die Lehrerinnen und Lehrer die Unterstützung durch eine außenstehende Beratergruppe haben, z. B. durch eine wissenschaftliche Begleitung, durch kooperierende Sonderpädagoginnen oder Mitarbeiterinnen von Beratungsdiensten oder Universitäten, dann kann es auch sehr sinnvoll sein, sich auf eine andere Form von Fallanalysen zu konzentrieren, nämlich die der "Krisenbegleitungen" oder "Kriseninterventionen".

Häufig schätzen Lehrerinnen und Lehrer ihre fachliche Kompetenz und die Interventionsmöglichkeiten, die sie sich selbst angeeignet haben, berechtigterweise als hinreichend für die Bewältigung aller täglichen Aufgaben ein. Es wäre für sie ein viel zu großer zeitlicher Aufwand, regelmäßige Dokumentationen anzulegen und zu analysieren. Andererseits besteht die Unsicherheit, wie vorhersehbare und vor allem die unvorhergesehenen Krisen in der Entwicklung des Kindes, seiner Familie oder des Lehrerinnenteams bewältigt werden können. In solchen Fällen ist es sehr hilfreich, wenn ein Beraterteam zur Verfügung steht, an das sich die Lehrerinnen und Lehrer im "Bedarfsfall" wenden können.

Aus einem derartigen Ansatz kann auch eine sehr sinnvolle Form einer wissenschaftlichen Begleitung entwickelt werden: Nicht die Außenstehenden im pädagogischen Prozeß bestimmen, in welchen Abständen und bei welchen Gelegenheiten sie sich in das Alltagsgeschehen einmischen, sondern sie lassen sich nach den Bedürfnissen der Unterrichtspraxis einbeziehen.

Jakob Muth verweist auf den Wert einer solchen Begleitung und Dokumentation von Krisenmomenten für die Pädagogik: "Im Bestehen einer Krise und der Läuterung des Lebenslaufs als Folge einer Krise wird die pädagogische und anthropologische Dimension sichtbar. (...) Es ist anzunehmen, daß jedes neue Leben, jede neue Lebensstufe, jedes neue Lebensalter mit einer Krise beginnt. Deshalb kann die Pädagogik durch die Beschäftigung mit Krisen in Lebensläufen eine Bereicherung erfahren, die sie weiterzugeben vermag." (Muth 1992, 297)

Die Rolle, welche Erwachsene für Kinder mit Behinderungen und deren Eltern übernehmen können, bezeichnet Anna Gidoni als "Das unterstützende Ich": "Eine außerhalb der Familie stehende, nicht konfliktuell vorbelastete, beruflich ausgebildete Person kann also ihr Ich herleihen (...) und dem behinderten Kind Verhaltensweisen und Funktionen zur Verfügung stellen, die seine Entwicklung zu erleichtern vermögen, andernfalls bliebe diese Entwicklung durch die Art der Mutter-Kind-Beziehung gehemmt. So agiert diese Maßnahme tatsächlich im Rahmen eines Prozesses der Verselbständigung und Abkopplung, der in der symbiotischen Dimension blockiert blieb, und bringt notwendigerweise eine individualisierte Unterstützung für beide Partner im Beziehungsgefüge. Für die Mutter und für das behinderte Kind." (Gidoni 1991, 91)

Eine ähnliche Rolle des "Unterstützenden Ich" können pädagogisch ausgebildete, außerhalb des täglichen Schulalltags Stehende übernehmen, um die Lehrerinnen und Lehrer zu begleiten, welche ihre ersten Erfahrungen mit der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern machen. Es genügt dabei, wenn die Lehrerinnen und Lehrer wissen, an wen sie sich wenden und zuverlässig mit Unterstützung rechnen können, wenn sie selbst sich einer krisenhaften Situation nicht gewachsen fühlen.

Die Analyse dieser Krisensituationen gibt Hinweise darauf, welche Bedingungen schulischen Lernens verändert werden sollten. Nach meinen Erfahrungen in der jahrelangen Begleitung von Integrationsprozessen, kann ich verallgemeinern, daß vor allem die Übergänge von einer Institution zur anderen in stärkerem Maße als "gleitende Kooperationen" gestaltet werden müssen. Für sehr viele Kinder und Jugendliche werden diese Übergänge als Krisen wahrgenommen: Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule, von der Grundschule ins gegliederte Sekundarstufensystem, von der Schule in die Arbeitswelt, vom Wohnen in der Familie zur Ablösung vom Elternhaus. Die Übergänge sind für alle Kinder und Jugendlichen nicht leicht zu gestalten. Mit Hilfe der Eltern bewältigen die nichtbehinderten Kinder jedoch diese Wechsel in der Regel. Die Angst der Erwachsenen davor, daß diese Krisen für ein Kind mit Behinderungen besonders schmerzvoll werden könnten, blockiert häufig das Denken. (vergl. auch Cuomo 1989, 21). Rene Müller hat in einer breit angelegten Studie über hörgeschädigte Kinder nachgewiesen, daß diese Kinder und ihre Eltern die Phasen der Übergänge als besonders belastend empfanden. (Müller 1993, 147-175)

Für ein Kind mit einer Behinderung bildet jeder Wechsel - auch bereits ein Lehrerwechsel -heute immer wieder neu die Gefahr einer Aussonderung. Im Bewußtsein über diese Aussonderungsgefahr liegt vielleicht die größte psychische Belastung! Fallstudien, die die Entwicklung zur höchstmöglichen Autonomie eines Menschen mit einer Behinderung dokumentieren, können sich weitgehend auf die Dokumentation dieser krisenhaften Übergänge konzentrieren. (vergl. Schöler 1993, 115 - 128 und 234 - 238 sowie Schöler 1994, 104 - 120)

Es ist nicht notwendig und für die von einer Behinderung betroffenen Menschen nicht gut, wenn ihr Leben in einem Ausmaße dokumentiert würde, das weder ihnen selbst noch ähnlich behinderten Menschen wirklich nutzt. Die Kinder und Jugendlichen mit einer Behinderung dürfen nicht wie die "letzten Wilden" dem forschenden Interesse von Pädagogen oder Anthropologen ausgesetzt werden, welche mit ihren eigenen Forschungsvorhaben - bei genauer Analysen letztlich nur ihre eigene Karriere im Sinn haben. Mit Einverständnis aller Beteiligten kann es jedoch sehr sinnvoll sein, wenn im Zusammenhang mit Diplomarbeiten oder Dissertationen von den Menschen die ein Kind begleitet haben, eine detaillierte Fallstudie erstellt wird. (vergl. Krämer 1993 )

Mit meinem Beitrag möchte ich Lehrerinnen und Lehrern Anregungen geben, wie sie für sich selbst mit Hilfe von Videodokumentationen und unter Hinzuziehung von außenstehenden BeraterInnen die Methode der Fallanalyse nutzen können. Andererseits sollten Lehrerinnen und Lehrer die Beteiligung an Forschungen, die ihnen und den ihnen anvertrauten Kindern nicht unmittelbar nutzen, verweigern! Die Sammlung von persönlichen Daten über einen Menschen muß sich der sehr strengen Kontrolle unterziehen:

Dient sie dem Individuum zu einer Erweiterung der Selbstverwirklichung und Selbstverfügung über seine Entwicklungsmöglichkeiten?

Literatur:

Antor, Georg: Von der Integrationsklasse zur Sonderschule. in: Die Sonderschule, 37 ( 1992j, Heft 3, S. 159-168

Bateson, May Catherine: Mit den Augen der Tochter. Meine Erinnerungen an Margaret Mead und Gregory Bateson

Brown, Christy: Mein linker Fuß. Autobiographie eines anarthrischen Mannes, Berlin 1956 Cuomo, Nicole: Schwere Behinderungen in der Schule. Aus dem Italienischen übertragen und bearbeitet von Jutta Schöler, Bad Heilbronn 1989

Gehrmann, Petra u. Hüwe, Birgit: Forschungsprofile der Integration von Behinderten. Bochumer Symposium 1992, Essen 1993

Gidoni, Anna/Landi, Nerina: Therapie und Pädagogik ohne Aussonderung. Italienische Erfahrungen. In: Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung, hrsg. vom Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung(TAFIE). Innsbruck 1990, S. 77-94

Gstettner, Peter: Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Reinbek 1981

Heyer, Feier u. a. : Zehn Jahre wohnortnahe Integration - behinderte und nichtbehinderte . Kinder gemeinsam an der Grundschule - Veröffentlichung des Arbeitskreises Grundschule, Band l, 1993 Frankfurt/Main 1993

Itard, Jean: Gutachten und Bericht über Victor von Aveyron, in: Lucien Malson, Jean Itard, Octave Mannoni: Die wilden Kinder, Frankfurt a. M. 1972

Krämer, Inge:

Lusseyran, Jacques: Das wiedergefundene Licht. Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand. München 1989 (Titel der amerikanischen Originalausgabe: And there was Light. Boston 1963)

Meggers, Betty-Jene: Amazonia. Man and culture in a Counterfeit Paradise. Illinois 1971

Müller, Rene: ...ich höre - nicht alles! Hörgeschädigte Mädchen und Jungen in Regelschulen. Dissertation an der Technischen Universität Berlin. Berlin 1993

Muth, Jakob: Tinas Odyssee zur Grundschule. Behinderte Kinder im allgemeinen Unterricht, Essen I991

Muth, Jakob: Schule als Leben. Prinzipien . Empfehlungen . Reflexionen. Eine pädagogische Anthologie (hrsg. von Herbert Sustek und Edith Birr-Chaaranaj Hohengehren 1992

Nolan, Christopher: Unter dem Auge der Uhr. Ein autobiographischer Roman. Köln 1989 Schielt, Christa: Krüppel sein dagegen sehr. Lebensbericht einer spastisch Gelähmten. Frankfurt/M. 1984

Schnack, Dieter/Neutzling, Rainer: Kleine Helden in der Not - Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek 1990

Schöler, Jutta (Hrsg.: "italienische verhältnisse" insbesondere in den Schulen von Florenz, Berlin 1987

Schöler, Jutta: integrative Schule - Integrativer Unterricht, Reinbek 1993

Schöler, Jutta: Sono bambini - Es sind Kinder. Berlin 1994

Tikkanen, Märta: Aifos heißt Sofia. Leben mit einem besonderen Kind, Reinbek 1983

Wallrabenstein, Wolf Offene Schule - Offener Unterricht. Ratgeber für Eltern und Lehrer, Reinbek 1991

Quelle:

Jutta Schöler: Fallstudien: Nurgül - Der Duft der Rose kehrt zurück

Erschienen in: Forschen für die Schulpraxis. Was Lehrer über Erkenntnisse qualitativer Sozialforschung wissen sollten. Hrsg. von Hans Eberwein und Johannes Mand,

Weinheim {Dt. Studien-Verlag) 1995

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.05.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation