3 3 Brandenburg (gekürzte Fassung)

Autor:in - Jutta Schöler
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Manfred Rosenberger (Hrsg.): Schule ohne Aussonderung - Idee, Konzepte, Zukunftschancen. Pädagogische Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Neuwied, Berlin (Luchterhand) 1998, S. 177 - 200
Copyright: © Schöler 1998

Inhaltsverzeichnis

3 3 Brandenburg (gekürzte Fassung)

Der Text ist sehr gut lesbar und vorallem für Eltern geeignet, da er spezielle "Ratschläge für Eltern" enthält

Besonders hinweisen möchte ich auf die tabellarische Auflistung von 2 Gutachten(siehe Kapitel 6), die sehr deutlich zeigt, wie unterschiedlich die Blicke sein können, mit denen ein Kind betrachtet wird. Als Ergänzung dazu empfehle ich die Dissertation von Franz Xaver Kerschbaumer: Gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern im Kindergarten

(A.W., 18. Jan. 99)

Einleitung

Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die gesetzlichen Möglichkeiten und die strukturellen Maßnahmen, die im Land Brandenburg für die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in den vergangenen sieben Jahren (seit 1990) geschaffen wurden.

In Brandenburg sind die rechtlichen Rahmenbedingungen und die dazugehörigen Verwaltungsvorschriften konsequent in bezug auf die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen durchdacht worden. Es gibt eine Vielzahl von positiven Beispielen der gemeinsamen Erziehung. Es gibt seit 1992 genügend Angebote an Lehrerfortbildungen durch das Pädagogische Landesinstitut und seine Außenstellen. Eigentlich müßte an jedem Ort des Landes Brandenburg der Antrag auf die gemeinsame Erziehung eines Kindes mit einer Behinderung mit den nichtbehinderten Kindern des Wohnortes akzeptiert und bewältigt werden können.

Formal gesehen gibt es genügend Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit damit beauftragt sind, nach den optimalen Strategien zur Bewältigung der pädagogischen Aufgabe einer gemeinsamen Erziehung für alle Kinder zu suchen. Allerdings sehen sich in manchen Landkreisen die Eltern von Kindern mit Behinderungen noch vor der Schwierigkeit, daß sie vergeblich nach den Personen suchen, die tatsächlich und mit innerer Überzeugung die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehindertern Kindern unterstützen.

In Brandenburg gibt es bereits eine ganze Reihe von Schulen, in denen hinreichende Erfahrungen und der gute Wille zum Dazulernen vorhanden sind. Über derartig positive Rahmenbedingungen habe ich ausführlich nach vier Jahren der wissenschaftlichen Begleitung berichtet (vgl. SCHÖLER 1997, b-d).[1]

In einigen Schulen wird der Wunsch von Eltern nach gemeinsamer Erziehung allerdings immer noch nicht respektiert, z. T. werden sogar Verwaltungsvorschriften ignoriert und Gesetze umgangen. Da es bisher nur sehr wenige, örtlich begrenzt tätige Eltern-Selbsthilfegruppen gibt, haben die oft vereinzelten Eltern von Kindern mit Behinderungen es schwer, gegen die Schule am Ort und gegen die Schulverwaltung die Integration ihres Kindes durchzusetzen.

Die Eltern brauchen sich jedoch ihren Wunsch nach Gemeinsamkeit nicht bereits im Vorfeld der Einschulung ausreden lassen. Sie haben das Recht auf einen formellen widerspruchsfähigen Bescheid. Notfalls müßten sie sich an einen Rechtsanwalt wenden und gegen die Entscheidung der Schulbehörde klagen.



[1] Die Einführung der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in der Schule wurde von 1992 bis 1996 im Auftrag des Bildungsministeriums des Landes Brandenburg von einer Expertengruppen wissenschaftlich begleitet. Der Abschlußbericht liegt als Buch vor: HEYER, Peter/PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER,Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - GemeinsameErziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997

1. Allgemeine gesetzliche Rahmenbedingungen

"Menschen mit Behinderungen sollen gemäß § 29 Abs. 2 vorrangig im gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (...) besonders gefördert werden."

So steht es ganz vorne, im § 3 des Brandenburgischen Schulgesetzes von 1996 unter der Überschrift: "Recht auf Bildung". Mit ähnlichen Formulierungen ist die Vorrangigkeit der Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderungen im Land Brandenburg bereits mit dem ersten Schulreformgesetz von 1991 geregelt worden.

Eine Mutter oder ein Vater eines Kindes mit Behinderung kann den Eindruck bekommen, durch einen Umzug in das Land Brandenburg könnten sie ihre Sorgen um eine Einschulung am bisherigen Wohnort beenden. Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren etliche Eltern behinderter Kinder in Brandenburg umgezogen mit der Zielsetzung, die gemeinsame Erziehung für ihr Kind zu erreichen.

Sicherheit und Selbstverständlichkeit, einen gemeinsamen Schulbesuch zu erreichen, ist jedoch auch im Land Brandenburg nicht überall gegeben. Ein gutes Schulgesetz allein reicht nicht aus. Bei genauer Betrachtung sind bereits in den gesetzlichen Regelungen "Fallen" eingebaut: Im § 3, Abs. 4 des Gesetzes über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996 muß für die vollständige Textfassung im oben zitierten Satz anstelle der (...) ergänzt werden:

"... oder in Schulen oder Klassen mit einem entsprechenden Förderschwerpunkt gemäß § 30 Abs. 4 und 5, durch Ganztagsangebote oder Ganztagsschulen gemäß § 18 Abs. 4, durch die Berücksichtigung des besonderen Förderbedarfs gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 und durch individuelle Hilfen gemäß § 115 Satz 3 Nr. 2 ..."

Und was versteckt sich hinter der Formulierung des § 29 (2), auf den im § 3 verwiesen wird?

"Sonderpädagogische Förderung sollen Grundschulen, weiterführende allgemeinbildende Schulen und Oberstufenzentren durch gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf erfüllen, wenn eine angemessene personelle, räumliche und sächliche Ausstattung vorhanden ist oder nach Maßgabe gegebener Finanzierungsmöglichkeiten geschaffen werden kann." (Hervorhebung: J. Sch.)

Festzuhalten bleibt:

In Brandenburg ist der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung ein gesetzlicher Anspruch für alle Kinder und eine gesetzliche Aufgabe für alle Schulstufen und Schulformen.

Ohne Einschränkungen, die in der Person des Kindes liegen, ist der Wunsch nach gemeinsamem Leben und Lernen für jedes Kind, unabhängig von der Art und dem Grad der Behinderung und unabhängig von seinem Alter so zu planen, daß die Einschulung am Wohnort bzw. wohnortnah möglich, und eine eventuelle Ablehnung des Elternwunsches gerichtlich überprüfbar ist.

Durch die neue Sonderpädagogik-Verordnung vom August 1997 sind genaue Regelungen getroffen worden; welche Anstrengungen von Seiten der Staatlichen Schulämter unternommen werden müssen, um den Elternwunsch zu berücksichtigen. Darauf wird weiter unten anhand eines Beispieles genauer eingegangen.

Hier nur soviel: Wenn ein Schulrat sagt: "Wir haben keine geeigneten Räume, wir haben nicht genügend Lehrerstunden, die Lehrer sind nicht bereit zu dieser Arbeit", wenn er nicht nachweisen kann, daß er den Schulträger rechtzeitig eingeschaltet hat, um das Raumproblem zu lösen, wenn nicht nachgewiesen wird, wie die zusätzlichen Lehrerstunden für Kinder mit Behinderungen im Landkreis tatsächlich verwendet werden, wenn Lehrerinnen und Lehrer für Fortbildungsmaßnahmen nicht freigestellt werden, dann verstößt dieser Schulrat gegen das Schulgesetz und die Verordnungen des Landes Brandenburg. Die Eltern haben in einem solchen Fall sehr gute Chancen, einen Prozeß gegen das Land Brandenburg zu gewinnen.

So weit sollte es möglichst nicht kommen. Deshalb verstehe ich meinen Beitrag auch als eine Gelegenheit, alle, die an der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen interessiert sind, rechtzeitig und umfassend über die Rahmenbedingungen im Land Brandenburg zu informieren, damit die Aufgabe der gemeinsamen Erziehung eine pädagogische Aufgabe bleibt und nicht von Juristen geklärt werden muß.

Zu dieser gesetzlichen Regelung gehört auch, daß jede Lehrkraft in Brandenburg verpflichtet ist, "in den Klassen mit gemeinsamem Unterricht in den allgemeinen Schulen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterrichten" (Sonderpädagogik-Verordnung, künftig zitiert mit: SopV-, § 20, Abs. 5).

2. Realisierung in verschiedenen Kreisen

Das Land Brandenburg ist in 14 Kreise und vier kreisfreie Städte gegliedert. Die Entscheidungskompetenz für Fragen der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern ist durch den Gesetzgeber den staatlichen Schulämtern übertragen worden. Die tatsächliche Praxis der gemeinsamen Erziehung ist von Kreis zu Kreis und von Schule zu Schule sehr unterschiedlich.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Zunächst müssen die allgemeinen Bedingungen der vorrangigen Absonderung von Menschen mit Behinderungen bis 1989 in der DDR beachtet werden: Kinder mit Sinnesbeeinträchtigungen oder Körperbehinderungen waren zumeist bereits vom Kindergartenalter an in überregionalen Sonderschulen internatsmäßig untergebracht. Kinder mit großen Lernschwierigkeiten besuchten - zumeist vom I. Schuljahr an - die "Hilfsschulen", die in ländlichen Regionen auch mit einer Internatsunterbringung verbunden waren. Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen oder geistiger Behinderung wurden als "schulbildungsunfähig" bezeichnet und zumeist in Heimen oder Krankenhausabteilungen betreut (vgl. hierzu ausführlich: LIEBERS, 1997).

Nach der "Wende" im Frühjahr 1990 entstanden zahlreiche Initiativen zur umfassenden Neukonzeption des DDR-Schulsystems. An "Runden Tischen" wurde über Alternativschulen, Veränderungen der äußeren und inneren Organisation von Schule und von Anfang an auch über die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen diskutiert:

"Eltern und Lehrkräfte machten sich auf den Weg, theoretische Informationen und praktische Erfahrungen aus den alten Bundesländern zu erhalten. Lehrerinnen und Lehrer fuhren vor allem nach Berlin, um vor Ort in Integrationsklassen zu hospitieren und mit den beteiligten Lehrkräften zu sprechen. Berliner Kolleginnen und Kollegen kamen mit Informationen und Fortbildungsangeboten nach Brandenburg.

Relativ schnell gab es die ersten Umsetzungsbemühungen in der Praxis. Dabei war es nicht selten, daß Kinder, die bereits mehrere Jahre in Sonderschulen - oft mit Internatsunterbringung - waren, wieder zurück an Schulen ihrer Heimatorte kamen. Integration wurde damit praktisch in allen Klassenstufen realisiert" (OBENAUS1997, S. 35).

Nach meiner persönlichen Einschätzung wirkt es sich bis heute positiv aus, wo damals Initiativen erfolgreich waren. Andererseits gibt es Orte, wo mit der Diskussion um Gemeinsamkeit auch von Kindern mit und ohne Behinderungen bis heute nicht begonnen wurde. Als eine derjenigen Personen, die bereits vom Frühjahr 1990 mit Eltern und Schulen im Land Brandenburg zu diesem Thema im Gespräch ist, habe ich den Eindruck gewonnen, daß die tatsächlichen Entwicklungen von sehr vielen Zufälligkeiten, vor allem von der Einstellung der beteiligten Personen, abhängig waren und noch immer sind:

  • An manchen Orten haben Eltern unmittelbar nach der Wende ihr Kind aus dem Internat heraus in eine Schule am Wohnort umgeschult. Sehr oft ist aus diesen ersten spontanen Aktionen die generelle Bereitschaft einzelner Lehrkräfte oder ganzer Kollegien entstanden, Kinder mit Behinderungen zu unterrichten.

  • An manchen Orten haben einzelne Lehrerinnen oder Lehrer, z. T. auch Schulleiterinnen und Schulleiter die Aufgabe der gemeinsamen Erziehung als ihren persönlichen "roten Faden" in Bezug auf Neuorientierungen der Lehrerarbeit entdeckt und systematisch ausgebaut.

  • An manchen Orten bewirkte die notwendige Schließung einer Sonderschule (z. B. wegen Baufälligkeit oder Rückübereignungsansprüchen von "Alteigentümern"), daß sich ein Landkreis generell mit der Frage der gemeinsamen Erziehung auseinandersetzen mußte.

Ausführlich habe ich über diese unterschiedliche Entwicklung exemplarisch über drei Landkreise und zwei kreisfreie Städte berichtet, innerhalb dieser Kreise anhand von fünf Schulen und in den konkreten Auswirkungen für drei Kinder (Siehe SCHÖLER in: HEYER u. a., S.205-322).

Zusammenfassend kann ich feststellen:

  • Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Verwaltungsvorschriften werden von der Mehrheit der Schulräte und der Schulleiter als geeignete Grundlage für die Durchführung von Integrationsmaßnahmen angesehen.

  • Im Land Brandenburg waren es in den überwiegenden Fällen nicht die Eltern von behinderten Kindern, die - wie in den alten Bundesländern - die gemeinsame Erziehung forderten, sondern einzelne Lehrerkollegien haben nach der Wende diese Aufgabe als eine Möglichkeit der Neugestaltung aufgegriffen. Lagen diese Schulen in städtischen Wohngebieten, so übten sie eine "Sogwirkung" auf Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus. Aufgabe der Schulaufsicht war es dann, auch andere Schulen zu motivieren, sich dieser Aufgabe zu stellen .

  • Die wenigen Eltern, die für ihre Kinder die gemeinsame Erziehung vehement forderten, fanden zumeist die Unterstützung durch die Schulaufsicht, auch wenn die Integration nicht immer wohnortnah realisiert wird.

  • Kleinere Grundschulen in wenig besiedelten Kommunen nahmen alle Kinder des Einzugsbereiches auf, bzw. überwiesen nicht mehr an Förderschulen. Dies geschah zumeist mit der primären Motivation, den Schulstandort nach der Wende zu erhalten. Aufgabe der Schulaufsicht ist es dort, auf Qualität der pädagogischen Arbeit in der Schule zu achten. Wenn im selben Einzugsbereich auch eine Allgemeine Förderschule (für Lernbehinderte) besteht, dann ist die Gefahr groß, daß die kleinen Grundschulen als Konkurrenz der Förderschulen wahrgenommen werden und nicht die notwendige fachliche Unterstützung erhalten.

  • Die Aufgabe, Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten, ist in zahlreichen Schulen als eine Chance zur allgemeinen Reform der Schulen, insbesondere der Grundschulen, begriffen worden.

  • Ungefähr die Hälfte aller Grundschulen beteiligen sich bisher nicht an der Aufgabe, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten.

  • Ein großes, an vielen Orten noch nicht gelöstes Problem stellt die Weiterführung der gemeinsamen Erziehung in der Sekundarstufe dar (vgl. hierzu: PREUSS-LAUSITZ/ZÖLLNER 1997).

Wegen der rapide zurückgehenden Schülerzahlen, sowohl in den meisten ländlichen Regionen als auch in Städten, ist zu vermuten, daß in den nächsten Jahren die Bereitschaft von Grundschulen und Gesamtschulen steigt, auch Kinder mit Behinderungen zu unterrichten. Andererseits haben einige Regionen im "Speckgürtel" von Berlin, in denen vermehrt junge Familien mit Kindern in Neubaugebiete zuziehen, bereits jetzt das Problem, daß nicht genügend Schulräume zur Verfügung stehen.

Die Unterschiede in den Entwicklungen der Kreise sind sehr groß:

Es gibt Kreise, in denen der Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterhalb des bundesrepublikanischen Durchschnitts von ca 4 % aller Schülerinnen und Schüler, nämlich bei 2,9 % liegt, und es gibt andere Kreise im Land Brandenburg, in denen dieser Anteil 6,5 % beträgt.

Es gibt Kreise, in denen der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Integrationsmaßnahmen bei 6,3 % liegt und andere, in denen dieser Anteil bereits 24,6 % beträgt.

"Diese Unterschiede lassen sich einerseits mit objektiven kreislichen Besonderheiten, z. B. der Förderschulstruktur und den Schülerströmen zwischen benachbarten Kreisen, andererseits auch mit einer unterschiedlichen Praxis bei der Festlegung des sonderpädagogischen Förderbedarfs oder entsprechender Präventionsmaßnahmen erklären" (OBENAUS 1997, S. 37).

Eine Bewertung der konkreten Situation ist letzlich nur möglich, wenn verschiedene Faktoren im Zusammenhang interpretiert werden. Eine Verallgemeinerung wird trotzdem gewagt:

Dort, wo in einem Kreis ein überproportional hoher Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (insbesondere "Lernbehinderte") festzustellen ist und gleichzeitig der Anteil der Integrationskinder unter dem landesweiten Durchschnitt liegt, können geringes Interesse und Engagement aller Beteiligten in Bezug auf die Umsetzung der gesetzlichen Regelungen zur Integration angenommen werden.[2]

In der nahen Zukunft ist zu erwarten, daß ein weiterer Faktor in der unterschiedlichen Entwicklung der Kreise bedeutsam wird, nämlich der Übergang von der sechsjährigen Grundschule in die weiterführenden Schulen, zumeist in die Gesamtschulen. Zu fragen ist: In welchen Kreisen brechen die Integrationsmaßnahmen nach der 6. Klasse ab? In welchen Kreisen werden sie relativ problemlos weitergeführt?

Alle Schulräte eines Kreises tragen hierfür eine große Verantwortung.[3]

Wird die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern zukünftig weiterhin als vorrangige Aufgabe des für Förderschulen zuständigen Schulrates gesehen oder als eine tatsächlich gemeinsame Aufgabe aller Schuräte?

Wichtig für das Gelingen oder Mißlingen der gemeinsamen Erziehung ist auch die Einstellung derjenigen Menschen, die in den kreisfreien Städten, in den Landkreisen und in den Kommunen als Träger der Schulen für die Finanzierung von baulichen Voraussetzungen und zusätzlichem Personal verantwortlich sind.



[2] Ein konkretes Beispiel: Der Landkreis Uckermark ist einer der drei Landkreise, in denen der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf über 6 % liegt. (Auch die vier kreisfreien Städte haben einen höheren Anteil als 6 %; dies ist aus der "Sogwirkung" dieser Städte in Bezug auf das Umland und z. T. aus der Tatsache der dort aus DDR-Tradition vorhandenen Förderschulen zu erklären.) Gleichzeitig gehört der Landkreis Uckermark zu den vier Landkreisen mit einem Anteil von unter 10 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Integrationsmaßnahmen.

[3] Bisher waren in den Kreisen nur die jeweils für Integration speziell beauftragten Schulräte formal zuständig; zumeist (nicht immer!) war dies zugleich der Schulrat/die Schulrätin für Förderschulen. Zum Schuljahr 1998/99 soll eine neue Regelung in den Geschäftsverteilungplänen der Kreisrschulräte festgeglegt werden, wonach die jeweils für die Einzelschule regional Zuständigen zugleich auch für Integrationsfragen verantwortlich sind.

3. Zur Finanzierung der gemeinsamen Erziehung

Als die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen im Schuljahr 1990/91 begann, war der individuelle Gestaltungsspielraum noch sehr groß.

"Die ersten Organisationserlasse des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport empfahlen Klassenfrequenzsenkungen für Integrationsklassen und die Gewährung zusätzlicher Stunden. Für Integrationsklassen wurden alternativ 15+3, l8+2 bzw. 21+1 empfohlen.[4]

Für jede Schülerin oder jeden Schüler mit Behinderung in einer Integrationsklasse sollten bis zu 4 zusätzliche Lehrerwochenstunden nach Maßgabe der Möglichkeiten gewährt werden.

In der Praxis wurden diese Regelungen sehr unterschiedlich umgesetzt. Sowohl die Lehrkräfte als auch die Schulaufsicht machten in der täglichen Praxis die Erfahrung, daß individuellere Modelle erforderlich sind, je nach Bedarf und Bedingungen vor Ort. Das MBJS[5] reagierte hierauf, indem es in den nachfolgenden Organisationserlassen keine Rahmenbedingungen vorgab, sondern die inhaltliche Verantwortung voll in die Zuständigkeit der Schulaufsicht vor Ort legte" (OBENAUS 1997, S. 45).

Diese sehr offene Regelung, welche den Schulräten vor Ort einen großen Spielraum gab, hat sich letztlich nicht immer bewährt. An dieser Stelle wird auf die bisherige Praxis nicht weiter eingegangen. Sie ist hinreichend in etlichen Veröffentlichungen dokumentiert (vgl. BOENISCH/MERZATALIK 1997, BOENISCH/TRAPPSCHUH 1997, HAFFNER 1995 und OBENAUS 1997). An dieser Stelle wird lediglich der Neueste Stand der Finanzierungsformen dargestellt, die zum Schuljahr 1997/98 mit der Sonderpädagogikverordnung von 1997 gültig wurden.

Im § 19 der Sonderpädagogik-Verordnung sind die personellen Rahmenbedingungen und die Klassenfrequenzen festgelegt. Es heißt dort im Absatz 2:

"Jeder Schülerin oder jedem Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf stehenneben den Lehrkräftewochenstunden der allgemeinen Schule (...) zusätzlich die Lehrkräftewochenstunden pro Schülerin oder Schüler der der Behinderungsart entsprechenden Förderschule zu (Grundbedarf)."

Zum Beispiel: Im Schuljahr 1997/98 stehen im Land Brandenburg für Schülerinnen und Schüler der Grundschulen rechnerisch 1,4 Lehrerwochenstunden zur Verfügung. An der Förderschule für Geistigbehinderte wird von einem rechnerischen Bedarf von 7,6 Lehrerwochenstunden ausgegangen. Dieser zusätzliche Anteil an Lehrerstunden steht einem Kind mit einer geistigen Behinderung in einer Integrationsklasse zu.[6]

Im § 20 der SopV ist geregelt, daß dieser Unterricht durch Lehrkräfte der allgemeinen Schule oder durch Lehrkräfte mit sonderpädagogischer Zusatzqualifikation angeboten werden soll.

"Für Lehrkräfte in Klassen mit gemeinsamem Unterricht ist durch die Schulleitung und das staatliche Schulamt die regelmäßige Teilnahme an berufsbegleitender Fortbildung zu unterstützen" (§20, Abs. 5 SopV).

"Soweit erforderlich, kann zur Sicherung der individuellen Förderung neben den Lehrkräften der allgemeinen Schule und den sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräften auch sonstiges pädagogisches Personal eingesetzt werden" (§20, Abs. 1 SopV).

Was unter "sonstigem Schulpersonal" zu verstehen ist, ist im Schulgesetz des Landes Brandenburg im § 68 geregelt:

"Zum sonstigen Schulpersonal gehört, wer an der Schule tätig ist, ohne selbständig Unterricht zu erteilen. Sonstiges pädagogisches Personal nimmt Aufgaben im Unterricht an Förderschulen für geistig Behinderte, Körperbehinderte, Seh- und Hörgeschädigte und dem entsprechenden gemeinsamen Unterricht[7] (...) wahr, um die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Unterricht zu unterstützen. Sonstiges Personal nimmt an der Schule erzieherische, therapeutische, pflegerische. technische oder verwaltende Aufgaben überwiegend außerhalb des Unterrichts wahr. (...) Das sonstige pädagogische Personal steht in einem Dientverhältnis zum Land. Das sonstige Personal steht in einem Dienstverhältnis zum Schulträger."

Darüber hinaus kann die Schule auch gemäß § 7 Abs. 5 des Schulgesetzes "im Unterricht oder bei anderen Schulveranstaltungen geeignete Personen zur Unterstützung der Lehrkräfte und unter deren Verantwortung einsetzen. Diese Personen handeln im Auftrag der Schule. Ein Anspruch auf Entschädigung besteht nicht."

Die Bezahlung dieser "geeigneten Personen" kann jedoch im Zusammenhang mit der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern über das Sozialamt aus den Mitteln des Bundessozialhilfegesetzes übernommen werden. Im Land Brandenburg wird dieses Verfahren bisher nach meiner Kenntnis nur in wenigen Ausnahmefällen praktiziert. Kinder, welche als Kinder mit Behinderungen anerkannt sind, haben jedoch nach §§ 39 und 40 des Bundessozialhilfegesetzes einen Anspruch auf zusätzliche personelle Unterstützung und auf die Übernahme der Finanzierung von notwendigen Geräten.[8]

Im Zusammenhang mit der Entscheidung des staatlichen Schulamtes reicht es zukünftig nicht aus, daß in einem Bescheid des Schulrates lediglich festgestellt wird: "Die durch den Förderausschuß für den gemeinsamen Unterricht als notwendig festgestellten Mittel stehen nicht zur Verfügung."[9] Wenn Eltern einen Antrag auf gemeinsamen Unterricht gestellt haben, dann muß vor der Entscheidung des staatlichen Schulamtes eine "Anhörung der antragsteilenden Personen" erfolgen, "wenn gegen einen von diesen Personen selbst eingebrachten Antrag entschieden werden soll" (§ 16, Abs. 1 SopV).

"Wenn bei einem beantragten gemeinsamen Unterricht die räumliche oder sächliche Ausstattung nicht gesichert ist oder sonstiges Personal gemäß § 68 Abs.1 Satz 3 des brandenburgischen Schulgesetzes zusätzlich eingesetzt werden muß, wird der Schulträger oder werden gegebenenfalls andere Kostenträger beteiligt. Gegebenenfalls muß der Schulträger zur finanziellen Absicherung einer organisatorisch möglichen Maßnahme, für die die eigenen finanziellen Möglichkeiten aus wichtigem Grund nicht ausreichen, Gelegenheit erhalten, das Benehmen mit dem Landkreis herzustellen" (§ 16 Abs. 2 SopV; siehe auch § 116, Abs. 3 Schulgesetz).

Der für Integrationsfragen im Land Brandenburg zuständige Referent im Bildungsministerium verweist darauf, daß weitere finanzielle Unterstützungen möglich sind:

"Für die behindertengerechte Ausstattung, räumliche Voraussetzungen und zusätzliches Personal ist bisher der Schulträger in Verbindung mit den örtlichen Sozial- und Jugendämtern allein zuständig gewesen. Im neuen Schulgesetz verpflichtete sich darüber hinaus das Land, in einigen Bereichen auch Anteile für sonstiges pädagogisches Personal im Sinne der bisherigen pädagogischen Hilfskräfte an Förderschulen für geistig Behinderte zu übernehmen.

Des Weiteren gibt es eine indirekte Förderung des Landes für Schulträger im Rahmen des Gemeindefinanzierungsgesetzes. Jeder Schulträger bekommt pro Schülerin oder Schüler einen Schullastenausgleich. Der Sockelbetrag umfaßt auch für 1997 wieder ca. 400 DM/pro Kopf. Für Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf beispielsweise in der Grundschule werden dem Schulträger 80 davon zugewiesen, für Schüler in der Gesamtschule 120 %. Für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht werden dem Schulträger 300 % zugewiesen, also etwa 1200 DM pro Jahr" (OBENAUS 1997, S. 46f.).

In Gesprächen mit Schulleiterinnen habe ich feststellen müssen, daß einzelne Kommunen diesen erhöhten Schullastenausgleich nicht den Schulen zukommen lassen, welche den gemeinsamen Unterricht praktizieren (und z. B. für die Anschaffung von besonderem Lehrmaterial dringend benötigen). Hierbei ist offensichtlich eine Kontrolle vor Ort notwendig.

Notfalls kann in Bürgerfragestunden, über die Abgeordneten der Parteien im Kreistag oder in der Stadtverordnetenversammlung nachgefragt werden, wie der zugewiesene erhöhte Schullastenausgleich tatsächlich genutzt wird. Eine weitere wichtige Rahmenbedingung, welche in der SonderpädagogikVerordnung von 1997 festgelegt wurde, ist die Klassenfrequenz:

"In Klassen mit gemeinsamem Unterricht sollen nicht mehr als 23 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, wovon nicht mehr als vier Schülerinnen und Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben sollen. In Abstimmung mit dem Schulträger ist festzulegen, daß zusätzliche Aufnahmen in diese Klasse nicht erfolgen dürfen" (SopV, § 19, Abs. 4).

Diese Regelung ist insbesondere für die Bildung neuer Integrationsklassen in der Sekundarstufe wichtig. Laut Verordnung über die Bildungsgänge in der Sekundarstufe I beträgt die Klassenfrequenz in den weiterfahrenden Schulen sonst 28, in begründeten Ausnahmefällen auch 30. Das Übergangsverfahren ist so geregelt, daß die Einrichtung einer Integrationsklasse in einer weiterführenden allgemeinbildenden Schule entschieden sein sollte, bevor die Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf angemeldet werden.

Nach meiner Kenntnis haben Schulräte, welche das Recht der Eltern auf integrative Förderung respektieren, mit Hilfe der unterschiedlichsten Finanzierungsformen die notwendigen Rahmenbedingungen auch geschaffen. Teilweise übernehmen die Schulträger die Finanzierung von sonstigem Personal (Zivildienstleistende oder Frauen im freiwilligen Sozialen Jahr), teilweise wird "pädagogisches Personal" von den Förderschulen an Integrationsklassen abgeordnet.

Auf Dauer wäre es sicherlich sinnvoll, wenn im Land Brandenburg ähnliche Verfahrensweisen konsequent praktiziert würden wie in Schleswig-Holstein. Dort werden bereits im Vorfeld die verschiedenen Kostenträger in den Entscheidungsprozeß einbezogen (vgl. PLUHAR 1996).

Entsprechende Hinweise sind bereits in den "Verwaltungsvorschriften über die Tätigkeit der Förderausschüsse und das Feststellungsverfahren für den sonderpädagogischen Förderbedarf im Land Brandenburg" (VV-FöAVf) vom 24. 08. 1995 zu finden. Allerdings werden diese nach meiner Einschätzung in einigen Kreisen nicht beachtet. So heißt es z. B.: "Zeichnet sich ein materiell-sächlicher Mehraufwand für eine beabsichtigte integrative Beschulung ab, so ist der Schulträger in das Verfahren einzubeziehen" (s. o. S. 14). Wenn der Schulträger nicht in der Lage sein sollte, an der Schule des Wohnortes die zusätzlichen personellen Hilfen zu finanzieren und die organisatorischen oder räumlich materiellen Bedingungen herzustellen, dann ist die Alternative immer noch nicht die Förderschule sondern, für diese Fälle ist festgelegt, daß der Schulträger "im Einvernehmen mit dem staatlichen Schulamt und gegebenenfalls mit weiteren betroffenen Gemeinden und dem Kreis die günstigste Form eines wohnortnahen Schulangebots ermitteln und als finanziell begründete Alternative vorlegen" muß (VV-FöAVf, S. 21). Außerdem soll überprüft werden, ob andere Kostenträger herangezogen werden können. Es wird beispielhaft auf Krankenkassen (für Krankengymnastik oder Sprachtherapie) oder auf das Sozialamt verwiesen.[10]

Die Finanzierung von Integrationsmaßnahmen ist tatsächlich eine komplizierte Materie. Auch nach meinen Erfahrungen wird oft vorschnell behauptet, eine Förderung (zum Beispiel über das Sozialamt) wäre prinzipiell nicht möglich oder nur mit Kostenbeteiligung der Eltern. Mein Ratschlag für Eltern: Setzen Sie sich mit anderen Eltern in Verbindung! Wenden Sie sich an die jeweiligen Behindertenbeauftragten im Kreis! Stellen Sie einen schriftlichen Antrag und bestehen Sie auf einem schriftlichen, widerspruchsfähigen Bescheid!



[4] 15+3 bedeutet: 15 Kinder ohne und drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

[5] MBJS= Ministerium für Bildung, Jugend und Sport

[6] Die Lehrerwochenstunden werden Jahr für Jahr durch den Organisationserlaß neu festgelegt, verändern sich in der Regel jedoch nur geringfügig. Es handelt sich bei diesen Angaben um rechnerische Größen als Planungsgrundlage für den jeweiligen Kreis. Es steht in der Entscheidungskompetenz der Schulräte, für das einzelne Kind auch abweichende Entscheidungen zu treffen.

[7] Hervorhebung: J. Sch.

[8] An vielen Orten wird Menschen mit Behinderungen von den örtlichen Sozialämtern das Recht auf Eingliederungshilfen immer noch vorenthalten - nicht nur in den neuen Bundesländern. Damit Eltern von behinderten Kindern ihre Rechte auf Unterstützungen, die über das Bundessozialhilfegesetz finanziert werden, auch tatsächlich durchsetzen können, ist eine Broschüre zu empfehlen, die vom deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband erstellt wurde: "§3a BSHG -Das Recht der ambulanten Hilfe". Diese Broschüre (zum Preis von 7 DM) kann angefordert werden bei: dpw, Heinrich Hoffmannstr. 3, 60528 Frankf./M., Tel.: 069/67060, fax: 069/6706204

[9] Über die Bedeutung und die Tätigkeiten der Förderausschüsse sind ausführlichere Informationen zu lesen bei FREY u. a. 1997.

[10] Bisher ist es leider im Land Brandenburg in den meisten Kreisen noch üblich, daß die Eltern alleine, notfalls mit Widerspruchsverfahren, die zusätzliche personelle Unterstützung oder die besonderen Geräte (z. B. Spezialcomputer für ein körperbehindertes Kind) erkämpfen müssen. Die Formulierungen in der VVFöAVf lassen den Schluß zu, daß die Eltern von Seiten der Schulen zumindest Unterstützung hierbei erwarten dürfen.

4. Sonderpädagogische Förder- und Beratungsstellen, Frühförder- und Beratungsstellen sowie die Rolle der Beraterinnen für Integration in den Kreisen

4.1 Sonderpädagogische Förder- und Beratungsstellen (SpFB)

sind im Land Brandenburg in allen Kreisen und kreisfreien Städten eingerichtet worden. Entsprechend dem regionalen Bedarf sind Sonderpädagoginnen und -pädagogen unterschiedlicher Fachrichtungen und manchmal auch integrationserfahrene Grundschullehrerinnen mit einem Teil - jedoch in der Regel nicht mehr als der Hälfte - ihrer Pflichtstunden an der Sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstelle tätig. Sie sollen ein wohnortnahes Förder- und Beratungsangebot gewährleisten, vorrangig für den schulischen und im begrenzten Umfang auch für den vorschulischen Bereich. Sie sollen alle am Erziehungsprozeß Beteiligten beraten sowie in der Früherkennung, Frühförderung, Prävention, Diagnostik, bei der Vorbereitung der Förderausschuß-Verfahren und beim Erstellen von Förderplänen tätig sein. Die Aufgaben und die Organisation der Sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen sind im § 17 der SopV geregelt:

"Durch Beratung der am Erziehungsprozeß Beteiligten, durch Begleitung, durch die einzelfallbezogene kurzfristige Intervention sowie durch die Vermittlung außerunterrichtlicher Hilfen anderer Träger soll eine frühestmögliche Unterstützung für Kinder und Jugendliche, die von einer Behinderung bedroht sind, bereitgestellt werden" (SopV, § 17, Abs.3).

Sonderpädagogische Förder- und Beratungsstellen sind zumeist den Allgemeinen Förderschulen (für Lernbehinderte)[11] zugeordnet; daneben gibt es für sehgeschädigte, hörgeschädigte, körperbehinderte und sprachgeschädigte Kinder überregionale Förder- und Beratungsstellen. Nach meiner Einschätzung ist es gegenwärtig in den meisten Kreisen sehr problematisch, daß diese Förder- und Beratungsstellen Teil der Förderschulen sind. Die Lehrerinnen und Lehrer, welche verpflichtet sind, Integrationsmaßnahmen zu unterstützen, sind zugleich zumeist dieselben Personen, welche in den Förderschulen unterrichten. Selbst dann, wenn die einzelne Lehrerin/der einzelne Lehrer den Wunsch von Eltern nach gemeinsamer Erziehung respektiert, stehen diese Lehrkräfte häufig unter dem Druck derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die die integrative Beschulung als Konkurrenz zur Arbeit an den Förderschulen verstehen. Die Beteiligung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen an Förderausschuß-Verfahren steht damit fast zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis.

Von guten Erfahrungen wurde zumeist dann berichtet, wenn die Sonderpädagoginnen fest in das Kollegium einer allgemeinbildenden Schule integriert waren.

4.2 "Regionale Frühförder- und Beratungsstellen"

wurden in den Kreisen seit Herbst 1993 aufgebaut. Die Ministerien für Bildung, Jugend und Sport und für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen haben eine Vereinbarung getroffen, deren Ziel es ist,

"dievon Behinderung bzw. von Beeinträchtigungen betroffenen oder bedrohten Kinder und Jugendlichen so zu fördern, daß sie sich entfalten und am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen können" (Zitiert aus, der Empfehlung der beiden Ministerien vom 31. 8. 1993).

Als Problem war erkannt worden, daß die notwendigen Leistungen

"von unterschiedlichen Stellen und Berufsgruppen (Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, Sozialamt, Jugendamt, Schulamt, niedergelassene Ärzte und Therapeuten) angeboten und von unterschiedlichen Kostenträgem finanziert werden."

Geplant wurde, eine Frühförder- und Beratungsstelle für ca. 100 000 bis 150 000 Einwohner vorzusehen. Über die Einrichtung dieser Frühförder- und Beratungsstellen entschieden die Kreise. Häufig wurden sie freien Trägem übertragen, welche Erfahrungen mit der Behindertenarbeit hatten (z. B. dem Verein "Lebenshilfe für Geistigbehinderte e. V."[12] oder Arbeiterwohlfahrt). Gelegentlich entschieden die Kreise auch, diese Tätigkeiten bei kommunalen Trägern zu belassen, zumeist mit dem vorhandenen Personal. In jedem der 14 Landkreise bzw. vier kreisfreien Städte gibt es mindestens eine, in der Regel zwei Frühförder- und Beratungsstellen. Die "Landesarbeitsstelle Frühförderung" koordiniert diese Arbeit. Im Mai 1997 existierten 32 Frühförder- und Beratungsstellen.[13]

Nach meinen Informationen arbeiten die verschiedenen Frühförder- und Beratungsstellen sehr unterschiedlich. Über einige wurde mir berichtet, daß sie die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern deutlich unterstützen, in anderen Frühförder- und Beratungsstellen scheinen sich die Mitarbeiterinnen als direkte "Zulieferer" für die Förderschulen zu verstehen und die Eltern dementsprechend zu beraten.

4.3 Integrationsberaterinnen und Integrationsberater

Maßgeblichen Anteil an der praktischen Umsetzung von Integration "vor Ort" hatten die sogenannten "Moderatorinnen und Moderatoren für gemeinsamen Unterricht", welche später als "Integrationsberaterinnen und Integrationsberater" bezeichnet wurden (vgl. ausführlicher hierzu HEYER u. a. 1997 und OBENAUS 1997).

"Die Aufgaben der Integrationsberaterinnen und -Berater bestanden im wesentlichen darin, einzelne Lehrerinnen und Lehrer, Kollegien, Schulleitungen oder auch außerschulische Institutionen zu beraten und regionale Vemetzungen und den Erfahrungsaustausch z.B. durch Initiierung von Arbeitskreisen zu unterstützen. Darüber hinaus sollten sie die Außenstellen des Pädagogischen Landesinstitutes (PLIB) bei der Organisation unterrichtsbegleitender Fortbildung für Lehrkräfte im gemeinsamen Unterricht unterstützen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der landesweite Erfahrungsaustausch und der Transfer dieser Informationen zurück in die Regionen" (OBENAUS 1997, S. 48).[14]

"Bei der Auswahl der jeweils zwei Integrationsberaterinnen und -berater pro Landkreis/bzw. kreisfreie Stadt wurde darauf geachtet, nach Möglichkeit jeweils eine Kollegin bzw. einen Kollegen mit sonderpädagogischer Qualifikation und die andere Lehrkraft aus einer allgemeinen Schule auszuwählen, beide jedoch mit Integrationserfahrung. Das gelang im Einzelfall nicht immer" (OBENAUS 1997, S. 49).

"Seit dem Schuljahr 1995/96 wurde das für jeden Landkreis zweiköpfige Beraterteam, das zunächst dem Schwerpunkt des gemeinsamen Unterrichtes in den Klassenstufen l bis 6 der Primarstufe entsprechend in diesem Bereich tätig war, um eine weitere Kollegin bzw. einen Kollegen der Sekundarstufe 1 erweitert" (OBENAUS 1997, 5.49).

Nach meiner Einschätzung wird die Beratungskompetenz der Integrationsberaterinnen und -berater in den verschiedenen Kreisen sehr unterschiedlich genutzt. Es gibt Kreise, in denen diese Personen - zumeist mit Unterstützung der Schulaufsicht - sehr intensiv an der Fortbildung und dem Erfahrungsaustausch für Lehrerinnen und Lehrer beteiligt sind und auch mit Elterninitiativen zusammenarbeiten. Andererseits gibt es auch Kreise, in denen - aus welchen Gründen auch immer - die Kooperation zwischen Integrationsberaterinnen und Schulaufsicht nicht immer ausreicht. Dies beeinträchtigt die Wirksamkeit des Beratungsauftrages. Eltern von Kindern mit Behinderungen könnten auch von sich aus den Kontakt zu den IntergrationsberaterInnen suchen.

Ab dem Schuljahr 1997/98 ist vorgesehen, daß die betreffenden Kolleginnen und Kollegen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen tätig sind. Ob dadurch die integrationspädagogische Ausrichtung der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen stärker ausgebaut wird als bisher, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.



[11] Es gibt im Land Brandenburg die Allgemeinen Förderschulen, welche von den Schülerinnen und Schülern besucht werden, die im allgemeinen als "Lernbehinderte"bezeichnet werden; daneben gibt es die Förderschulen für Sprachauffällige und für Erziehungshilfe (nur bis zum 6. Schuljahr), für Hörgeschädigte, für Sehgeschädigte, für geistig Behinderte und für Körperbehinderte (vgl. SopV).

[12] Auf Bundesebene hat sich dieser Verein umbenannt in: "Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V." Die Tatsache, daß die Substantivierung "Geistigbehinderte" überwunden wurde, hat zukünftig vielleicht auch Folgen für ein anderes Verständnis für diese Menschen.

[13] Die aktuellen Adressen der Frühförder- und Beratungsstellen können bei der Landesarbeitsstelle Frühförderung erfragt werden: Schloßplatz 1, 16515 Oranienburg, Tel. 03301/56213, Fax: 56263

[14] Die vollständige Aufgabenbeschreibung ist im Rundschreiben 64/1994 nachzulesen.

5. Das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs

Das Schulgesetz des Landes Brandenburg legt im § 3 fest, daß Kinder mit Behinderungen "vorrangig im gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (...) gefördert werden." Es muß ein genau geregeltes Feststellungsverfahren durchgeführt werden, um den Status: "Schülerin/Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf" zuzuschreiben.

Dies bedeutet: Nicht jedes Kind, das außerhalb der Schule und umgangssprachlich als "behindert" bezeichnet wird, ist ein Kind mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Und, der erheblich häufiger anzutreibende Fall: Viele Kinder, die außerhalb von Schule völlig unauffällig sind, haben in der Schule einen besonderen Förderbedarf. Wenn sie langsamer lernen als die Mehrheit der anderen Kinder, wenn sie anders lernen, wenn sie in bestimmten Teilfertigkeiten besondere Probleme haben (z. B. beim Lesen und Schreiben), dann entscheidet der Förderausschuß, ob tatsächlich ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt.[15]

Die Aufgaben des Förderausschusses sind in der Sonderpädagogik-Verordnung von 1997 in den §§ 14 und 15 geregelt. Als Ergänzung und Arbeitsgrundlage müssen die Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeit der Förderausschüsse beachtet werden.

Es ist ärgerlich, daß diese Verwaltungsvorschriften zumeist den Eltern nicht bekannt sind. Die Eltern haben jedoch das Recht, von der Schule diese Verwaltungsvorschriften zur Kenntnis zu bekommen. Wenn die Eltern das Verfahren selbst genau kennenlernen wollen, dann haben sie das Recht zu erfahren, nach welchen Verwaltungsvorschriften bestimmte Maßnahmen von Seiten der Schule getroffen werden. In der hier entscheidenden Verwaltungsvorschrift über die Tätigkeit der Förderausschüsse vom 24. 08. 1995 heißt es z.B. ausdrücklich: "Diese Verwaltungsvorschriften sind in den Bestand der Schulbibliotheken aufzunehmen und dort zur Einsicht oder Ausleihe verfügbar zu halten" (VV-FöAVf, S. 1).

Die Darstellung des Förderausschuß-Verfahrens im Land Brandenburg werde ich im Folgenden aus der Sichtweise eines Elternpaares beschreiben, welches ihr Kind mit einer Behinderung in die 1. Klasse der Grundschule am Wohnort einschulen möchte.[16]

Ich gehe davon aus, daß dieses Kind einen Integrations-Kindergarten besucht und/oder Frühförderung erhalten hat und, daß die Eltern die innere Sicherheit haben, daß die gemeinsame Erziehung für ihr Kind der richtige Weg ist. Wenn Eltern diese Sicherheit noch nicht haben, dann empfehle ich den von mir geschriebenen Ratgeber (SCHÖLER 1993). Dort und in dem von Manfred ROSENBERGER herausgegebenen "Ratgeber gegen Aussonderung" (ROSENBERGER 1997) sind zahlreiche Adressen zu finden, damit Eltern in Kontakt treten können mit anderen Eltern, die mit ihren Kindern den Weg der gemeinsamen Erziehung bereits gegangen sind.

5.1 Die zuständige Schule - Wo melden die Eltern ihr Kind an?

Grundsätzlich ist die Schule am Wohnort für die Anmeldung und die Durchführung des Förderausschuß-Verfahrens zuständig. In der Regel melden die Eltern ihren Anspruch auf eine integrative Förderung in der Grundschule ihres Wohnortes an, und zwar in derselben Schule, welche von den Geschwisterkindern oder den Kindern der Nachbarschaft besucht wird. Es gibt im Land Brandenburg zwar einige Schulen, welche bereits umfangreiche Erfahrungen mit der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern haben, spezifische "Integrations-Modellschulen" gibt es jedoch nicht. Laut Schulgesetz ist die gemeinsame Erziehung Aufgabe jeder Schule und jedes einzelnen Lehrers/jeder Lehrerin (vgl. SopV § 20; Abs. 5).

5.2 Das Förderausschuß-Verfahren:

Der Antrag der Eltern muß von der Schule an den für Integration zuständigen Schulrat weitergeleitet werden. (Zumeist ist dies dieselbe Schulrätin, welche für die Förderschulen zuständig ist.)[17] Der Schulrat/die Schulrätin leitet das sogenannte "Feststellungsverfahren" ein. Im § 12, Abs. 2 der Sonderpädagogik-Verordnung ist festgelegt: "Ein Feststellungsverfahren ist nach abgeschlossener Vorklärung und bei Feststellung der Notwendigkeit durch das staatliche Schulamt" für ein Kind mit einer Behinderung in jedem Fall einzuleiten, unabhängig davon, ob die Eltern den Besuch einer Förderschule oder eine Integrationsmaßnahme wünschen.

Die "Vorklärung", welche von der zuständigen Sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstelle durchgeführt werden soll, darf keinesfalls so geführt werden, daß den Eltern bereits im Vorfeld der Anspruch auf die gemeinsame Erziehung ausgeredet wird. Dies ist leider immer noch in einigen Kreisen durchaus üblich. (Dieses Vorklärungsverfahren ist im Wesentlichen eingeführt worden, um abzuklären, ob Kinder mit leichteren Lern- oder Verhaltensproblemen überhaupt eine sonderpädagogische Förderung benötigen.)

Das staatliche Schulamt beauftragt eine Schule, einen Förderausschuß einzuberufen und das Feststellungsverfahren einzuleiten. Alle hiermit im Zusammenhang stehenden Fragen sind dann die Aufgabe des Schulleiters/der Schulleiterin dieser Schule bzw. einer von der Schulleitung hierfür beauftragten Lehrkraft. Mit der Durchführung dieses Verfahrens bei einer Einschulung wird in der Regel die wohnortnahe Grundschule beauftragt. (Auf die spezifischen Fragen, die beim Übergang in die Sekundarstufe beachtet werden müssen, wird hier nicht eingegangen. Diese sind im § 6, Abs. 6 und 7 SopV geregelt.)

Der Förderausschuß findet laut § 14, Abs. 1 SopV nur auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern an einer Förderschule statt und auch nur "für Kinder mit einer offensichtlichen Sinnesbehinderung, geistigen Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderung".

Allerdings wird manchmal noch bei Eltern der Eindruck erweckt, für ein Kind, das bereits in einer Frühfördereinrichtung sei, wäre der Antrag nur über die entsprechende Förderschule möglich. Wenn diese Eltern auf dem entsprechenden Antragsformular die Durchführung des FörderausschußVerfahrens beantragen und mit ihrer Unterschrift eine spezielle Förderschule mit der Durchführung des Verfahrens beauftragen, dann findet dieses Verfahren auch in der Regel an der Förderschule statt. Die Förderschule muß dann zwar die zuständige allgemeine Schule von dem Termin der ersten Förderausschußsitzung informieren (vgl. § 14, Abs. 3 SopV), zumeist wird dann aber die Möglichkeit einer integrativen Förderung nicht mehr geprüft. Viele Eltern wissen immer noch nicht, daß auch für geistig behinderte oder schwer mehrfach behinderte Kinder eine gemeinsame Erziehung mit nichtbehinderten Kindern möglich ist. Hier ist noch viel Aufklärung, vor allem für Kinderärzte und Therapeuten, notwendig.

Das Bildungsministerium des Landes Brandenburg hat eine Informationsbroschüre in Auftrag gegeben, welche zum Frühjahr 1998 fertiggestellt sein soll und Eltern umfassend über die Möglichkeiten der gemeinsamen Erziehung im Land Brandenburg informieren wird.[18]

Die genauen Regeln über die Zusammensetzung des Förderausschusses, die Aufgaben und die Verfahrensweisen können hier nicht dargestellt werden. Interessierte Eltern können den Text der Sonderpädagogik-Verordnung und die gültigen Verwaltungsvorschriften dazu bei der Grundschule des Wohnortes anfordern.

Ich konzentriere mich hier auf die Punkte, die nach meiner Einschätzung noch besonders von Eltern berücksichtigt werden müssen, wenn in einem Kreis oder in einer Schule der Rechtsanspruch auf gemeinsame Erziehung nicht genügend respektiert wird.

5.2.1 Die Person des Vertrauens

Die Eltern haben das Recht, zu den Sitzungen des Förderausschusses eine Person ihres Vertrauens hinzuzuziehen. Dies kann eine Person sein, die die Entwicklung des Kindes gut kennt, z. B. die Großmutter oder der Kinderarzt. Dies kann auch eine Person sein, die bereits Erfahrungen hat mit der Durchführung eines Förderausschuß-Verfahrens, z. B. eine Mutter oder ein Vater, die/der mit dem eigenen Kind bereits ein solches Verfahren durchgeführt hat.

Dies kann auch eine Lehrerin oder ein Lehrer derselben oder einer anderen Schule sein. Dies kann aber auch eine Person sein, der die Eltern im Hinblick auf ihre eigene emotionale Sicherheit besonders vertrauen (z. B. eine Freundin der Mutter) oder der die Eltern in Bezug auf den Umgang mit Fachleuten vertrauen (z. B. ein Verwaltungsfachmann).[19]

Eltern, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, sollten auf die Festlegung in der SopV, § 15, Abs. 1 hingewiesen werden: "Das staatliche Schulamt sorgt bei Kindern und Jugendlichen ausländischer Eltern im Bedarfsfall für Übersetzungen".

5.2.2 Das schulärztliche Gutachten

Das schulärztliche Gutachten darf nicht älter als drei Monate sein. Mit diesem Gutachten sollen "Hinweise auf gesundheitliche Besonderheiten, die beim Unterricht in der Schule zu beachten sind, festgestellt werden." (siehe Anlage 7, S. 2 zur Verwaltungsvorschrift - Förderausschüsse - VV-FöAVf). Als unabdingbare Informationsquelle wird an anderer Stelle (S. 13, VV-FöAVf) darauf verwiesen, daß die Sinnestüchtigkeit (Sehen und Hören) überprüft werden muß.

Nach meinen Erfahrungen respektieren sehr viele Schulärzte bisher nicht, daß sie lediglich Aussagen über den gesundheitlichen Stand des Kindes machen sollen, unabhängig davon, ob dieses Kind eine Förderschule oder eine Integrationsklasse besuchen wird. Häufig sind in diesen Gutachten einerseits Aussagen zu finden, die darauf schließen lassen, daß der Arzt/die Ärztin sich eine Integration selbst nicht vorstellen kann. Andererseits fehlt den meisten Schulärzten die Erfahrung mit Kindern, welche eine spezifische Behinderung haben. Deshalb ist der Hinweis in der VV-FöAVf sinnvoll, daß in Einzelfällen Stellungnahmen von Fachärzten oder Therapeuten einzuholen sind. "Diese zusätzlichen Stellungnahmen sind von der den Vorsitz führenden Person nach Kenntnisnahme der Eltern zu beantragen" (s. o. S. 13).

Mein Ratschlag für Eltern: Informieren Sie so früh wie möglich die Schulleiterin/den Schulleiter der Schule Ihres Wohnortes, welche Ärzte und Therapeuten Ihr Kind gut kennen und bereit sind, ein Gutachten zu schreiben oder sich eventuell selbst an dem Förderausschuß-Verfahren zu beteiligen. Informieren Sie bei der schulärztlichen Untersuchung den Schularzt über die Tatsachen, die Ihrer Einschätzung nach für den Schulbesuch wichtig sind, z. B.: Wie lange kann Ihr Kind nach Ihrer Einschätzung sitzen oder aufmerksam zuhören? Machen Sie ihn darauf aufmerksam, wenn Ihr Kind z. B. eine abwechslungsreiche, anregende Umgebung braucht. Manche Ärzte können es sich nicht vorstellen, daß ein Kind, das sich selbst nicht bewegen oder nicht sprechen kann, die Lebhaftigkeit anderer Kinder liebt. Wegen Besonderheiten, die sich aus der spezifischen Behinderung Ihres Kindes ergeben, können Sie darauf bestehen, daß ein fachärztliches Gutachten eingeholt wird.[20]

Wenn ein Schularzt feststellt, daß er bezweifelt, ob ein Kind die übliche Unterrichtszeit bewältigt, ist dies noch keine ausreichende Begründung, dieses Kind auf eine Förderschule zu verweisen. Aussagen darüber, ob oder gar wie ein Kind das Lesen und Schreiben lernen kann, stehen dem Schularzt nicht zu! Derartig negative Vorweg-Einschätzungen habe ich jedoch in schulärztlichen Gutachten aus dem Land Brandenburg gelesen. Die Pädagoginnen und Pädagogen haben die Aufgabe zu überlegen, wie notwendige Ruhephasen unter den veränderbaren Bedingungen der Grundschule eingerichtet werden können oder ob z. B. ein Kind mit einer geistigen Behinderung lernen kann, einige wenige, für seinen Lebensbereich wichtige Wörter zu erkennen oder ob dieses Kind lernen soll, wie es sich am besten ohne Lesen und Schreiben in seiner Alltagswelt orientiert.

5.2.3 Das Begutachtungsverfahren durch Schulpsychologen und Sonderpädagogen

Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen-Können ist keine notwendige Voraussetzung für die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern!

Bei den Begutachtungsverfahren ist es nicht das Ziel, festzustellen, ob das Kind "reif" ist für die Schule - so wie Schule bisher für alle Kinder gestaltet wurde - , sondern: Es muß festgestellt werden, welche Bedingungen wie verändert werden, damit die Schule "reif" wird für dieses Kind.

Nach meinen Beobachtungen haben zahlreiche Schulpsychologinnen und Sonderpädagoginnen noch die innere Einstellung, sie mußten feststellen, was das Kind alles nicht kann, um damit die Notwendigkeit eines Besuches der Förderschule zu begründen. In den Köpfen dieser Experten besteht einerseits noch der Glaube, die Grundschule könnte sich nicht verändern und andererseits keine Bereitschaft, sonderpädagogische Kapazitäten von der Förderschule in die allgemeinbildenden Schulen zu verlagern.

Die Sonderpädagogik-Verordnung und die Verwaltungsvorschrift dazu zeichnen einen integrativen Weg vor: "Die diagnostische Arbeit der für die Berichterstattung verantwortlichen Lehrkraft (...) geht zunächst davon aus, festzustellen, was das Kind (...) kann" (VV-FöAVf, S. 15). Dabei soll diese Arbeit auf "den Erhebungen und Beobachtungen der Mitarbeiterinnen und der Mitarbeiter aufbauen, die das Kind, die Schülerin oder den Schüler bisher betreut haben" (..., S. 14). Sehr differenziert werden die Bereiche genannt, aus denen Informationen über das Kind gewonnen werden sollten (S. 16 und 17). Als wichtige Verfahren hierfür werden genannt: "Elterngespräche, Gespräche mit den Lehrerinnen und Lehrern oder Erzieherinnen und Erziehern der besuchten Einrichtung, Explorationsgespräche mit dem Kind (...) (bei noch nicht schulpflichtigen Kindern sollte dies in einer vertrauten Umgebung, z. B. in der Kindertagesstätte erfolgen), (Langzeit)Beobachtungen in der Stammgruppe, Durchführung von Spiel- und Unterrichtssequenzen (...)" (VV-FöAVf, S. 18).

Der Einsatz von Testverfahren wird ausdrücklich eingeschränkt. Nur in ganz besonders begründeten Zusammenhängen ist es - laut VV-FöAVf gestattet, Testverfahren einzusetzen (siehe dort S. 18):

1. Die Brauchbarkeit des Testverfahrens für integrationspädagogische Zielsetzungen muß belegbar sein!

2. Die persönlichkeits- und testtheoretischen Grundlagen des jeweils gewählten Verfahrens müssen bekannt sein.

3. Die Validität (Gültigkeit) der Testverfahren hinsichtlich curricularer Aspekte muß geprüft und gegebenfalls belegt werden. (Das bedeutet z. B.: Wenn ein bestimmter Test mit einem Kind durchgeführt werden soll, dann müßte die Schulpsychologin oder die Sonderpädagogin in der Lage sein zu begründen, für welche Fragen des vorgesehenen Unterrichts in einer Integrationsklasse die zu erwartenden Ergebnisse hilfreiche Informationen liefern könnten.)

Die Durchführung mancher Tests kann durchaus auch für Integrationsmaßnahmen sinnvoll sein, wenn die Informationen, die mit derartigen Verfahren gewonnen werden, den Lehrerinnen und Lehrern Hinweise geben, wie oder mit welchem Zeitaufwand die Kinder bestimmte Aufgaben lösen können. So sind in einem mir vorliegenden Gutachten die Hinweise zu finden:

"A. war sehr am Testmaterial interessiert, besondere Aufmerksamkeit schenkte sie der Puppe. Mit ihr wollte sie laufend spielen, so daß einfache Anweisungen mit ihr auch richtig erfüllt wurden. Jedoch mußten räumliche Anweisungen verbal wiederholt werden."

Aus derartigen Aussagen, die sich auf einen Test zur Merkfähigkeit beziehen, können Lehrerinnen und Lehrer Hinweise entnehmen, die sie in ihrem Unterricht berücksichtigen. Die dann folgende Aussage, dieses Kind erreiche lediglich "einen Rohwert von 5, welcher einem T-Wert von 42 und einem Prozentrang von 21 entspricht", nutzt niemandem und auch die nachgeschobene Erklärung, daß "21 % der Vergleichsgruppe schlechtere und 79 % ihrer Population bessere Leistungen aufweisen" belegt allenfalls, daß die Verfasserin dieses Gutachtens offensichtlich einmal einen Kursus zur Testdiagnostik belegt hat. Nach der VV-FöAVf des Landes Brandenburg ist ein derartiges Testverfahren nicht gestattet! Es heißt eindeutig auf Seite 18:

"Für den Fall, daß die Testergebnisse der in Aussicht genommenen Testverfahren normorientiert ausgewertet werden sollen, ist zu begründen, warum die zu verwendenden Testnonnen auf dem Hintergrund einer aktuellen schulischen Situation sinnvolle und förderungsbezogene Hinweise erwarten lassen."

Die Prozentrangwerte, mit welchen das einzelne Kind (in diesem Fall mit einer geistigen Behinderung) mit einer anonymen, unbekannten Gruppe anderer geistig behinderter Kinder verglichen wird, nutzen den Lehrerinnen und Lehrern, welche anschließend mit diesem Kind arbeiten, absolut nichts. (Unabhängig davon, ob das Kind später an der Förderschule für Geistigbehinderte oder in einer Integrationsklasse unterrichtet wird.)[21]

Nur dann, wenn die Schulpsychologin oder die Sonderpädagogin die Entscheidung der Eltern auf gemeinsames Lernen des behinderten Kindes mit nichtbehinderten Kindern tatsächlich respektiert, wird sie in der Lage sein, mit ihrem diagnostischen Handeln in einen "kooperativen Erkenntnisprozeß, an dem Eltern, Kinder, Schülerinnen oder Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer kontinuierlich beteiligt sind" einzutreten (siehe VV-FöAVf, S. 18). "Diagnostische Schlußfolgerungen sind nur dann zu akzeptieren, wenn sie sich im Diskurs mit den am diagnostischen Prozeß und an der praktischen Phase Beteiligten bewähren können" (VV-FöAVf, S. 18). Wenn also Lehrerinnen und Lehrer ein Kind mit einer Behinderung in ihre Klasse aufnehmen oder wenn interessierte Eltern das sonderpädagogische Gutachten lesen, das über ihr Kind geschrieben wurde, dann muß erwartet werden können, daß dieses zumeist zeitlich sehr aufwendige Verfahren auch tatsächlich praktische Hinweise enthält, wie die beteiligten Erwachsenen die pädagogische Förderung dieses Kindes bewerkstelligen können.

"Damit ist die Verantwortung der Diagnostikerinnen und Diagnostiker über die unmittelbare diagnostische Phase hinaus auch für den Prozeß der Förderung nach Beendigung des Förderausschuß-Verfahrens gefragt; ein entsprechender regelmäßiger Austausch ist sicherzustellen" (FöAVf, S. 18).

Mein Rat für Eltern: Bestehen Sie darauf, daß Sie die Gutachten, welche im Zusammenhang mit dem Förderausschuß-Verfahren über Ihr Kind erstellt wurden, vor der Sitzung des Förderausschusses lesen können. Überprüfen Sie, ob diese Gutachten die hier dargestellten inhaltlichen Kriterien erfüllen. Sie haben laut Schulgesetz § 65, Abs. 8 "ein Recht auf Einsicht in die sie (die Schülerinnen und Schüler, deren Eltern, Lehrkräfte und das sonstige Schulpersonal) betreffenden Unterlagen und auf unentgeltliche Auskunft über die sie betreffenden Daten (...)."[22]

Wie es sich für ein einzelnes Kind und dessen Familie auswirken kann, ob die Gutachterinnen und Gutachter den "Aussonderungsblick" oder den "Integrationsblick" haben, wird im Abschnitt 6 an einem Beispiel eräutert.

5.2.4 Der Förderausschuß erabeitet eine Empfehlung

Das Förderausschuß-Verfahren ist kein "Zuweisungsverfahren", auf keinen Fall ein "Förderschulüberweisungsverfahren". Denn: Der Förderausschuß formuliert nur eine Bildungsempfehlung. Die eigentlichen Entscheidungen trifft danach das staatliche Schulamt. Die Bildungsempfehlung soll enthalten: (vgl. hierzu VV-FöAVf, S. 20)

  • Aussagen über den Lernort,

  • dieempfohlene Klassenfrequenz,

  • zusätzliche Stunden zur integrativen Förderung,

  • an welchem Rahmenplan soll sich der Unterricht orientieren? - sind spezielle Hilfen (Geräte, Materialien) notwendig?

  • sind bauliche Veränderungen notwendig?

  • es können Empfehlungen zur nachschulischen Betreuung gegeben werden (Hortplatz)

  • Empfehlungen für therapeutische Hilfen? (Wo sind diese anzubieten, wer finanziert?)

  • Empfehlungen für Unterstützungsmaßnahmen in der Familie (z. B. Familienhelfer).

An dieser Stelle möchte ich noch auf eine besondere Problematik verweisen: Es gibt unterschiedliche Einschätzungen über die Notwendigkeit des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Dies kann zu Konflikten fuhren, wenn die Vertreterinnen der Sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstelle und der zuständige Schulrat/die Schulrätin eine andere Orientierung in Bezug auf den gemeinsamen Unterricht vertreten als die Lehrerinnen und die Eltern eines Kindes. Bei nicht gelingender Kooperation kann dies dazu führen, daß Kindern die Defizite zugeschrieben werden und die Fähigkeiten tendentiell weniger im Gutachten beachtet werden, weil sonst ein sonderpädagogischer Förderbedarf nicht genehmigt wird. Diese Problematik tritt vor allem bei Kindern im Grenzbereich zur "Lernbehinderung" auf. Wenn dann auch noch die Eltern selbst in solchen Verfahren relativ hilflos sind (z. B. weil sie den Umgang mit Vertetern von Behörden nicht gewohnt sind), kann es leicht dahin kommen, daß diesen Eltern die Alternative: "Allgemeine Förderschule" als angemessener Lernort für ihr Kind erscheint. Langfristig gesehen wird eine Lösung dieser Problematik nur möglich sein, wenn Eltern sich in derartigen Verfahren gegenseitig unterstützen. Andererseits werden die Lehrerinnen und Lehrer an den Allgemeinen Förderschulen erkennen, daß sie selbst dazu beitragen, wenn an diesen Schulen überwiegend Kinder sind, deren Eltern die Interessen der Kinder nicht vertreten können.

In der SopV werden im § 15, Abs. 5 darüber hinaus noch genaue Hinweise formuliert, wie mit der Leistungsbewertung für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf verfahren werden kann. Auch hierzu sollte der Förderausschuß eine Empfehlung aussprechen.[23]

5.2.5. Das staatliche Schulamt entscheidet

über den tatsächlichen Lernort des Kindes (vgl. § 16 SopV). Wenn gegen den Antrag der Eltern entschieden werden soll, dann muß vor der Entscheidung nochmals eine Anhörung erfolgen. (vgl. § 16, Abs. 1 SopV). (Siehe hierzu auch die Ausführungen oben im Abschnitt: "Finanzierung").

Außerdem trifft das Schulamt die Entscheidung über die Jahrgangsstufe, der das Kind zugewiesen wird[24], den anzuwendenden Rahmenplan[25], den Förderumfang und die Förderinhalte (vgl. § 16, Abs. 3 SopV). "Über die Entscheidung des stattlichen Schulamtes erhalten die Eltern einen schriftlichen Bescheid mit Rechtsbehelfsbelehrung" (s. o.).

Im § 16, Abs. 5 wird festgelegt:

"Das staatliche Schulamt ist verpflichtet, je nach Lage des Einzelfalls, in individuell angemessenen Zeiträumen zu prüfen, ob die Entscheidung (...) und die Bildungsempfehlung noch Gültigkeit hat."

Es ist also nicht daran gedacht. daß routinemäßig in jedem Jahr sämtliche Förderausschuß-Verfahren wiederholt werden sollen. Auch von den Förderschulen wird ein solches Verfahren nicht verlangt.

Ein von den Eltern eventuell vorgesehenes Widerspruchsverfahren kann formlos und zunächst ohne Begründung erfolgen. Bevor ein solches Widerspruchsverfahren dann tatsächlich (möglichst mit Hilfe eines Rechtsanwaltes) geführt wird, rate ich den Eltern, sich direkt an den jeweils regional zuständigen Schulrat im Kreis zu wenden und eventuell auch mit den zuständigen Referenten im Bildungsministerium Kontakt aufzunehmen.



[15] In diesem Beitrag verwende ich die Begriffe: Schüler und Schülerinnen mit Behinderung bzw. mit sonderpädagogischem Förderbedarf so, wie dies den Formulierungen in den Gesetzen und Verwaltungsvorschriften des Landes Brandenburg entspricht. Zur genaueren Klärung dieser Begriffe siehe: SANDER 1997 und SCHÖLER 1997 in EBERWEIN 1997.

[16] Außer den Eltern sind auch antragsberechtigt: Die allgemeine Schule oder die Förderschule, die Sonderpädagogische Förder- und Beratungsstelle oder die Schülerinnen und Schüler selbst ab dem 14. Lebensjahr. Auf diese Möglichkeiten gehe ich hier nicht ein.

[17] Ab Schuljahr 1998199 soll dies der/die regional zuständige Schulrat/die Schulrätin sein.

[18] xyz : Wird noch konkretisiert

[19] Faktisch gibt es nur eine Person, die als "Person des Vertrauens" von den Eltern nicht gewählt werden darf: Dies ist der Schulrat/die Schulrätin, welche die rechtlich verbindliche Entscheidung später treffen muß.

[20] Über Selbsthilfegruppen (z. B. für Kinder mit Anfallsleiden oder für Kinder mit der Diagnose Spina bifida) können die Adressen von Ärzten vermittelt werden, die auch Erfahrungen mit der Integration von Kindern der jeweiligen Behinderungsart haben (siehe Anhang in: SCHÖLER 1993).

[21] Allerdings vermute ich, daß die Gutachterin diese Form der Testanwendung kurz zuvor im Sonderpädagogik-Aufbaustudium an der Universität Potsdam gelernt hat. Ob den dort Studierenden alle Details der Sonderpädagogik-Verordnung und der dazugehörenden Verwaltungsvorschriften vermittelt werden, bezweifle ich.

[22] Leider sind in den Ausführungsverordnungen keine Hinweise gegeben, in welchem Zeitablauf die Anträge zum Förderausschuß-Verfahren bearbeitet werden müssen. Mir ist ein Fall aus dem Land Brandenburg bekannt, wo die Eltern im November vor der Einschulung den Antrag gestellt haben, der Förderausschuß tagte zum ersten Mal im Mai des darauffolgenden Jahres. Das sonderpädagogische Gutachten lag erst fünf Tage vor dieser Sitzung vor und wurde den Eltern lediglich mündlich erläutert.

[23] Zum Verfahren der Leistungsbewertung im integrativen Unterricht hat das Pädagogische Landesinstitut des Landes Brandenburg eine Broschüre herausgegeben. Diese von Ursula Mahnke geschriebenen "Praxishilfen zum integrativen Unterricht in der Grundschule" können beim PLIB zum Preis von 7,50 DM angefordert werden und sind nicht nur für Lehrerinnen und Lehrer sondern auch für Eltern hilfreich.

[24] Es kann z. B. durchaus sinnvoll sein, ein geistig behindertes oder schwer mehrfach behindertes Kind, das aus gesundheitlichen Gründen bisher vom Schulbesuch zurückgestellt wurde und das mit anderen Lernzielen in der Klasse unterrichtet wird, in eine bereits bestehende Klasse einzuschulen.

[25] Bei der Einschulung eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf muß der Rahmenplan nicht im voraus festgelegt werden. Durch Rundschreiben 50/1994 vom 26. Juni 1994 ist geregelt, daß diese Kinder "in der ersten Jahrgangsstufe in der Regel nach den Rahmenplananforderungen der Grundschule unter Nutzung aller zusätzlichen Fördermöglichkeiten und binnendifferenzierenden Maßnahmen unterrichtet (werden). Zum Abschluß des ersten Schuljahres erarbeitet die Klassenkonferenz nach gründlicher Prüfung der bisherigen Entwicklung des Kindes eine Empfehlung zum weiteren Verfahren in der zweiten Jahrgangsstufe. (...) Kinder mit offensichtlichen schweren Behinderungen können auch in der Jahrgangsstufe 1 nach den Rahmenplanforderungen der Allgemeinen Förderschule oder der Förderschule für Geistigbehinderte unterrichtet werden."

6. Der Aussonderungsblick und der Integrationsblick - ein Beispiel

Am Beispiel eines Kindes - ich nenne es hier Annemarie - wird im folgenden verdeutlicht, wie entscheidend unterschiedlich der Blick auf ein Kind sein kann.

Wir wissen, daß es sich auf das Verhalten jedes Menschen, besonders jedes Kindes auswirkt, ob die Umwelt eine positive oder eine negative Erwartung an diese Person hat. Für Kinder mit Behinderungen gilt in besonderem Maße: Wir müssen uns an den Fähigkeiten dieser Kinder orientieren (vgl. SCHÖLER 1994, bes. S. 98-102.) Auch die Verwaltungsvorschrift über die Tätigkeit der Förderausschüsse im Land Brandenburg fordert: "Es ist zunächst festzustellen, was das Kind kann" (VV-FöAVf, S.15, Hervorhebung im Original).

Ich stelle tabellarisch und in Auszügen die Aussagen, die in dem sonderpädagogischen Gutachten zu lesen sind, welches die Zuweisung des Kindes zur Schule für Geistigbehinderte bewirkte den Aussagen gegenüber, die in dem vom Verwaltungsgericht angeforderten Gegengutachten zu lesen sind, das eine Integrationsmaßnahme für dieses Kind bewirkte[26]: (Die Hervorhebungen in beiden Texten wurde von mir vorgenommen.)

Der Aussonderungsblick

Der Integrationsblick

Sozialverhalten

 

Annemarie ist ein unruhiges Kind. Sie ist enorm schwer bzw. gar nicht zu fixieren. Aufmerksamkeit widmet Annemarie nur dem, was ihr Interesse weckt. Das Sozialverhalten liegt in zwei Bereichen im Durchschnitt, in zwei Bereichen unter dem Durchschnitt der Norm im Vergleich zu ihrer Altersgruppe geistigbehinderter Schüler. (...) Im Bereich Beschäftigung liegt sie mit 100 % im Durchschnitt ihrer Altersgruppe, ebenso im Bereich Selbsthilfe mit 88,20 %. Im Bereich Verständigungsvermögen erreicht sie mit 60% unterdurchschnittliche Werte (...). ebenso in der Sozialanpassung (71,45 %). Das Persönlichkeitsbild des PAC-1 wird als Ergänzung verstanden, mit dem weitere Charakteristiken des zu untersuchenden Kindes festgehalten werden können. (...) Als der von der Gesellschaft akzeptierte Toleranzwert fungiert (...) Wertpunkt "3". Mit Hilfe der Tests konnte ermittelt werden, daß sie bei 7 Items (I-IV, VII, XII und XIII) die Tolereanzschwelle erreicht und bei 5 Items (V, VIII-XI) die Toleranzschwelle noch nicht erreicht.

Annemarie ist ein freundliches, aufgeschlossenes Mädchen. Sie geht spontan auf Menschen zu; besonderes Interesse hat sie an gleichaltrigen Kindern. Ihr Arbeitsverhalten ist gemeinsam mit anderen Kindern, auch mit ihrem Bruder, aufmerksamer als mit ihrer Mutter. Dies gilt vermutlich auch für andere erwachsene Personen. Annemarie erfaßt sehr schnell spezifische soziale Situationen, z. B.: In der Schule war ihr die Art des gemeinsamen Sitzens im Kreis offensichtlich völlig neu. Zweimal mußte sie von der Lehrerin und von den anderen Kindern aufgefordert werden, sich auf dem Teppichboden in den Kreis zu setzen, beim dritten Mal tat sie dies ohne jegliche spezielle Aufforderung von sich aus.

Bei einem 30-minütigen Fußweg von der Kindertagesstätte zum Abenteuerspielplatz merkte sie, daß ein anderes Mädchen "bockig" war. Dieses Mädchen blieb immer ca. 50 Meter hinter der Gruppe. Annemarie achtete darauf, daß das Mädchen auch tatsächlich der Gruppe folgen konnte.

Sprachverständnis und Sprachvermögen

 

Annemarie befolgt einfachste sprachliche Anweisungen und kann Einfachaufträge ausführen, wenn sie ihr Interesse wecken. Einfachste Fragen versteht sie. Aufforderungen, die "auf, in, unter etc." enthalten, werden von Annemarie nicht verstanden (PAC-1, BA), ebenso Richtungsanweisungen (oben, links, etc.). Beim PPVT erkennt man, daß Annemarie einen sehr geringen passiven Wortschatz hat, ihr Sprachverständnis kaum ausgebildet ist (entspricht auch den Aussagen der Mutter). Annemarie erreicht einen Rohwert von 3, somit einen T-Wert von 23, welcher einem Prozentrang von 0 entspricht. Dies besagt, daß 100 % der Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder bessere Leistungen bzgl. des passiven Wortschatzes erbringen als Annemarie. Damit liegt sie weit unter dem Durchschnitt.

Annemarie spricht in Zweiwortsätzen, meist jedoch sporadisch. Ihr Sprechen erscheint phrasenhaft. Sie kann keine Begriffe definieren und ist nicht in der Lage, zusammenhängend über Erlebnisse zu berichten.

Annemaries Sprache wird nur dann aktiviert, wenn ihre Interessen im Vordergrund stehen (trinken, Tuch haben, müde).

In der Schule forderte die Lehrerin sie auf, ein Holzquadrat aus der Hand und auf den Tisch zu legen und einem Jungen die Hand zu geben, sich in den Kreis zu den anderen Kindern zu stellen, damit gemeinsam ein Singspiel gespielt werden kann. Annemarie befolgte diese Anweisung ohne jegliches Zögern (Singen ist bei ihr sehr beliebt). Das Singspiel mit den anderen Kindern war ihr offensichtlich sehr wichtig.

Annemarie kann alle ihr wichtigen Interessen und Bedürfnisse in der konkreten Situation handlungsbegleitend, sprachlich adäquat und auch für Fremde verständlich, ausdrücken. Sie spricht z. T. etwas undeutlich. Im Dialog mit ihrem Bruder und ihrer Mutter sind in der Videoaufzeichnung mehrere vollständige Sätze dokumentiert, die z. T. auch über die Handlungsbegleitung hinausgehen, z. B.:

"Jetzt haben wir die Buchstaben noch nicht gemacht!" oder: "Nach dem Mittagessen geh ich mit Mutti spazieren!"

Diese Beispiele machen deutlich, daß sie mit Hilfe der Sprache ihre Umwelt beeinflußt. Wie weit sie in der Lage ist, größere Zusammenhänge sprachlich zu gestalten, konnte in der Kürze der Zeit nicht festgestellt werden. Es wurde jedoch deutlich, daß sie ein gutes Gedächtnis hat und nach den ihr wichtigen Zusammenhängen fragt, z. B.:

Die Gutachterin trug bei der ersten und zweiten Begegnung eine bestimmte Haarspange und einen Schal. Bei der zweiten Begegnung, ca. 2 Wochen später, erkannte sie beides wieder, bei der dritten Begegnung wiederum, einen Tag später, bemerkte sie sofort, daß die Gutachterin eine andere Haarspange und keinen Schal trug. Die Eltern berichteten, daß sie zu Hause die Kleidung der Gutachterin genau beschreiben konnte.

Allgemeine Intelligenz (CMM + CM)

Zur Aneignung der Kulturtechniken

Annemarie hat große Schwierigkeiten, die Aufgabenstellung zu verstehen und ihr gemäß zu antworten. Die Beispiele löste sie spontan und zufällig richtig. Eine Auswahl der Logik nach erfolgte nicht. Annemarie war nur kurz aufmerksam, danach war sie nur noch am Testmaterial (zum Spielen) interessiert, als an der Aufgabe selbst. Laut Testanweisung wurde bei Item 22 abgebrochen. Annemarie erreichte einen T-Wert von 32, welcher einem Prozentrang von 3 entspricht, d. h. 3 % ihrer Vergleichsgruppe zeigen schlechtere Leistungen bzw. 97 % gleiche bzw. bessere Leistungen als Annemarie. Ihre Denkfähigkeit, ihr Abstraktionsvermögen und logisches Schlußfolgern liegen weit unter dem Durchschnittsbereich der Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder.

Testergebnisse des BM und CM: Auch hier war es äußerst schwer, den Test durchzuführen, da Annemarie nicht zu fixieren war. Sie war völlig unkonzentriert und erfaßte die Aufgabenstellung nicht. Ein Abbruch machte sich nach 8 falsch gelösten Items laut Testanweisung erforderlich. Annemarie erzielte einen T-Wert von 30, welcher einem Prozentrang von 2 entspricht. Der besagt, daß 2 % ihrer Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder schlechtere bzw. 98% bessere Leistungen als sie erbringen. Die Testergebnisse spiegeln wieder, daß Annemarie über stark herabgesetzte Denkfähigkeiten (Abstraktions- sowie Analyse-Synthese-Fähigkeiten) verfügt und weit unter dem Durchschnitt liegt.

  • Annemarie kann Formen eindeutig und sehr sicher zuordnen: Kreise, Quadrate, Rechtecke, Dreiecke. Bei der entsprechenden Übung in der Klasse erkannte sie spontan und ohne zusätzliche Fragen der Lehrerin den Unterschied zwischen einem gleichseitigen und einem nicht gleichseitigen Dreieck. Symbolverständnis als Vorstufe zum Lesen- und Schreibenlernen ist bei ihr vorhanden.

  • Annemarie hat die Aufgabenstellung: Wörter mit K zu erkennen, erfaßt. Eindeutig erkannte sie z. B. die Wörter Kreis oder Korb als Wörter mit K.

Wenn sie in einer Integrationsklasse die Chance hätte, entsprechende Anlauf- und Auslaufübungen gemeinsam mit anderen Kindern durchzuführen, dann wird sie in der Lage sein, auch eigenständig Wörter aus Buchstaben zu bilden. Im Lernspiel mit ihrer Mutter oder ihrem Bruder kann sie bereits einfache Wörter sicher aus den Buchstaben bilden, z. B.: Igel, Vogel, Baum.

Sie kennt alle großen und kleinen Buchstaben und kann eigenständig mit den jeweiligen Anlaufen Worte bilden. Im Spiel mit ihrem Bruder zeigt sie dabei deutlich mehr Geduld und Aufmerksamkeit als beim Lernen mit ihrer Mutter. Bei den entsprechenden Übungen war sie z. T. sehr aufmerksam, z. B. machte sie ihre Mutter von sich aus darauf aufmerksam, daß die Mutter die Kleinbuchstaben p und g verwechselt hatte. (Videoaufzeichnung)

Zur Grobmotorik

 

Testergebnisse des LOS KF I8: Annemarie war motorisch sehr unruhig. Die Aufgabenstellungen wurden, trotz Demonstration durch den Testleiter, nicht verstanden. Sie war nicht zu fixieren. Der Test wurde abgebrochen, da Annemarie müde war, sich sperrte und anderen Dingen zuwandte. Mit einem Rohwert von 0 erzielte sie einen T-Wert von 31 und somit einen Prozentrang 3, d. h. 3 % der Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder erreichen schlechtere und 97 % bessere Leistungen als Annemarie, sie liegt somit weit unter dem Durchschnitt. (...)

Annemarie läuft ohne Hilfestellungen; auch die Entfernung von ca. 4 km war problemlos zu bewältigen. Ihr Gangbild wirkt etwas schwankend; sie scheint manchmal mit weiten Armbewegungen die Balance halten zu wollen, manchmal sucht sie die Hand eines Erwachsenen oder anderen Kindes, an der sie sich vielleicht etwas sicherer fühlt.

Annemarie kann alleine Treppen steigen. Auf dem Spielplatz hat sie allein und mit großer Sicherheit und Freude geschaukelt.

Im Kindergarten ist sie mit einem großen Dreirad gefahren.

Sie kann ihre eigenen körperlichen Fähigkeiten offensichtlich gut einschützen und ist nicht leichtsinnig. Zum Beispiel: Um auf eine für sie sehr attraktive Rutsche zu gelangen, war es notwendig, eine ca. 3 Meter hohe senkrechte Leiter hochzuklettern. Sie ging dabei beim 1. Mal sehr vorsichtig vor, kehrte nach wenigen Stufen wieder um, beobachtete ein anderes Kind, erst danach unternahm sie einen zweiten Versuch.

Mit einiger Mühe gelang es ihr, sich aus einer Milchpackung alleine einzugießen. Brot zu essen, bereitet ihr keine Schwierigkeiten; mit dem Löffel oder der Gabel zu essen, bereitet ihr noch ein wenig Schwierigkeiten; sie bewältigt diese Aufgabe jedoch in akzeptabler Form.

Zur Feinmotorik

Testergebnisse KP

Zur Feinmotorik

Annemarie machte einen motorisch auffälligen Eindruck. Die Stifthaltung war zwar normal, die Bewegungen verliefen disharmonisch und unkontrolliert. Sie erreichte einen Rohwert von 7, der einem T-Wert von 34 und einem Prozentrang von 5 entspricht, d. h. 5 vergleichsweise geistigbehinderter Kinder erreichen schlechtere und 95 % bessere Leistungen als Annemarie und sie liegt somit weit unter dem Durchschnitt ihrer Vergleichsgruppe.

Annemarie hat bei feinmotorischen Aufgabenstellungen noch Schwierigkeiten:

  • Beim Ausmalen vorgezeichneter Formen (Kreise, Vierecke, Dreiecke) zeichnete sie über die Begrenzungslinien hinaus,

  • beim Versuch, mit farbiger Kreide an der Tafel einen Buchstaben nachzuziehen, stellte sie selbst fest, daß sie das nicht kann.

Positiv zu vermerken ist jedoch. daß sie ihre eigenen Schwierigkeiten erkennt und damit umgehen kann:

  • Als sie feststellte, daß sie den Buchstaben K nicht nachzeichnen kann, wich sie mit der Kreide auf die freie Tafelfläche aus und übte dort, auf ihre Art zu schreiben

  • Annemarie kann sich alleine und selbständig an- und auskleiden. Für Schulbekleidung sollte darauf geachtet werden, daß sie möglichst ihren feinmotorischen Möglichkeiten angepaßt werden; z. B.: Schuhe mit Klettverschluß und nicht mit Schnürsenkeln; möglichst große Knöpfe oder Schnallen, möglichst keine Reißverschlüsse.

Zusammenfassung und Interpretation

 

(...) Da Annemarie sich leicht ablenken läßt bzw. erst gar nicht zu fixieren ist, wäre eine Umgebung, wie eine Klasse oder Grundschule bzw. ein streng organisierter Grundschulrhytmus für ihre Entwicklung ungünstig. Nur eine intensive Einzelbetreuung in einer ruhigen Schulumgebung bei geringer Schülerzahl kann Annemaries Konzentrations- und Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen. Annemaries Umweltkenntnisse sind gering, ihre Denkleistung bewegen sich an der untersten Grenze der Geistigen Behinderung. (...) Selbst bei einfachen geistigen Operationen (Differenzieren, Vergleichen) hat Annemarie erhebliche Defizite. Für die Ausführung höherer geistiger Operationen ist sie vermutlich nicht fähig. Sämtliche Testergebnisse lassen darauf schließen, daß Annemarie ein schwer geistigbehindertes Kind ist, welches besondere Förderung in einer ruhigen Schulumgebung bei kleiner Schülerzahl benötigt. (...) Annemarie muß erst einmal gruppenfähig gemacht werden. Dies kann nicht bei ca. 18 Kindern in einer großen Schule erfolgen.

Annemarie hat keine Schwierigkeiten, sich in einem großen Schulgebäude, mit einem von vielen Kindern genutzten Pausenhof, im Treppenhaus einer Schule oder in einer Klasse mit ca. 20 Kindern sozial adäquat zu verhalten.

Sie geht auf fremde Kinder und Erwachsene freundlich zu, z. T. verhält sie sich beobachtendabwartend, z. T. fragt sie, um ihre Interessen und Bedürfnisse durchzusetzen. Sie reagiert sensibel auf die Stimmungen anderer Menschen.

Fazit zu Grobmotorik:

Im Sportunterricht sollte man ihr die Gelegenheit geben, die anderen Kinder bei deren Übungen zu beobachten und selbst zu entscheiden, an welchen Übungen sie sich beteiligen will. Es wird vermutet, daß ihr Balancier- und Sprungübungen Schwierigkeiten bereiten. Da sie beim Klettern, Schaukeln, Rutschen und Kriechen durch Röhren sehr sicher und zugleich vorsichtig umging, ist zu vermuten, daß sie beim regelmäßigen Sportunterricht gemeinsam mit anderen Kindern ihre grobmotorischen Fähigkeiten weiter steigern kann.

Fazit der Feinmotorik:

Annemarie kann ihre Feinmotorik weiter verbessern mit Hilfe von Steckspielen oder Stempelübungen. Zeichen- und Ausmalübungen bereiten ihr noch große Schwierigkeiten. Am Vorbild von anderen Kindern und in Verbindung mit intellektuellen Anforderungen, die sie bewältigen kann (z. B. Wiedererkennen von Farben und Formen) ist sie offensichtlich motiviert, ihre feinmotorischen Schwierigkeiten zu bearbeiten.

Annemarie besucht inzwischen eine Integrationsklasse, gemeinsam mit einem anderen Kind, das große Lernschwierigkeiten hat und weiteren acht Jungen und zwölf Mädchen.

Sie fühlt sich wohl in dieser Klasse, hat keine Schwierigkeiten, sich in der großen Schule zu orientieren, lernt vor allem jeden Tag, besser zu sprechen und ist bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern beliebt.

Für die Sonderpädagogin und die Klassenlehrerin stellt diese Aufgabe eine große Herausforderung dar. Da beide Lehrerinnen jedoch gut kooperieren können (sie hatten zuvor nicht gemeinsam unterrichtet), und von ihrer Schulleiterin und dem Kollegium unterstützt werden, bin ich sehr optimistisch, daß der Weg von Annemarie in die Normalität dieser Gesellschaft weiterhin so positiv verlauft, wie die Eltern dies nach einem zweijährigen Kampf um die Integration ihrer Tochter seit wenigen Wochen erleben.

An diesem Beispiel weise ich noch auf einen Aspekt des Begutachtungsverfahrens hin: Die Sonderpädagogin hatte hierbei offensichtlich fast ausschließlich im Sinn, ihre Testverfahren anzuwenden. Sie hat den Dialog mit dem Kind nicht aufgenommen (vgl. zu diesem wichtigen Aspekt: SCHÖLER 1994, S. 51-65). Sie hat auch nicht versucht, dieses Kind in seinem Umfeld oder im Dialog mit anderen Kindern kennenzulernen und zu beobachten.

Nach meiner Vermutung würden sehr viele nichtbehinderte Kinder in einer vergleichbaren Testsituation mit einer fremden erwachsenen Person ein ähnliches Verhalten zeigen wie Annemarie.

Am meisten war die Sonderpädagogin offensichtlich von der Tatsache beeindruckt, daß Annemarie sich in dem Untersuchungsraum nicht "fixieren" ließ, d. h. nicht bei den Arbeitsanweisungen still sitzen blieb und den Anordnungen folgte. (Ein solcher Hinweis findet sich in dem Gutachten insgesamt sieben Mal.)

Im zweiten Begutachtungsverfahren ist nicht versucht worden, Annemarie zu "fixieren". Ihre Bewegungen im Raum wurden von Anfang an als "Neugierverhalten" interpretiert, wodurch viele für einen Integrationsprozeß hilfreiche Informationen gewonnen werden konnten. Im zweiten Gutachten ist deshalb ein besonderer Abschnitt zum "Neugierverhalten" von Annemarie aufgenommen worden:

Neugierverhalten

"Annemarie ist an allem sehr interessiert und untersucht systematisch die für sie neue Umgebung. Im Kindergarten hat sie sich schnell in den verschiedenen Räumen orientiert, wollte wissen, wo das Licht angeht und erinnerte sich auch nach längerer Zeit, wo sie zuvor etwas gesehen hatte.

Sie untersuchte genau - durch Berühren - die Materialbeschaffenheit der Gegenstände. Sie betrachtete und befühlte sehr genau die Schulmappen der anderen Kinder und die Unterrichtsmaterialien sowie die verschiedenen Spiele. Dabei legte sie - ohne daß eine Aufforderung dazu nötig war - die Dinge fast immer an ihren Platz zurück. Es ist ihr offensichtlich wichtig, die sie umgebenden Dinge richtig zu ordnen. Dabei zeigte sie eine erhebliche Ausdauer, (z. B. Wiedereinsortieren von Steck-Buchstaben in einen Kasten, Einsortieren von Spielkarten, Einordnen von Spielen in ein Regal).

Annemarie war durch die Vielfalt der Materialien im Klassenzimmer der Integrationsklasse angeregt, diese z. T. alleine genau zu untersuchen, z. T. machte sie andere Kinder oder die Lehrerin auf Gegenstände aufmerksam, die ihr besonderes Interesse erregten."

Es wird deutlich, daß bereits beim Begutachtungsverfahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern ein völlig anderer Blick auf das Kind notwendig ist, das als behindert bezeichnet wird. Die Gutachterin/der Gutachter muß sich dem Kind zuwenden und den Dialog mit dem Kind suchen. Der italienische Kinderarzt MILANI-COMPARETTI vertrat den Standpunkt, es sei die Aufgabe des Erwachsenen, die "vorschlagende Identität" des Kindes zu erkennen. Es ist nicht der Erwachsene, der die Vorschläge macht und das Kind hat irgendwie zu reagieren, sondern: Der Erwachsene muß auf die Vorschläge des Kindes reagieren und mit ihm in einen Dialog treten (vgl. SCHÖLER 1994, S. 53).

Nur durch ein derartiges Begutachtungsverfahren können Informationen gewonnen werden, die für den weiteren pädagogischen Prozeß nützlich sind.

Unabhängig davon, ob Annemarie an einer Förderschule für Geistigbehinderte oder in einer Integrationsklasse unterrichtet wird: Mit Sicherheit ist nach dem Lesen der beiden oben vergleichsweise dargestellten Gutachten deutlich geworden: Mit dem "Aussonderungsblick" können keine Informationen für eine pädagogische Planung gewonnen werden. Mit dem "Integrationsblick" kann die Kreativität und die schöpferische Phantasie von Pädagoginnen und Pädagogen angeregt werden, um auf der Basis des Rahmenplanes und des Lernens aller Kinder die besonderen Lernangebote zu planen, die ein Kind wie Annemarie benötigt.



[26] Das Erstgutachten umfaßt insgesamt neun Seiten; die verwendeten Fachbegriffe und Abkürzungen sind dort nicht erklärt und werden hier im Text übernommen. Das Gegengutachten umfaßt elf Seiten.

Fazit:

Mit meinem Beitrag wollte ich deutlich machen, daß das Land Brandenburg eine gute gesetzliche Grundlage und eine Fülle von integrationsfreundlichen Verwaltungsvorschriften und Fortbildungsmaßnahmen geschaffen hat. Die rechtliche Sicherheit und die Unterstützung durch das Bildungsministerium ist für die Eltern gesichert, welche eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern wünschen. Gleichzeitig gibt es noch viele praktische Umsetzungsschwierigkeiten, vor allem bei der Weiterführung in der Sekundarstufe und bei der Finanzierung. Die bisherigen positiven Ergebnisse für die an Integrationsmaßnahmen beteiligten Kinder und deren Eltern sind offensichtlich. Ich vertraue darauf, daß in der Zukunft immer mehr Mütter und Väter von behinderten und von nichtbehinderten Kindern die Einschulung in eine Integrationsklasse fordern und, daß Lehrerinnen und Lehrer diese Aufgabe für sich als eine Bereicherung ihrer Arbeit begreifen. Ich hoffe, daß sie dabei von Schulrätinnen und Schulärzten, von Schulpsychologinnen und Mitarbeitern der Schulträger unterstützt werden.

Der Kampf um die Sicherung und Verteidigung der Rahmenbedingungen ist derzeit noch erheblich anstrengender als die Arbeit mit den Kindern. "Schwere Behinderungen in der Schule"[27] sind nicht das Problem der Kinder sondern das Problem des Schulsystems.



[27] vgl. Cuomo 1989

Literatur

Cuomo, Nicola: >Schwere Behinderungen< in der Schule. Unsere Fragen an die Erfahrung. Aus dem Italienischen übertragen und bearbeitet von Jutta SCHÖLER. Bad Heilbrunn 1989

BOENISCH, Jens und Kerstin MERZ-ATALIK: Zum Entwicklungsstand der schulischen Integration in den neuen Bundesländern. In: Pädagogik und Schulalltag 52 ( 1997) Heft 3, S. 384 - 403

BOENISCH, Jens und Kathrin TRAPPSCHUH: Besonderheiten schulischer Integrationsprozesse im Land Brandenburg. In: Die neue Sonderschule 42 (1997) Heft 4, S. 297 - 307

EBERWEIN, Hans: Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderungen lernen gemeinsam. Weinheim 19974

FREY, Michael/HAFFNER, Ariane/RUDNICK, Martin: Die Arbeit der Förderausschüsse und der Sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen. In: HEYER, Peter / PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER, Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997. S. 325 - 348

HAFFNER, Ariane: Der Sprung ins kalte Wasser oder der Mut zur Veränderung. Erste Erfahrungen mit den Förderausschüssen im Land Brandenburg. In: Die Sonderschule, 40/1995/Heft 5, S. 372 - 378

HEYER, Peter / PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER, Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997

HEYER, Peter u. a. : Integrationspädagogische Fortbildung - Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. In: HEYER, Peter / PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER, Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997, S. 99 - 122

LIEBERS, Katrin: Sonderpädagogik und Sonderschulwesen der DDR als Ausgangspunkt für gemeinsame Erziehung nach der Wende in Brandenburg. In: HEYER, Peter / PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER, Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997, S. 53 - 78

MAHNKE, Ursula: Praxishilfen zum integrativen Untericht. Fachserie Lernort Schule, Heft 5 (Hrsg. vom Pädagogischen Landesinstitut Ludwigsfelde) Berlin 1995

Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg: Verwaltungsvorschriften über die Tätigkeit der Förderausschüsse und das Feststellungsverfahren für den sonderpädagogischen Förderbedarf im Land Brandenburg. (VV-Förderausschuß - VV-FöAVf) vom 24. 08. 1995

Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg: Gesetz über die Schulen des Landes Brandenburg vom 12. August 1996

Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg: Verordnung über Unterricht und Erziehung für junge Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vom 24. Juni 1997, veröffentlicht im Amtsblatt Nr. 11 vom 11. August 1997

OBENAUS, Harald: Realisierung: 1991 bis 1996 - Die Verzahnung der äußeren und inneren Schulreform. Die quantitative Entwicklung und die Finanzierung der Integration. In: HEYER, Peter / PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER, Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997, S. 33 - 52

PLUHAR, Christine: Auf dem Weg zu verbesserter Kooperation zwischen Schule und Kostenträgern bei der Integration behinderter Schülerinnen und Schüler. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens, Heft 2, 1996, S. 216 - 222

PREUSS-LAUSITZ, Ulf/ZöLLNER, Hermann: Integration in der Sekundarstufe - Das brandenburgische Konzept und Wege zur Verwirklichung. In: HEYER, Peter / PREUSS-LAUSITZ, Ulf/SCHÖLER, Jutta: "Behinderte sind doch Kinder wie wir" - Gemeinsame Erziehung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997. S. 349 - 373

ROSENBERGER, Manfred: Ratgeber gegen Aussonderung. Heidelberg 1998/2

SANDER, Alfred: Behinderungsbegriffe und ihre Konsequenzen für die Integration. In: EBERWEIN,Hans: Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderungen lernen gemeinsam. Weinheim 1997/4. S. 99 - 107

SCHÖLER Jutta: Integrative Schule - Integrativer Unterricht. Ratgeber für Eltern und Lehrer. Reinbek 1993

SCHÖLER. Jutta: Sono bambini - Es sind Kinder. Die Aufgabe einer gemeinsamen Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Italien und der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1994

SCHÖLER Jutta: Leitfaden zur Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern - nicht nur in Integrationsklassen. Heinsberg 1997a

SCHÖLER Jutta: Die unterschiedliche Entwicklung einzelner Landkreise und kreisfreier Städte. In: HEYER u. a. (s. o. ) Berlin 1997b, S. 205 - 230

SCHÖLER Jutta: Die unterschiedliche Entwicklung einzelner Schulen. In: HEYER u. a. (s. o.) Berlin 1997c, S. 231 - 270

SCHÖLER Jutta: Kinder mit Behinderungen in integrativen Klassen. Fallbeispiele. In: HEYER u. a. (s. o. ) Berlin 1997d, S. 271 - 323

SCHÖLER Jutta: Nichtaussonderung von "Kindern und Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen". Auf der Suche nach neuen Begriffen. In: EBERWEIN, Hans: Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderungen lernen gemeinsam. Weinheim 1997/4 S. 108 - 115

Abschrift des Gutachtens über die Schülerin A, welches von der Sonderpädagogin im Frühjahr 1996 erstellt wurde

Betr.: A

0. Vorstellungsgrund

A wurde bisher zweimal von der Einschulung zurückgestellt. Nach Ablauf der sonderpädagogischen Überprüfung soll entschieden werden, ob dem Wunsch der Eltern, A in einer Grundschule integrativ zu beschulen, entsprochen werden kann, oder ob sie geistigbehindert im Sinne der Schule für Geistigbehinderte ist und dieser Schule zugewiesen werden soll.

1. Vorgeschichte

1.1. Familiensituation

A wurde als zweites Kind nach einer komplikationslosen Schwangerschaft 14 Tage nach dem errechneten Zeitpunkt geboren. Die Geburt verlief schnell und das Kind wies Normalgewicht und Normalgröße auf. Zuhause wurden dann Arm- und Beinzuckungen festgestellt. Nach einem Impfschaden mit 4 Monaten traten Krampfanfälle auf, die eine dauernde Störung der Motorik zur Folge hatten. Ebenso eine Störung des ZNS, welche Augenzucken und eine Sehschwäche zur Folgen haben.

A verbrachte ihr erstes Lebensjahr überwiegend im Krankenhaus. Sie konnte erst im 2. Lebensjahr sitzen, mit 3 Jahren laufen - gekrochen ist sie kaum.

A sprach mit 5 Jahren ihr erstes Wort. Seit Januar 1996 ist A sauber. Zu ihrem Bruder hat A ein normales Verhältnis. Die Mutter ist für sie die Bezugsperson.

1.2. gegenwärtige Lernsituation

A ist ein Hauskind. Sie besucht seit 3 Jahren keine Kita mehr. Vorher war sie in einer Sondergruppe der Integrationskita untergebracht. Da die Mutter keinen Lernzuwachs bei A beobachtete, betreut sie seither A zu Hause. 1 x wöchentlich für eine Stunde geht A mit ihrer Mutter zur Frühförderung in die Integrationskita, wo die Feinmotorik geschult werden soll. Zuhause spielt sie mit der Mutter am Computer (BLOB) und sieht sich Bücher an. Mit anderen Kindern spielt sie kaum. Nach zweimaliger Zurückstellung soll A nun integrativ an der Grundschule beschult werden.

2. Sonderpädagogische Überprüfung

2.1. Verlauf der Untersuchung

1. Sitzung: VSMS, Mann-Zeichen-Test, VB

2. Sitzung: TBGB, LOS KF 18, PAC-1, Elternbefragung

2.2 Arbeitsverhalten und Motivation in der Testsituation

A zeigte sich zu Beginn der 1. Sitzung aufgeschlossen und aufmerksam sowie motiviert, was jedoch nur sehr kurz andauerte.

Den Anforderungen der TBGB sowie des LOS KF 18 konnte A nicht gerecht werden, da es ihr enorm große Schwierigkeiten bereite, sich überhaupt zu konzentrieren. Nach kurzer Zeit war A überhaupt nicht mehr zu fixieren.

2.3 Sozialbereich (PAC-1, VB)

A ist ein unruhiges Kind. Sie ist enorm schwer bzw. gar nicht zu fixieren. Aufmerksamkeit widmet A nur dem, was ihr Interesse weckt.

Das Sozialverhalten liegt in zwei Bereichen im Durchschnitt, in zwei Bereichen unter dem Durchschnitt der Norm in Vergleich zu ihrer Altersgruppe geistigbehinderter Schüler. Erfaßt werden die Bereiche Selbsthilfe, Verständigungsvermögen, Sozialanpassung und Beschäftigung.

As Entwicklungsstand wurde durch Befragung der Mutter bzw. Beobachtung der Gutachterin festgestellt. Ihr Entwicklungsstand erwies sich in zwei Bereichen als durchschnittlich, in zwei Bereichen als unterdurchschnittlich.

Im Bereich Beschäftigung liegt sie mit 100 % im Durchschnitt ihrer Altersgruppe, ebenso im Bereich Selbsthilfe mit 88,20 %.

Im Bereich Verständigungsvermögen erreicht sie mit 60 % unterdurchschnittliche Werte in ihrer Altersgruppe geistigbehinderter Kinder, ebenso in der Sozialanpassung (71,45 %).

2.3.1. Persönlichkeitsbild

Das Persönlichkeitsbild des PAC-1 wird als eine Ergänzung verstanden, mit dem weitere Charakteristiken des zu untersuchenden Kindes festgehalten werden können. Die 13 Einschätzungsskalen umfassen jeweils 5 Wertpunkte. Dabei wird die beste Wertung mit "5" und die schlechteste mit "1" angezeigt. Als der von der Gesellschaft akzeptierte Toleranzwert fungiert dementsprechend Wertpunkt "3".

Bezogen auf A konnte mit Hilfe des Tests ermittelt werden, daß sie bei 7 Items (I-IV, VII, XII und XIII) die Toleranzschwelle erreicht und bei 6 Items (W, VII-XI) die Toleranzschwelle noch nicht erreicht.

2.4 Überprüfung der Sprache

2.4.1. Sprachverständnis (PPVT)

A befolgt einfachste sprachliche Anweisungen und kann Einfachaufträge ausführen, wenn sie ihr Interesse wecken. Einfachste Fragen versteht sie. Aufforderung, die "auf, in unter etc." enthalten, werden von A nicht verstanden (PAC-1, BA), ebenso Richtungsanweisungen (oben, links, etc. )

Beim PPVT erkannte man, daß A einen sehr geringen passiven Wortschatz hat, ihr Sprachverständnis kaum ausgebildet ist (entspricht auch den Aussagen der Mutter). A erreicht einen Rohwert von 3, somit einen T-Wert von 23, welcher einem Prozentrang von 0 entspricht. Dies besagt, daß 100 % der Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder bessere Leistungen bzgl. des passiven Wortschatzes erbringen als A. Damit liegt sie weiter unter dem Durchschnitt.

2.4.2. Sprachvermögen (PAC-1)

A spricht in Zweiwortsätzen, meist jedoch sporadisch. Ihr Sprechen erscheint phrasenhaft. Sie kann keine Begriffe definieren und ist nicht in der Lage, zusammenhängend über Erlebnisse zu berichten.

As Sprache wird nur dann aktiviert, wenn ihre Interessen im Vordergrund stehen (trinken, Tuch haben, müde).

2.5 Selbständigkeit im lebenspraktischen Bereich (PAC-1 und VSMS)

A ist in allen Bereichen der Selbständigkeit auf Hilfe angewiesen. Sie ißt mit dem Löffel, der ihr meist noch gefüllt werden muß. Aus einem Glas kann sie trinken, jedoch muß ihr eingeschenkt werden. Schneiden und Schälen mit dem Messer gelingen noch nicht.

Zur Toilette geht A allein, muß jedoch kontrolliert werden. Beim Waschen und Anziehen benötigt A große Hilfe. Das An- und Ausziehen (mit Zuknöpfen, Schleifebinden usw.) gelingt A noch gar nicht. Ihre Selbständigkeit im lebenspraktischen Bereich liegt somit gerade im Durchschnitt vergleichbarer geistigbehinderter Kinder.

2.6 Überprüfung der Kognition

2.6.1. Allgemeine Intelligenz (CMM und BM+CM) Testergebnisse der CMM

A hatte große Schwierigkeiten, die Aufgabenstellung zu verstehen und ihr gemäß zu antworten.

Die Beispiele löste sie spontan und zufällig richtig. Eine Auswahl der Logik nach erfolgt nicht. A war nur kurz aufmerksam, danach war sie nur noch am Testmaterial (zum Spielen) interessiert, als an der Aufgabe selbst. Lt. Testanweisung wurde bei Item 22 abgebrochen. A erreichte einen T-Wert von 32, welcher einem Prozentrang von 3 entspricht, d. h. 3 % ihrer Vergleichsgruppe zeigen schlechtere Leistungen bzw. 97 % gleiche bzw. bessere Leistungen als A. Ihre Denkfähigkeit, ihr Abstraktionsvermögen und logisches Schlußfolgern liegen weit unter dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder.

Testergebnisse des BM und CM

Auch hier war es äußerst schwer, den Test durchzuführen, da A nicht zu fixieren war. Sie war völlig unkonzentriert und erfaßte die Aufgabenstellung nicht. Ein Abbruch machte sich nach 8 falsch gelösten Items laut Testanweisung erforderlich.

A erzielte einen T-Wert von 30, welcher einem Prozentrang von 2 entspricht. Der besagt, daß 2 % ihrer Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder schlechtere bzw. 98 % bessere Leistungen als A erbringen. Die Testergebnisse spiegeln wieder, daß A über stark herabgesetzte Denkfähigkeiten (Abstraktions- sowie Analyse-Synthese-Fähigkeiten) verfügt und weit unter dem Durchschnitt liegt.

2.6.2 Merkfähigkeit (BA)

A war sehr am Testmaterial interessiert, besondere Aufinerksamkeit schenkte sie der Puppe. Mit dieser wollte sie laufend spielen, so daß einfache Anweisungen mit ihr auch meistens richtig erfüllt wurden. Jedoch mußten räumliche Anweisungen verbal wiederholt werden.

A erreichte einen Rohwert von 5, welcher einem T-Wert von 42 und einem Prozentrang von 21 entspricht. Dieses Ergebnis besagt, daß 21 % der Vergleichsgruppe schlechtere und 79 ihrer Population bessere Leistungen aufweisen. As Merkfähigkeit (Einfachanweisungen konnten selten, Zwei- und Dreifachaufträge nicht ausgeführt werden) als auch Motivation und Mitarbeitsbereitschaft liegen unter dem Durchschnitt geistigbehinderter Kinder ihres Alters.

2.7. Überprüfung der Wahrnehmung

2.7.1. Ergebnisse des Mann-Zeichen-Test

A erhielt die Aufgabe, ihren Papa zu zeichnen, wie sie den Begriff "Mann" noch nicht kennt. Das Ergebnis war Gekritzel, keinerlei Andeutungen eines Menschen. Sie erreichte O Punkte und somit ein MZA von 3 Jahren.

2.8 Überprüfung der Motorik

2.8.1 Überprüfung der Grob- und Feinmotorik - Testergebnisse des LOS KF 18

A war motorisch sehr unruhig. Die Aufgabenstellungen wurden, trotz Demonstration durch den Testleiter, nicht verstanden. Sie war nicht zu fixieren. Der Test wurde abgebrochen, da A müde war, sich sperrte und anderen Dingen zuwandte. Mit einem Rohwert von 0 erzielte sie einen T-Wert von 31 und somit einen Prozentrang 3, d. h. 3 % der Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder erreichen schlechtere und 97 % bessere Leistungen als A, sie liegt somit weit unter dem Durchschnitt.

2.8.2. Überprüfung der Feinmotorik - Testergebnisse KP

Dieser Test gibt in erster Linie Aufschluß über die feinmotorische Koordination. A machte einen motorisch auffälligen Eindruck. Die Stifthaltung war zwar normal, die Bewegungen verliefen disharmonisch und unkontrolliert. Sie erreichte einen Rohwert von 7, der einem T-Wert von 34 und einem Prozentrang von 5 entspricht, d. h. 5 % vergleichsweiser geistigbehinderter Kinder erreichen schlechtere und 95 % bessere Leistungen als A und sie liegt somit weit unter dem Durchschnitt ihrer Vergleichsgruppe.

3. Zusammenfassung und Interpretation

A ist ein unruhiges Kind. Sie ist enorm schwer bzw. gar nicht zu fixieren. Aufmerksamkeit widmet A nur dem, was ihr Interesse weckt, dies erfolgt dann spontan und ohne Eigensteuerung.

A hat noch nicht den altersentsprechenden Grad an Selbständigkeit erreicht, der für eine Integration nötig wäre.

Bei der Auswertung der TBGB zeigt sich ein unausgeglichenes Leistungsprofil. Auffällig ist das Leistungstief bei PPVT. Ihr passiver Wortschatz ist unterdurchschnittlich entwickelt (T-Wert = 23). Die besten. Leistungen erreichte A bei der Merkfähigkeit (T-Wert = 42), womit sie im Durchschnittsbereich geistigbehinderter Kinder liegt. Das Ergebnis basiert eindeutig nur auf dem Interesse am Testmaterial und der Wiederholung der Anweisungen. Ansonsten liegen As intellektuelle Leistungen, Sprache und Motorik weiter unter dem Durchschnitt geistigbehinderter Kinder.

A zeigte eine deutliche Entwicklungsverzögerung. Große Schwierigkeiten hat sie in der Fein- und Grobmotorik. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist im hohe Maße eingeschränkt. Da sie sich leicht ablenken läßt bzw. erst gar nicht zu fixieren ist, wäre eine Umgebung, wie eine Klasse in einer Grundschule bzw. ein streng organisierter Grundschulrhythmus für ihre Entwicklung ungünstig. Nur eine intensive Einzelbetreuung in einer ruhigen Schulumgebung bei geringer Schülerzahl kann As Konzentrations- und Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen.

As Umweltkenntnisse sind gering, ihre Denkleistungen bewegen sich an der untersten Grenze der geistigen Behinderung. Analyse-Synthese-Fähigkeiten sind nicht bzw. kaum vorhanden. Selbst bei einfachen geistigen Operationen (Differenzieren, Vergleichen) hat A erhebliche Defizite. Für die Ausführung höherer geistiger Operationen ist sie vermutlich nicht fähig.

Das PAC-1 verdeutlicht, daß A in allen Bereichen des Sozialverhaltens unter der Norm bzw. gerade im Durchschnitt zur Vergleichsgruppe geistigbehinderter Kinder liegt.

Sämtliche Testergebnisse lassen darauf schließen, daß A ein schwer geistigbehindertes Kind ist, welches besondere Förderung in einer ruhigen Schulumgebung bei kleiner Schülerzahl benötigt.

4. Empfehlung

A ist mit einer Integration in einer Grundschulklasse total überfordert. Auch eine Einzelbetreuung durch einen Stützlehrer würde die totale Überforderung nicht abwenden können. A muß erst einmal gruppenfähig gemacht werden. Dies kann nicht bei ca. 18 Kinder in einer großen Schule erfolgen.

Um A die volle Entfaltung ihres Fähigkeitspotentials zu ermöglichen und Lern- und Entwicklungserfolge zu erzielen, bedarf sie einer Lernumgebung, die sie mit den entsprechenden, ihr angemessenen Lerninhalte konfrontiert und fordert.

Darum wird eine Beschulung in der Eingangsstufe an der Förderschule für Geistigbehinderte empfohlen.

5. Empfehlung für sonderpädagogische Fördermaßnahmen

1. Maßnahme im Bereich der Konzentration und Aufmerksamkeit

- Verwenden von anschaulichem Arbeitsmaterial

- Konzentrationsspiele - Gruppenfähigkeit

- während der Beschäftigung Auflockerungsphasen einbauen

- Aufgabenstellungen verständlich formulieren und öfter wiederholen

- Durchführungsdauer allmählich steigern

2. Maßnahmen im Bereich der Fein- und Grobmotorik

- anhand unterschiedlicher Materialien Formen nachspielen

- didaktische Spiele einsetzen (Domino, Steckspiele etc.)

- grobmotorische Übungen (Treppensteigen, Balancierübungen etc.)

3. Maßnahmen im Bereich der Sprache

- Wortschatzerweiterung (passiv/aktiv) durch bewußte Begriffsbildung (Mini-Lük) im Umgang mit Personen, Tieren und Gegenständen

- trainieren der sprachlichen Äußerung von Wünschen und Bedürfnissen

4. Maßnahmen im Bereich der Muttersprache

- Bilderlesen (Bussi-Bär-Bücher)

- Buchstabenlotto

- Buchstabenmemory (Buchstabe - Begriff)

5. Maßnahmen im mathematischen Bereich

- Mengenerfassung (eins, viele etc.)

- Vergleich von Mengen auf gegenständlicher-anschaulicher Grundlage (Zählstäbchen, Muggelsteine)

- Tagesablauf trainieren

- Computereinsatz - BLOB 1-3

Quelle:

Jutta Schöler: 3.3 Brandenburg (gekürzte Fassung)

Erschienen in: Manfred Rosenberger (Hrsg.): Schule ohne Aussonderung - Idee, Konzepte, Zukunftschancen. Pädagogische Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Neuwied, Berlin (Luchterhand) 1998, S. 177 - 200

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.11.2005

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