Neun Jahre integrativer Schulversuch

Autor:in - Christine Schnaiter
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift: integration, Sondernr. 3a 1998, S. 30-31. Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998
Copyright: © Christine Schnaiter 1998

Neun Jahre integrativer Schulversuch

Wenn ich an die Anfänge vor neun Jahren zurückdenke, erstaunt es mich, was inzwischen alles möglich geworden ist, aber auch, welche Ängste und Schwierigkeiten immer noch mit diesem integrativen Weg verbunden sind. Trotz der gesetzlichen Regelung ist immer noch der Einsatz von Eltern und einzelnen LehrerInnen für eine Integration in den Volks- und Hauptschulen, ganz zu schweigen von den Höheren Schulen, ausschlaggebend.

Ich staune auch immer noch, daß es trotz aller Widerstände möglich war, Jakob in der Volksschule Kolsass zu integrieren. Ich will nicht mehr alle Einzelheiten dieses Kampfes aufzählen; erwähnt sei nur der Sonderschullehrer, der ein Gutachten für den sonderpädagogischen Förderbedarf erstellen sollte und sich berufen gefühlt hat, die Prognose abzugeben, daß Jakob in spätestens drei Monaten in der Sonderschule "landen" würde, weil er inmitten der "gesunden" Kinder unweigerlich aggressiv werden würde. Er ist es bis heute nicht.

Meine große Bewunderung gehört der jungen Lehrerin, die - auf sich allein gestellt - die Entscheidung, Jakob in ihre Volksschulklasse zu integrieren, wagte, und das gegen den Willen des Bezirksschulinspektors. Die größte Schwierigkeit in der Volksschule war die Anzahl der Stützlehrerstunden. Für Einzelintegration gab es nur sechs Stunden, die dann doch auf acht Stunden aufgestockt wurden. Jakob ist mehrfach behindert und schulisch als schwerstbehindert eingestuft.

Der Übergang in die Hauptschule ging reibungslos, einerseits weil bereits ein Kind integriert worden war, andererseits weil zwei weitere Kinder mit Lernbehinderung aus der Sonderschule in Jakobs Klasse kamen und somit eine volle Integration zustande kam.

Ich möchte hier nicht näher auf die Methoden der Integration (Leistungsgruppen, Einzelunterricht, Rahmenbedingungen) eingehen. Fest steht, daß sich Jakob sehr wohl fühlte und es für uns eine sehr gute Zeit war. Das Engagement der Stützlehrerlnnen an beiden Schulen und in weiterer Folge aller LehrerInnen war berührend. Jakob hat sehr viel gelernt und ist von den Kindern ganz selbstverständlich aufgenommen worden. Auch mit den anderen Eltern gab es nie Probleme.

Wir stehen jetzt mit Bangigkeit vor der Frage, wie es weitergehen kann. Für Jakob wäre es wichtig, noch einige Jahre zur Schule zu gehen, um den Lernprozeß nicht zu unterbrechen. Gesetzlich ist eine weitere Integration in einer Normalschule nicht möglich. Ich habe mich trotzdem an drei umliegende Höhere Schulen gewandt und finde die Reaktionen so interessant, daß ich sie kurz wiedergeben möchte: Eine Schule (katholisches Oberstufengymnasium) hat nicht geantwortet. Ein Direktor (Bundesgymnasium) hat kurz erwidert, daß es für ihn weder eine rechtliche noch eine emotionale (?) Grundlage gäbe, die Sache in seinem Lehrkörper zu diskutieren. Der Direktor eines anderen katholischen Privatgymnasiums hat ein langes Telefongespräch mit mir geführt, daß die Angelegenheit eingehend besprochen wurde und Erkundigungen eingeholt wurden, es aber derzeit keine Möglichkeit für eine Integration mangels Unterstützung gäbe. Man wolle aber Jakob im Zuge eines Sozialprojektes an manchen Nachmittagen betreuen. Für mich war es sehr wichtig, daß man in einen Dialog eingetreten ist, und die Angelegenheit als alle betreffend angeschaut hat.

Und so ist zur Zeit die Sonderschule für Jakob die einzige Möglichkeit, weiter die Schule zu besuchen. In zwei/drei Jahren hoffen wir, daß er an einem integrativen Projekt "Berufsorientierung und Arbeitsassistenz" teilnehmen und vielleicht zu einer ihm angemessenen Arbeit kommen kann.

Mit Jakob in einer Klasse

Alexandra (14) und Sandra (14)

"Dieses Schuljahr wird Jakob mit uns die vierte Klasse besuchen," teilte uns unser Klassenvorstand am Schulanfang 1997 mit.

Jakob ist ein 15 jähriger, körperlich und geistig behinderter Junge, der seit 1993 die Hauptschule in Weer absolviert. In den meisten Unterrichtsstunden wurde Jakob von einer Stützlehrerin betreut. Anfangs hatten manche Klassenkameraden Schwierigkeiten damit, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollten. Konnten sie mit ihm gleich umgehen wie mit einem "normalen" Mitschüler? Mussten sie auf irgend etwas besonders Rücksicht nehmen? Wollte er überhaupt Kontakt mit einem von uns haben?

Doch all unsere Ungewissheiten wurden schon nach geringer Zeit geklärt. Jakob wurde freundlich in unsere Klasse aufgenommen und wirkte fast immer lebendig mit. Egal, ob es ein zweitägiger Wanderausflug, die Wienfahrt oder auch nur ein Scherz im Unterricht war. Wir mussten oft über seine Sprüche und Aussagen lachen.

Es wunderte uns auch, dass er oft unabhängig sein wollte, und fremde Hilfe gar nicht beanspruchte. Sogar in Werken bastelte er fleißig mit, und zeigte dadurch seine kreative Seite. Auch in Leibesübungen turnte er, für seine Verhältnisse, mit viel Geschick mit.

Im Großen und Ganzen war es ein tolles und lehrreiches Schuljahr das wir mit Jakob verbracht haben, und wir wünschen ihm weiterhin viel Glück für die Zukunft.

Integration an unserer Schule

Ossi Arnold, Direktor der Hauptschule Weer

Schulische Integration wird nicht durch räumliche Maßnahmen oder einen rationalen Entschluss erreicht! Sie ist ein andauernder Prozess, der "im Kopf begonnen" werden muss.

Integration führt zur Bildung aller Persönlichkeitsdimensionen. Nicht nur Wissen und Kenntnisse, sondern auch die Pflege der Gefühle gehört zur sozial-integrativen Schule. Eine solche Schule will zur gegenseitigen Hilfe erziehen, das kooperative Verhalten fördern, Einfühlungsvermögen und Sensibilität füreinander entwickeln, solidarisches Verhalten unterstützen und Mitmenschlichkeit einüben.

Wir sind froh, dass wir durch den Impuls von Jakob und allen Kindern, die erhöhten Förderbedarf hatten, die Chance erhalten haben, unsere Schule/unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

Wir haben ungeahnte Wege und Zugänge zu Jakob entdeckt und die Möglichkeit erfahren, etwas Positives bewirken zu können. Wer sich auf die Entdeckung der "Langsamkeit" einlässt, fördert Dinge zutage, die man aus der eigenen Geschwindigkeit/Hektik/Stresssituation heraus kaum wahrzunehmen wusste.

Schule zum Wohlfühlen: Jakob hat viel zur Erreichung dieses Zieles beigetragen.

Quelle:

erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 30-31. Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.05.2008

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation