Im Geist der Beziehung - Integration

Martin Bubers Menschenbild im Umgang mit behinderten Menschen

Autor:in - Christine Schnaiter
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens Universität Innsbruck; eingereicht bei tit. ao. Prof. Dr. Peter Stöger, am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, im März 1999
Copyright: © Christine Schnaiter 1999

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Martin Buber hat sich mir "angetan" - vor langer Zeit - immer wieder - in der Theologie und durch acht Semester Pädagogikstudium. Und jetzt führe ich sozusagen ein Gespräch mit ihm, lasse mich auf ihn ein, finde Bestätigung in seinen Werten, seinen Idealen, seinem Menschsein und versuche, "dem Geist des Zwischen" nachzuspüren.

Meine Verknüpfung Martin Bubers mit dem Leben behinderter Menschen erfolgte aufgrund der Suche nach einer weltanschaulichen Sicht, mit der man Behinderung als gegebenes und gewolltes Sein auf der Welt ansehen kann. Ein Sein, das nicht geändert, abgesondert oder ausgemerzt werden soll, sondern das in seinem Sosein Sinn und Wert darstellt.

Ich war seit der Geburt meines behinderten Sohnes Jakob überzeugt, daß Behindertsein eine Daseinsform ist, die "normal" ist, mit der wir zwar nicht immer gut umgehen können, die aber ihre Daseinsberechtigung hat. In Martin Bubers Menschenbild habe ich diese Begründung (unter anderem) gefunden. Es liegt in der Natur solcher Arbeiten, daß sie bei manchen Lesern offene Türen einrennen und solche, die ich erreichen möchte, davon keine Kenntnis erlangen werden. Trotzdem ist es mein Ziel, mit dieser Arbeit für die Integration Behinderter in allen Lebensbereichen einzutreten.

Buber selbst hat sich zum Thema "Behinderung", "behinderte Menschen" nicht direkt geäußert. Sein Denken über das Wesen des Menschen und das Zwischenmenschliche aber läßt mich die Verknüpfungen, die ich herstelle, trotzdem als gerechtfertigt erscheinen. Seine Einstellung der völligen Akzeptanz des "Anderen" kommt am besten in seinem Eintreten als zionistischer Jude für das arabische Volk zur direkten Anwendung.

Wie aus der Problemgeschichte, Teil I ersichtlich ist, war gerade in Bubers Zeit (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) das Gedankengut von "unwertem Leben", vom "Minderwertigen", von "schlechten Rassenelementen" usw. im Zunehmen begriffen. Die Geisteshaltung Bubers hat sich also im Menschenbild der damaligen Zeit nicht niederschlagen können. Kann sie es heute?

Die Gesellschaft hat verschiedene Gründe (Verpflichtung, Vorsorge, Altruismus usw.), für ihre Behinderten und andere Minderheiten zu sorgen. Es liegt im gesellschaftlichen Interesse, herauszufinden, wie wir am besten miteinander umgehen. Die Antwort ist - Buber folgend - Beziehung. Wir sind abhängig von den Beziehungen, in denen wir leben - von der Geburt bis zum Tod und nur in den Beziehungen finden wir unsere Entwicklungsmöglichkeiten und unsere Erfüllung.

Begriffserklärungen

Behinderung: Für den Begriff Behinderung gibt es verschiedene Definitionen. Im internationalen Verständnis nach einer Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird unterschieden:

Impairment (Schädigung): Störung auf der organischen Ebene (menschlicher Organismus allgemein).

Disability (Behinderung): Störung auf der personalen Ebene (Bedeutung für einen konkreten Menschen).

Handicap (Benachteiligung): Mögliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene (Nachteile, durch die die Übernahme von solchen Rollen eingeschränkt oder verhindert wird, die für die betreffende Person in bezug auf Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Aktivitäten als angemessen gelten) (WHO, 1980, S. 27ff).

Den Begriff der Behinderung kann man verschiedenen Paradigmen zuordnen:

als medizinisch faßbarer Sachverhalt - das individualtheoretische Paradigma

als Zuschreibung von sozialen Erwartungshaltungen - das interaktionstheoretische Paradigma

als Systemerzeugnis schulischer Leistungsdifferenzierung - das systemtheoretische Paradigma

als Gesellschaftsprodukt - das gesellschaftstheoretische Paradigma (s. Schuchardt, 1996, S. 17).

"Demzufolge ist Behinderung nichts Absolutes und exakt Definierbares, sondern etwas, das konventionellen Beurteilungen unterliegt und - wie wir heute wissen - aus den verschiedenen Deutungsmustern wechselnder historischer und gesellschaftlicher Wirklichkeiten lebenslang neu geboren wird, also etwas Relatives" (ebd., 1996, S. 18).

Eugenik: "Erbgesundheitsforschung u. -lehre, mit dem Ziel, erbschädigende Einflüsse u. die Verbreitung von Erbkrankheiten zu verhüten" (Duden, 1997, S. 239).

Euthanasie: "(gr.: leichter Tod) die; -: 1. Erleichterung des Sterbens, besonders durch Schmerzlinderung mit Narkotika (Med.); beabsichtigte Herbeiführung des Todes bei unheilbar Kranken durch Anwendung von Medikamenten (Med.); 2. (nationalsozialistisch verhüllend) Vernichtung von menschlichem Leben, das für lebensunwert erachtet wird" (ebd., S. 241).

Geist: "als Übersetzung der in der antiken Philosophie und in der Bibel vorkommenden Wörter spiritus (lat.) und pneuma (griech.) soviel wie bewegte Luft, Hauch, Atem (als Träger des Lebens); dann Seele als ein Wesen, das den Körper zeitweilig oder für immer verlassen kann; Gespenst; das Leben selbst (Goethe: 'Denn das Leben ist die Liebe, und des Lebens Leben Geist.'); das Wesen Gottes: 'Gott ist Geist'; das innerste Wesen der Erde oder der Welt: Erdgeist, Weltgeist; der gedankliche Gehalt eines Kunstwerkes; der allg. Charakter einer Sache, z.B. Geist der Goethezeit, Volksgeist, Korpsgeist; auch Esprit" (Schischkoff, 1991, S. 235).

Gott (lat. deus, griech. theos): "der oberste, in der Mythologie und den Religionen meist als Person gefaßte Gegenstand des Glaubens, geglaubt als ein Wesen mit 'übernatürlichen' d. h. außergewöhnlichen Eigenschaften und Kräften; im höchsten Sinne ein Wesen mit allen Eigenschaften der Vollkommenheit, der Inbegriff der Vollkommenheit als seiend geglaubt und verehrt" (ebd., S. 259).

Das Göttliche: "das Urgegebene des menschl. Bewußtseins; das Göttliche ist heilig und absolut seiend, während der Mensch dem Bereiche des relativ und zufällig Seienden angehört. ... Das Göttliche ist gleichbedeutend mit dem Reich der Werte, insbes. der ethischen Werte. Durch die fortschreitende Verwirklichung der Werte seitens des Menschen geschieht das Werden des Göttlichen, der Gottheit" (ebd., S. 260).

Gott, das Göttliche, Geist, das Geistige, das Absolute im Buber'schen Sinn: das, was über den Menschen hinausgeht, was nicht erfaßbar und erklärbar ist; etwas Mythologisches, aber dadurch, daß es sich im Menschen manifestiert, auch wieder nicht.

Der Mensch ist das gegenüberseiende Wesen Gottes, zu dem Gott das ewig währende vollkommene Du spricht.

Der Geist befähigt zum Du-sagen. Er ereignet sich im "Zwischen" und verwirklicht sich im Antwort geben, im Dialogischen.

Integration: "(vom lat. integer, "ganz, vollständig, unverletzt"), ein Vorgang oder eine Handlung, die eine Ganzheit zur Folge hat; Vereinigung, Verbindung, Vereinheitlichung" (Schischkoff, 1991, S. 338). - Etwas Auseinandergerissenes wieder zusammenschließen.

Im speziellen soll hier unter sozialer Integration für Kinder die gemeinsame Schule von behinderten und nicht behinderten Kindern verstanden werden; im Bereich der Erwachsenen, die volle Integration in allen Lebensbereichen wie Wohnen, Arbeit, Freizeit, Bildung usw.

Logos: (griech.), ursprüngl. Wort, Rede, Sprache, dann übertragen Gedanke, Begriff, Vernunft, Sinn, Weltgesetz. Die griechische Idee des Logos wird mit der alttestamentarischen Gottesvorstellung verschmolzen. Der Logos ist die als ewig bei Gott wohnende Vernunftkraft, das Wort und der ewige Gedanke Gottes, der als Logos die Welt geschaffen hat, sie durchdringt und zusammenhält. Dann ist Logos auch der historische Christus, der als Sohn Gottes, als fleischgewordenes Wort Gottes, auf die Erde kam (s. ebd., 1991, S. 440f).

Bei Buber ist der Logos das gesprochene Wort zwischen den Menschen, das ontologisch angelegt ist. Mit Logos ist aber auch der Geist, an dem jeder Mensch Anteil hat, gemeint. Ebenso wird dieser Begriff für das allen Menschen "Gemeinschaftliche" verwendet. Der gemeinschaftliche Logos wirkt und verwirklicht sich zwischen den Menschen und am gemeinsamen Kosmos.

Pränatale Diagnostik: Vorgeburtliche Untersuchung des Fruchtwassers und des Föten

Diagnostik die;-: "Fähigkeit u. Lehre, Krankheiten zu erkennen (Med.; Psychol.)" (Duden, 1997, S. 186).

pränatal "(lat.-nlat.): vor der Geburt, der Geburt vorausgehend (Med.)" (ebd., S. 652).

"Das Ziel pränataler Diagnostik generell ist, schwangeren Frauen mit erhöhten Risiken zu ermöglichen, eine Schwangerschaft sorgenfreier zu erleben und bei pränatal erkannten kindlichen Anomalien in fairer und einfühlsamer Beratung die häufig mit aufwendiger Technologie gewonnen Untersuchungsbefunde zu erklären und Konsequenzen mit den Schwangeren und ihren Partnern zu besprechen" (Neuer-Miebach, 1994, S. 30f).

Subjektivität: "Inbegriff dessen, was zu einem Subjekt gehört (seine psychophysische Gesamtlage) und mehr oder weniger mitbestimmend ist für sein Empfinden, Denken, Urteilen usw." (Schischkoff, 1991, S. 704).

Utilitarismus: "(vom lat. utilis, "nützlich"), Nützlichkeitsstandpunkt, in der Ethik diejenige Richtung, die den Zweck des menschlichen Handelns in dem Nutzen, der Wohlfahrt, sei es des einzelnen, sei es der Gesamtheit, erkennt; auch den Ursprung des Sittlichen erklärt der U. wenigstens teilweise aus Nützlichkeitserwägungen" (ebd., 1991, S. 749).

Im weitesten Sinne läßt sich der Utilitarismus mit Bubers Anthropologie in Einklang bringen: Jeder Mensch - allerdings in seinem Sosein - wirkt am gemeinsamen Kosmos mit. Sogesehen "nützt" jeder Mensch der "Allheit".

Bei Peter Singer ist der Utilitarismus verschärft durch die Ersetzbarkeitsregel (Präferenz-Utilitarismus) welche besagt, "daß bei nicht selbstbewußten Lebewesen, bei Lebewesen also, die eine Präferenz auf ein zukünftiges Leben nicht besitzen können, ein weniger glückliches Lebewesen durch ein glückliches Lebewesen 'ersetzt' werden kann, um so die Gesamtsumme des Glücks im Universum zu erhöhen" (Anstötz, 1990, S. 107f). In diesem Sinne ist es besser, die Schwangerschaft eines geschädigten Föten zu unterbrechen und die Chance auf eine neue Schwangerschaft mit einem gesunden Baby wahrzunehmen.

Teil I Ein langer Weg: Menschwerdung

Einleitung

Im ersten Teil möchte ich der Problemgeschichte des Menschen nach Martin Bubers Buch "Das Problem des Menschen" folgen. Dieser Anthropologie und Geistesgeschichte des Menschen von der Antike bis Buber stelle ich die gesellschaftliche Entwicklung im Umgang mit Behinderten gegenüber. Meine Darstellung geht natürlich über Bubers Lebenszeit hinaus bis ins "Heute".

Es geht nicht um eine vollständige Ausführung oder Erfassung der Geschichte (wie auch?), sondern um das Erkennen von Zusammenhängen zwischen Weltanschauungen, Paradigmenfragen und dem Stellenwert "behinderter Menschen". Gibt es einen Zusammenhang zwischen "Behaustheit" und "Ausgrenzung", zwischen Glauben an Gott und Glauben an den Menschen, zwischen "Geistigkeit" und "Menschlichkeit" usw.? Und welches Menschenbild vertreten wir heute aus postrelativistischer Sicht? Sind wir auf dem Weg der "Vermenschlichung" einen Schritt weitergekommen?

Martin Bubers Menschenbild, das natürlich auch nur ein Denkmodell sein kann, ist im Buch "Das Problem des Menschen" philosophiegeschichtlich eingeordnet. Es wird aufgezeigt, was Buber aufgreift und weiterdenkt, und wogegen er sich abgrenzt. Auch Bubers Menschenbild - wie alle Denkmodelle - kann nichts "Einziges" und "Endgültiges" sein, sondern es wurde auch weitergedacht und weiterentwickelt. Ich glaube, daß der Grundzug des "Dialogischen" ein wesentlicher ist, der in der Behindertenfrage verstärkt Berücksichtigung verdiente.

Mit diesem Menschenbild kann ich jedem Menschen - und sei er noch so ungewöhnlich - gegenübertreten. Das Menschsein erfährt seine Erfüllung im echten Miteinander unterschiedlichster Menschen.

Methodische Anmerkung:

In diesem Teil wird ein fiktives Gespräch zwischen Martin Buber (1878-1965), einem Religionsphilosophen und Soziologen und Christine Schnaiter (*1947), der Autorin vorliegender Arbeit entfaltet. Mit diesem didaktischen Kunstgriff sollen Bezüge und Zusammenhänge hörbar und sichtbar werden.

Ich habe die Form des Dialogs gewählt, um einerseits Martin Buber, den "Philosophen des Dialogs" zu würdigen und andererseits, um den Stoff abwechslungsreicher und interessanter zu gestalten, als es eine Aneinanderreihung vermocht hätte. Ich glaube auch, daß sich das Thema für einen Dialog besonders eignet, weil wir nur über die dialogische Begegnung zu einem Miteinander zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen gelangen können.

Die Texte, die Martin Buber spricht, sind entweder Zitate oder zusammengefaßte Textstellen aus seinen Schriften. Verbindende Sätze, die nicht in Martin Bubers Büchern zu lesen sind, Worte, die ich ihm sozusagen - er verzeihe mir - in den Mund lege, gebe ich kursiv geschrieben wieder.

Fiktives Gespräch zwischen Martin Buber und Christine Schnaiter

Buber: "Es ist die Frage nach dem Prinzip des Menschseins, nach seinem Anfang also, zu stellen. Dieser kann nicht als ein Anfang in der Zeit gemeint sein. Es ist nicht sinngemäß etwa ermitteln zu wollen, wann und wie eine bestimmte Gattung von Lebewesen, statt sich wie die andern mit der Wahrnehmung von Dingen und Zuständen zu begnügen, auch noch das eigne Wahrnehmen wahrzunehmen begann. Es darf nur darum gehen, die Seinskategorie, die mit dem Namen des Menschen bezeichnet wird, in all ihrer Paradoxie und Tatsächlichkeit zu betrachten, um in Erfahrung zu bringen, worin sie ihren Grund und Anfang hat" (Buber, 1960, S. 9).

Ich gehe in meinem Buch "Das Problem des Menschen" von der vierten - der anthropologischen - Frage Kants aus:

4. "Was ist der Mensch?"

Die ersten drei Fragen

1. "Was kann ich wissen (auch nicht wissen)?"

2. "Was soll ich tun?"

3. "Was darf ich hoffen ?"

sind Fragen, die sich mit der Endlichkeit des Menschen beschäftigen und von der Metaphysik, der Moral und der Religion her zu beantworten sind. In der 4. Frage aber geht es um die Endlichkeit im Menschen, um das "Wesen des Daseins" selbst. Der Sinn der vierten Frage kann auf die ersten drei zurückgeführt werden: "Was ist das für ein Wesen, das wissen kann, das tun soll, das hoffen darf?" Die Wesenserkenntnis dieses Wesens wird mir eröffnet. Zugleich mit der Endlichkeit müssen wir die Teilnahme an der Unendlichkeit erkennen. Das Endliche wirkt an ihm, und das Unendliche, nicht als zwei Eigenschaften, sondern als die Doppelheit eines Prozesses (s. Buber, 1954, S. 11-15).

Christine: Das "Wesen des Daseins" - wie der Mensch da ist, auf welche Art und Weise er Mensch ist, wie er teil an der Endlichkeit und teil an der Unendlichkeit hat - das ist mein Thema, das mich brennend interessiert und zwar in Zusammenhang mit behinderten Menschen. Hier spitzt sich die anthropologische Frage auf besondere Weise in der heutigen Zeit zu, wo das Menschsein schwerstbehinderten Menschen in Frage gestellt wird. Kann es einen Sinn haben, als behinderter Mensch geboren zu werden und zu leben bzw. leben zu müssen? Kann es einen Unterschied im Menschsein geben? Sind solche Fragen nur für Menschen, die damit konfrontiert sind, von Bedeutung oder gehen sie letztlich alle an?

Es gehört zum Wesen des Menschen, über sich und seine Mitmenschen zu reflektieren, ein Bild von sich und den anderen zu entwerfen. Oft sind es persönliche Schwierigkeiten, Enttäuschungen, Hoffnungen, Sehnsüchte oder Ängste, die die Frage nach dem Menschenbild aufwerfen. Bei mir war der Auslöser die persönliche Betroffenheit im Umgang und in der Arbeit mit Behinderten. Gilt für sie - vielleicht unbewußt - ein anderes Menschenbild in Bezug auf Würde, Gerechtigkeit und Lebensrecht?

Buber: Ich könnte jetzt sagen "Nein, es kann nur ein Menschenbild für alle geben, weil der Mensch seinem Wesen nach unteilbar - eine Ganzheit ist". Ich hoffe aber, daß Sie nach unserem Gespräch und nach dem Studium meiner diesbezüglichen Bücher zur Anthropologie, zur Dialogphilosophie und den Ausführungen meines Geistbegriffes selber zu diesem Schluß kommen. Dazu wollen wir den Weg des Problems zurückverfolgen, um daraus zu sehen, welche Geschichte der Menschengeist durchgemacht hat.

Der Mensch ist sich selbst der würdigste Gegenstand des Nachdenkens. Trotzdem scheut er sich, diesen Gegenstand als ein Ganzes, seinem Sinn und Sein nach zu behandeln, was auch immer wieder zur Resignation geführt hat. Entweder man kümmert sich um andere philosophische Dinge zwischen Himmel und Erde, oder man teilt den Menschen in Bezirke auf - das ist weniger problematisch und weniger verbindlich (s. Buber, 1954, S. 9f).

Auch Kant hat nicht versucht, seine vierte Frage als ganzes zu klären. Er hat wohl eine Fülle wertvoller Bemerkungen zur Menschenkenntnis geäußert, z.B. über Egoismus, über Aufrichtigkeit und Lüge, über Phantasie, über Wahrsagen, über den Traum, über Geisteskrankheiten, über den Witz usw. Aber er fragt nicht, was der Mensch wirklich ist und nicht nach den Problemen, die in dieser Frage implizit gegeben sind, wie:

die Sonderstellung des Menschen im Kosmos

sein Verhältnis zum Schicksal

seine Beziehung zur Welt der Dinge

sein Verstehen des Mitmenschen

seine Existenz als Wesen, das ums Sterben weiß

seine Haltung in den Begegnungen (s. ebd., S. 12).

Kants Teilgebiete sind natürlich interessant und auch für Ihr Thema wichtig, aber wenn wir nicht die Ganzheit des Menschen reflektieren, können wir nicht zu dem für alle gültigen Menschenbild kommen, das Sie suchen. Wir müssen zur systematischen Erfassung aller Differenzen (Menschengattung, Völker, Typen, Charaktere, Altersstufen usw.), jede Sonderheit in ihrer Dynamik, aus dem stets neuen Erweis des einen im Vielen gelangen (s. ebd., S. 18).

Christine: Ein Menschenbild für alle ist schon lange eine grundrechtliche Voraussetzung in unserer Gesellschaft und aufgrund der Anerkennung der "Allgemeinen Menschenrechte" der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 gegeben[1]. Diese Menschenrechte sind Teil einer allgemeinen menschlichen Moral, die bis zu der christlichen Naturrechtslehre des Thomas von Aquin zurückverfolgbar ist. Dazu kam im Jahre 1975 eine eigene Resolution über die Rechte der geistig Zurückgebliebenen, die jede Art von Diskriminierung verbietet. Aber diese Moralvorstellungen, über die weitgehend Konsens besteht, wurden nur ansatzweise realisiert, was wohl aus den politisch-ökonomischen Verhältnissen, aus der Einstellung der Gesellschaft Minderheiten gegenüber und aus der mangelnden Solidarität des einzelnen resultiert (s. Anstötz, 1990, S. 41-47).

Buber: Es hat viel mit dem mangelnden Erkennen des Menschseins selbst zu tun - mit dem Ich-Du, Ich-Es, wie ich es in meiner Dialogphilosophie darlege. Aber davon später.

Um zu einer Selbstbesinnung zu gelangen, um auf sich selbst als Person zu kommen, um die Ganzheit des Menschen erkennen zu können, muß ich alles, was ich in mir selbst finde, kristallisieren und zwar subjektiv - nicht objektiv als Betrachter. Wenn ich erkennen will, muß ich jede Dimension des Seins als konkreten Lebensakt vollziehen, mich ohne philosophische Sicherung aussetzen, mich, "um die Wellen zu erkennen, in die schäumenden Wogen werfen"; mich verlieren, - sonst erfahre ich vom Menschen nur als von einem Ding unter Dingen. Erst wenn man nur noch ist, ist die Ganzheit da, wird sie erfaßbar (s. Buber, 1954, S. 20f).

Christine: Das passiert ja oft in der Betreuung behinderter Menschen, daß der Mensch nicht mehr als Mensch, sondern als Sache gesehen wird über die man bestimmt. Mir fällt der Film "Einer flog über das Kuckucksnest" mit Jack Nicholson ein, der sich wirklich selbst - zuerst zwar nicht ganz freiwillig, aber letztlich doch - wirklich auf das "Behindertsein" eingelassen hat und eben nicht nur, was ja auch schon positiv wäre, auf die "Behinderten". Er ist eingetaucht in diese Dimension des Menschseins, hat sich damit identifiziert und ist dadurch zu einem völlig neuen Verständnis der Behinderten und in der Folge auch zu einem anderen Umgang mit ihnen gekommen.

Die psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberatung empfiehlt diese Identifikation - dieses Hineingehen in das Kindsein - von Eltern und Erziehern, um damit problematische Situationen von Grund auf zu ändern.

Buber: Diese Beispiele bestätigen meine Theorie, daß der Mensch erst zur Selbstbesinnung neigt, wenn er in Schwierigkeiten ist, wenn er einsam ist, wenn er mit seiner Problematik allein ist. Dann werden die Gedanken fruchtbar, der Mensch begegnet sich selbst. "In der Geschichte des Menschengeistes unterscheide ich Epochen der Behaustheit und Epochen der Hauslosigkeit. In den einen lebt der Mensch in der Welt wie in einem Hause, in den anderen lebt er in der Welt wie auf freiem Feld und hat zuweilen nicht einmal vier Pflöcke, ein Zelt aufzuschlagen. In den ersten gibt es den anthropologischen Gedanken nur als einen Teil des kosmologischen, in den zweiten gewinnt der anthropologische Gedanke seine Tiefe und mit ihr seine Selbständigkeit. Für beides will ich hier ein paar Beispiele geben und damit einen Blick in ein paar Kapitel der Vorgeschichte einer philosophischen Anthropologie werfen" (ebd., S. 22f).

Die Welt des Aristoteles (384-322 v.Chr.), die Welt der Griechen, war eine optische, geprägt vom Gesichtssinn und der Hegemonie, die das Volk befähigt haben, ein bildnerisches Dasein zu führen und eine Kultur auf das Bilden zu gründen - eine Welt von Dingen. Der Mensch ist ein Ding unter festgefügten Dingen, eine objektiv erfaßbare Gattung neben anderen Gattungen; nicht wie der platonische Mensch, der nur ein Gast in der Fremde war. Er hat eine sichere eigene Wohnstätte im Welthaus und deshalb fehlen die Voraussetzungen für die Frage nach dem Wesen des Menschen (s. ebd., S. 23f).

Christine: Ich möchte dieser Problemgeschichte gleich die gesellschaftliche Entwicklung im Umgang mit Behinderten anfügen. Vielleicht werden Zusammenhänge erkennbar.

Das klassische Altertum hatte eine negative Einstellung gegenüber Behinderten - sichtbar mißgestaltete oder kranke Kinder wurden in der Regel umgebracht. Das Kind sollte ja zum kräftigen Soldaten erzogen werden. Spezielle Hilfe gab es nur für Kriegsinvalide, weil sie sich um die Erhaltung des Staates verdient gemacht hatten (s. Haeberlin, 1988, S. 45).

(Überreste gibt es auch noch in unserer Gesellschaft - Kriegsinvalide z. B. sind in manchen Bereichen bessergestellt als Zivilinvalide).

Im Judentum waren die Menschen davon überzeugt, daß alle Krankheiten, Gebrechen und die Besessenheit von bösen Geistern verursacht werden. Die bösen Geister wurden mit der Kraft Gottes konfrontiert (s. ebd., S. 46).

Mit Jesus brach eine neue Zeit an - er war wohl ein "Unbehauster" in der Welt, ein "Einsamer". Für den Geist und den anthropologischen Gedanken eine gute Voraussetzung. Er bemühte sich besonders um die Ausgegrenzten und Benachteiligten und wertete sie auf, indem er sie vom "Vater" als besonders geliebt bezeichnete, was ihrem Dasein Sinn verlieh. Jesus heilte die Kranken durch "Berührung" und plädierte dafür, sie in der Gemeinschaft leben zu lassen. Die Heilung des Besessenen von Geresa (Mk. 5, 2-20) berichtet - neben einer dramatischen Umrahmung - davon, daß Jesus mit ihm sprach, und der "Geheilte" dann "bekleidet und vernünftig" unter den anderen saß (Integration).[2]

Buber: Augustinus (354-430 n.Chr.) war der erste, der nach Aristoteles die anthropologische Frage neu stellte. Die runde einige Welt des Aristoteles war längst zerfallen. Der Dualismus der Gnosis hatte Geist und Materie getrennt. Die Erdkugel war in zwei Teile gespalten - in ein Oben und ein Unten, in ein Reich des Lichtes und in ein Reich der Finsternis, in Himmel und Hölle. Hier kann der Mensch nicht mehr Ding unter Dingen sein, und er kann keinen festen Platz auf der Welt mehr haben. Der aus Seele und Körper bestehende Mensch wurde Kampfschauplatz und Kampfpreis - zwischen beiden Reichen aufgeteilt. Das Haus war zerfallen.

Augustinus war ein Hausloser in der Welt, einsam zwischen oberen und unteren Gewalten. In direkter Anrede fragt er: "Was ist der Mensch, daß Du sein gedenkst?" und zwar den, der Auskunft geben kann - Gott. Das Staunen des Menschen über sich selbst, als Teil einer erstaunlichen Welt ist es, was Augustinus erzittern läßt. Er flüchtet in die christliche Erlösungslehre. Das Christentum wird zum neuen kosmischen Haus - einem in sich geschlossenen.

Thomas von Aquin (1225-1274) findet in dem behausten, wieder zur Ruhe gekommenen, unproblematischen Menschen keine Selbstkonfrontierung und keinen Antrieb, die anthropologische Frage zu stellen (s. Buber, 1954, S. 24-28).

Erst 200 Jahre später gibt es ein neues Ernstnehmen des Menschen als Menschen. Nikolaus Cusanus (1404-1464) schreibt: "Alles Sein zieht seine eigene Seinsart allen anderen Seinsarten vor". Der Mensch wird immer vollkommener in seiner Weise und trägt somit zur Harmonie des Universums bei. Der Mensch hat alle Dinge als Beziehungen und Werte in sich - wie Gott, der sein Urbild ist.

Der Mensch ist autonom und machtbewußt, sodaß er die eigentliche Frage nach seinem Wesen nicht wahrnimmt. Der Mensch kann wissen, aber keine Frage nach dem "was, kann er wissen?" tut sich auf. Der Mensch ist noch nicht einsam (s. ebd., S. 28ff).

Christine: Seit dem Mittelalter gibt es viele Beispiele von christlicher Barmherzigkeit gegenüber Behinderten, aber aus dieser Zeit stammt auch viel Unverstand und verhängnisvoller Aberglaube, mit dem wir teilweise heute noch zu kämpfen haben. Z.B.:

Die Verquickung des Abnormen und Anormalen mit dem Bösen bis hin zur Dämonisierung des gebrechlichen Kindes und entsprechenden Exorzismen (s. Haeberlin, 1988, S. 45f).

"Nach M. Luther (1483-1546) gibt es vom Teufel unterschobene Kinder, die er 'Wechselkinder', 'Wechselbälge' oder 'Kielköpfe' nennt. Solch teuflische Kinder bezeichnet er als 'massa carnis' (ein Stück Fleisch); bei ihnen wollte er durch Ertränken 'das Homicidium (Menschenmord) dran wagen'" (Rotter, 1987, S. 111).

"Die Verquickung der Ursachenfrage mit der Schuldfrage (Rauschkinder).

Die Projektion der Ursache in einen transzendenten Bereich hinein, und zwar in der Weise, daß das gebrechliche Kind als Strafmaßnahme Gottes gegenüber den Eltern oder der Gesellschaft aufgefaßt wird" (Haeberlin, 1988, S. 46).

Diese Gedanken haben ihre Auswirkungen auch heute noch, wie wir auch im Teil II noch sehen werden.

Buber: Es wird Zeit, dem Geist wieder mehr Raum zu geben.

Nikolaus Kopernikus (1473-1543) schlägt das Haus durch die Frage nach der Unbegrenztheit der Welt ein, und somit erhebt sich die Perspektive: "Was ist der Mensch, der der Unendlichkeit ausgesetzt ist?"

Christine: Die Höhere Ordnung wird also in Frage gestellt. Die Reaktion der Gesellschaft, insbesondere der Kirche war dementsprechend. Panische Angst um ihre Welt machte sich breit. Der Mensch, die Erde, ist nicht mehr das vermeintliche gottgewollte Zentrum des Universums. Wissenschaftler wie Giordano Bruno und Galileo Galilei wurden als Ketzer verurteilt, und es dauerte 400 Jahre bis sie rehabilitiert wurden.

Buber: Blaise Pascal`s (1623-1662) Einsamkeit ist noch vollständiger und schwerer zu überwinden als die von Augustinus. Er stellt die anthropologische Frage noch radikaler: "Was ist das unendlich Große, was das unendlich Kleine?" Die Frage nach der Beschränktheit und Unzulänglichkeit des Menschen tut sich auf.

Welche Sonderstellung hat der Mensch, dessen Geist selbst noch im Vergehen erkennen kann - Erkennen des Verhältnisses zwischen Welt und sich selbst. Das führt zu einer neuen Problematik: "Wie steht der Mensch der Welt gegenüber?" (s. Buber, 1954, S. 30ff).

Das war das Ende eines Weltbildes, einer Weltsicherheit, das zu immer neuen Fragen des heimatlosen Menschen führte. Der Weg von einer Krise zur nächsten war zu gehen. Neues, noch nie Dagewesenes konnte wohl ein neues Weltbild ergeben, aber kein neues Welthaus, in dem man sich niederlassen konnte. Aus der Unendlichkeit und der Unbegrenztheit kann keine Wohnung gebaut werden.

Auch viel später, nach Albert Einstein (1879-1955), der den Begriff eines endlichen Weltraums zwar denkbar, aber nicht vorstellbar machte, konnte die Welt nicht mehr in ein Haus umgebaut werden. Der Mensch, der die Welt denkt, lebt nicht mehr wirklich in ihr. (Die Raumfahrt hatte das Weltall noch nicht erobert). Später wird überhaupt kein Weltbild mehr tragfähig sein. Wenn wir die moderne Kosmologie in unser natürliches Denken verarbeitet haben, werden wir darauf verzichten müssen, ein Bild unserer Welt zu besitzen. Eben in einer nicht bildbaren Welt zu leben wird unser Weltgefühl sein (s. ebd., S. 33ff).

Christine: Wir müssen auch darauf verzichten, den Menschen einzuordnen und zu bewerten. Wenn wir einen Raster zur Kategorisierung des Menschen anlegen, können wir nur einen kleinen Ausschnitt erkennen - den gesamten Menschen aber verfehlen wir.

Das postrelativistische Verständnis meiner Zeit wurzelt erkenntnistheoretisch nicht mehr in den Geisteswissenschaften, sondern in den sich wieder verstärkt der Philosophie zuwendenden Naturwissenschaften: in der Physik (insbesondere der Thermodynamik und Quantentheorie), in der Chemie und der Biologie. Ein entsprechendes Weltbild und damit auch eines Bildes vom Leben und der Evolution des Lebendigen - die Entwicklung eines Individuums inbegriffen - ist in komplexen Theorien verankert, die mit den Stichworten der Selbstorganisations- und Ko-Evolutionstheorie bezeichnet werden. In diesem Kontext wird deutlich, daß fundamentale psycho-soziale Eigenschaften lebendiger Systeme auch den Menschen nicht abgesprochen werden können, an denen wir sie nicht wahrnehmen können. Wir orientieren uns nur an einem äußerst schmalen Sektor der Wahrnehmung. Diese holistische Denkweise, diese Ganzheitsvorstellung, diese Vielfalt der Erscheinungsweisen menschlichen Lebens, die den Begriff "Andersartigkeit" und somit auch "geistige Behinderung" nicht zuläßt, müssen in einem neuen Menschenbild Eingang finden. Verbunden damit ist Kritik und Abschiednahme von der wissenschaftlich-objektiven Vernunft und dem unbegrenzten Funktionalismus (s. Feuser, 1996, S. 5).

In einem solchen Verständnis kann auch nicht von "lernbehindert" oder "leistungsschwach" gesprochen werden. Denn jeder Mensch lernt und erbringt Leistungen ein Leben lang.

Buber: Zurück aber noch zu Spinoza (1632-1677): Er hat die astronomische Unendlichkeit akzeptiert und ihrer Unheimlichkeit beraubt. Die Ausdehnung ist nur eines der vielen Attribute der unendlichen Substanz - Gott. Diese unendliche Substanz liebt, sie liebt sich selbst und sie liebt sich selber auch im Menschen, und zwar ganz besonders im Menschen. Der Mensch ist also ein Wesen, in dem Gott sich selber liebt. Kosmologie und Anthropologie haben sich versöhnt. Trotzdem gibt es keine neue Sicherheit des In-der-Welt-Seins, aber die Hauslosigkeit ist nicht mehr problematisch. Es hat eine Versöhnung stattgefunden aus der Erkenntnis der Liebe Gottes (s. Buber, 1954, S. 35-38).

Immanuel Kant (1724-1804) hat die anthropologische Problematik als Antwort auf Pascals Anliegen, die Fragwürdigkeit des Menschen angesichts des unendlichen Weltraums, kritisch aufgegriffen. Erkenntnistheoretisch sagt er, daß das Geheimnis des Raumes und der Zeit das Geheimnis deines eigenen Fassens der Welt und deines eigenen Wesens ist. Die Antwort auf die Frage "Was ist der Mensch?" mußt du selbst suchen. Das ist ein Vermächtnis an unser Zeitalter - eine Zeit der Selbstbescheidung und Selbst-besinnung: die anthropologische Stunde. Er selbst hat die Frage nicht beantwortet, aber in solcher Klarheit und Eindringlichkeit gestellt, daß sie gestellt bleibt (s. ebd., S. 38-41).

Christine: Es ist ein sehr langer Weg, bis der Mensch zu seinem Wesen vordringen kann. Zuviel um ihn herum und mit ihm passiert, zuwenig befaßt sich der Mensch mit dem eigentlichen "Sein" und dem "Verschiedensein" des Menschseins. In der Aufklärung steht das Denken, der Intellekt im Vordergrund. Wie könnte man sich da mit geistiger Behinderung auseinandersetzen? Das geistig behinderte Kind wird als uninteressant beiseite geschoben. Und doch gab es einen Mann, Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), der den aufklärerischen Glauben an die Vernunft mit einer tiefen Frömmigkeit verband. Er war überzeugt von dem Gedanken der Erziehungsbedürftigkeit und Bildbarkeit aller Kinder unter Einschluß der geistig Behinderten.

Dies in einer Zeit wo Behinderung gleichgestellt war mit Armut, Not, Hilflosigkeit und Unglück (s. Haeberlin, 1988, S. 47). Diese Zuschreibungen, die immer auch mit sozialer Schwäche assoziiert werden, haben behinderte Menschen bis in die heutige Zeit.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Sonderschulen, die Internate waren und auf Initiativen von Einzelpersonen zurückgingen (keine staatlichen Schulen) (s. ebd., S. 51). In diese Zeit fällt auch die theoretische Fundierung der Rassenideologie, die dann insbesonders von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurde. Der Franzose Arthur Gobineau (1816-1882) und der Engländer Charles Darwin (1809-1882) formulierten das Selektionsprinzip. In der Gesellschaft hingegen, werden durch "Humanität", die eigentlich eine "Humanitätsduselei" ist, durch die moderne Medizin und durch soziale Reformen die Armen, Kranken, Schwachen, Behinderten (die "Minderwertigen" also) geschützt und damit dem Gesetz "der natürlichen Auslese" entzogen. Die "Minderwertigen" werden auf Kosten der "Wertvollen" begünstigt.

Auch die "soziale Frage" wurde bedeutsam: Die "Brauchbaren" bildeten in der Industriegesellschaft das Personal der neuen Fabriken. Für die "Unbrauchbaren" dienten Spezialeinrichtungen des sozialen Versorgungssystems - Altenheime, Irrenhäuser, Gefängnisse usw. wurden eingerichtet. Die Gesellschaft wurde in "wertvolle" und "minderwertige", "wertlose" Menschen geteilt.

Eine Verschärfung des Umgangs mit den als gesellschaftliche "Last" Stigmatisierten brachten Rentabilitätsabrechnungen, die heute noch nicht überwunden sind. (Ein Vortrag von Peter Singer an der philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck Anfang der 90er Jahre lautete: "Was kostet der Mensch"). 1911 schrieb die Frankfurter Zeitschrift "Umschau" (eine Wochenschrift für die Fortschritte in Wissenschaft und Technik) ein Preisausschreiben aus mit dem Thema: "Was kosten die schlechten Rassenelemente den Staat und die Gesellschaft?" Im Ausschreibungstext hieß es unter anderem: "...Die Verminderung der Erzeugung von Minusvarianten wird zu einer immer gebieterischeren Forderung unserer Zeit..." (s. Malina, 1990, S. 134-140).

Buber: Ein bedeutender Mann noch vor dieser Zeit, der versucht hat, eine neues Haus zu bauen, warGeorg Wilhelm Hegel (1770-1831). Hegel hat sich eigentlich von der anthropologischen Frage abgewendet. Er geht von der Vernunft aus und nicht vom Menschen. Der Mensch ist nur noch das Prinzip, in dem die Weltvernunft zu ihrem vollkommenen Selbstbewußtsein und damit zu ihrer Vollendung gelangt. "Was ist der Mensch?", scheint also beantwortet: "Vernunft!" In Wahrheit aber ist die Frage verdunkelt und aufgehoben. Der Mensch kann ohne Grenzen wissen. Der Idee nach kann er alles, was in der Vernunft ist, verwirklichen. Das Hegel'sche Haus ist ein Haus in der Zeit - im Endlichen und im Unendlichen, aber kein Haus im Raum - in der Welt. Die Zeit ist die höchste Macht alles Seienden. Als Geschichte ist sie vollkommen erfahr- und begreifbar, als vernünftige Verwirklichung des Geistes; aber als Heimat?

Die Auflehnung kommt sogleich mit (nicht erst wie in früheren Zeiten in einigen Jahrhunderten des kritischen Werkes), nämlich die Frage nach der anthropologischen Perspektive. Das Hegel'sche Welthaus wird bewundert, aber nicht betreten. Der antike Mensch hat sich in der Welt des Aristoteles heimisch gefühlt, der christliche Mensch in der Welt des Thomas von Aquin, der moderne Mensch aber betritt die Welt Hegels nicht wirklich. Hegel hat die anthropologische Unruhe nicht zu stillen vermocht. Das auf die kosmologische Zeit aufbauende denkerische Weltbild kann kein Gefühl von Sicherheit verleihen. Die kosmologische Zeit ist nicht die konkrete Zeit des Menschen, sondern seine gedankliche. Man kann sie denken, aber nicht mit ihr leben. Die Geschichte ist ohne Kenntnis der Zukunft und ohne Bewußtsein der reinen Gegenwart. Die Überzeugung von der Entwicklung kann den messianischen Glauben nicht ersetzen.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die drei großen Sicherungsversuche:

1. die kosmologische des Aristoteles (Mensch ist Ding unter Dingen, objektiv erfaßbare Gattung neben anderen Gattungen)

2. die theologische des Thomas von Aquin (Der Glaube an Gott erklärt den Menschen)

3. die logologische von Hegel (Der Mensch ist das Prinzip, in dem die Vernunft zur Vollendung gelangt).

Christine: Immer also, wenn sich der Mensch eine sichere Ordnung aufgebaut hat, ist es mit der "Vermenschlichung" bergab gegangen. Wenn ich also sicher bin, bin ich nicht mehr offen für den Anderen.Langsam werde ich neugierig, ob es irgendwann ein Haus geben kann, das Bestand hat, in dem der Geist sich niederlassen kann. Ein Haus auch, in dem wir Menschen leben können, ohne der ständigen Angst vor dem Neuen/Fremden ausgeliefert zu sein, und in dem wir trotzdem zum Wesen des Menschen vordringen können. Ich nehme an, daß Sie sich mit einer solchen Utopie befassen?

Buber: Ja, und es muß keine Utopie sein. Der Mensch findet seinen Sinn und seine Aufgabe im Gemeinschaftlichen. Allerdings ist auch das Einlassen auf der/die/das Andere und auf das "Zwischen" von Angst begleitet. Sie kann aber durch das doppelte Prinzip des Menschseins, den Rhythmus von Aktualität und Latenz bewältigt werden. Doch davon mehr im Teil II.

Jetzt nähern wir uns Sichtweisen, die den Menschen nicht nur als Einzelnen, sondern als Gemeinschaftswesen sehen - ein wichtiger Schritt in der Entwicklung.

Karl Marx` (1818-1883) Geschichtslehre gründet auf Hegels Dialektik. Sicherheit hinsichtlich der Vollendung des Menschen in der Welt wird verkündet; der Messianismus wird säkularisiert. Daraus erwächst ein Glaube aufgrund soziologischer Reduktion. Es wird kein Weltbild mehr vermittelt, sondern ein Gesellschaftsbild. Anstelle der Hegel'schen Idee oder Weltvernunft treten die menschlichen Produktionsverhältnisse. Sie sind für Marx das Wesentliche und Tragende. Es gibt keinen anderen Ursprung und kein anderes Prinzip. Durch Wandlung der Gesellschaft geschieht eine Wandlung der menschlichen Produktionsverhältnisse und umgekehrt. Auf die Perspektive des Seins, in der es Erstes und Letztes gibt, wird verzichtet. Dadurch wird ein Heim gebaut, in dem der Mensch wohnen kann. Eine Sicherheit wird errichtet, in der das Proletariat existieren und weiterleben wird. Zukunft ist an die unmittelbar erlebte Gegenwart gebunden und durch sie gesichert. Das Leben selbst - nicht das Denken - hat die Macht, Leben aufzubauen. Der Geist erkennt die Macht des Lebens an (s. Teil III, Die Wirklichkeit des Geistes).

Bei Hegel erwuchs eine spekulative Sicherheit aus der Sternenbahn und dem Weg der Geschichte. Bei Marx wird der Menschenwelt Zukunftssicherheit zugeschrieben. Heute ist diese Sicherheit im geordneten Chaos einer furchtbaren geschichtlichen Wendung untergegangen (geschrieben 1954!).

Eine neue anthropologische Bangigkeit ist emporgekommen, aber nicht mehr in philosophischer Gewandung sondern in der Nacktheit der Existenz (nicht nur im Denken, sondern im konkreten Leben). Von der Verzweiflung überschattet, muß der Mensch die Frage nach dem Wesen des Menschen durch seine eigene Entscheidung zu beantworten suchen (s. Buber, 1954, S. 42-57).

Ludwig Feuerbach (1804-1872): Der soziologischen Reduktion von Marx geht die anthropologische Reduktion Feuerbachs voraus. Der Dialektik Hegels setzt er sich insofern entgegen, als er nicht die abstrakte Vernunft, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen als Prinzip heranzieht. Das reine Sein - der Mensch -, nicht ein unmittelbarer Gegenstand - das Erste-, ist der Anfang der Philosophie. Die Weltvernunft von Hegel sei nur ein neuer Begriff für Gott und versetze das menschliche Wesen vom konkreten Sein in ein abstraktes Sein. Feuerbach will den Menschen, die Anthropologie zur Universalwissenschaft machen, die den ganzen Menschen zum Anfang des Philosophierens macht. Dadurch wird nun das Sein auf das menschliche Da-sein reduziert. Aber die Frage "Was ist der Mensch?" ist darin nicht eingegangen. Ja, er verzichtet darauf. Das macht den Menschen unproblematisch. Aber der wirkliche Mensch, der auch seinem nicht menschlichen Sein gegenübersteht, ist nicht unproblematisch. Im Gegenteil, er ist der Anfang aller Problematik - wie bei Nietzsche.

Feuerbachs großes Verdienst ist sein Bemühen um den Menschen in Gemeinschaft. Es geht ihm nicht um den einzelnen Menschen, sondern um das Wesen des Menschen in Gemeinschaft, um den Menschen mit dem Menschen, um die Verbindung von Ich und Du - ein elementares Ereignis. Aber es geht dabei nicht um das Wesen des Menschen.

Ab Friedrich Nietzsche (1844-1900) verstrickt sich meine philosophisch-anthropologische Frage nach dem Menschsein mit Ihrer Sozialgeschichte der Behinderten, und zwar mit ganzbesonders tragischen Auswirkungen im Nationalsozialismus.

Nietzsche sieht den Menschen als problematisches Wesen. Er stellt die anthropologische Frage mit Kraft und Leidenschaft, aber leider ohne zwischenmenschliche Beziehungen. Der Mensch ist etwas, das erst wird. Er leidet an der Abtrennung von der tierischen Vergangenheit. Er leidet am Problem seines Sinnes. Er ist Übergang, ein Embryo des Menschen der Zukunft. Er ist nur Weg. Wozu soll er sich das antun? Wozu soll er leiden, wenn es doch gar nicht um ihn geht? Nietzsche hat keine Antwort.

Christine: Das ist ja auch das Argument für die Euthanasie. Wozu leiden? Eine Frage, die sicher schwer zu beantworten ist, und schon gar nicht, wenn wir nicht an unsere Möglichkeit der Selbsttranszendenz glauben. Wenn sich Menschen diese Frage selbst stellen und beantworten können, ist das auch nicht das Problem. Wenn aber über jemanden bestimmt werden soll, und das ist so im Schwerstbehindertenbereich, kann diese Frage meines Erachtens niemand stellen und beantworten, weil wir den Wert des Lebens nicht für jemand anderen feststellen können (s. Teil II, Euthanasie).

Buber: Das Leben entfaltet sich bei Nietzsche aus dem Willen zur Macht. Nur asketische Ideale und schlechtes Gewissen halten das Machtstreben nieder. Wenn der Mensch dem Willen zur Macht nachgäbe, hätte er ein gutes Gewissen. Diesen Menschen sollen wir erschaffen. - Grundsätzlich ein Tier, aber ein Tier, das Zukunft versprechen darf.

Diese Antwort ist falsch: der Mensch ist zwar mächtig, aber Macht allein kann kein Ziel sein. Das Ziel ist Verwirklichung des Menschseins. Macht ohne Ziel ist ein krankes Verhältnis - leer. Das Fleischwerden des Geistes vollzieht sich nicht mehr.

Nietzsche hat keine positive Grundlegung einer philosophischen Anthropologie geschaffen, ihr aber einen gewaltigen Antrieb verliehen. Der Mensch ist nicht Gattung, sondern Kategorie. Wir nehmen am Menschen etwas wahr, was wir uns nicht aus der Natur und ihrer Entwicklung allein erklären können. Nietzsche erkennt dieses Urproblem nicht an und reduziert den Menschen auf das Genetische.

Kant hat den Menschen als Grenzproblem zwischen Natur und einem anderen Reich (Äther des Geistes) angelegt. Nietzsche hat ihn zum Randproblem gemacht: aus dem Inneren an den Rand gedrängt, an das gefährliche Ende des natürlichen Seins, an das Nichts. Vielleicht ist der Mensch die Vorform eines zukünftigen Wesens; ein Werden? Der Mensch ist entweder ein dekadentes Tier - zum Aussterben bestimmt, oder aber er ist der Übermensch als etwas geglücktes Neues (s. ebd., S. 58-74).

Christine: Etwas Neues, Perfektes - ohne Schwächen? Die Argumentation utilitaristischer Philosophen und Bioethiker wie z.B. Murphy oder Singer, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde, erinnert sehr an diese "Nichtanthropologie", die ja auch im Nationalsozialismus zu den Begriffen "Unwertes Leben" bzw. "Herrenmenschen" geführt hat.

Diese Denkweise hatte die Zwangssterilisation bei Verdacht auf "erbkranken Nachwuchs" zur Folge und führte schließlich zur Vernichtung von 70.273 Menschen. Als Hitler am 27. August 1941 die Euthanasie wegen des Protests der Kirchen offiziell einstellen ließ, war das Plansoll der Tötung von 65.000 - 70.000 behinderten Menschen bereits erfüllt. Die Kindereuthanasie wurde jedoch weitergeführt.

Diese Gedanken waren schon im Ersten Weltkrieg vorhanden. Es kam die Angst auf, daß sich die Besten im Kampf ums Dasein opferten, während die "Minderwertigen" und "Wehrunwürdigen" ungeschoren davonkommen, was sich für die Fortpflanzung negativ auswirken würde. 1920 gaben der Jurist Karl Binding und der Mediziner Erich Hoche eine Schrift heraus: "Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens" (s. Malina, 1990, S. 140-155).

Buber: Nietzsche hat mit leidenschaftlichem Ernst unternommen, den Menschen aus der Tierwelt heraus zu verstehen. Dabei ist die spezifische Problematik des Menschen nicht verblaßt, sondern erst so richtig sichtbar geworden. Die Frage hat sich erhoben, wie der Mensch aus der Tierwelt hervorgegangen und herausgetreten ist. Es ist eine Tatsache, daß es in der Welt ein Wesen gibt, das eine Welt als Welt, einen Weltraum als Weltraum, eine Weltzeit als Weltzeit und sich selbst darin als erkennend erkennt. Das heißt, daß es die wirkliche Welt in unserem Sinne erst durch den Menschen gibt. Nietzsche hat sich um die Soziologie des Erkennens, der Überlieferung, der Sprache, der Generation, des menschlichen Miteinanderdenkens, um die Soziologie des Menschen mit dem Menschen schlechthin, nicht gekümmert. Ja er hat diese Grundtatsache verachtet.

Der Mensch, der eine Welt erkennt, ist der Mensch mit dem Menschen. Dieses Hervorgehen ist aus der Tierwelt selbst nicht zu verstehen. Und damit ist die Frage mit neuer Dringlichkeit gestellt. Wir müssen Geist und Natur anrufen und die Gemeinschaft um Auskunft bitten, daß sie uns sagen, was sie zu sagen haben. Zu verschiedenen Zeiten wandte man sich einmal mehr dem Geist (im Sinne von Intellekt), einmal mehr der Natur (im Sinne von tierisch) zu, die Macht der Gemeinschaft ist nicht angerufen worden (s. Buber, 1954, S. 75ff). Aus der Gemeinschaft, aus der Ich-Du-Beziehung heraus, sind solche Katastrophen, wie Sie sie geschildert haben, nicht möglich.

Christine: Georg Feuser hat gesagt: "Wie anders könnte der Tötung schwer beeinträchtigten Lebens seiner hohen Kosten und seines geringen gesellschaftlichen Nutzens wegen, wie heute hart kalkuliert wird, Widerstand entgegengesetzt und Einhalt geboten werden, als durch die gelebte Gemeinsamkeit behinderter und nichtbehinderter Menschen in allen Lebens- und Lernfeldern?" (Feuser, 1996, S. 2).

Buber: Dazu werden wir im Teil II und im Teil III ausführlicher reflektieren. Jetzt führe ich meine Problemgeschichte des Menschen mit Versuchen aus neuerer Zeit noch weiter aus:

In unserer Zeit ist das anthropologische Problem gereift und wird als ein selbständiges philosophisches Problem erkannt und behandelt. Zwei Faktoren haben dazu wesentlich beigetragen:

der soziologische Faktor: Die alten organischen Formen direkten menschlichen Zusammenlebens sind zerfallen. Diese Gemeinschaften waren qualitativ so beschaffen, daß immer wieder Menschen in sie hineingeboren werden oder hineinwachsen als Schicksal und vitale Überlieferung - also nicht als Ergebnis einer freien Vereinbarung. Solche organisch gewachsene Gemeinschaften sind: Familien, Werk-Genossenschaften, Dorf- und Stadtgemeinden. Die Französische Revolution hatte die Menschen politisch freigemacht und zu einer bürgerlichen Gesellschaft geführt. Der Verlust der hierarchischen Ordnung hatte eine Steigerung der menschlichen Einsamkeit zur Folge. Nun entglitt dem Menschen, dem schon die Behaustheit der Welt verloren gegangen war, die Heimatlichkeit der organischen Gemeinschaftsformen, eine soziologische Sicherheit, die ihn vor dem Gefühl der völligen Preisgegebenheit bewahrte. Die neuen Gesellschaftsformen - der Verein, die Gewerkschaft, die Partei - konnten wohl eine kollektive Leidenschaft entzünden, aber das Leben des Menschen konnten sie nicht ausfüllen. Die alten organischen Formen, sofern sie weiter bestanden, waren leer und seelenlos geworden. Es war wieder Zeit für die tiefe Einsamkeit, die durch das geschäftige Treiben zwar oft überdeckt wurde, aber die den Menschen doch wieder mit dem Grund des Daseins konfrontierte.

der geistesgeschichtliche bzw. seelengeschichtliche Faktor: Eine ganz neue Krise tat sich auf: das Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Werken. Die durch den Menschen selbst entstandene Welt war nicht mehr bewältigbar. Sie wurde stärker als der Mensch. Sie steht ihm nun unabhängig gegenüber, und er weiß nicht mehr, wie er sie bändigen kann. Diese Erfahrung erfolgte in drei Bereichen:

im Bereich der Technik: Die Maschinen, die dem Menschen dienen sollten, nehmen ihn in ihren Dienst. Nicht sie sind - wie die Werkzeuge - die Verlängerung des menschlichen Armes, sondern der Mensch wird zu ihrer Verlängerung. Er "bedient" die Maschinen.

im Bereich der Wirtschaft: Die Produktion, ins Ungeheure gesteigert ist nicht zur vernünftigen Koordination gelangt und scheint über den Menschen hinauszuwachsen (1954!).

im Bereich des politischen Geschehens: Im Ersten Weltkrieg erfuhren die Menschen, wie sie unfaßbaren Mächten ausgeliefert waren, die zwar mit dem Willen des Menschen zusammenhingen, aber alles Menschliche nieder rannten und auf allen Seiten alles zerstörten. (Um wieviel mehr noch im zweiten Weltkrieg, den Balkankriegen usw.). Der Mensch schien ein Vater von Dämonen zu sein, deren er nicht Herr werden konnte. Nicht zuletzt deshalb entstanden die wichtigsten Arbeiten auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie nach dem ersten Weltkrieg (s. Buber, 1954, S. 81-84).

Christine: Diese beiden Faktoren haben ihre Auswirkungen auch im Bereich der Behinderung gezeigt. Soziologisch wird der Mensch institutionalisiert: Staatliche Irrenhäuser entstehen. Wissenschaftlich-technisch scheint alles machbar zu werden. Heute wird an der "Konstruktion" des "perfekten" Menschen, der "funktioniert" und dem Staat nach Möglichkeit wenig Folgekosten verursacht, gearbeitet. Reproduktionstechnologen, Gentechnologen und Humangenetiker scheinen auch hier nach Geistern zu rufen, die sie möglicherweise nicht mehr unter Kontrolle halten können.

Buber: Edmund Husserl (1859-1938), der Schöpfer der phänomenologischen Methode, war als Angehöriger des jüdischen Volkes von beiden Faktoren selbst zutiefst betroffen. Als Jude in Deutschland wurde er benachteiligt und später sogar verfolgt. Er war unbehaust (1). Als Deutscher mit jüdischer Tradition wurde er von der Technik und der Wirtschaft "überrollt" und verunsichert (2).

Husserl hat zwar selbst nicht an der philosophischen Anthropologie gearbeitet aber eine Abhandlung zum Problem des Menschen geschrieben:

Das größte historische Phänomen sei das um sein Selbstverständnis ringende, und nicht nur das der Geschichtsschreiber und Philosophen, sondern auch das in aller Stille sich bemühende Ringen des menschlichen Geistes, das Geheimnis des menschlichen Seins zu verstehen. Dazu kann man einen geschichtlichen Weg der philosophischen Anthropologie für des Werden des Menschen aufzeigen.

Im zweiten Satz stellt Husserl den Vernunftmenschen in Frage. Man kann nicht die Vernunft als das spezifisch Menschliche und das, was nicht Vernunft ist, als das Nicht-Spezifische darstellen. Seit Descartes wurde immer wieder unternommen, das mit nichtmenschlichen Wesen Gemeinsame als das "Naturhafte" am Menschen anzuschauen. "Vielmehr wird die Tiefe der anthropologischen Frage erst dann berührt, wenn wir auch an dem im Menschen, was nicht Vernunftwesen ist, das spezifisch Menschliche erkennen. Der Mensch ist kein Zentaur, sondern durchaus Mensch. Man kann ihn nur verstehen, wenn man einerseits weiß, daß in allem Menschlichen, auch im Denken, etwas ist, was der allgemeinen Natur der Lebewesen angehört und von ihr aus zu erfassen ist; andererseits aber, daß es nichts Menschliches gibt, das der allgemeinen Natur der Lebewesen ganz angehört und nur von ihr aus zu erfassen ist. Auch der Hunger des Menschen ist nicht der Hunger eines Tieres. Die menschliche Vernunft ist nur im Zusammenhang mit der menschlichen Nichtvernunft (Geist und Trieb) zu verstehen. Das Problem der philosophischen Anthropologie ist das Problem einer spezifischen Ganzheit und ihres spezifischen Zusammenhangs" (Buber, 1954, S. 87).

"Menschentum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein in generativ und sozial verbundenen Menschheiten" (ebd., S. 88). Das Wesen des Menschen ist nicht in isolierten Minderheiten zu finden sondern in der Gebundenheit mit ihrer Generation und mit ihrer Gesellschaft (s. ebd., S. 85-88).

Christine: Husserl spricht mir aus der Seele. Von seinem Wesen her kann der Mensch nie dem Tier gleichgestellt werden, auch wenn die phylogenetische Abstammung auf das Tier zurückgeht. (Diesen Gedanken gibt es überhaupt erst seit Charles Darwin (1809-1882) - Vorher ist der Mensch nie auf die Idee gekommen, sich vom Wesen her mit dem Tier zu vergleichen).

Auch Ansätze,Menschsein nach bestimmten Kriterien, als Unterscheidungsmerkmale zum Tiersein, zu definieren, sind nie befriedigend gelungen. Versuche von bestimmten Bioethikern, einen zeitlichen Beginn für das menschliche Leben festzulegen, gehen von der Zeugung bis zu vier Wochen nach der Geburt. In der Zeit soll eine Tötung erlaubt sein (wie wir ja auch Tiere töten) - Schwerstbehinderte auch noch später. Näher kommen wir diesem Thema im Teil II bei der Lebensrechtsdiskussion, die wir unvermeidlich führen müssen.

Kriterien, nach denen das Menschsein beurteilt wird, sind:

reflektive Intelligenz, Selbstbewußtsein, Einmaligkeit, Selbstkontrolle, Verantwortung, Zeitempfinden: Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit, Wissen um Vergänglichkeit, Beziehungsfähigkeit-Kommunikation, Wissensdrang, Wissen um Tod, Gleichgewicht zwischen Rationalität und Gefühl, die neo-corticale Funktion: die Gehirnfunktion, ohne die es nur organisches Leben gibt, aber keine Person (s. Anstötz, 1990, S.74-80).

Einzelne dieser Kriterien erfüllen auch Tiere. Andererseits ist jedes dieser Kriterien in bestimmten Phasen des menschlichen Lebens nicht vorhanden, z.B. bei Feten, Kleinkindern, in Trance, in Bewußtlosigkeit, im Schlaf usw. Es ist auch nicht genau festlegbar, wann sie wieder in Kraft treten. Besonders in Bezug auf Beziehungsfähigkeit lassen sich Grenzen nicht definieren, denn wann kann mit Sicherheit gesagt werden, daß ein Schwerstbehinderter keine Beziehung hat?

Buber: Sören Kierkegaard stellt die Beziehung zu Gott als die höchste dar. Um wieviel weniger dürfen wir uns anmaßen, menschliches Leben mit dem Verlust von Beziehungsfähigkeit als beendet anzusehen. Denn wie können wir wissen, wann die Beziehung mit Gott in dieser Welt zu Ende ist? Wohl erst mit dem eingetretenen Tod?

Sören Kierkegaard (1813-1855) hat mit seiner theologischen Anthropologie die phänomenologische Anthropologie Heideggers beeinflußt und die Voraussetzungen für die heutige philosophische Anthropologie gesetzt. Kierkegaard sagt, daß sich das Denken nicht selbst beglaubigen kann, sondern nur von der Existenz des denkenden Menschen aus beglaubigt werden kann. Das Gleiche gilt für den Glauben. Der Glaube muß das Leben im Kern verwandeln. Der Glaube muß Lebensbeziehung, existentielles Streben sein, sonst ist er nichts wert (s. Teil III, Die Wirklichkeit des Geistes). Der Mangel an diesem Glaubensvollzug ist seine Kritik am Christentum. Eine Verwirklichung und Verleiblichung des Glaubens muß stattfinden - ein Übergang von der Möglichkeit im Geist zur Wirklichkeit in der Ganzheit der Person. Kierkegaard stellt den Menschen - in seiner Problematik der ontischen Verbundenheit mit dem Absoluten - in ein gegenseitiges Verhältnis von Person zu Person, d.h. das Absolute geht in dieses Verhältnis als Person ein (s. Buber, 1954, S. 89-93). Der Mensch steht Gott gegenüber, nur das ist wichtig; nicht das Verhältnis Mensch zu Mensch oder gar Mensch zu Tieren oder Dingen.

Martin Heidegger (1889 - 1976) nimmt als Grundlage die Fundamentalontologie, d.h. die Lehre von dem Dasein als solchem. Dasein ist ein Seiendes, das ein Verhältnis zu seinem eigenen Sein und ein Verständnis dieses Seins hat. Als solches Wesen kennen wir nur den Menschen. Die Fundamentalontologie beschäftigt sich nicht mit der Vielfältigkeit und Komplexheit des Menschen, sondern ausschließlich mit seinem Dasein. Der Mensch interessiert nur in seinem Verhalten, in dem er zu sich selbst kommt und in seinem Verhalten, in dem das Selbst verfehlt wird (s. ebd., S. 94).

Christine: Wann verfehlt der Mensch sein Selbst? Wenn er Defizite hat? Der behinderte Mensch wird oft nach seinen Defiziten beurteilt und mir scheint, daß gerade dadurch kein Raum gelassen wird, zum Selbst zu kommen. Es kann wohl nur der Mensch sein Selbst verfehlen, der Beziehung in Ihrem Sinne schuldhaft verfehlt.

Buber: Darauf möchte ich erst später eingehen, im Kapitel über den Geist der Beziehung.

Es ist anthropologisch nicht gerechtfertigt, das Dasein aus dem wirklichen Menschenleben herauszulösen, wie Heidegger es tut. Hat dieses ausgesonderte Dasein überhaupt noch mit dem tatsächlichen Menschen zu tun? Das wirkliche Dasein ist nur in Verbindung mit dem Verhalten zu seinem Sein und mit der Beschaffenheit des Seins, zu dem der Mensch sich verhält, erfaßbar. Z.B. ist der Mensch als Dasein ein Sein auf den Tod zu. Es gibt keine erhaltende Kraft ohne die zerstörende. Wie sieht der Mensch auf sein Ende hin? Hat er den Mut, das Ganzsein des Daseins, das sich erst im Tode erschließt, vorwegzunehmen?

Im objektiven Sein ist der Tod in jeder Sekunde als Kraft da, die mit der Kraft des Lebens ringt und nicht erst zum Zeitpunkt des Sterbens. Dieser Kampf bestimmt das Dasein, das Verhalten zum Sein in jedem Augenblick mit.[3]

Der Mensch ist von diesem Verständnis der Wirklichkeit nicht zu trennen. Heidegger entnimmt aber nur einzelne Kategorien, wie z.B. das Verhalten des einzelnen Menschen zum eigenen Sein, nicht aber, wie es sich zum anderen verhält. Das aber erschließt uns nur einen Teilbezirk des Lebens - wohl mit selbständigem Charakter - aber nicht ein Stück des ganzen wirklichen Lebens, wie es tatsächlich gelebt wird. Wir befinden uns in einem seltsamen Gemach des Geistes mit tiefsinnigen Regeln, aber eben nur "Spielregeln" eines geistvollen Spieles, das zum Verhängnis werden kann, weil es das reale Leben nur partiell erfaßt.

Es könnten noch einige solcher "Gemächer" durchschritten werden wie z.B. der Begriff der Schuld. Heidegger geht vom Alltäglichen aus, daß

jemand einem Anderen "schuldig ist",

jemand an etwas "schuld ist",

jemand an einem Andern "schuldig wird", d.h. einen Mangel im Dasein eines Anderen verursacht.

Hier handelt es sich aber nur um eine "Verschuldung" nicht um das ursprüngliche und eigentliche Schuldigsein des Menschen, das das Schuldigwerden erst ermöglicht. Nach Heidegger ist das Dasein an sich bereits schuldig, und zwar insofern, als es sich nicht erfüllt. Es bleibt im Allgemeinnmenschlichen stecken und bringt nicht das Selbst des Menschen zum Sein. Das Dasein kommt durch die Schuld des Daseins nicht zum Sein (s. ebd., S. 98).

Christine: Wäre das der Erbsünde der Katholischen Kirche gleichzusetzen? Erbsünde ist ja ein Zustand, in dem alle Menschen geboren werden. Diese Ursünde geht auf den Sündenfall der Engel zurück. Luzifer hat Gott aus freier Entscheidung den Gehorsam, die Beziehung, verweigert - er wollte aus sich selbst leuchten. Aus diesem ursprünglich Schuldigwerden resultierte die Versuchung zur Sünde an Adam und Eva. Aus dem "unwiderruflichen Charakter" der Entscheidung erst kam das "Böse" in die Welt - als etwas Verursachtes, nicht etwas Geschaffenes (s. Katechismus, 1993, S. 128-133).[4]

Buber: In meinem Buch "Bilder von Gut und Böse" gehe ich näher auf dieses Thema ein. Es ist eigentlich die Entscheidungslosigkeit, die die erste Stufe zum Bösen ist; aber da kommen wir weit in die Theologie hinein. Vielleicht können wir im Teil III (Geist - die Sünde gegen den Geist) mehr darüber erfahren.Es ist aber richtig, daß Schuldigsein immer mit Beziehungsverweigerung zu tun hat. Kain hat auf den Anruf Gottes: "Wo bist du?" "Wo ist dein Bruder?" nicht geantwortet(Buber, 1986, S. 28).

"Heidegger hat recht darin, daß alles Verständnis von Verschuldung auf ein ursprüngliches Schuldigsein zurückgehen muß. Er hat recht darin, daß wir ursprüngliches Schuldigsein zu entdecken vermögen. Aber wir vermögen es nicht dadurch, daß wir einen Teil des Lebens abschnüren, den Teil, wo das Dasein sich zu sich selber und zu seinem eigenen Sein verhält, sondern dadurch, daß wir des ganzen Lebens ohne Reduktion inne werden, des Lebens, darin der einzelne Mensch sich gerade zu etwas anderem als er selbst wesentlich verhält" (Buber, 1954, S. 99).

Wenn ich nicht wirklich in der Gegenwärtigkeit - und die Gegenwärtigkeit des Seins wechselt ihre Gestalt, sie kann oft erschreckend anders sein - da bin, bin ich schuldig. "Wenn ich auf den Ruf des gegenwärtigen Seins >Wo bist du?< antworte: >Da bin ich<, aber ich bin nicht wirklich da, d.h. nicht mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann bin ich schuldig. Das ursprüngliche Schuldigsein ist das Bei-sich-bleiben. Zieht aber eine Gestalt und Erscheinung des gegenwärtigen Seins an mir vorüber, und ich war nicht wirklich da, dann kommt aus der Ferne ihres Verschwindens ein zweiter Ruf, so leise und heimlich, als käme er aus mir selbst: >Wo bist du gewesen?< Das ist der Ruf des Gewissens. Nicht mein Dasein ruft mich, sondern das Sein, das nicht ich ist, ruft mich. Antworten aber kann ich nun erst der nächsten Gestalt; die gesprochen hat, ist nicht mehr zu erreichen. (Diese nächste Gestalt kann selbstverständlich zuweilen derselbe Mensch sein, aber dann eben eine andere, spätere, veränderte Erscheinung von ihm.)" (ebd., S. 99f).

Wenn wir jetzt noch einmal zur Geistesgeschichte kommen: Also immer wenn der Mensch einsam wird und allein in einer fremden und unheimlich gewordenen Welt lebt, sucht er nach einer göttlichen (geistigen) Gestalt des Seins, mit der er Umgang haben kann, der er über die Welt hinaus die Hände entgegenstrecken kann. Diesen Menschen finden wir in Augustinus, in Pascal, in Kierkegaard. Von einer solchen Einsamkeitsepoche zur nächsten führt ein Weg: jede Einsamkeit wird kälter, strenger, die Rettung aus ihr schwerer. Dann kann es sein, daß die Hände nicht mehr hinausreichen können: Gott sei tot, wie Nietzsche es formulierte. Die Reaktion ist der ausschließliche Umgang mit sich selbst. Das finden wir bei Heidegger. Ich halte es für ausgeschlossen, daß man seinem Selbst die Hände entgegenstrecken kann, wohl aber seinem Bild oder Spiegelbild. Aus diesem Grund kann Heideggers Lehre für das menschliche Leben selbst und für sein anthropologisches Verständnis nicht gültig sein, auch wenn sie wertvolle Hinweise dafür liefert.

Christine: Wie aber könnte der Mensch sich erkennen? Ist das überhaupt möglich?

Buber: Der Mensch erkennt das, dem er gegenübersteht und mit dem er in ein reales Verhältnis von Wesen zu Wesen treten kann, als genau so wirklich an wie sich selbst. Er transzendiert seine Bedingtheit in den Anderen, in das das Andere. In sich kann der Mensch nie ein Sein finden, das in sich ganz ist. Erst durch den dialogischen Charakter des menschlichen Lebens rührt er an die Absolutheit. "Nicht durch ein Verhältnis zu seinem Selbst, sondern nur durch ein Verhältnis zu einem anderen Selbst kann der Mensch ganz werden. Dieses andere Selbst mag ebenso begrenzt und bedingt sein wie er, im Miteinander wird Unbegrenztes und Unbedingtes erfahren" (ebd., S. 102). Das Dasein Heideggers ist ein monologisches, das sich als dialogisches verkleidet. Lange Zeit mag eine Schicht nach der anderen antworten, aber einmal wird die Stummheit des Seins unüberwindlich und die ontologischen Kategorien lassen sich auf die Wirklichkeit nicht mehr anwenden. Der Mensch des "Selbstseins" ist nicht der Mensch, der wirklich mit dem Menschen lebt, sondern der Mensch, der nicht mehr wirklich mit dem Menschen leben kann, der nur noch Umgang mit sich selbst kennt. Das ist nicht mehr das wirkliche Leben - nur Schein - ein unseliges Spiel des Geistes (s. Teil III, Sünde gegen den Geist).

Heideggers Mensch ist aber nicht nur Dasein, sondern auch Sein. So wie die Dinge sind, die ihn umgeben und die er benützt, sind auch andere Menschen, die wiederum - im Unterschied zu den Dingen - Sein und Dasein sind, also zu sich selbst stehen. Diese Menschen sind für ihn nicht Gegenstände des Benützens und "Besorgens", wie die Dinge, sondern der "Fürsorge" und zwar dem Wesen nach, d.h. auch wenn sie ihn nichts angehen. Sie sind Gegenstand seines Verständnisses (s. ebd., S. 100-104).

Christine: Die Fürsorge scheint einen breiten Boden gefunden zu haben, besonders wenn sie entfernt von den Betroffenen erfolgen kann. Immer neue Rekorde für Spendenaufrufe wie "Licht ins Dunkel" werden erzielt. Alle sind lieb und nett zu den armen Hascherln und "wie bin ich froh, daß ich gesunde Kinder habe". Dafür gebe ich gerne etwas her. Und "die werden ja alle so gut betreut in den Sonderanstalten". Was bleibt da zu wünschen übrig? Verzeihen Sie, wenn ich sarkastisch geworden bin, aber solchen Haltungen begegne ich jeden Tag, und ich stoße mit meinem Anliegen, "Behinderte" in die "normale" Welt zu integrieren, nicht nur auf Widerspruch, sondern auch auf Unverständnis.

Buber: Solange ich mich selbst nicht erkennen kann, kann ich das Wesen des Menschseins nicht erfassen. Solange ich meine eigene Behinderung nicht erkennen kann und will, kann ich in meiner Welt auch nicht mit Behinderten umgehen.

Christine: "Wenn ich einem "behinderten" Menschen begegne, ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte, beschreibe ich mich selbst - meine Wahrnehmung des anderen. Ob ich die daraus entstehende Chance nutze, mich selbst zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt ...!" (Feuser, 1996, S. 1).

Buber: Der "Entschlossenheit" zu sich selbst entspringt zu allererst das eigentliche Miteinander.Heidegger scheint das Verhältnis zum Anderen als wesentlich anzuerkennen. Aber das Verhältnis der Fürsorge kann als solches kein wesentliches Verhältnis sein, weil nicht das Wesen eines Menschen zum Wesen des anderen in Beziehung tritt, sondern nur die fürsorgende Hilfe des einen zu dem fürsorgebedürftigen Mangel des anderen. Der Mensch bleibt in einem nur fürsorglichen Verhältnis im wesentlichen bei sich und erschließt sich nicht der Gegenseitigkeit. "Ein solches Verhältnis kann nur dann der Wesentlichkeit teilhaftig sein, wenn es nur Auswirkung eines in sich wesentlichen bedeutet, wie zwischen Mutter und Kind; es kann natürlich zur Entstehung eines solchen führen, wie wenn zwischen dem Fürsorgenden und dem Gegenstand seiner Fürsorge eine echte Freundschaft oder Liebe entsteht" (Buber, 1954, S. 105). Besser und auch häufiger ist es umgekehrt: aus der wesentlichen Beziehung resultiert Fürsorge so nebenbei.

Der Heidegger'sche Mensch erreicht als höchste Stufe die des freien Selbst, reif und entschlossen zum rechten Dasein in und mit der Welt, aber die Schranken des Selbst werden nicht durchbrochen, ja es besteht nicht einmal der Wunsch einer Beziehung zwischen Ich und Du.

Christine: Es passiert ja auch, daß Menschen einen "Helferberuf" ergreifen, um ihre eigene gebrochene Identität zu heilen. Der behinderte Mensch wird dann zum Objekt und ist nicht mehr ein Du auf der gleichen Ebene des Menschseins. - Aber ich greife schon wieder voraus.

Buber: Wenn wir Kierkegaard und Heidegger noch einmal gegenüberstellen, so ist der Mensch bei Kierkegaard als Einzelner ein offenes System zu Gott (zum Absoluten) hin. Er steht in seiner Angst und Sorge allein vor Gott und soll sich nur mit Vorsicht mit dem Anderen einlassen. Er muß dem wesentlichen Verhältnis zu einem anderen entsagen, um ein Einzelner zu werden. Er könnte Du zum anderen Menschen sagen, aber er verzichtet. Auch Gemeinschaft ist nicht erstrebenswert, im Gegenteil "Menge", "Man" ist die Unwahrheit. Der Einzelne, der ausbricht, ist Wahrheit, weil er Gott gegenübertritt. Die Wesensbeziehung des Verhältnisses von Mensch zu Mensch steht bei Kierkegaard nicht an erster Stelle, sondern die Beziehung zum Absoluten. - Der Mensch wird für Gott ein Einzelner. Diese Beziehung hält alles aus, ist stärker als der Tod, als die Einsamkeit und schlägt eine Brücke über den Abgrund der Weltangst, von Selbstsein zu Selbstsein mit Gott.

Heidegger dagegen hat den Einzelnen säkularisiert, d.h., die Beziehung zum Absoluten abgeschnitten. Sein Dasein ist ein Dasein ohne Gott. Der Mensch steht in seiner Sorge und Angst allein vor sich selbst und weiter vor dem Nichts. Er hat kein wesentliches Verhältnis zu einem anderen. Er kann kein Du sagen, nur ein fürsorgliches Verhältnis eingehen. Sein Verhältnis zur Gemeinschaft, zur anonymen Allgemeinheit, ist eine Flucht vor sich Selbst. Das "Man" nimmt Verantwortung ab, das Dasein geht darin auf. Es ist eine Lebenstat, sich davon zu befreien. "Man" ist rein negativ, selbstzerstörend, verwerflich. Das Dasein muß sich selbst entwinden, um zum Selbstsein zu kommen.

Das mag zeitenweise sicher richtig sein, aber die höchste Stufe ist nicht die Isoliertheit, sondern das Entschlossensein zum Mitsein mit den Anderen. Heideggers Dasein ist ein Dasein ohne dem Absoluten. Die Erschlossenheit des Daseins zu sich selbst ist seine endgültige Verschlossenheit.

Die Erlösung vom Man kann nicht die Aussonderung sein, sondern eine echte Verbundenheit. Ich plädiere für die vollkommene Verwirklichung des Du (Gegensatz Sie, Er, Es) und dementsprechend auch für das wahrhafte Wir (Gegensatz Man). Dieses wahrhafte Wir entsteht aus mehreren zum Selbst erwachsenen Personen. Das Du ist potentiell eingeschlossen. Die innere Struktur richtet die Wirkung und die Energien aus und macht sie fruchtbar und leidenschaftlich. Natürlich kann diese wesentliche Beziehung nur im Wechsel von Aktualität und Latenz gelebt werden.

Christine: Jetzt haben Sie es gesagt. "Nicht Aussonderung sondern echte Verbundenheit bringt Erlösung". Das muß den ganzen Menschen, die ganze menschliche Gemeinschaft und somit natürlich auch Behinderte und alle anderen Minderheiten betreffen. Nur ein gelebtes Miteinander, in dem das Du potentiell eingeschlossen ist, kann uns menschlich weiterbringen.

Buber: Werfen wir einen Blick auf die Lebensverhältnisse, in denen wir stehen und vergleichen wir zwischen Kierkegaard, Heidegger und meiner Auffassung:

Verhältnis zu der Welt und zu den Dingen:

Fehlt bei Kierkegaard. Dinge sind nur Gleichnisse.

Technisch zweckhaft, aber nicht wesentlich bei Heidegger.

Wesentlich in ihrer Ganzheit nach meinem Erachten.

Verhältnis zu den Menschen (zum Einzelnen und zur Vielheit):

Bei Kierkegaard bedenklich. - Ist zu überwinden.

Heidegger: Verhältnis der Fürsorge, also nicht wesentlich.

Nach meiner Erkenntnis: wesentlich. Schranken müssen durchbrochen werden.

3. Verhältnis zum Absoluten:

Bei Kierkegaard das einzig wesentliche. Sein (Welt und Mensch) = Gott.

Fehlt bei Heidegger, der Einzelne ist säkularisiert.

Mein Ziel des Weges kann nur Verbundenheit von allen drei Lebensverhältnissen sein -

Verbundenheit alles Seienden, das Gott geschaffen hat.

Es gibt noch ein viertes Lebensverhältnis: das Verhältnis zum eigenen Selbst, (Symbolischer Interaktionismus) aber das ist kein reales Verhältnis, weil die reale Zweiheit fehlt und es keine Vollendung gibt.

Die Vollendung des Verhältnisses (Du-sagen) zu den Dingen ist die Kunst; zu den Menschen: die Liebe; zum Geheimnis: die religiöse Verkündigung. Der Mensch kann nur zum Dasein gelangen, indem alle drei Arten seiner Lebensverhältnisse wesenhaft werden.

Die Frage nach dem Menschen ist nicht durch die Betrachtung des Daseins oder des Selbstseins als solches beantwortbar, sondern nur durch den Wesenszusammenhang allen Seins und aller Beziehungen, sonst steckt nur ein Geistwesen im Menschen, das dessen Leben lebt. Sonst ist der Mensch Nietzsches entartetes Tier oder Heideggers abgeschnürtes Geistwesen. Der Mensch ist das Wesen, das zum dreifachen Lebensverhältnis fähig ist, und sie zur Wesentlichkeit zu erheben vermag. Kierkegaard und Heidegger sind nur zu einem Wissen über den Rand des Menschen gelangt und nicht zu dessen Wesen. Bei Kierkegaard beginnt am Rand Gott, bei Heidegger das Nichts (s. Buber, 1954, S. 105-126).

Auch Max Scheler's (1874-1928) Anthropologie behandelt das Problem des Menschen als ein selbständiges philosophisches Problem. Der Mensch weiß nicht mehr, was er ist und weiß, daß er es nicht weiß. Er ist sich selbst äußerst problematisch geworden. Er will restlose Konkretheit, was ihn von anderen Lebewesen scheidet, oder was er mit anderen Lebewesen gemein hat. Er muß systematisch mit der Erfassung seines Wesens beginnen. Dazu muß er alle bisherigen Theorien über Bord werfen; eine tabula rasa als Ausgangspunkt nehmen und mit Verwunderung auf das Wesen Mensch zu blicken lernen (s. ebd., S. 127f).

Christine: "Mit Verwunderung und Staunen auf das Wesen Mensch blicken". - Was könnten wir vielleicht entdecken, wenn wir uns dieses Prinzip im Umgang mit Behinderten zunutze machen würden. "Was, so frage ich, gibt uns die Sicherheit so genau zu wissen, was in den Gehirnen der Kinder und Jugendlichen vorgeht, die wir in die Schulen für Geistigbehinderte verweisen?" fragt Georg Feuser (Feuser, 1996, S. 8) angesichts des Staunens über den Kosmologen, Physiker und Mathematiker Stephen Hawking. Wenn nicht Wege gefunden worden wären, mit ihm zu kommunizieren, hätten wir niemals Kenntnis gewonnen über seine Vereinheitlichungstheorie, seine Anwendung der Quantentheorien auf makrokosmische Probleme, seine Erkenntnisse über "schwarze Löcher" und die "Zeit" usw. Stephen Hawking erscheint schwerst behindert, ist auf den Rollstuhl und umfassende apparative und personale Hilfen angewiesen, weitgehend bewegungsunfähig und kann nicht mehr sprechen.

Buber: Scheler wendet diese von ihm geforderte philosophische Methode selbst nicht mit aller Strenge an. Er läßt die Betrachtung des wirklichen Menschen von einer Metaphysik durchdringen, die, neben dem eigenständig Erarbeiteten, von Hegel und Nietzsche beeinflußt ist. Es wird eine Lehre vom "Grund der Dinge", der sich "im zweifelhaften Ablauf des Weltprozesses selbst verwirklicht", eine Lehre vom menschlichen Selbst als "dem einzigen Ort der Gottwerdung", der uns zugänglich ist und der zugleich ein Teil dieser Gottwerdung ist. Sie weist auf die beiderseitige Angewiesenheit hin. In der Zeit wird nicht nur der Mensch, sondern auch Gott. Es gibt in Wahrheit kein anderes Sein als das der Zeit, in der sich das Werden vollzieht. Heideggers Lehre von der Zeit unterscheidet sich von Schelers grundsätzlich darin, daß die Zeit mit dem Dasein gleichgesetzt wird, von der Vollkommenheit in der Ewigkeit schweigt er. Bei Scheler löst sich das Sein selber in Zeit auf. Dadurch wird die Ewigkeit verneint.

Während des Weltkrieges hatte Scheler die entscheidende Erfahrung gemacht, die sich in seiner Überzeugung ausdrückt, daß der Geist ursprünglich und fundamental ohnmächtig ist.

Der Weltgrund (das urseiende Sein), hat zwei Attribute: den Geist und den Drang. In dieser Dualität besteht das Wesen des absoluten Seins. Diese Dualität verhält sich in einer Urspannung zueinander, die sich im Weltprozeß austrägt und ausgleicht. Das Sein wird auf die Zeit und den in ihr sich vollziehenden Weltprozeß beschränkt. Spinozas Attribute des Göttlichen waren - unter vielen anderen, uns unbekannten - Geist und Ausdehnung (statisch). Schelers Urprinzipien sind dieselben wie Schopenhauers: der Wille, den er Drang nennt und die Vorstellung, die er Geist heißt.

"Die Gottheit ist also für ihn nicht der Weltgrund selbst, sondern innerhalb seiner nur das eine von Zweien einander entgegengesetzten Prinzipien. Und zwar ist sie dasjenige von beiden, das 'als geistiges Sein keinerlei ursprüngliche Macht oder Kraft' besitzt und daher auch keinerlei positive schöpferische Wirkung auszuüben vermag. Ihr steht der 'allmächtige' Drang gegenüber, die Weltphantasie, die mit unendlich vielen Bildern geladen ist und sie zu Wirklichkeit werden läßt, aber für die geistigen Ideen und Werte ursprünglich blind ist" (Buber, 1954, S. 135).

Um das Geistige zu verwirklichen, muß der Drang enthemmt werden und den Weltprozeß in Gang bringen. Der Geist hat aber aus sich keine Energie. Er muß mit den Ideen die dynamischen Urmächte verlocken. Sie sollen die Ideen verwirklichen. Geist und Drang gehen ineinander ein; der Drang wird vergeistigt und der Geist verlebendigt. "Die entscheidende Stätte dieses Vorganges ist das Wesen, 'in dem das Urseiende sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu verstehen und sich zu erlösen beginnt', und in dem damit 'das relative Gottwerden beginnt'- der Mensch" (ebd., S. 136).

Leider klafft im modernen Menschen dieser Dualismus weit auseinander. Dem abgelösten Geist droht die unfruchtbare ohnmächtige Lebensferne und die verdrängten Triebe drohen seine Seele zu vernichten. Er muß Sorge tragen, zur Einheit, zum Einheitsgefühl und zum Einheitsausdruck zu gelangen. Das Loslassen der Triebe, die dann der Geist leiten soll, bringt nicht die Lösung, denn der Geist vermag nicht mehr, Ideen und Werte glaubhaft zu machen. Der Ursprung dafür liegt in der seelischen Verfassung unseres Zeitalters.

Ein unlöslicher Widerspruch ist in Schelers Lehre enthalten. Er macht die Ohnmacht des Geistes zu einer urseienden, sie ist aber eine gewordene. Der Geist hat seine verlockende Macht verloren. Aus welcher Kraft sonst sollte der Geist den Drang enthemmen, als aus seiner urseienden, damit in der Geschichte der Welt der Geist verwirklicht werden kann? Diese Kraft kann nur aus dem Geist selber kommen - ursprünglich gibt es also eine Übermacht des Geistes, die hemmen und enthemmen kann. Der Urgeist hat eine so große Macht, daß sie alle Bewegungskraft, aus der die Welt hervorgeht, hemmen und enthemmen kann. Macht ist eine Fähigkeit, Kräfte in Bewegung zu setzen. Und diese ursprüngliche Macht besitzt der Geist.

Der Anfang der Kraft, der Schöpfung, ist nach wie vor ein Geheimnis, aber auf keinen Fall ein Nichts. Im Menschen wird das Geistige des Seienden manifest, "in der Konzentrationseinheit der sich zu sich sammelnden Person".

Dieser menschliche Geist ist ohne alle Macht und läßt sich durch die Lebenstriebe "mit Energie beliefern". D.h, der Mensch sublimiert seine Triebenergie zu geistigen Fähigkeiten: Der Geist leitet den Willen mit Ideen und Werten und ködert damit die Triebe. Aber ist das der Mensch? Für Asketen mag das gelten. Aber große Philosophen haben nicht immer asketisch gelebt. Es scheint, daß ihrem Denken schon in der Urverfassung ihres Daseins ein hohes Maß an Mächtigkeit zugeteilt worden ist. Zudem ist der Asket nicht von vornherein der Grundtyp des geistigen Menschen, wie man gerade im Bereich der Kunst sehen kann. Es findet auch nicht eine ewige Verhandlung zwischen Geist und Trieben statt, sondern die Triebe hören auf den Geist um der Ideen willen, und der Geist hört auf die Triebe um der Verbindung mit den Urmächten willen. Es ist überhaupt nicht nur ein Verhandeln zwischen Geist und Trieben, sondern auch zwischen Geist und Geist, zwischen Trieb und Trieben, zwischen einem Gebilde aus Geist und Trieb und einem anderen Gebilde aus Geist und Trieb. Das Leben läßt sich nicht auf die Dualität von Geist und Trieb reduzieren (s. ebd., S. 128-143).

Christine: Dualität ist sowieso immer etwas Statisches und daher dem Menschen nicht angemessen. Polarität in seiner Dynamik trifft da wesentlich besser zu.

Wir sind also wieder bei der Einheit, bei der Ganzheit des Menschen angelangt. War es bei Augustinus Körper und Seele, in die der Mensch gespalten wird, ist es nun Geist und Trieb.

Buber: Die Eigenart des Geistes will Scheler als das spezifisch Gute des Menschen versus der technischen Intelligenz, die wir mit den Tieren gemeinsam haben, darlegen. Am Beispiel des Schmerzes zeigt er auf, daß die Wissenschaft nur am Entstehen und Beseitigen des Schmerzes interessiert ist. Der Geist aber fragt nach dem Zusammenhang mit dem Grund der Dinge. Er weiß, daß die Welt von Schmerz durchsetzt ist und fragt nach dem Wesen des Schmerzes selbst. Der Geist erhebt sich über den Schmerz, begibt sich hinein und will ihn erkennen, um ihn dann von der dämonischen Sprache des Schmerzes in die Sprache der Ideen (Bion) zu übertragen. Nachdem er in sein Wesen eingedrungen ist, kann er ihn abstrahieren und dadurch mit ihm "umgehen". Dieses betrachtende Denken muß aber ein zweites sein. Als Erstes steht die Entdeckung eines Seins durch Kommunikation in einem geistigen Akt. Als Voraussetzung muß der Mensch in die Tiefe des Schmerzes eines anderen Wesens wirklich eindringen. Nicht mit "Mitleid", das dringt nicht zum Sein vor, sondern mit der "großen Liebe" (s. ebd., S. 143-146) (s. auch Teil III, Wandlung im Geist). "Nur die Teilnahme am Sein der seienden Wesen erschließt den Sinn im Grunde des eigenen Seins" (Buber, 1954, S. 146).

Christine: Statt Schmerz kann ich andere Begriffe einsetzten, z.B. Glück, Leid, Behinderung, dann bin ich wieder bei "Einer flog über das Kuckucksnest". Das Eindringen in die Ganzheit eines Zustandes mit all seinen Beziehungen gibt mir Auskunft über das Wesen dieses spezifischen Zustand des Menschseins.

Klaus Dörner hat zwei Menschenbilder entworfen, die sich gegenüberstehen und gleichzeitig einander bedingen. Das eine ist das sozialisierte Menschenbild der Zwischenmenschlichkeit, das andere das medizinisch-technische, rationale Menschenbild. Sie verhalten sich zueinander wie folgt:

"Menschen kommen nur in der beziehungsstiftenden und Bedeutung-zusprechenden Mehrzahl vor, wobei es grundsätzlich immer nur um Beziehungen zwischen jeweils stärkeren und schwächeren Menschen geht. Der Mensch in der Einzahl, also als Individuum, ist demgegenüber nur eine künstliche und technische Abstraktion. Vom Menschen in der Einzahl zu sprechen, ist immer nur unschädlich im Schutz seiner grundsätzlichen Sozietät.

Menschen gestalten ihr Verhältnis zu sich und anderen grundsätzlich leidend. Nur im Schutz dieses Rahmens ist es unschädlich, auch vom Glück der Menschen zu sprechen. (d.h.: der Mensch soll nicht so leiden, wie wir es wahrnehmen. Es ist besser, ihn sterben zu lassen bzw. ihn zu töten. Siehe auch die moralische Bewertung des Utilitarismus, die besagt, daß die moralische Richtigkeit einer Handlung durch ihren Beitrag bestimmt ist, den sie für das Glück aller Betroffenen bewirkt - 'summum bonum').

Menschen haben grundsätzlich Würde, während wir nur Sachen einen Wert zusprechen, ein Begriff, der seine Herkunft aus der Wirtschaft nie verlieren kann, zumal nur Werte und damit nur Sachen sowohl positiv als auch negativ sein können. Nur im Schutz der grundsätzlichen Würde des Menschen ist es unschädlich, Menschen z.B. unter dem ausgestanzten Leistungsaspekt auch einen Wert beizumessen.

Menschen sind grundsätzlich handelnde Subjekte. Nur im Rahmen dieses Schutzes ist es möglich und erlaubt, sie auch unter dem Aspekt eines Objektes, z.B. als biologische Materie, wahrzunehmen.

Menschen leben in Alltagstraditionen, haben gegenüber dem Tier eine 'exzentrische Position' (H. Plessner); d.h. sie finden den für sie notwendigen Halt dadurch, daß sie sich in dreifacher Hinsicht überschreiten, in Richtung auf die Welt, auf den Anderen, und auf die Zukunft; sie gewinnen ihren Halt von den Entwürfen, die sie selbst machen. Nur im Rahmen dieses Schutzes ist es unschädlich, daß sie sich auch bemühen, sich so rational wie möglich zu begründen, zumal dieses ohnehin nur partiell gelingt" (Dörner, 1994. S. 133).

Dörner geht in seinen Ausführungen von der These aus, daß die Angebote und Leistungen der Medizin grundsätzlich immer nur "asozial" sind. Damit sie sich möglichst konstruktiv und möglichst wenig destruktiv auswirken, bedürfen sie zusätzlich stets einer Sozialisierung. In Grenzsituationen, z.B., wenn es um Entscheidungen geht, ob Maschinen abgeschaltet werden sollen, in einem solchen übermächtigen medizinisch-technischen Kontext der Intensivstation ist das medizinisch-technische Menschenbild vorherrschend. Gerade aber in einer solchen Situation ist es ungeheuer wichtig, sich auf das sozialisierte Menschenbild der Zwischenmenschlichkeit zu besinnen, und in seinem Kontext Entscheidungen zu treffen.

Mir scheint, daß man diese zwei Menschenbilder mit dem spezifisch Guten des Menschen versus der technischen Intelligenz in Zusammenhang bringen kann. Man sieht sehr deutlich, wie wichtig der Rahmen des einen zum Schutz des anderen ist. Ohne diesen Schutz ist die Verabsolutierung der Individualität des Menschen, seines leidfreien Glücks, seines ökonomischen Wertes, seiner wissenschaftlichen Objektivität und seiner Rationalität, seiner rationalen Begründbarkeit mörderisch. Andererseits kann unter diesem Schutz unsere wissenschaftliche und technische Rationalität aus einer dienenden Position heraus segensreich wirken (s. ebd., S. 131-134) (s. auch Teil II, Euthanasie).

Buber: In dieses sozialisierte Menschenbild scheint mir das Eindringen des Geistes als etwas wirklich Geschehendes zu erfolgen. Der Geist ist nicht nur etwas, was einfach ist, sondern etwas, das plötzlich geschieht - auch wenn man es nicht erwartet. Ein Kind lebt zuerst in der Welt der Dinge, erzählt mythisch aus Traum und wacher Schau, aus Erfahrung und Phantasie - und plötzlich ist der Geist da, ohne Askese und Sublimierung. Der Geist im Kind war natürlich immer da, aber verbunden mit Trieben und Dingen. Plötzlich aber hat es den Trieb zum geistigen Wort.

Im Alltag passiert es, daß wir plötzlich den Grund der Dinge erfahren und dann äußern wir uns selbst unbekannte Einsichten durch - und über - die Teilnahme am Sein der Welt. Vorher ist es allerdings oft notwendig, die Erfahrung des Widerstandes, des Nichtgelingens erlebt zu haben. Und plötzlich ist Eintracht mit den Dingen und Trieben spürbar. - Der Geist erwächst aus der Eintracht mit den Dingen und den Trieben.

Die Sonderstellung des Menschen beruht also auf dem Prinzip des Geistes. Der Mensch ist Geistwesen als Prozeßrichtung, und das ist der Wesensunterschied zwischen dem Menschen und dem Tier. Der Werkzeugmacher-Mensch unterscheidet sich vom Tier in Graden. Der Mensch aber, der über sich hinausgeht, ist ein anderes Wesen.

Bei Scheler beginnt der Mensch erst beim "Gottsucher". Ich bin der Meinung, daß es monströs wäre, wenn der nichtreligiöse Mensch nicht wesensgleich wäre. Der Mensch fängt dort an, wo er an der Gottferne leidet, ohne es zu wissen (s. Buber, 1954, S. 147-151).

Christine: Es kann doch wohl nicht sein, daß der Mensch, wenn er diese Fähigkeit zu leiden oder nicht zu leiden - und ich meine jetzt nicht nur das Leiden an der Gottferne, sondern jegliches Leiden, dann auch die Fähigkeit, zu wissen oder nicht zu wissen, nicht hat, kein Mensch ist?

Buber: Die Fähigkeit zu leiden und damit umzugehen, hat etwas mit dem Geist zu tun (s. Teil III), mit dem Geist, der allen Menschen wesenhaft zuteil ist. "Der Geist ist in Funken dem Leben aller eingetan, aus dem Leben der Lebendigsten schlägt er in Flammen hervor, und zuweilen brennt irgendwo ein großes Geistesfeuer. All dies ist einesWesens und einerSubstanz" (ebd., S. 151f).

Der Geist ist ein Ereignis, das plötzlich eintritt. Er ist zwar immer schon da, aber verbunden mit Trieben und Dingen, z.B. der geistige Trieb zum Wort. Der Geist erwächst aus der Eintracht mit den Dingen und den Trieben, aus der Teilnahme des Menschen am Sein der Welt. In solchen Momenten fühlt man sich eins mit sich und der Welt. Und das ist jedem Menschen - unabhängig von seinem Zustand - möglich.

Deshalb gehört es nicht zum ursprünglichen Wesen des Geistes, durch Verdrängung und Sublimierung der Triebe zu entstehen. Dieses Problem ist in der Lage und in der Beschaffenheit des typischen heutigen Menschen begründet. Der heutige Mensch ist krank in seinem Verhältnis zu anderen und zu seiner Seele (s. ebd., S. 151ff).

Christine: Die Psychoanalyse und andere Psychotherapien wie z.B. die integrative Gestalttherapie, sind bemüht, die Integration des Menschen wieder herzustellen. Sie versuchen Werte - interessanterweise auch Werte aus dem alten Judentum wie Geschichte, Gefühle, Beziehung, Gerechtigkeit, Gesetz im Herzen, Liebe usw. - wieder hereinzuholen und dem Menschen zu seiner Ganzheit zu verhelfen.

Buber: Unsere Zeit ist geprägt von einer Krise des Vertrauens. In allen anderen Krisenzeiten gab es noch eine soziale Gewißheit, ein Vertrauen in das Getragenwerden von organischen Gemeinschaften. Wenn organische Gemeinschaften von innen her zerfallen, wird das Wünschen vom Mißtrauen erstickt und die Umwelt wird feindlich. Nun ändern sich die Wege des Geistes. Vorher war er da in der konzentrierten Kundgebung der Ganzheit des Menschen. Das gibt es jetzt nicht mehr - die Ganzheit ist verlorengegangen. Der Geist kann sich nur mehr in der krampfhaften Entfremdung gegen die Triebe behaupten (s. ebd., S. 152ff). "Die Scheidung zwischen Geist und Trieben ist hier - wie oft - die Folge der Scheidung zwischen Mensch und Mensch"(ebd., S. 154f).

Christine: Diese Ganzheit des Menschen war wohl immer nur ein Ideal, wie uns die Geschichte zeigt. Im Judentum war diese Ganzheit von Gott her gegeben, aber der Mensch war nicht in der Lage, das zu leben. Das Christentum hätte den Menschen eine neue Chance geben sollen. Wiederum gelang es nicht, sie zu nützen. Zu groß waren die Einflüsse der Gnosis und ihre Dualität, die bis heute nachwirkt.

Buber: Am Anfang - solange der Mensch innig an der erfahrbaren, aber für ihn unverstandenen Welt teilnimmt, im Nahkampf sozusagen, im intimen Streit und Frieden mit ihr, ist der Geist als Sonderwesen noch nicht da. Er ist reine Macht, die Macht, die den Menschen zu dieser Teilnahme an der Welt befähigt. Erst wenn wir die Welt erfassen wollen, das erfahrene Chaos zum Kosmos zu binden versuchen, wenn aus Licht Bild wird, aus Lärm Klang, aus Durcheinander Begriff, erwächst aus der einheitlichen Macht der Geist als Teil des Ganzen, als Sonderwesen. Das Bild will gemalt und gezeigt werden. Der Klang will gesungen und gehört werden, die Gestalt will geschaffen und wahrgenommen werden. Das Wort will gesprochen werden - von Anfang an. Die Welt wird zu einer Welt zwischen den Menschen. Und immer ist Geist reine Macht.

Wenn Geist zur Ohnmacht wird, ist es stets ein Symptom des Gemeinschaftszerfalls (s.Teil III, die Sünde gegen den Geist). "Das Wort wird nicht mehr aufgenommen, es bildet und ordnet das Menschliche nicht mehr, dem Geist wird die Teilnahme an den Seelen verwehrt, und er kehrt sich ab, er schneidet sich von der Einheit des Lebens los, er flüchtet in seine Burg, die Burg des Gehirns. Bis dahin dachte der Mensch mit dem ganzen Leibe, und noch mit den Fingerspitzen, von da an denkt er nur noch mit dem Gehirn. Erst jetzt erhält Freud den Gegenstand seiner Psychologie: den erkrankten Menschen, der von der Welt getrennt und in Geist und Triebe gespalten ist. Solange wir wähnen, dieser kranke Mensch sei derMensch, der Mensch überhaupt, werden wir ihm keine Heilung bringen" (Buber, 1954, S. 156).

Der Unterschied zwischen Mensch und Tier muß natürlich auch genetisch betrachtet werden. Er manifestiert sich nicht sosehr in der Ablösung von den triebhaften Verbindungen mit den Dingen und Wesen, als vielmehr in einer neuen Art von Zuwendung. Diese Fähigkeit zur Zuwendung ohne einen Zweck damit zu verfolgen, ist ursprünglich im Menschen da. Die Dinge sind nicht nur verwendbar und zweckhaft, sondern etwas Angeschautes, etwas Selbständiges. Sie können zu einem Gegenstand der Beziehung werden.

Auch im Verhältnis zu anderen Menschen ist eine Zuwendung möglich geworden. Nicht das allgemein Triebhafte ist das ursprünglich Bestimmende, sondern die Zuwendung zu den Menschen als zu Personen, die unabhängig von einem Bedürfnis selbständig und dauernd da sein kann. Daraus konnte die Sprache entstehen. Einheit von Geist und Trieb ist entstanden. Das Wesen des Menschen ist nicht vom Innern des Einzelnen aus zu erfassen und nicht von Schelers Selbstbewußtsein aus, sondern von der Eigenart seiner Beziehungen zu den Dingen und Wesen (s. ebd., S. 155-158) (s. auch Teil II, Lebensrecht).

Christine: Den Unterschied zwischen Mensch und Tier, festgemacht an der Fähigkeit der Zuwendung ohne einen Zweck, nennen Sie also einen genetischen. Leider ist ein solches Gen bis heute nicht nachweisbar - so wie keine der menschlichen Kategorien biologisch festzumachen sind. Das erschwert zwar eine rationale Argumentation, enthebt aber den Menschen auch jeder Meßbarkeit.

Trotzdem wird der Mensch immer mehr genetisch manipulierbar. Einerseits gibt es Samenbanken, wo man sich mit ausgewählt "guten" Genen befruchten lassen kann (sehr vereinfacht ausgedrückt), andererseits ist esmöglich, durch genetische Untersuchungen Träger von Erbkrankheiten zu erkennen oder genetische Schädigungen im Mutterleib festzustellen. Daraus folgt dann häufig die eugenische Indikation, d.h. Abtreibung.

Frauen sind in dieser Richtung einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. So gibt es z.B. Überlegungen, Mütter, für die durch ihre "Fahrlässigkeit" an ihren Kindern entstandenen Schäden haften zu lassen. "Fahrlässig" hieße demnach auch, die pränatale Diagnostik zu verweigern und ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Im Herbst 1986 wurde in Hamburg eine Ärztin zur lebenslangen Unterhaltszahlung für ein Mädchen mit Down-Syndrom verurteilt, weil sie dessen Mutter nicht vor der Geburt zur Amniozentese (Entnahme von Fruchtwasser zur Diagnoseerstellung) geraten hatte, obwohl diese bereits 35 Jahre alt war. Entsprechend diesem Gerichtsurteil war das behinderte Kind demnach ein "Schadensfall", der zu "verhindern" gewesen wäre (s. Malina, 1990, S. 159) (s. Teil II, Pränatale Diagnostik).

"Die Entwicklung der Humangenetik bedeutet eine Gefahr für das Menschenbild. Der Mensch erscheint immer mehr als machbar. Die Bereitschaft, ihn mit seinen Fehlern zu nehmen wie er ist, wird immer geringer, und man meint, worüber man selbst verfügen kann, das könne man auch beliebig vernichten" (Rotter, 1987, S. 34).

Damit bin ich mit der Entwicklungsgeschichte im Umgang mit Behinderten zum "Heute" gekommen. Der behinderte Mensch wird bis in unsere Zeit kaum als gleichwertig angesehen. Gewiß gab es immer Menschen, die prinzipiell für den Schutz des Lebens und Mitleid gegenüber Schwächeren eintraten, aber allzugerne überließ man die Verantwortung Ärzten und Politikern, Pädagogen und Therapeuten, die Menschen oft als "Krankengut" auf ein Forschungs- bzw. Betreuungsprojekt reduzierten. Wenn auch die Lage der Behinderten noch nie so gut war wie heute, liegt doch noch sehr vieles im argen, besonders in bezug auf gleiche Rechte und gleiche Würde; auch wenn das vielen Menschen, die sehr wohlwollend mit Behinderten umgehen, nicht bewußt ist.

Auf der anderen Seite gibt es immer stärkere Tendenzen, das Leben in Frage zu stellen. Die pränatale Diagnostik mit nachfolgender eugenischer Indikation hat gesellschaftlich bereits Eingang gefunden. Der Entwurf zur Bioethik-Konvention der EU enthält Punkte, nach denen Forschung und Behandlung an nicht einwilligungsfähigen Menschen zum Wohle der Menschheit durchgeführt werden dürfen. Euthanasie Schwerstkranker auf Verlangen ist bereits in manchen Ländern erlaubt. Das Lebensrecht ist in Gefahr.

Integration in der Pflichtschule muß zwar auf Verlangen der Eltern gesetzlich durchgeführt werden - ein langer, harter Kampf - aber die Bestrebungen der Behörden gehen immer noch wesentlich stärker Richtung Aussonderung. Es werden immer noch neue Sonderschulen und Sondereinrichtungen mit großem Aufwand gebaut. Gleichzeitig wird argumentiert, daß Integration zu teuer sei, was einer Überprüfung nicht standhält.

Ich möchte noch einmal Feuser zitieren: "Ich denke, jeder Mensch muß den Menschen wichtig sein, sonst haben wir als Menschheit keine Überlebenschance" (Feuser, 1996, S. 9). Der Regelpädagogik muß vermittelt werden, daß sie die "Behinderten" wichtig nehmen und sie vorurteilslos als gleichberechtigte und gleichwertige Schüler und Schülerinnen anerkennen muß. "Geistigbehinderte" Menschen sind nicht mehr in Sonderinstitutionen zu fördern, sondern in Kooperation; mit den Menschen, die wir als geistigbehindert klassifizieren, müssen wir einen gemeinsamen, von Solidarität getragenen Erfahrungsschatz, eine gemeinsame Kultur schaffen (s. ebd., S. 9f).

Buber:Sie sind der Zeit ein bißchen vorausgeeilt.In der Problemgeschichte des Menschen befinde ich mich noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir haben an den zwei bedeutenden Versuchen Heideggers und Schelers gesehen, daß eine individualistische Anthropologie, die sich im wesentlichen nur mit dem Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst, mit dem Verhältnis zwischen dem Geist und den Trieben in ihr usw. beschäftigt, nicht zu einer Erkenntnis des Wesens des Menschen führen kann. Nur aus der Betrachtung der menschlichen Person in der Ganzheit ihrer Wesensbeziehungen zum Seienden können wir eine Antwort finden.

Wenn wir eine Antwort gefunden haben, müßte sich die Wesensbeziehung unter den Menschen grundsätzlich ändern. Das müßte sich auch auf den Umgang mit Behinderten in einer integrativen Weise auswirken.

Der Mensch, der die Einsamkeit überwindet, ohne die fragende Kraft einzubüßen, ist in der Lage, das Wesen des Menschen in seiner Tiefe zu erfassen und auf eine Antwort hinzuweisen. Hier wird dem menschlichen Denken eine lebensmäßig neue Aufgabe gestellt. Ein neuer Prozeß der Überwindung der Einsamkeit kann beginnen.

Zuerst aber mußte der Mensch noch tiefer in Heimlosigkeit, Welt- und Lebensangst hinein, eine Einsamkeit wie es sie noch nie gegeben hat - ausgesetzt von der Natur, als Person isoliert.

Die erste Reaktion auf diese Ausgesetztheit war der moderne Individualismus - die zweite der moderne Kollektivismus. Hier wurde nur ein Teil des Menschen erfaßt, dort nur der Mensch als Teil. Die Ganzheit wurde verfehlt. Hier sieht sich der Mensch nur auf sich bezogen, dort wird der Mensch überhaupt nicht gesehen, nur die Gesellschaft. Hier ist das Bild des Menschen verzerrt, dort verdeckt. Der Individualismus wollte die Lage bejahen, das Ausgesetztsein und die Isoliertheit akzeptieren, ja glorifizieren, um sich vor der Verzweiflung zu retten. Diese Grundlage ist aber nur eine imaginäre und reicht nicht aus, die gegebene Situation faktisch zu bewältigen. Der Kollektivismus, der folgt, sucht der Vereinsamung zu entgehen, indem der Mensch sich in ein massives Gruppengebilde flüchtet. Das funktionierende Ganze trägt die Hoffnung auf "Erlösung vor der Heimlosigkeit". Imaginär ist hier nichts, aber illusionär. Die Realität ist zwar gesichert, aber der Mensch im Kollektiv ist nicht der Mensch mit dem Menschen. Das persönliche Wesen wird abgetötet, unempfindlich. "Der Kollektivismus ist die letzte Schranke, die der Mensch vor der Begegnung mit sich selbst aufgerichtet hat" (Buber, 1954, S. 163).

Die Einsamkeit kann nur durchbrochen werden, wenn der Einzelne den Anderen in all seiner Anderheit, als sich, als den Menschen erkennt. Die Entscheidung ist nicht Individualismus oder Kollektivismus, sondern "ein echtes Drittes" (s. ebd., S. 159-165).

"Es wurzelt darin, daß ein Wesen ein anderes als anderes, als dieses bestimmte andere Wesen meint, um mit ihm in einer beiden gemeinsamen, aber über die Eigenbereiche beider hinausgreifenden Sphäre zu kommunizieren. Diese Sphäre, mit der Existenz des Menschen als Menschen gesetzt, aber begrifflich noch unerfaßt, nenne ich die Sphäre des Zwischen. Sie ist eine Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit, wenn sie sich auch in sehr verschiedenen Graden realisiert" (ebd., S. 166).

Christine: Dieses "Zwischen", diese Kommunikation kann mit jedem Menschen, mag er noch so schwer geschädigt sein, stattfinden. Ich muß nur die richtige Form finden. Wenn sich ein Mensch z.B. nur mit der Drehung einer Hand verständlich machen kann, genügt diese Bewegung, um mit ihm in Kontakt zu kommen, sofern man diese Fähigkeit wahrnimmt und ihr entspricht. Die Bewegung kann zu einem ganzheitlichen Erleben werden, welches die Differenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung übergreift. Jeder Partner wird zugleich bestimmt und ist bestimmend. Ein Rhythmus entsteht: ein Rhythmus von Kontakt und Rückzug (vgl. Frohne, 1981, S. 23-68).

Buber: Diese Beziehung ist faktisch zwischen den Einzelnen und dieses "Zwischen" ist der wirkliche Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens (s. Teil III, Beziehungsgeschehen im Geist). Es konstituiert sich jeweils neu. Ein wirkliches Gespräch, eine wirkliche Lehrstunde, eine wirkliche Umarmung ereignet sich zwischen beiden in einer ihnen beiden zugänglichen Dimension. Es widerfährt mir ein "äußerer Vorgang", aber es bleibt mir ein "innerer Eindruck". Wenn ich und ein anderer uns so begegnen, wenn mir so etwas widerfährt, bleibt etwas bestehen, irgendwo, wo die Seelen aufhören und die Welt noch nicht begonnen hat, und das ist das Wesentliche. Es kann überall und jederzeit geschehen, in jenen Augenblicken, die aufblitzen und wieder vergessen sind. Dieses dialogische Verhältnis ist etwas Ontisches, nicht nur ein Gefühl; etwas Transzendierendes zwischen beiden, von der Übereinstimmung bis zum tragischen Widerspruch (s. Buber, 1954, S. 166-169).

"Jenseits des Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen. Für die Lebensentscheidung der kommenden Geschlechter ist durch diese Wirklichkeit, deren Entdeckung in unserem Zeitalter begonnen hat, der Weg gewiesen, der über Individualismus und Kollektivismus hinausführt. Hier deutet sich das echte Dritte an, dessen Erkenntnis dazu helfen wird, dem menschlichen Geschlecht echte Person wiederzugewinnen und echte Gemeinschaft zu stiften" (ebd., S. 169).

Zusammenfassende Bemerkung:

Alle Versuche, das Wesen des Menschen zu begreifen, scheitern, wenn der Mensch nicht in seinem Beziehungsgeschehen erfaßt wird.



[1] Wir feierten 1998 50 Jahre Menschenrechte. Aufgrund der mangelnden Verwirklichung in vielen Bereichen (auch im Umgang mit Behinderten) wurde von Menschenrechtsorganisationen - wie Amnesty International - betont, daß dieses Jubiläum mehr ein Grund zum Nachdenken als zum Feiern sei.

[2] Diese Bibelstelle wird gerne tiefenpsychologisch interpretiert. Die inneren Dämonen (Ängste) müssen ausgetrieben werden - aus dem Es muß Ich werden (Freud).

[3] Eine interessante Betrachtensweise in Zusammenhang mit Freuds Todestrieb.

[4] Tiefenpsychologisch gesehen wird das krankhafte Beziehungsgeschehen, das wir selbst "ererbt" haben wieder an die Kinder weitergegeben - Erbsünde?

Teil II Der Mensch ist dem Wesen nach Mensch und verwirklicht sich im Zwischenmenschlichen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung:

Buber geht in vielen seiner Schriften, hauptsächlich im "Dialogischen Prinzip", dem Wesen und der Ganzheit des Menschen nach. Das eigentlich Menschliche verwirklicht sich zwischen den Menschen. Bubers Menschenbild basiert also auf dem, was zwischenmenschliche Beziehung zu nennen ist. Sie ist die Grundlage der Entwicklung und des Wachstums des Menschen. Nicht im "Sein" verwirklicht sich der Mensch, sondern im "Mitsein", in der Begegnung. Er spricht vom "eingeborenen Du", von einem "Trieb nach Verbundenheit", die jedem Menschen "a priori" innewohnt, und den er in der konkreten Begegnung aktualisieren muß. Im Sprechen der Grundworte Ich-Du und Ich-Es drückt sich eine Haltung aus, die den Menschen in ihrem Wesen erfaßt oder aber ihn verfehlt.

Besonders im Umgang mit Behinderten scheint es mir wichtig, zwischen einer Subjekt- und einer Objekt-Beziehung zu unterscheiden. Allzuleicht passiert es, daß wir Menschen, die nicht unseren Normen entsprechen, nicht als das gegenüberseiende Wesen sehen, sondern als ein Objekt, das man als defizitär beschreibt, dem man zwar Hilfe angedeihen läßt, das man aber auch abqualifiziert und ausgrenzt.

Martin Bubers Menschenbild setzt dort an, wo der "Andere" als Person wirklich gemeint ist, und wo ich ihn in seiner Unterschiedlichkeit, in seiner Andersheit auch annehme und bestätige; annehme in seinem momentanen Befinden, aber auch bestätige in seiner ganzen Existenz, sodaß der Mensch ein "Ja des Seindürfens" erfährt und selbst Ja sagen kann.

In dem Buch "Logos - Zwei Reden" (1962) geht ganz klar hervor, daß das Sein jedes Menschen einen Sinn hat, der von niemand anderem in Frage gestellt werden darf. Der allen Menschen innewohnende Logos (das "Wort", der "Geist") erfüllt sich zwischen uns. Mit diesen Gedanken möchte ich ein Recht auf Leben für alle begründen; also gegen Euthanasie und Abtreibung (insbesondere als Folge pränataler Diagnostik) eintreten.

Methodische Anmerkungen:

Es geht mir nicht um eine Diskussion oder Wertung von Bubers Dialogphilosophie, sondern um die Darstellung von Bubers Ansichten als Idealtypus im Sinne von Max Weber: Komplizierte Gedankengebilde (Ideen) sind nur in Gestalt eines Idealtypus (Provisorium für die Verständigung - keine Hypothese) darstellbar. Idealtypen (z.B. das Christentum) sind von heuristischem Wert für die Forschung, von systematischem Wert für die Darstellung und dienen zur Vergleichung und Messung der Wirklichkeit. Per se ist der Idealtypus gegenüber der wertenden Beurteilung völlig indifferent.

In einem weiterführenden Verständnis zu dieser ersten Bedeutung eines heuristischen Hilfsmittels der Deskription verwende ich Bubers Idealtypus als "vorbildlichen Typus" über das dauernd Wertvolle, und als solcher kann er zu einem persönlichen Bekenntnis werden.

Die Arbeit ist unter dem Aspekt der Entscheidung für Bubers Idealtypus des Menschen (der seinem Wesen nach immer Mensch ist, immer vom Geist durchdrungen ist, immer in Beziehung steht) zu sehen. Zum Vergleich und zur Verstärkung der Ansichten ziehe ich von mir ausgewählte Autoren heran. Dies konnte unter der Fülle des Materials und der Breite des Themas nur beispielhaft erfolgen.

Ich habe für die Teile II und III dieses Darstellungsprinzip gewählt, weil es den Wechsel vom Großen zum Kleinen und zurück ermöglicht - also vom Denkmodell zur Lage des einzelnen und zur Lage einzelner Gruppen - und sich aufgrund der Verallgemeinerung Schlüsse ziehen lassen, die auf Veränderung abzielen. Ich stelle an den Anfang jeden Kapitels ausgewählte Zitate von Buber als Beschreibung des Idealtypus (eingerückt hervorgehoben) und schließe einige Ausführungen an, wie sich die Realität - aus meiner Sicht - darstellt. Dazu bediene ich mich verschiedener Schriften und meiner eigenen Erfahrungen (eigene Meinungen sind kursiv gedruckt, eigene Erfahrungen mit meinem Sohn Jakob kursiv und kleiner). Als nächstes versuche ich - wiederum aus Texten und eigenen Erfahrungen - Wege der Änderungen, die dem Idealtypus Bubers näherkommen, aufzuzeigen.

Ich habe - mit wenigen Ausnahmen zusammengefaßter Textteile - fast ausschließlich Zitate von Buber verwendet, um seiner Sprache, seinem Ausdruck Raum zu geben. Für mich ist das Lesen dieser Texte ein "Schauen", das über eine Es-Beziehung hinausgeht. Vielleicht hat die Arbeit dadurch etwas "schwärmerisch" Idealistisches, aber ich hoffe - angesichts von Bubers Menschenbild - auch etwas Visionäres. Damit will ich sagen, daß Ideale in der Realität nicht lebbar sind. Trotzdem ist es meiner Meinung nach legitim, ja geradezu Aufgabe der Wissenschaften - besonders der Erziehungswissenschaften - Ideale zu erforschen und die Erkenntnisse auf dem Boden der Wirklichkeit umzusetzen zu versuchen.

Wenn ich es wage, am Ende jedes Hauptteiles einen Satz als Schlußfolgerung zu formulieren, so ist das zweifellos ein hochgestecktes Ziel. Auch das sind konstruierte Gebilde zur Verdeutlichung des Gemeinten ohne Anspruch auf absolute Erkenntnis (gemeint ist der Anspruch, Realtypen zu kreieren, die in der Wissenschaft grundsätzlich niemals zu erzeugen sind).

Andere wichtige methodische Ansätze bleiben im weiteren die Hermeneutik, die Phänomenologie, die Psychoanalyse, die Narration (Interpretation miteingeschlossen) und die Alltagsgeschichtsschreibung. Gesellschaftsgeschichte ist im Forschungsprozeß als Doppelkonstruktion sozialer Wirklichkeit zu sehen: Der Mensch handelt in Strukturen eingebunden, diese verändern sich und beeinflussen wiederum sein Handeln (s. Sieder, 1995). Dem Handelnden bieten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten im Umgang mit diesen gesellschaftlichen Strukturen: Leben im und mit dem System oder Ablehnung desselben und Streben nach einer Veränderung.

Im Umgang mit Behinderten gibt es eine Ungleichheit zwischen Behinderten und Nicht-behinderten, die zu hinterfragen und - meiner Meinung nach - zu verändern ist. Der Buber'sche Mensch kann als ein Idealtypus im engeren und weitergeführten Weber'schen Sinne verstanden und als solcher analysiert werden, eingebunden in die Struktur. Somit ist das Verhalten des Menschen und die Struktur veränderbar. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, Ziele dafür zu erarbeiten. Die Wechselseitigkeit ist im Umgang mit Behinderten stark beobachtbar: Behinderte, die nicht in den Ghettos der Aussonderungsstrukturen leben, beeinflussen die Strukturen, und die Strukturen, die Integration ermöglichen, wirken verändernd auf die Behinderten. Ein Kreislauf, der schwierig in Bewegung zu setzen ist, aber immer weitere Kreise zieht.

Textauswahl und Kontextinterpretation sind in dieser Arbeit natürlich vom Vorverständnis der Autorin geprägt, was zu falschen Schlüssen führen kann und einer strengen Wissenschaftlichkeit widerspricht. Ich habe mich aber bemüht, dieses Vorverständnis immer wieder kritisch zu hinterfragen, und ich habe mich deshalb auch besonders intensiv mit Gegenpositionen wie den Singer'schen Utilitarismus auseinandergesetzt.

Da der methodische Ansatz ein aus den Sozial- und Geisteswissenschaften hervorgegangener qualitativer ist, ist Subjektivität nicht vermeidbar und verdichtet sich - auch durch die Schilderung eigener Erfahrungen - zu Engagement. Es wäre sicher interessant, die "Vertrautheit" mit dem Forschungsinhalt durch ein grundsätzliches Mißtrauen zu ersetzen. Ich hatte mich aber bereits für den anderen Weg entschieden. Diese Anmerkungen sind mir wichtig, um zumindest das Bewußtsein der Problematik meiner Arbeitsweise aufzuzeigen.

Diese Arbeit versteht sich als engagierter Versuch, Behinderung philosophisch als "normales" Menschsein nachzuzeichnen. Sie hat meine Überzeugung bestärkt, daß uns Akzeptanz und Integration Behinderter in allen Lebensbereichen auf dem Wege der "Vermenschlichung" ein gutes Stück weiterbrächten.

1. Am Anfang ist die Beziehung

Das eingeborene Du - Beziehung als Bereitschaft - Urdistanz und Beziehung - Störung des Beziehungsgeschehens - Kinder mit kindlichen Bedürfnissen - Behinderung ist menschliche Seinsweise

"Drei sind die Sphären, in denen sich die Welt der Beziehung errichtet.

Die erste: das Leben mit der Natur. Da ist die Beziehung im Dunkel schwingend und untersprachlich. Die Kreaturen regen sich uns gegenüber, aber sie vermögen nicht zu uns zu kommen, und unser Du-Sagen zu ihnen haftet an der Schwelle der Sprache.

Die zweite: das Leben mit den Menschen. Da ist die Beziehung offenbar und sprachgestaltig. Wir können das Du geben und empfangen.

Die dritte: das Leben mit den geistigen Wesenheiten. Da ist die Beziehung in Wolke gehüllt, aber sich offenbarend, sprachlos, aber sprachzeugend. Wir vernehmen kein Du und fühlen uns doch angerufen, wir antworten - bildend, denkend, handelnd: wir sprechen mit unserm Wesen das Grundwort, ohne mit unserm Munde Du sagen zu können" (Buber, 1994, S. 10).

Beziehung zwischen Mensch und Natur, Beziehung zwischen Mensch und Menschen und schließlich Beziehung zwischen Mensch und den geistigen Wesenheiten bestimmen unser Leben. Wir stehen immer in Beziehung - von Anfang an - und noch ohne unser Zutun. Beziehung ist die Grundlage unseres eigentlichen Seins als Mensch.

Das eingeborene Du

"Im Anfang ist die Beziehung: als Kategorie des Wesens, als Bereitschaft, fassende Form, Seelenmodel; das Apriori der Beziehung; das eingeborene Du.

Die erlebten Beziehungen sind Realisierungen des eingeborenen Du am begegnenden; daß dieses als Gegenüber gefaßt, in der Ausschließlichkeit aufgenommen, endlich mit dem Grundwort angesprochen werden kann, ist im Apriori der Beziehung begründet.

In dem Kontakttrieb (Trieb zunächst nach taktiler, sodann nach optischer >Berührung< eines anderen Wesens) wirkt sich das eingeborene Du sehr bald aus, so daß er immer deutlicher die Gegenseitigkeit, die >Zärtlichkeit< meint; ...

Die Entwicklung der Seele im Kinde hängt unauflösbar zusammen mit der des Verlangens nach dem Du, den Erfüllungen und Enttäuschungen dieses Verlangens, dem Spiel seiner Experimente und dem tragischen Ernst seiner Ratlosigkeit" (ebd., 1994, S. 31f).

Beziehung als die bestimmende (vielleicht die einzig wesentliche) Kategorie des Menschseins und das Verlangen danach. - Wie viele Menschen sind krank vor Verlangen nach Beziehung, dieser Zärtlichkeit der Gegenseitigkeit? Speziell bei körperlicher Behinderung eines Kindes (von geistiger Behinderung kann bei einem Säugling nicht gesprochen werden, weil sich das Geistige erst entwickeln muß - s. Niedecken) wird diesem Verlangen nach dem Du nicht entgegengekommen.

Beziehung als Bereitschaft,

fassende Form - Bion bezeichnet die Mutter als Behältnis, als psychisches Empfangsorgan, das die Beta-Elemente (Gefühle) des Kindes auffängt und - "verdaut" (verwandelt) - dem Kind als Alpha-Elemente (Gedanken) zurückgibt, was das Kind letztendlich zum Denken befähigt (s. Bion, 1992, S. 21). "Die Entwicklung hängt von zwei Menschen ab, die in einer lebendigen, gegenseitigen Beziehung zueinander stehen, vom Säugling und seiner Mutter. Die Mutter nimmt für das Wachstum der psychischen Fähigkeiten des Kindes einen ebenso zentralen Platz ein wie für seine körperliche Entwicklung. Die Entwicklung des kindlichen Denkens ist auf die Empfänglichkeit der Mutter angewiesen, und diese hängt von ihrer Fähigkeit zur Träumerei (reverie), zu träumerischer Einfühlung ab" (ebd., S. 17f).

Bion und viele andere Entwicklungspsychologen (auch Niedecken und Winnicott s. u.) sehen also in dieser ersten geglückten Beziehung zwischen Mutter und Kind - die eine umfassende [5] und behaltende ist - eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Person. Je mehr verdaute Alpha-Elemente das Kind zurückbekommt, desto mehr lernt es selbst, seine Beta-Elemente in Alpha-Elemente umzuwandeln; es lernt Denken, es lernt distanzieren, es lernt, sich vom anderen getrennt zu erfahren. - Es wird ein selbständiges Gegenüber. Das Urvertrauen wird hier grundgelegt und ist die Basis für das weitere Beziehungsgeschehen, das sich im doppelten Prinzip des Menschseins aufbaut:

Urdistanz und Beziehung

"Von der Natur aus, in diesem Falle also: von dem Verband der >Lebewesen< ausgehn, dem der Mensch, insofern er ein Bestandteil der Natur ist, zugerechnet werden muß, bedeutet nicht, die Merkmale ausfindig machen, durch die er von jenen sich unterscheidet, sondern untersuchen, worin die Gesamtheit dieser Merkmale ihren Seinsgrund hat. Nur so wird uns kund, daß und warum diese Gesamtheit der unterscheidenden Merkmale nicht lediglich eine besondre Gruppe der Lebewesen, sondern eine besondre Seinsweise, somit eine eigene Kategorie des Seins konstituiert. Die echt und zulänglich ausgeführte Abhebung führt zur Erfassung des Prinzips als solchem.

Auf diesem Wege gelangen wir zur Einsicht, daß das Prinzip des Menschseins kein einfaches, sondern ein doppeltes ist, in einer doppelten Bewegung sich aufbauend, und zwar solcher Art, daß die eine Bewegung die Voraussetzung der anderen ist. Die erste sei die Urdistanzierung, die zweite das In-Beziehungtreten genannt. Daß die erste die Voraussetzung der zweiten ist, ergibt sich daraus, daß man nur zu distanziertem Seienden, genauer: zu einem ein selbständiges Gegenüber gewordenen, in Beziehung treten kann. ein selbständiges Gegenüber aber gibt es nur für den Menschen" (Buber, 1960, S. 10f).

Nach den anthropologischen Ansichten Martin Bubers (s. auch Teil I), die auch im Prinzip der Urdistanz und Beziehung grundgelegt sind, ist der Mensch dem Wesen nach - unabhängig von seinen Eigenschaften und Fähigkeiten - ein Mensch, eine besondere Seinsweise, und als solcher ist jeder Mensch zu sehen und zu behandeln.

Störung des Beziehungsgeschehens

Bei behinderten Menschen kommt Beziehung (als freie Kommunikationsform und nicht als Abhängigkeit von bestimmten Personen) vielfach nicht zum Tragen. Nicht wegen der Behinderung selbst, sondern wegen der äußeren Umstände; Behinderte empfinden das oft als Behindertwerden: "Ich bin nicht behindert, ich werde behindert." Behinderte Menschen sind grundsätzlich genauso beziehungs- und distanzierungsbedürftig und -fähig wie alle anderen Menschen. Mangelnde Ausdrucksmöglichkeiten erschweren ihre Situation und führen leicht zu Rückzug und Isolation, was wiederum als Unfähigkeit ausgelegt wird.

Behinderte Menschen werden mitunter auch als "distanzlos" erlebt - eine Unsicherheit, die ebenfalls aus nicht gelungenen Beziehungen resultiert und nicht aus der Behinderung selbst.

Behinderung gilt als unerwünschte Abnormität, die so gut als möglich behoben werden soll. Wird ein behindertes Kind geboren, wird es sogleich Objekt intensiver medizinischer Untersuchungen mit möglichst genauer Diagnose- und Prognoseerstellung. Die meisten Behinderungen können aber nicht "behoben" werden, sondern höchstens kompensiert. Die ganzheitliche Erfassung des Menschen bleibt oft im Hintergrund. Es werden nur die Defizite gesehen. Nur auf die Behinderung wird geblickt, nicht auf das Kind (s. Krebs, 1996, S. 41).

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist von Anfang an beeinträchtigt. Das Kind muß untersucht, beobachtet, gefördert, angepaßt, "gerichtet"(!) werden. Die Mutter (der Vater) steht unter dem Druck der Schulmedizin und der Gesellschaft. Oft wird das Kind von der Mutter aus medizinischen Gründen getrennt. Diese so wichtige erste Phase der symbiotischen Beziehung ist zumindest gestört, wenn nicht unterbunden, was zu psychischen und auch geistigen Störungen führen kann.

Dietmut Niedecken geht in ihrem Buch "Namenlos" soweit, zu sagen, daß sich "Geistigbehindertsein" erst nach der Geburt organisiere. "Wie jede geistige Entwicklung, so konstituiert sich auch die geistig behinderte erst in der Auseinandersetzung zwischen dem Säugling in seinen spezifischen Möglichkeiten und Begrenzungen und seiner Mutter (mit- oder alleinerziehende Väter selbstverständlich einbegriffen), und in diese Auseinandersetzung geht formbildend ein auch die Haltung der die Mutter und das Kind umgebenden, sie haltenden oder alleinlassenden Umwelt" (Niedecken, 1989, S. 24). So kann z.B. das Entsetzen in den Augen der Mutter das Kind in den totalen Rückzug bis zum Totstellreflex treiben, weil es seine Existenz als erschüttert und lebensgefährlich bedroht erfährt. Es nimmt ja die Affekte der Umwelt wie in einem Spiegel wahr, sieht Ablehnung, Vorwurf, Schuld und introjiziert sie. Ein übriges tun die gesellschaftlichen und individuellen Phantasmen vom "Geistigbehindertsein" (unsere Vorstellungen, wie Geistigbehinderte zu sein haben) bis hin zu Tötungswünschen (uneingestanden und schuldbeladen), sowie die Diagnose- und Behandlungstechnologien, die den Menschen auf die Behinderung reduzieren (s. ebd., S. 24-29).

Mit wieviel Angst beobachtete ich mein Kind; was ist anders? Welche Untersuchungen werden noch durchgeführt werden müssen? Was werden sie ergeben? Wann darf ich mein Kind nach Hause nehmen und normal mit ihm leben? - Ich war in der glücklichen Lage, daß Jakob mein drittes Kind war. Ich hatte als Mutter doch schon soviel Sicherheit gewonnen, daß ich mich gegen den medizinisch-technischen Kontext auflehnen konnte und mein Kind nicht allein dem Krankenhaus überließ. Erst viel später lernte ich, um wieviel mehr ich auf meine Gefühle vertrauen hätte sollen!

Der Wunsch, ein normales Leben mit einem behinderten Kind zu führen, bleibt eine lebenslange Auseinandersetzung - mit der Gesellschaft, mit sich selbst und mit dem behinderten Kind..

Es ist notwendig, die Realität ohne Beschönigung zu schildern. Wenn ein behindertes Kind zur Welt kommt, muß man erst lernen damit zu leben. Die Gesellschaft macht einem das nicht leicht. Es wird als großes Unglück angesehen und man begegnet der Situation mit Hilflosigkeit, Mitleid oder mit Ignoranz. Daß Behinderung eine "normale" Form des Lebens ist, wird nicht gesehen. Die Realität wird als erschütternd und bedrohlich erlebt. Die Begriffs-, Handlungs- und Wertesysteme stimmen plötzlich nicht mehr. Zentrale Fragen des Lebens tun sich auf: Was ist Gesundheit? Was Normalität? Liegt Krankheit vor? Wie begegnet man dem Leid? Spätestens hier wird auch die Frage berührt: Soll man dem Kind Leid und Schmerzen ersparen, indem man es sterben läßt? Oder sollte man es gar von seinem "prognostizierten" Leid erlösen?

Eltern trauen sich zu wenig, auf das eigene Gefühl zu vertrauen und die Beziehung zum Kind in den Vordergrund zu stellen. Sie fühlen sich auf die Hilfe von Fachleuten angewiesen, die vielleicht das Kind doch noch heilen oder zumindest unauffällig machen könnten; die jedenfalls wissen, wie man mit dem Kind umzugehen hat. Die letzten Ursachen von vielen Behinderungen sind medizinisch nur in geringem Umfang bekannt. Die Therapien können also nicht kausal, sondern lediglich symptomatisch wirken (s. Krebs, 1996, S. 41ff).

Kinder mit kindlichen Bedürfnissen

Untersuchungen, Therapien, Beobachtungen stehen oft so im Vordergrund, daß übersehen wird, wie sehr doch auch behinderte Kinder kindliche Bedürfnisse haben. Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung einen Freiraum zum Experimentieren, Spielen und Agieren. Sie müssen bei allem Bedürfnis nach Nähe und Beziehung die Möglichkeit haben, sich vom Du getrennt zu erfahren. Nur dann kann der Mensch auch Ich sagen und Selbständigkeit entwickeln.

Nur wenn der Säugling "allein" ist, in Anwesenheit der Mutter, kann er "entspannen". Er hat Raum für Experimente: herumtasten, agieren zu können ohne reagieren zu müssen. Sein Interesse und seine Bewegungen sind nicht gerichtet. Es-Erlebnisse werden vorbereitet (Distanzierung); d.h. eine Objektbeziehung wird erkannt und will mitgeteilt werden (die Rassel klingt, wenn es mir gelingt sie anzuschlagen). Wenn solche Impulse auftreten, ist es wichtig, daß jemand verfügbar ist, damit der Impuls zum Erlebnis werden kann, damit ein Objekt für eine reale Erfahrung vorhanden ist, und damit die Erfahrung bestätigt werden kann. In einem Rahmen von Ich-Bezogenheit (damit ist das Wesen der Beziehung des Säuglings zur Mutter gemeint) kommt es zu Es-Beziehungen (Beziehungen zu anderen Objekten), welche dann in der Lage sind, das unreife Ich des Säuglings zu stärken - ein enormer Entwicklungsschritt in Richtung Persönlichkeit, Kreativität und Beziehungsfähigkeit. Nur wenn der Säugling in Gegenwart eines anderen Menschen "allein" ist, kann er sein personales Leben entdecken - sich vom Du als distanziert erfahren.

Der Säugling hat noch eine schwache Ich-Organisation. Die Mutter ist durch ihre zuverlässige Anwesenheit eine zuverlässliche Ich-Stützung. Allmählich wird diese Ich-stützende Umwelt introjiziert und die Fähigkeit kommt zustande, wirklich allein zu sein (s. Winnicott, 1988, S. 37-47).

Behinderten Kindern wird dieser Freiraum oft nicht zugestanden. Ihre Beziehungen werden häufig belastet von der Angst: was sie können und was nicht, und vom Druck des Gefördertwerdenmüssens. Sie müssen ständig reagieren, und es kommt nicht zu einer reifen Ich-Bezogenheit. Ihr Alleinsein ist dann von Angst geprägt, oder es hat die Qualität eines Rückzugs.

Wenn in der Medizin schon Diagnosebegriffe wie "psychomotorischer Entwicklungs-rückstand" verwendet werden, dann sollte damit zumindest auch verbunden sein, daß dem Kind mehr Zeit für seine Entwicklung zugestanden wird, und nicht durch vermehrtes Therapieren, Trainieren und ständiges Lernen aufgeholt werden soll.

Es wäre gut, zu erkennen und zu berücksichtigen, daß behinderte Kinder für ihre Entwicklung die gleichen Voraussetzungen brauchen, wie alle anderen Kinder, nämlich eine normale, tragende Beziehung. Erst dann können sie ihre Entwicklungsmöglichkeiten wahrnehmen und zu einem psychisch gesunden Leben gelangen: weniger Ängstlichkeit, mehr Mut für Experimente, mehr Selbstvertrauen und mehr Ansporn, selbst zu agieren. So gesehen ist Beziehung die beste Therapie - psychisch und physisch.

Behinderung ist menschliche Seinsweise eigener Qualität

Menschliche Wirklichkeit besteht aus verschiedenartigen, interdependenten Bereichen. Menschen mit Behinderung bedürfen nicht nur medizinischer und therapeutischer Betreuung, sondern erfüllender Lebenskonzepte. Deshalb braucht die Humanmedizin ein anthropologisches Konzept, ein Menschenbild, das biologische, psychosoziale und kulturelle Konzepte integriert (s. Krebs, 1996, S. 51).

Behinderte Menschen brauchen Lebensqualität, die nicht identisch ist mit physiologisch verstandener Gesundheit. Es geht nach Krebs darum, dem Leben des einzelnen Menschen Autonomie, Zielsetzung und soziale Integration, nicht zuletzt in Form persönlicher Beziehungen zu ermöglichen, weil dies sinnstiftend ist. Hohe Zufriedenheit und die Wahrnehmung von Defiziten können durchaus nebeneinander bestehen (s. ebd., S. 52).

"Rausspringen aus den Geleisen der institutionellen Gegenübertragung, aus den vorgefertigten Rastern des Umgangs mit geistig Behinderten; ihre eigenen Wünsche und Lebenspraktiken achten, ihnen eigene Initiative und Entscheidungsfreiheit zutrauen und zugestehen, sie in ihrem eigenen Tun unterstützen, anstatt für sie zu entscheiden" (Niedecken, 1989, S. 24).

Beziehung von Anfang an ist a priori in jedem Menschen angelegt. Keinem Menschen darf Beziehung verweigert bzw. Beziehungsfähigkeit abgesprochen werden. Wird die Beziehungsfähigkeit aber nicht entwickelt, werden die individuellen Versuche des Du-Sagens nicht angenommen und nicht im Du beantwortet, so wird der Mensch in seiner Entwicklung gehindert bzw. "behindert". Unsere größte Behinderung ist, wenn sich das eingeborene Du nicht entfalten kann/darf.

Natürlich haben auch andere nichtmenschliche Wesen Beziehungsfähigkeit, aber die menschliche ist - lt. Buber - eine qualitativ andere als die anderer Lebewesen. Die menschliche Beziehungsqualität betrifft den Menschen als ganzes in seinem Sein.



[5] Das gestalttherapeutische Konzept, das Bubers ganzheitliches Menschenbild zur Grundlage hat, sieht in einem "umfassenden" Beziehungsgeschehen zwischen TherapeutIn und KlientIn Heilungschancen. Auch bei Bion soll der/die TherapeutIn eine solche "behaltende" Position einnehmen, bis der/die KlientIn genügend Alpha-Funktion entwickelt hat. "Schauen" bei Buber, "Freischwebende Aufmerksamkeit", bei Freud stehen anstelle "des träumerischen Einfühlens" der Mutter.

2. Ich werde am Du : Norm und Abweichung

Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit - Normen sind Ich-Es-Beziehungen - Behinderung irritiert - Diskriminierung durch Normen - Normalisierungsprinzip - Das unterstützende Ich - Es ist normal, verschieden zu sein

Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit

"Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend.

Nicht Er oder Sie ist er, von andern Er und Sie begrenzt, im Weltnetz aus Raum und Zeit eingetragener Punkt; und nicht eine Beschaffenheit, erfahrbar, beschreibbar, lockeres Bündel benannter Eigenschaften. Sondern nachbarnlos und fugenlos ist er Du und füllt den Himmelskreis. Nicht als ob nichts andres wäre als er: aber alles andre lebt in seinem Licht" (Buber, 1994, S. 12).

Nicht Er oder Sie ist er - weder behindert noch nicht-behindert - nur Mensch. In seinen objektiven Fähigkeiten vielleicht begrenzt durch die Behinderung, nicht aber begrenzt in seinem Menschsein. Nicht ein Bündel von Eigenschaften oder gar Defiziten, sondern ein Mensch, der als mein Du den "Himmelskreis füllt".

"Beziehung kann bestehn, auch wenn der Mensch, zu dem ich Du sage, in seiner Erfahrung es nicht vernimmt. Denn Du ist mehr, als Es weiß. Du tut mehr, und ihm widerfährt mehr, als Es weiß. Hierher langt kein Trug: hier ist die Wiege des wirklichen Lebens" (ebd., 1994, S. 13).

Dieses Du reicht hinein ins Mystische bzw. ist es ein Hereinholen des Transzendentalen. Hier - in der Realität der wesenhaften Begegnung, in diesem Moment - geschieht etwas, was nicht in Sprache ausgedrückt werden kann. Etwas was mich und mein Gegenüber umfaßt und uns in unserem Sein betrifft.

"Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; ... Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme" (ebd., 1994, S. 15).

Normen sind Ich-Es-Beziehungen

Im Umgang mit Behinderten wirken sich Vorurteile und Phantasmen (bewußte und unbewußte Gedankenkomplexe, die mit der Realität wenig zu tun haben) besonders schwerwiegend aus. Sie finden in Normen und Festlegungen ihren Niederschlag.

Norm und Abweichung von der Norm können nur durch eine Ich-Es-Beziehung definiert werden. In einer Ich-Du Beziehung gibt es keine Norm und keine Abweichung. Behinderung aber gilt als eine Normabweichung, die zwar nicht eindeutig bestimmbar ist, aber im Verständnis von Behinderung eine Schlüsselposition einnimmt, die sich sowohl auf die rechtliche Situation der Menschen auswirkt, wie Anspruch auf gewisse Rechte und Hilfen, als auch Diskriminierung und Ausgrenzung bewirkt.

"Die Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen werden wesentlich geprägt durch ihre sozialen Beziehungen, durch die Art und Weise, wie sie in die Gemeinschaft einbezogen oder aber als die Anderen, die Normabweichenden "ausgegrenzt" werden. Wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Benachteiligungen werden Menschen sowohl persönlich, von den Mitmenschen, als auch offiziell, von Staat und Behörden, als normabweichend identifiziert, ihre Identität wird durch diese Normabweichung bestimmt" (Humphreys, 1996, S. 57). Das Anderssein des behinderten Menschen (wie jedes Menschen) muß angesichts der Gemeinsamkeiten (des gemeinsamen Menschseins, des Wesens des Menschen) begriffen werden (s. ebd., 1996, S. 57).

Humphreys notiert folgende Grundtypen der Norm:

Die Statistische Norm - Normalität auf der Basis von Häufigkeit. Jedem Individuum kann ein bestimmter Grad der Abweichung von der Norm des Mittelwertes zugeordnet werden. Keiner entspricht der Norm. Es gibt aber eine "normale" Normabweichung. Was darüber hinausgeht ist nicht "normal".

Technische Normen - Maßstäbe für bestimmte Klassen und Merkmale wie DIN-Maße, Meter oder Grade. "Normabweichend" in diesem Sinne sind z.B. Linkshänder.

Biologische/funktionelle Normen bestimmen die Funktionalität z.B. eines Organs. Sie definieren seine Aufgabe und Leistungen für den Organismus. Es sind Grenz- und Sollwerte. Wenn eine bestimmte körperliche Funktion nicht mehr erfüllt werden kann, spricht man von funktioneller Behinderung z.B. Sehbehinderung.

Idealnormen stellen erstrebenswerte Zielwerte dar, "das Erwünschte, das Gute ...". Sie greifen stark in das Leben behinderter Menschen ein, z.B. Schönheitsideale.

Soziale Normen setzen Verhaltensanforderungen fest und bestimmen Regeln für das Verhalten der Menschen in einer Gesellschaft. Sie werden mit Hilfe positiver oder negativer Sanktionen durchgesetzt, zu denen auch institutionelle Aussonderungsmaßnahmen gehören. Soziale Normen werden verinnerlicht und in ethisch-moralische Wertvorstellungen umgewandelt und somit "gut" und "schlecht" (s. ebd., S. 57-60).

Behinderung irritiert

Macrocephalus, Psychomotorischer Entwicklungsrückstand - man sieht, daß mein Sohn (geistig und körperlich) behindert ist. Er ist vor allen Dingen langsam, nicht direkt ungeschickt, aber "tolpatschig". Er braucht für alles viel mehr Zeit als "Normale". Auch wenn er Menschen anschaut und mit Ihnen in Beziehung tritt. Das macht Angst, obwohl an ihm selbst nichts ist, was bedrohlich oder abschreckend wäre. Auch bei allen anderen Behinderten, die nicht durch besondere Lebensumstände im Verhalten stark geschädigt sind, habe ich niemals Bedrohung wahrgenommen, außer es kam von mir selbst durch meine eigenen Ängste.

Behinderung ist nicht "ansehnlich" - es wird weggeschaut (mitunter auch angestarrt), weggeschaut im Sinne von nicht wahrhaben wollen. Behinderung befremdet, irritiert, ängstigt und läßt auf Distanz gehen. (s. Krebs, 1996, S. 41).

Es braucht Überwindung, um mit einem behinderten Kind in die Öffentlichkeit zu gehen. Es ist nicht nur die Angst vor Ablehnung, sondern auch die Angst, mit einem behinderten Kind als Mutter nicht vollwertig zu sein, versagt zu haben. Es war mir immer eine große Beruhigung und Genugtuung, meine beiden "normalen" Söhne mit dabei zu haben.

Die Angst vor Behinderten ist oft tiefenpsychologisch begründet. Sie ist irrational, hat etwas Chimärenhaftes an sich. Es ist mehr ein Leiden an sich selbst, an Widersprüchen und Gegensätzen. Verdrängte Schuldkomplexe (auch ich bin nicht so, wie ich sein möchte/sollte) und Entfremdung seiner selbst spielen eine Rolle. Außerdem sind wir Opfer menschenfeindlicher Strukturen, die verinnerlicht wurden (das betrifft Normen, Werte, Vorurteile).

Durch Begegnung, Zulassen, Integration kann "Erlösung" geschehen. Welch ein Schritt in die Freiheit, vor eigener und fremder Behinderung keine Angst mehr zu haben!

Diskriminierung durch Normen

Deskriptiv erscheinende Attribuierungen haben scharfe Eingriffe in das Leben der Betroffenen zur Folge. "Ein extremes Beispiel dafür bilden diejenigen Normen, die das Mensch-Sein definieren und zwischen Mensch und Nicht-Mensch unterscheiden sollen. Die Anwendung solcher Normen stellt die Würde und das Lebensrecht eines derart als Nicht-Mensch bezeichneten Individuums in Frage. Die Diskussionen zu den Themen genetische Beratung, Abtreibung und Früheuthanasie ("Sterben Lassen") von behinderten Neugeborenen, die von Speckim Hinblick auf geistige Behinderung zusammengefaßt worden sind, haben ihre Basis in der normativen Entscheidung, wer zur Klasse der Menschen gehört, oder wie diese Kategorie auch benannt sein mag: Kuhse & Singerz.B. definieren nach Tooleydie Klasse "Personen", deren Mitglieder bestimmte ethisch bedeutsame Normen erfüllen. Nach Auffassung der Autoren verfügen nur derartige "Personen" über ein Lebensrecht, nicht aber andere Individuen, die zur biologischen Spezies "Menschen" gehören." (Humphreys, 1996, S. 63f).

Normgeleitete defizitorientierte Attribuierungen und deskriptive Selektion können für die betroffenen "normabweichenden" Menschen von großer Tragweite sein. Nicht nur Ausgrenzung und Entwertung muß die Folge sein, sondern es kann auch zu positiveren, sozialen Reaktionen kommen wie besondere Hilfsbereitschaft (s. ebd., S. 64).

Auch "positive Diskriminierung" ist Diskriminierung. Oft haben solche Sonderbehandlungen und besonderen Zuwendungen den Hintergrund von Schuldgefühlen, Verdrängung und Abschiebung. Das Beruhigen des Gewissens, auch die Dankbarkeit, selbst verschont geblieben zu sein (und zu bleiben) spielt bei Spendenaktionen wie "Licht ins Dunkel" eine große Rolle. Sonderbehandlungen führen oft auch dazu, daß gleiche Rechte vorenthalten werden können.

Ausgrenzung eines Menschen, und mag sie von noch so großem Luxus geleitet sein, beeinträchtigt die Bedürfnisbefriedigung nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar, weil sie den Aufbau der sozialen Kompetenz hemmt und eine spezifische, isolative Sozialisation fördert, Lern- und Leistungsmotivation reduziert und Auswirkungen auf Selbstkonzept, Selbstvertrauen, Selbständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung hat. "Die Entwicklung von Kompatibilität zwischen den Möglichkeiten eines Menschen und den Umweltbedingungen wird also durch Ausgrenzung beeinträchtigt, die Kluft zwischen Umwelt und Individuum wird auch im funktionalen Sinn größer" (ebd., S. 64).

Attribution, Ausgrenzung und Behinderung bilden eine Wirkungskette, die sich zum Kreis schließt. Mit einer funktionalen Normabweichung geht verstärkt eine Normabweichung im deskriptiv-attributiven Sinn einher und damit weitere Ausgrenzungsimpulse, was letztlich eine wachsende Behinderung bedeutet.

Normalisierungsprinzip

Das muß nicht so sein. Wahrnehmung der ganzen Person, soziale Integration und Kompatibilität zwischen Umwelt und Individuum würden diese Wirkungskette durchbrechen. "Etliche solche Konzepte wurden in den letzten Jahren auch bereits entwickelt, die quasi auf normativer Ebene, z.B. durch Änderung der Normen oder durch einen bewußten und kritischen Gebrauch der Normkonzepte, einen in diesem Sinn günstigen Einfluß auf die Lebenssituation behinderter Menschen zu nehmen suchten. Bürgerrechte und Gleichstellung sind in den letzten zehn Jahren ein wichtiges Thema der Behindertenpolitik geworden" (Humphreys, 1996, S. 66).

Es wurde das sogenannte "Normalisierungsprinzip" entwickelt mit dem Ziel, daß geistig behinderte Menschen ein Leben "so normal wie möglich" führen können sollen. (Es heißt nicht, daß sie "normal" werden sollen!) Durch Änderung der Gesellschaft sollen die Lebensbedingungen behinderter Menschen geändert werden: integriertes Wohnen, Arbeiten und Freizeitgestalten, gemeinsames Lernen behinderter und nichtbehinderter Kinder usw.

Es soll die soziale Rolle des behinderten Menschen "normalisiert" werden durch Integration in die normale Umwelt. Die "Normalität" der behinderten Menschen steht im Vordergrund, ihre Gemeinsamkeiten mit den anderen Mitbürgern.

In Sondereinrichtungen wird - so Humphreys - eine nach "besonderen" Normen hergestellte Umwelt angeboten, die den Bedürfnissen der behinderten Benutzer angepaßt sein soll. "Solche 'Sonderumwelten' versuchen, die Probleme des Umgangs mit der 'normalen' Umwelt zu vermeiden, indem sie z.B. physisch angepaßt sind, über Fachwissen verfügen und einen Schutz vor den negativen Reaktionen der 'Normalen' anbieten. Manche Schutzbedürftige schätzen diese Eigenschaften. Andere dagegen fühlen sich durch solche Sondereinrichtungen ausgegrenzt und entwertet" (ebd., S. 67).

Ich meine, daß sich die "Normalen" auf diese Art auch von den Behinderten abgrenzen und "schützen". Im Gespräch brachten viele Menschen aus meiner Umgebung zum Ausdruck, ob mein behinderter Sohn in der Sonderschule und Geschützten Werkstätte nicht besser aufgehoben wäre als in der Integrationsklasse. Es wäre wohl für alle beruhigender gewesen, ihn zwar gut betreut zu wissen, aber entfernt aus ihrer unmittelbaren Erlebniswelt.

Feuser sieht auch eine Gefahr darin, daß wir "Normalen" aussuchen, was wir den "Behinderten" anbieten, was sie lernen dürfen. Oft bleibt das reduziert auf Basiskönnen für das tägliche Leben. Ich habe bei meinem Sohn erlebt, daß ihm Hauptschulfächer wie Physik und Geschichte, an denen er nur teilnahm und die nicht für ihn adaptiert waren, besonders gefallen haben. Wie und wieviel er "verstanden" hat, steht uns nicht zu, zu beurteilen.

Geistig Behinderte werden auf einen Status Quo festgelegt, der sie in ihrer Entwicklung immer wieder einschränkt. Das betrifft elementare Entwicklungsstufen (Säuglingsalter s.o.), die für die Persönlichkeitsentwicklung besonders wichtig sind.

Nach Mario Erdheim passiert das wieder in der Adoleszenz. Geistig Behinderte durchleben natürlich auch die Pubertät. Aber für sie enthält diese Phase nicht mehr das Veränderungspotential, welche sie für andere Jugendliche beinhaltet, denn ihre Entwicklung ist bereits wesentlich früher auf einem Behinderten-Status-Quo festgelegt. Ihnen wird kein Moratorium (Freiraum zur Entwicklung lt. Erikson) zugestanden (s. Niedecken, 1989, S. 23).

Das unterstützende Ich

Eine besonders respektvolle Art der Hilfe wird in Italien für geistig behinderte Jugendliche praktiziert, nämlich "das unterstützende Ich". Eine nicht zur Familie gehörende, geschulte Person leiht ihr Ich her, indem sie Verhaltensweisen und Funktionen zur Verfügung stellt, die dem behinderten Jugendlichen die Entwicklung erleichtern und ihm zu mehr Autonomie verhelfen. Man kann sich darunter gemeinsame Aktivitäten vorstellen, die die Jugendlichen besonders interessieren, z.B. Konzerte, Sport, Ausgehen, Urlaub usw., aber auch Meditation, Rückzug ohne dem Alleinsein ausgesetzt zu sein u.ä. Es ist natürlich darauf zu achten, daß nicht die Vorstellungen der BetreuerIn im Vordergrund stehen. Die Funktion des "unterstützenden Ich" versucht den Mangel an Ressourcen und Zukunftsvorstellungen auszugleichen und hilft auch, familiäre Krisen zu bewältigen. Auch der behinderte Jugendliche will und muß sich ablösen (s. Gidoni, 1989, S. 91).

Dieses unterstützende Ich erinnert an die Ich-unterstützende Funktion der Mutter in einer sehr frühen Phase, in der das Ich sich vom Du zu unterscheiden beginnt. Es wird also ein sehr wesentlicher Entwicklungsschritt nachgeholt bzw. verlängert, der altersgemäß von einer außenstehenden Person ermöglicht werden kann.

Ich würde diese Art der Unterstützung sehr begrüßen. Sie würde mich als Mutter meines nunmehr 16-jährigen Sohnes einer großen Sorge entheben. Mütter und Väter sind ja nicht immer die geeignetsten Partner für heranwachsende Jugendliche, auch nicht für behinderte. Und auch Geschwister können Freunde nicht ersetzen. Auf diesem Wege der Betreuung in der Jugendszene wäre der adoleszente Entwicklungsschub, den behinderte Jugendliche kaum vollziehen können, auch für sie adäquat durchlebbar. Dies als Übergangslösung, solange es nicht selbstverständlich ist, daß Behinderte in allen Lebensbereichen dazugehören.

"Es ist normal, verschieden zu sein" (Richard von Weizsäcker)

Nach diesem Motto gibt es heute viele Initiativen, die Lage der behinderten Menschen zu verbessern. Sie sind ein Eingriff in die normative Praxis.

"Dazu gehören die Versuche:

gesellschaftliche Normen zu verändern, normative Einflüsse bewußt zu machen und (deskriptive wie funktionale) Normkonzepte von im- oder expliziten Bewertungen zu trennen.

Gemeinsamkeiten und allgemeine Bürgerrechte in den Vordergrund zu stellen, statt Unterschiede zu akzentuieren.

Menschen nicht mit deren normabweichenden Eigenschaften gleichzusetzen und deshalb keine entsprechend reduzierenden Bezeichnungen zu verwenden.

Eine zunehmende Verbesserung des Zusammenlebens in menschlicher Gemeinschaft erscheint nur möglich, wenn die tiefgreifenden Auswirkungen von Normkonzepten in unserer Gesellschaft ständig kritisch reflektiert werden. Normen können - und sollten auch - geändert werden" (Humphreys, 1996, S. 67f).

Die Grundwerte haben Geltung für alle. Auch die zusätzliche Schutzbestimmung, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, sollte stärker beachtet werden. Es wäre ein fataler Fehler für die Menschheit, das Menschsein und die menschliche Würde nach Normen der Leistungserfüllung oder Nützlichkeit zu werten. Es ist große Wachsamkeit geboten, daß sich solche Meinungen nicht unterschwellig durch die rationale Ethik, den Utilitarismus etablieren. Die archaischen Interpretationen vom behinderten Menschsein sind noch nicht überwunden. Wir müssen immer neu Fragen nach dem Bild vom Menschen mit einer Behinderung und seiner Art und Weise ein Mensch zu sein und human leben zu können, stellen (s. Krebs, 1996, S. 51ff).

Der Mensch wird am Du zum Ich (so hörten wir bei Buber). Der Mensch lebt also zuerst im Du bevor er zum Ich gelangen kann. Bei behinderten Kindern kann das länger dauern, einerseits durch eine verzögerte Entwicklung, andererseits aber auch, weil das Du - das echte Gegenüber - fehlt. Wir dürfen behinderten Menschen dieses Du, das sie elementar für ihre Ichwerdung brauchen, nicht verweigern.

Aber auch wir brauchen für unsere Selbstwerdung das Du, das Gegenüber der Behinderten. Es kann uns helfen, uns in unserer Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit annehmen zu können. Wenn die Beziehung zum Du nicht gelebt wird, kommt das einer Lüge am eigenen Sein gleich.

3. Ich-Du, Ich-Es - Grundhaltungen und Einstellungen

Das Ich des Menschen ist zwiefältig - Eines Menschen innewerden - Einstellungs- und Verhaltensänderung - Wechsel von Aktualität und Latenz - Selbstbestimmt Leben

Das Ich des Menschen ist zwiefältig

"Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. ... das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es. ... Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. ... Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. ... Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. ... Ich sein und Ich sprechen sind eins. Ich sprechen und eins der Grundworte sprechen sind eins. ... Wer Du spricht hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo Etwas ist, ist anderes Etwas, jedes Es grenzt an andere Es, Es ist nur dadurch, daß es an andere grenzt. Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht. Wer Du spricht hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung. ...

Der Erfahrende hat keinen Anteil an der Welt. Die Erfahrung ist ja >in ihm< und nicht zwischen ihm und der Welt. Die Welt hat keinen Anteil an der Erfahrung. Sie läßt sich erfahren, aber es geht sie nicht an, denn sie tut nichts dazu, und ihr widerfährt nichts davon. Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung" (Buber, 1994. S.7-10).

Die zwei Grundworte Ich-Du und Ich-Es bestimmen das menschliche Leben. Sie sind eine Bewegung zwischen zwei Polen. Deshalb kann man auch nicht sagen, das eine sei gut und das andere schlecht. Für das menschliche Leben sind beide notwendig. Denn nur wenn ich Es sage, kann ich die Welt erfahren, beschreiben und entwickeln. Wenn aber der Mensch nur mehr in der Ich-Es-Haltung verharrt, ist er nicht mehr der Mensch. Zur Ganzheit braucht er nämlich die Ich-Du-Beziehung, das aktuelle Begegnungserlebnis.

Im Umgang mit Behinderten ist es wichtig, von Objekt-Beziehungen, die in Therapien und Versorgungsmaßnahmen vorherrschen (müssen), immer wieder auch zu Subjekt-Beziehungen zu gelangen, um dem Menschen in seiner Ganzheit gerecht zu werden (s. Dörner: Rückbindung des medizinisch-technischen Menschenbildes in das sozialisierte der Beziehung, Teil I).

Eines Menschen innewerden

"- Solange die Liebe >blind< ist, das heißt: solang sie nicht ein ganzesWesen sieht, steht sie noch nicht wahrhaft unter dem Grundwort der Beziehung. Der Haß bleibt seiner Natur nach blind; nur einen Teil eines Wesens kann man hassen. Wer ein ganzes Wesen sieht und es ablehnen muß, ist nicht mehr im Reich des Hasses, sondern in dem der menschhaften Einschränkung des Dusagenkönnens. Daß dem Menschen widerfährt, zu seinem menschlichen Gegenüber das Grundwort, das stets eine Bejahung des angesprochenen Wesens einschließt nicht sprechen zu können, entweder den andern oder sich selbst ablehnen zu müssen: das ist die Schranke, an der das In-Beziehung-treten seine Relativität erkennt und die erst mit dieser aufgehoben wird. Doch der unmittelbar Hassende ist der Beziehung näher als der Lieb- und Haßlose" (ebd., S. 20).

Wenn ich zu einem Menschen Du sage, meine ich ihn in seiner Gesamtheit. Ich vergegenwärtige mir seine Wirklichkeit, stelle mir vor, was er eben jetzt in seiner Wirklichkeit will, fühlt, denkt (möglichst ohne meine Projektion und Interpretation). Ich akzeptiere ihn auch mit seinen Fehlern und Schattenseiten, mit Anteilen, die ich ablehne, unter Umständen sogar hasse. Jede Beziehung, in der ich immerhin hinterfragen kann was ich z.B. hasse, ist besser als keine, denn sie birgt die Chance des Dusagenkönnens. Wenn ich nur mehr Es-Beziehungen habe, wenn ich nur mehr distanziere, verfehle ich mein Gegenüber und letztlich auch mich selbst.

Bion unterscheidet drei Grundarten von Beziehungen, und zwar Lieben, Hassen und (Er-) Kennen. Es handelt sich dabei um emotionale Erfahrungen und ihre Weiterentwicklung zu Gedanken. Kennen drückt nicht eine vollzogene Tatsache aus, sondern ein Bemühen, einen Prozeß: x will y kennenlernen. Darin ist auch die Möglichkeit eines Negativs enthalten, eine Miß-Repräsentierung der Anliegen von y (Bion, 1990, S. 16f). Bei Buber wäre das Nichtinnewerden meines Gegenübers, eine Vergegnung.

Bions Kennen, Lieben, Hassen ist ein wesentliches in-Beziehung-treten, ein Du-sagen. Die Weiterentwicklung zu Gedanken wäre dann die Umwandlung in das Es. Ich glaube, daß Bubers Innewerden eines Menschen - die personale Vergegenwärtigung - noch einen Schritt weiter geht. Sie läßt sich nicht in Bereiche aufteilen, sondern umfaßt den Menschen als Ganzes mit allen Gefühlen.

"Eines Menschen innewerden heißt also im besonderen seine Ganzheit als vom Geist bestimmte Person wahrnehmen, die dynamische Mitte wahrnehmen, die all seiner Äußerung, Handlung und Haltung das erfaßbare Zeichen der Einzigkeit aufprägt. Solch ein Innewerden ist aber unmöglich, wenn und solang der andere mir das abgelöste Objekt meiner Betrachtung oder gar Beobachtung ist, denn ihr gibt sich diese Ganzheit und gibt sich diese ihre Mitte nicht zu erkennen; es ist erst möglich, wenn ich zu dem andern elementar in Beziehung trete, wenn er mir also Gegenwart wird. Darum bezeichne ich das Innewerden in diesem besonderen Sinne als personale Vergegenwärtigung" (ebd., S. 284).

Behinderte Menschen sind eine besondere Herausforderung für die personale Vergegenwärtigung. Oberflächliche Kontakte verstärken eher die Fremdheit. Erst wenn ich mich wirklich einlasse, wenn ich wirklich "kennen" möchte, wenn ein Willensakt damit verbunden ist, nehme ich den ganzen Menschen wahr, erkenne ich das Wesentliche und gebe auch dem Behinderten die Chance, mir zu begegnen. [6]

"Als ein geläufiges Beispiel dafür mag das sogenannte Mitgefühl dienen, wofern man nur die vage Sympathie außer acht läßt und den Begriff auf jenen Vorgang beschränkt, in dem ich etwa den spezifischen Schmerz eines andern so erfahre, daß mir das Spezifische an ihm, also nicht ein allgemeines Unbehagen oder Leidwesen, sondern dieser besondere Schmerz, und doch eben als der des andern, fühlbar wird" (Buber, 1960, S. 34).

Mit einem behinderten Kind gewinnt man das Wissen und Erkennen vom "Wesen" des Menschen und der damit verbundenen Liebe. Man gewinnt einen tiefen Einblick in das Wesentliche und in die "Persönlichkeit" eines jeden Menschen (s. Richter-Markert, 1996, S. 303).

Als Mutter ist es mir leicht gefallen, mein behindertes Kind wie meine zwei "normalen" Kinder anzuerkennen und zu lieben. Es bestand für mich eigentlich kein Unterschied abgesehen von der Sorge um Schmerzen und Ängste, die bei einem behinderten Kind unmittelbarer und näher liegen.

Die Wesensbeziehung zu Behinderten, aber auch zu anderen, mir ferner stehenden Menschen, ist mir vielfach erst durch dieses Kind aufgegangen. Eine enorme Möglichkeit zu lernen, zu fühlen und zu denken!

Wichtig ist die Grundhaltung zum eigenen Menschsein; eine Vorstellung erarbeiten, wie man sich selbst als Mensch und sein Verhalten zu anderen Menschen definieren will - also keine spezifische Anthropologie der Behinderten, sondern Selbsterkenntnis und Selbsterziehung als Mensch (s. Haeberlin, 1985, S. 11-14).

Menschen mit einer Behinderung sind in den Augen ihrer Umwelt in der Regel nicht einfach Personen, die neben vielen anderen Merkmalen und Eigenschaften eine Behinderung aufweisen. Sie sind in der Wahrnehmung zuallererst "Behinderte". Das ist eine soziale Kategorisierung, die auf ungünstige Eigenschaften der Person schließen läßt.

Einstellungen kommen auf drei Ebenen des Verhaltens zum Ausdruck:

In der gefühlsmäßigen Wertschätzung - affektive Komponente

In den Ansichten, Meinungen, Gedanken und nicht zuletzt Vorstellungen über behinderte Menschen - kognitive Komponente

im offenen Verhalten - aktionale Komponente.

Sozialpsychologische Untersuchungen finden häufig Anzeichen für negativ gefärbte stereotype Vorstellungen über behinderte Menschen. Das führt dazu, behinderte Menschen - besonders geistig behinderte - zu meiden, sowie eine weit verbreitete Befürwortung der sozialen Segregation behinderter Menschen (s. Tröster, 1996, S. 188).

In der sozialen Bewertung gibt es eine Hierarchie der Werte. Intelligenz erfährt die höchste Wertschätzung vor der Sprachfähigkeit. Dann folgt die Sinnestüchtigkeit vor der Handgeschicklichkeit. Die Fortbewegungsfähigkeit nimmt den letzten Platz in den Funktionen ein. Je niedriger der Rangplatz "desto leichter wird der Behinderte als Mensch und Mitmensch toleriert" (ebd., S. 189).[7]

Einstellungs- und Verhaltensänderungen lassen sich nur sehr schwer herbeiführen. Das liegt:

an der Ich-Verteidigungsfunktion: die abwertende Haltung ist eine Art Selbstschutz, die eigenen Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Die Betonung der "Andersartigkeit" trägt auch dazu bei, die eigene Angst vor Krankheiten und Behinderungen zu unterdrücken.

an der Selbstdarstellungsfunktion: Das Selbstbild eines leistungsorientierten und dynamischen Menschen wird vor sich selbst oder vor anderen dadurch untermauert, daß die Meinung vertreten wird, behinderte Menschen seien wenig leistungsfähig.

an der Wissens- oder Erkenntnisfunktion: Das Individuum will seine Umwelt verstehen und seinen Erfahrungen einen Sinn geben. So kann z.B. die Erfahrung, daß behinderte Menschen vermehrt von Arbeitslosigkeit betroffen sind, dadurch erklärt werden, daß sie den beruflichen Anforderungen nicht gewachsen sind. - Das Weltbild stimmt wieder.

Soziale Einstellungen sind überhaupt sehr resistent gegenüber Änderungsversuchen, da sie viel mit der psychischen Struktur des Individuums zu tun haben.

Versuche der Einstellungsänderung

durch Information und Aufklärung: Mangelndes Wissen über Behinderungen und behinderte Menschen ist eine entscheidende Ursache für negative Einstellungen und diskriminierendes Verhalten. Geringe Kenntnisse der Ursachen, unzutreffende Vermutungen über die Konsequenzen, falsche Vorstellungen über die Lebensbedingungen, Unterstellung unvorteilhafter Eigenschaften sind der Nährboden für diskriminierendes Verhalten. Durch Information und Aufklärung kann eine Bewußtseinsänderung herbeigeführt werden, allerdings werden meist nur Menschen erreicht, die sich bereits dafür interessieren oder in irgendeiner Weise davon betroffen sind.

durch soziale Kontakte zu behinderten Menschen: Wichtig ist die persönliche Begegnung - Begegnung im Buber'schen Sinne. Oberflächliche Kontakte können negative Einstellungen verfestigen. Nicht die Häufigkeit, sondern der persönliche Charakter ermöglichen einen Austausch von Erfahrungen und den Aufbau einer persönlichen Beziehung. Eine wichtige Voraussetzung ist die Statusgleichheit der Beteiligten. Behinderte und Nichtbehinderte sollen sich als gleichberechtigte Partner begegnen und nicht so, daß Behinderte sich in einer abhängigen oder untergeordneten Rolle befinden, wie das oft der Fall ist.

Als Jakobs Integrationsklasse einer Gruppe von Behinderten begegnete, reagierten die Kinder mit der Aussage, mit diesen behinderten Kindern nicht in die Schule gehen zu wollen. Mit Jakob sei das ganz anders!. Er gehöre ja zu ihnen. Das zeigt, daß bei zu oberflächlichen Kontakten eher die Andersartigkeit hervorgehoben wird, als die Gemeinsamkeiten. Man schaut sich gegenseitig an und zu - eine Es-Beziehung. Deshalb ist auch das integrative Schulmodell dem kooperativen, wo die Schüler nur einzelne Stunden zusammen verbringen, vorzuziehen. Bevor die Kinder sich akzeptieren, geht man schon wieder auseinander.

durch Simulation und Rollenspiel: Das Nacherleben ist allerdings nur eingeschränkt möglich, da das Behindertsein ja nur vorübergehend gespielt wird. Außerdem ist das Spielen eines "Geistigbehinderten" meiner Meinung nach überhaupt nicht nachvollziehbar und bringt nur die uns bekannten Zerrbilder zum Vorschein. Durch Simulation und Rollenspiel, die in der natürlichen Umgebung stattfinden, kann allerdings die soziale Reaktion der Umwelt erlebt werden. Erst wenn ich mich selbst in einem Rollstuhl durch die Stadt bewege, merke ich, welche Hindernisse mir entgegentreten und welche Reaktionen ich auslöse (s. ebd., 1996, S. 189-193).

Ich habe aber auch schon erlebt, daß bei einem Rollenspiel über eine Familie mit einem autistischen Kind die Situation so plastisch wurde, daß wesentliche Erkenntnisse über die Problematik in der Familie gewonnen werden konnten. Das geht allerdings schon in die Richtung Psychodrama.

In den Einstellungen und im Verhalten gegenüber Behinderten ist deutlich sichtbar, daß es sich oft um Es-Beziehungen handelt. Das ist in der Therapie und in der Betreuung sicher notwendig - wie schon oben erwähnt - aber um dem Menschen gerecht zu werden, sollte auch Raum für ein Ich-Du Verhältnis sein, in einem Wechsel von Aktualität und Latenz - wie es Buber in den folgenden Zitaten ausdrückt.

Aktualität und Latenz

"Das aber ist die erhabene Schwermut unsres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß. So ausschließlich gegenwärtig es in der unmittelbaren Beziehung war: sowie sie sich ausgewirkt hat oder vom Mittel durchsetzt worden ist, wird es zum Gegenstand unter Gegenständen, zum vornehmsten etwa, dennoch zu einem von ihnen, in Maß und Grenze gesetzt. ... Und die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert, aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. ... Jedem Du in der Welt ist seinem Wesen nach verhängt, Ding zu werden oder doch immer wieder in die Dinghaftigkeit einzugehn" (Buber, 1994, S. 20f).

Eine Ich-Du-Beziehung kann nicht andauernd bestehen. Es muß aber nicht die Beziehung nachlassen, sondern die Aktualität der Unmittelbarkeit, d. h. auch wenn ich auf die Es-Ebene wechsle, wenn ich distanziere, bleibt die Beziehung latent bestehen, solange die Richtung zum Du beibehalten wird. Die Beziehung dauert im Wechsel von Aktualität und Latenz. "Aktualität" der Ich-Du-Beziehung meint das unmittelbare Erleben der zwischenmenschlichen Begegnung. "Latenz" der Ich-Du-Beziehung bedeutet das Nachlassen des aktuellen Begegnungserlebnisses, wobei jedoch die Richtung zum Du beibehalten wird. (In der reinen Ich-Es-Beziehung - objekt- und nicht subjektbezogen - wird die Richtung zum Du nicht gelebt). Wichtig ist, daß es eine rhythmische Bewegung zwischen Kontakt und Rückzug, zwischen Urdistanz und Beziehung gibt. Der Mensch findet im "Zwischen" seine Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für seine Persönlichkeitsentwicklung als auch für seine Beziehungsqualität.

"Das einzelne Du muß, nach Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden. Das einzelne Es kann, durch Eintritt in den Beziehungsvorgang, zu einem Du werden. Dies sind die zwei Grundprivilegien der Eswelt. Sie bewegen den Menschen, die Eswelt als die Welt anzusehn, in der man zu leben hat und in der sich auch leben läßt, ja die einem auch mit allerlei Anreizen und Erregungen, Betätigungen und Erkenntnissen aufwartet. Die Du-Momente erscheinen in dieser festen und zuträglichen Chronik als wunderliche lyrisch-dramatische Episoden, von einem verführenden Zauber wohl, aber gefährlich ins Äußerste reißend, den erprobten Zusammenhang lockernd, mehr Frage als Zufriedenheit hinterlassend, die Sicherheit erschütternd, eben unheimlich, und eben unentbehrlich. Da man aus ihnen doch in >die Welt< zurückkehren muß, warum nicht in ihr verbleiben? ... Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch" (ebd., S. 36f).

In diesem Zusammenhang verweise ich wieder auf die zwei Menschenbilder von Dörner, ein Modell, das mir sehr wichtig ist, weil es aufzeigt, wie man differenzieren kann: das sozialisierte Menschenbild der Zwischenmenschlichkeit, das einer Ich-Du-Beziehung gleichkommt und das medizintechnische, rationale Menschenbild, das dem Ich-Es-Verhältnis entspricht. Der Wechsel von Aktualität und Latenz muß auch hier stattfinden. Im Operationssaal kann das Biologische schon einmal in den Vordergrund treten, aber die Richtung zum sozialisierten Menschenbild sollte latent beibehalten werden. Der kranke Mensch wird kurzfristig zum Objekt, so wie das Ich-Es beschreibbar, zerlegbar, einreihbar, dinghaft usw. wird. Und wir sind dankbar, wenn der Arzt und das Pflege-personal viel davon wissen und verstehen. Dann aber muß der Wechsel zum Du wieder stattfinden - zum ganzen Menschen, bestehend aus Beziehungen und Bedeutungen - einzigartig und berührbar.

Besonders in Grenzsituationen ist es soviel einfacher, sich auf die Es-Welt zu konzentrieren, sich von Fachleuten beraten zu lassen, die zu dem Menschen keine Ich-Du-Beziehung haben. In einem übermächtigen medizintechnischen Kontext der Intensivstation vollzieht sich der Wechsel vom sozialisierten Menschenbild der Zwischenmenschlichkeit zum medizintechnischen, rationalen fast unmerklich. In Entscheidungssituationen, ob Maschinen abgeschaltet werden sollen, wird der Mensch leicht zur biologischen Materie, zum Objekt. Wissenschaftliche, rationale, ökonomische Überlegungen und Aspekte der Fürsorge und des Mitleids - durchaus ehrlich gemeint - gewinnen die Oberhand über beziehungsstiftende, Bedeutung zusprechende, grundsätzliche, auch transzendente Ansichten (s. auch Lebensrecht).

Das medizintechnische Menschenbild mit all dem Wissen und den Fähigkeiten kann - eingebettet in das sozialisierte als schützenden Rahmen - sehr segensreich sein. Es geht also nicht um das eine oder andere, nur Ich-Du oder nur Ich-Es, nur Distanz oder nur Beziehung, sondern es geht immer um beides und um die Beibehaltung der Richtung zum Du.

Eine Haltung, die im mezinisch-technischen Kontext auch weit verbreitet ist und besonders im Umgang mit Behinderten, aber auch anderen Minderheiten unbewußt und oft auch unbemerkt vertreten wird, ist das Du-sagen und Es meinen, vor dem auch Buber warnt. Ein typischer Ausdruck dafür scheint mir die Anrede in bruchstückhaftem Deutsch oder in der Kleinkindsprache zu sein. Theoretisch werden zwar allen Menschen dieselben Rechte und dieselbe Würde zugestanden und doch kommt es vor, daß sie nicht mehr eingehalten werden, sobald Stärkere über Schwächere - nur zu ihrem besten natürlich - bestimmen.

Selbstbestimmt Leben

Es geht nicht nur um Rechte, sondern auch um eine Veränderung des Bewußtseins, um neue Formen von Dienstleistungen, von Methoden und Hilfen, um ein neues Denken über Behinderung und Behinderte. Von Amerika ausgehend haben sich in den 70er Jahren Bürgerrechtsbewegungen gebildet, die sich gegen Institutionen mit klinischen Lebensbedingungen richten. An ihre Stelle soll persönliche Assistenz für die Gestaltung des Alltags treten. Ambulante Hilfe also, die den Behinderten mehr Macht und Selbstbestimmung über ihr Leben einräumen. Das bedeutet:

"Entscheidung über den Tageslauf

Kompetenz der Anleitung der Hilfe

Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Wohnens und der Wohnform

Den Aufenthaltsort selbst bestimmen

Die Möglichkeit, einen privaten Lebensraum und Lebensstil zu entwickeln

Das Recht auf Freundschaft, Liebe und Sexualität und Chancen, sie zu leben

Das Recht auf Arbeit und eine den Lebensunterhalt sichernde Entlohnung" (Österwitz, 1996, S. 198).

Auch die Forschung braucht einen neuen Ansatz. Im Brennpunkt soll nicht in erster Linie die Behinderung stehen, vielmehr sollen die Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen und die gesellschaftlichen Haltungen behinderten Menschen gegenüber im Zentrum sein (s. ebd., S. 199).

Dies würde bedeuten, Behinderung als etwas zum Leben gehörendes anzuerkennen und nicht als etwas, das mit besten Absichten und unter größtem Einsatz ausgemerzt werden muß. Ich möchte nicht mißverstanden werden, daß nicht an der Heilung und den Ursachen geforscht werden soll, aber es soll eingebettet in die Ich-Du-Beziehung, in das sozialisierte Menschenbild geschehen.

"Behindert sein ist eine Form des menschlichen Lebens. Sie ist von allen und überall zu akzeptieren" (Dr. Rudolf Kirchschläger).

Jedem Mensch wird zwar im Rahmen der bestehenden Gesetze ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zugestanden. Wenn Behinderte aber viel Pflege und Hilfe im Alltag benötigen, wird oft von Ärzten und Sozialbehörden eine stationäre - zumindest aber eine institutionelle Betreuung angewiesen (wenn nicht die Familie die Pflege übernimmt). Behinderte sind dann gezwungen, sich diesen Strukturen und Regeln zu unterwerfen und anzupassen. Sie werden nahezu völlig fremdbestimmt und müssen ihre intimen Bedürfnisse unterordnen. Ihre Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit sind sehr eingeengt. In der Befreiung aus diesen Strukturen spielt natürlich der finanzielle Hintergrund eine große Rolle (s. Österwitz, 1996, S. 202f).

In einer auf Fürsorge und Institutionalisierung ausgerichteten Behindertenarbeit - eine Es-Haltung - wird Behinderung oft mit Hilflosigkeit und Unfähigkeit gleichgesetzt, was einer Entmündigung und Wegnahme von Verantwortung gleichkommt, die schließlich in einer erlernten Hilflosigkeit mündet (s. ebd., S. 203f).

Mit Hilfe eines Pflegegeldes - das es in Österreich seit einigen Jahren gibt - können sich Behinderte Dienstleistungen unterschiedlichster Art kaufen. Dazu ist es notwendig, daß ein Grundeinkommen gegeben ist, das solche Dienstleistungen in ausreichendem Maße ermöglicht. Bezahlte persönliche Assistenz gibt behinderten Menschen Entscheidungsfreiheit und ist ein wesentliches Element für ein selbstbestimmtes Leben. Natürlich beinhaltet das auch Risiken, aber Risiken sind notwendig für Wachstum und Entwicklung eines jeden Individuums.

Wer in der Lage ist, das Grundwort Ich-Du zu sprechen, stößt an keine Grenzen - also auch nicht an die Grenzen einer Behinderung. Wenn Ich-Es-Beziehungen vorherrschen, lebt der Mensch in wachstumshemmenden Beziehungen und ist in seiner persönlichen Entwicklung gestört und stört auch andere. Der notwendige Wechsel zur Ich-Es-Beziehung behält im Prinzip die Richtung zum Du bei. Diese Wesensbeziehung beinhaltet ein Menschenbild, das für mich selbst und für mein Gegenüber dieselbe Gültigkeit hat. Dieses Menschenbild wird dann die Grundlage meines Tuns und meines Erkennens.



[6] Ein weiterer Schritt zur personalen Vergegenwärtigung wird im Teil III, Beziehungsgeschehen im Geist beschrieben. Durch ein gnadenhaftes Wirken des Geistes kommt es zu einer mythischen Begegnung, einem "Schauen", das die Welt verändert.

[7] In meiner Kindheit gab es ein beliebtes Spiel: Welche Behinderung würdest du dir aussuchen, wenn du vor die Wahl gestellt wärst? Die Antworten bewegten sich zwischen "blind", "taub" und "lahm". "Geistigbehindert" wurde nicht nur niemals gewählt, sondern nicht einmal ins Gespräch gebracht. Zu groß war die Unwissenheit und die Angst.

4. Der/Die/Das Andere - das Dialogische

Erkennen und Erkanntwerden - Das echte Gespräch - Ja des Seindürfens - Selbstfindung und echtes Du-sagen - Andersartigkeit - Vergegnung - Die dialogische Grundbewegung - Angst vor dem Anderen - Universalität und Variabilität - Mögliche Perspektiven - Anknüpfungspunkte des Dialogs - Kriterien der Integration - Phasen der Integrations-Bewegung - Der Weg als Ziel

Erkennen und Erkanntwerden

"Jede wirkliche Beziehung in der Welt ist ausschließlich; das Andere bricht in sie ein und rächt seine Ausschließung. Jede wirkliche Beziehung in der Welt ruht auf der Individuation; die ist ihre Wonne, denn nur so ist Einander erkennen der Verschiedenen gewährt, und ist ihre Grenze, denn so ist das vollkommne Erkennen und Erkanntwerden versagt. Aber in der vollkommnen Beziehung umfaßt mein Du mein Selbst, ohne es zu sein; mein eingeschränktes Erkennen geht in einem schrankenlosen Erkanntwerden auf" (Buber, 1994, S. 101).

Es gibt eine große Scheu, eine ausschließliche Beziehung einzugehen. Erkennen und - noch mehr - Erkanntwerden ist mit Angst besetzt. Dennoch - oder wohl deshalb - besteht eine große Sehnsucht danach. Geistig behinderte Menschen haben diese (anerzogene) Scheu oft nicht. Sie fühlen sich intuitiv in den Anderen ein und nehmen Stimmungen und Gefühle ungefiltert auf. Eine Fähigkeit, die wir - wie ich meine - zu wenig anerkennen.

Mein Sohn reagiert sehr sensibel auf versteckte Stimmungen und eine gespannte Gesprächsathmosphäre. Er erkennt auch sofort, ob ihm jemand ehrlich zugetan ist, oder große Angst und Vorbehalte hinter übertriebener Zuneigung oder oberflächlicher Freundlichkeit versteckt. Ablehnung erfährt er oft von Menschen, die selbst große Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl haben z.B. Alkoholiker. Sie fühlen sich von ihm durchschaut (weil er sie durchdringend anschaut) und reagieren ängstlich oder aggressiv. Das drückt sich in Bemerkungen aus wie: Warum schaut er mich so an? Können sie ihm nicht beibringen, daß es unhöflich ist, so zu schauen. ...

"Es kommt auf nichts anderes an, als daß jedem von zwei Menschen der andere als dieser bestimmte Andere widerfährt, jeder von beiden des andern ebenso gewahr wird und eben daher sich zu ihm verhält, wobei er den andern nicht als sein Objekt betrachtet und behandelt, sondern als seinen Partner in einem Lebensvorgang" (ebd., S. 274).

"Die Sphäre des Zwischenmenschlichen ist die des Einander-gegenüber; ihre Entfaltung nennen wir das Dialogische" (ebd., S. 276).

Seinem Partner in einem Lebensvorgang gegenübertreten. - Wann sind Behinderte für uns Partner? Wann ein gleichwertiges Gegenüber? Oder wann treten wir wirklich in einen Dialog ein, ohne bereits vorher festgelegt zu haben, was für den anderen besser ist? Oft hat man schon als Angehöriger eines Behinderten das Gefühl, nicht vollwertig - dialogisch - angenommen zu werden.

Das echte Gespräch

"Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, daß jeder seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint. Ich werde seiner inne, werde dessen inne, daß er anders, wesenhaft anders ist als ich, in dieser bestimmten ihm eigentümlichen einmaligen Weise wesenhaft anders als ich, und ich nehme den Menschen an, den ich wahrgenommen habe, so daß ich mein Wort in allem Ernst an ihn, eben als ihn, richten kann. ... Ich sage Ja zu der Person, die ich bekämpfe, partnerisch bekämpfe ich sie, ich bestätige sie als Kreatur und als Kreation, ich bestätige auch das mir entgegen Stehende als das mir gegenüber Stehende. Freilich hängt es nun von jenem ab, ob zwischen uns ein echtes Gespräch, die zu Sprache gewordene Gegenseitigkeit aufkommt. Aber ist es erst so weit, daß ich den andern, als einen Menschen, mit dem ich dialogisch umzugehn bereit bin, so mir gegenüber legitimiere, dann darf ich ihm zutrauen und zumuten, daß auch er partnerisch handle" (ebd., S. 283f).

In der Auseinandersetzung um Integration, Menschenwürde, Euthanasie usw. (wie ich es auch noch später ausführen werde) ist es sehr schwierig, in ein echtes Gespräch, einen wirklichen Dialog einzutreten. Die Neigung, mit der entgegengesetzten Meinung auch die andere Person abzulehnen, ist groß. Das mir entgegen Stehende als das mir gegenüber Stehende anzuerkennen, heißt aber nicht, meine Überzeugung aufzugeben und auch nicht, dem anderen meine Meinung aufzuerlegen, sondern so lange einen Dialog zu führen, bis die "Wahrheit", die lt. Buber in allen angelegt ist, durchkommt. Im dialogischen Sinne kann ich eine Meinung ablehnen, nicht aber den anderen Menschen.

Gandhi - so schreibt Erikson in "Gandhis Wahrheit" (1978) - war ein Mensch, der seine Gegner nie gedemütigt, übervorteilt oder ausgespielt hat. Er hat sie wahrgenommen, hat ihnen zugehört, hat zu verstehen versucht, und dann überzeugend von seiner "Wahrheit" gesprochen. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, die Welt aufhorchen zu lassen. Er war glaubwürdig und konnte dadurch entscheidendes für seine Sache bewirken (Erikson, 1978).

In der griechischen Antike mußte man die Argumente des Gegners wiederholen, bevor die eigene Meinung gesagt werden durfte. Eine Möglichkeit, sicherzustellen, daß man dem anderen auch zugehört hat.

Drei Momente - schreibt Buber - gibt es, die ein echtes Gespräch verhindern:

"Ich habe auf zwei Momente hingewiesen, die das Wachstum des Zwischenmenschlichen hemmen: den sich eindrängenden Schein und die Unzulänglichkeit der Wahrnehmung" (Buber, 1994, S. 287).

"Daß keiner der Partner sich dem andern auferlegen wolle, ist die dritte basische Voraussetzung des Zwischenmenschlichen schlechthin" (ebd., S. 291).

Wenn Buber vom "eindrängenden Schein" und der "Unzulänglichkeit der Wahrnehmung" oder vom "sich dem anderen auferlegen wollen" spricht, so ist mir das etwas sehr Bekanntes. Wer fühlt sich nicht oft unverstanden, falsch wahrgenommen, manipuliert oder einfach uminterpretiert, wie es dem anderen paßt? Und wie oft handeln wir so am anderen? Solange egoistische Interessen, oder Interessen, die ich vertreten zu müssen glaube, die Hauptrolle spielen, kann es zu keiner echten Verständigung kommen, solange bleibt das Gefühl eines sich eindrängenden Scheins, der die "Wahrheit" niederhält.

"Das echte Gespräch, und so jede aktuale Erfüllung der Beziehung zwischen Menschen, bedeutet Akzeptation der Anderheit" (Buber, 1960, S. 30).

Bei allem Einflußwillen, sich selbst einzubringen, kommt es darauf an, den anderen in seinem So-beschaffen-sein rückhaltlos anzunehmen und zu bestätigen. Das elementare Anderssein des Anderen wird dann nicht bloß als notwendiger Ausgangspunkt zur Kenntnis genommen, sondern von Wesen zu Wesen bejaht. Nicht den anderen ändern, ihm meine "Richtigkeit" aufzupfropfen, sondern das als wahr Erkannte, das ja auch im anderen angelegt sein muß, aufkeimen und erwachsen lassen. "Menschentum und Menschheit werden in echten Begegnungen." Da wird der Mensch nicht nur auf seine Endlichkeit, seine Ergänzungsbedürftigkeit hingewiesen, sondern es kann verschiedenes wachsen und keimen. In echten Begegnungen wird einander das individuale Sein bestätigt, und die Wahrheit leuchtet im anderen anders auf und kann ebenso bestätigt werden wie die eigene (s. ebd., S. 30ff).

Einander das individuale Sein bestätigen - in echten Begegnungen - ist elementar wichtig für jede/n von uns. Behinderte Menschen erhalten diese Bestätigung selten, wie in dem Kapitel "Persönliche Stellungnahmen" im Teil III zu lesen sein wird. Gerade sie aber bräuchten diese Bestätigung in besonderem Maße für ihr Selbstbewußtsein und ihren Kampf mit den täglichen Schwierigkeiten.

Ja des Seindürfens

"In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung, weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf." ... "Der Mensch schaut heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann" (ebd., S. 36f).

Viktor Frankl hat das Ja des Seindürfens in seinen vier Grundbedingungen, die der Mensch braucht, um zur Existenz zu gelangen, aufgeführt: Dasein-Können, Dasein-Mögen, Dasein-Dürfen, Dasein-Wollen. Diese vier Grundbedingungen motivieren den Menschen, ein sinnvolles Leben zu führen.

"Wir aber sehen im Menschsein, in dem daraus sich ergebenden Umgang von Menschen miteinander die Chance der Begegnung zwischen Seiendem und Seiendem, in der jedes von beiden zwar nicht zu sich sagt: >das drüben bist du<, wohl aber jedes zum andern: >Ich nehme dich an wie du bist.< Hier erst ist unverkürzte Existenz" (Buber, 1962, S. 45).

Selbstfindung und echtes Du-sagen

Und weiter spricht Martin Buber von einer östlichen Philosophie, die das Leben als ein Traumsein betont. Das Dasein zwischen Mensch und Mensch ist letztlich nur Schein und Trug. Der Tiefschlaf als höchste Form des Selbststeins kommt einem nihilistischen Zustand gleich, in dem alle Menschen im Selbst (s. auch C. G. Jung) aufgehen. Für jemand der dieser Lehre der Identität anhängt, ist der andere nur sein eigenes Selbst, weil es ja mit ihm identisch ist. Das kann kein echtes Du-sagen sein, keine Bejahung des urtiefen Andersseins des anderen. Person sein - und jeder Mensch ist Person, ob er sein Personsein verwirklichen kann oder nicht - ist durch und durch Einmaligkeit, also Anderssein, in dem das Seiende dem Seienden begegnet (s. Buber, 1960, S. 43ff).

Das Erkennen des Selbst - wie auch im Zitat am Anfang dieses Kapitels - ist eine tiefe Sehnsucht des Menschen. Dazu braucht er den Anderen, einerseits wie einen Spiegel, andererseits als Bestätigung seines Andersseins. Im Selbsterkennen und im Selbstsein ist bei Buber nicht die Vollendung des Menschseins, sondern im Bejahen des Anderen (s. auch Teil III).

Die Ansicht, ich sehe im Behinderten nur mich selbst in meiner Behinderung und deshalb habe ich Angst, wäre also ein nicht Ernstnehmen der gegenüberseienden Person. Der Andere ist der ganz Andere, der mir Gegenüberseiende, den ich wohl zu meiner Selbstfindung brauche, aber der ein eigenes Selbst hat, für das er mich braucht. Daß es lt. Jung zusätzlich ein kollektives Selbst gibt, an dem wir alle teilhaben, steht dem meiner Meinung nach nicht entgegen, denn das Selbst von dem hier die Rede ist, ist ein individuelles, das es im Vollzug des Lebens zu entdecken und zu verwirklichen gilt.

Andersartigkeit

Bei Behinderten oder anderen Minderheiten hat das Anderssein auch oft den Beigeschmack der Andersartigkeit, des angstmachenden Fremdseins, vor dem man sich schützen muß.

Kinder fragen mich oft ganz unbefangen: "Warum ist er anders?", "Wieso ist sein Kopf so groß?" "Wie schaut der aus?". Sie nehmen weniger wahr, daß mein Sohn behindert ist, als viel mehr, daß er anders ausschaut. Ich habe allerdings nie festgestellt, daß Kinder Angst vor ihm haben, vielleicht eine gewisse Scheu, aber vor allem Neugier, die ich für natürlich halte und der ich auch gerne antworte. Bei Erwachsenen kommt wohl eine Reaktion zustande, wie sie Feuser im folgenden zusammenfaßt:

"1.Was wir an einem anderen Menschen z.B. nicht verstehen und nicht akzeptieren können, daß es auch für uns selbst zutreffen könnte, nehmen wir als dessen Unverstehbarkeit und 'Andersartigkeit' wahr.

2. Das Verständnis des anderen gelingt nur mittels der Projektion unserer Verstehensgrenzen auf ihn, d.h. wir verkennen unsere Grenzen des Verstehens als Begrenztheit derer, die es zu verstehen gilt. In Folge kommt es zur Wahrnehmung unserer Begrenztheit als Grenzen des anderen.

3. Unsere Annahmen über diese nun für wesensmäßig gehaltene Begrenztheit des

anderen, die, wie gesagt, unsere Verstehensgrenzen charakterisiert, lassen uns nun so handeln, daß wir den anderen in Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssysteme, in Wohn-, Arbeits-, Förder- und Therapiezusammenhänge verbringen, die dieser unserer Annahme über seine Begrenztheit entsprechen. Das garantiert, daß der andere trotz Förderung so bleibt, wie ich ihn mir nur denken kann. Dadurch erfüllt sich, was wir über seine Entwicklungsmöglichkeiten prognostiziert haben. Das bestätigt uns (nicht den anderen), beweist unsere 'Normalität' und dessen 'Pathologie' und schließt den Zirkel" (Feuser, 1996, S. 5).

Diese Aussagen machen klar, wie wir mit den geistig Behinderten umgehen. Sie haben so zu sein, wie wir sie uns denken, wie wir annehmen, daß sie sind, und wir tun alles dafür, daß dies so bleibt, indem wir sie in eigenen Institutionen organisieren und kontrollieren. Sie müssen bleiben, was wir meinen, daß sie sind. Im Buber´schen Sinne "vergegnen" wir einander.

Vergegnung

Buber spricht in Bezug auf die Beziehung zwischen seiner Mutter und ihm von einer "Vergegnung", ein Wort, "das als ein zu ihm gesprochenes Wort zu vernehmen war, als er in ihre schönen Augen blickte". Welche Schwermut und welche Sehnsucht beinhaltet dieser Ausdruck!

"Später einmal habe ich mir das Wort >Vergegnung< zurechtgemacht, womit etwa das Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen bezeichnet war" (Buber, 1986, S. 10).

Ich wechsle hier kurz die Ebene und möchte auf die "Vergegnung" hinweisen, die zwischen den Befürwortern der Integration und deren Gegnern geschieht. Leider findet kein echtes Gespräch im Buber'schen Sinne statt, in dem man hinhört und aufeinander eingeht. Beharrlich wird an alten Standpunkten festgehalten und es kommt kein Dialog zustande. In ganz kleinen Schritten muß erkämpft werden, was nicht mehr verhindert werden kann. Als Beispiel möchte ich den Direktor einer Allgemeinbildenden Höheren Schule anführen, der auf meine Bitte hin, sich mit dem Thema Integration zu beschäftigen, geantwortet hat, daß er weder emotional noch rechtlich einen Anlaß dafür sehe. Eine andere Schule hat zwar abgelehnt, sich aber doch innerhalb des Lehrkörpers mit Integration auseinandergesetzt. Eine solche Entscheidung ist zwar nicht in meinem Sinne, aber als Beginn eines Dialogs anzusehen und zu akzeptieren. Mit einer dritten Schule bin ich in ein echtes Gespräch eingetreten.

Was Buber zu einem echten Religionsgespräch zu sagen hatte, erlaube ich mir auf die Diskussion um die volle Integration Behinderter umzulegen, weil es sich hier auch um eine weltanschauliche Diskussion handelt, wenn nicht um ein Bekenntnis: Wenn es um wesentliche, >weltanschauliche< Ansichten geht, darf das Gespräch gar nicht abgebrochen werden. Jede der beiden Seiten muß sich real, in seiner menschhaft unvermeidlichen Einseitigkeit, restlos exponieren und sich vom anderen als begrenzt erfahren, so daß beide gemeinsam das Schicksal unserer Bedingtheit erleiden und einander in ihm begegnen. Auf weltanschaulichem Boden muß nicht Einigkeit erzielt werden, aber auf dem Boden der Wirklichkeit (s. Buber, 1994, S. 146ff).

"Eine Zeit echter Religionsgespräche beginnt, - nicht jene so benannten Scheingespräche, wo keiner seinen Partner in Wirklichkeit schaute und anrief, sondern echter Zwiesprache, von Gewißheit zu Gewißheit, aber auch von aufgeschloßner Person zu aufgeschloßner Person. Dann erst wird sich die echte Gemeinschaft weisen, ..." (ebd., S. 149).

Die dialogische Grundbewegung

Es sind die Scheingespräche, die das ganze so mühsam machen, die vielleicht irgendwann zu Resignation führen - was möglicherweise beabsichtigt ist. Wenn man das Gefühl hat, gegen Mauern zu reden, befindet man sich bereits in einem dialogisch verkleideten Monolog, wie ihn Martin Buber beschreibt:

"Ich kenne dreierlei Dialog:

den echten - gleichviel, geredeten oder geschwiegenen -, wo jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, daß lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte;

den technischen, der lediglich von der Notdurft der sachlichen Verständigung eingegeben ist; und

den dialogisch verkleideten Monolog, in dem zwei oder mehrere im Raum zusammengekommene Menschen auf wunderlich verschlungenen Umwegen jeder mit sich selber reden und sich doch der Pein des Aufsichangewiesenseins entrückt dünken" (ebd., S. 167).

Der direkte echte Dialog mit behinderten Menschen selbst als auch mit den verantwortlichen Amtsträgern ist sehr erschwert, mit den ersteren durch das rein äußerliche Anderssein und den erschwerten Ausdrucksmöglichkeiten, mit den anderen durch die Interessensabwägungen. Es wird auf eine technisch orientierte Umgangsweise oder einen dialogisch verkleideten Monolog ausgewichen.

Im echten Dialog legt der menschliche Geist Zeugnis ab. Im Dialogischen Leben hat man mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich zu tun (s. ebd., S. 166f).

Die dialogische Grundbewegung - eine innere Wesenshaltung des Menschen - ist die Hinwendung zum Anderen. Das Andere erfahren wollen. Die monologische Grundbewegung ist nicht Abwendung, sondern Rückbiegung, wenn einer sich der wesensmäßigen Annahme einer andern Person widersetzt und den Andern nur als das eigne Erlebnis, nur als eine Meinheit bestehen läßt (s. ebd., S. 170-173).

Die Angst vor dem Anderen

Die Angst vor dem Fremden, dem Neuen führt häufig dazu, sich nicht darauf einzulassen, schon vorher abzublocken und die Argumente nicht richtig aufzunehmen. Es ist leichter in alten Mustern zu verharren, und die Sicherheit nicht aufzugeben.

Im Umgang mit Anderem, mit Fremdem kommt es nicht nur zu Ablehnung und Ausgrenzung, sondern auch zu Abwertungstendenzen und -mythen. Betroffen davon sind sowohl Behinderte als auch Ausländer, Flüchtlinge, Obdachlose und andere Minderheiten. Abwertung (Objektbeziehung) ist ein Mittel, Menschen abzuschieben, zu unterdrücken und zu versklaven, mitunter auch zu töten.

"Columbus sieht die Menschen der entdeckten Gebiete so, wie er sie sich vorgestellt hat oder so, wie sie sich in für sie ungünstige Weise von den spanischen Normalmenschen unterscheiden, weshalb sie keine Kultur, keine Religion, keine Menschenwürde haben und ohne moralische Bedenken versklavt werden können. (Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt 1985, S. 47 - 66)" (zitiert: Rathmayr, 1995/96, S. 2).

An Untersuchungen, wie in verschiedenen Kulturen mit Behinderung und behinderten Menschen umgegangen wird, möchte ich die Frage berühren, ob die Ablehnung des Fremden, die Angst vor dem Anderssein phylogenetisch grundgelegt ist. Die Humanethologie ist der Meinung, daß Anderssein zu Verteidigungs- und Schutzreaktionen führt, zu Ablehnung, Ausgrenzung, Rückzug ins Eigene. Bekannt ist das Beispiel eines verletzten Schimpansen, der vom Stamm wegen seines Hinkens, das für die anderen fremdartig und angstauslösend war, ausgeschlossen wurde. Er starb nach einem Jahr an der Isolation.

Nun sind wir aber dem Wesen nach geistbegabte Menschen. Der Mensch hat einen vernunft- und lernbegründeten Entscheidungsspielraum. Die ethologische Sicht darf nie eine Ableitung oder Entschuldigung für unsoziales Verhalten oder moralische Normen sein. Im Gegenteil, unsere Lern- und Kulturfähigkeit, dazu das Wissen um die Natur des Menschen können helfen, Ängste und Aggressionen besser zu verstehen, besser damit umzugehen und damit eigene persönliche als auch allgemein soziale Beziehungen zu verbessern. Das Ausstoßen von Andersartigem ist ein Rückschritt ins Animalische und nach dem Kategorischen Imperativ, aber auch nach dem reziproken Altruismus (niemandem etwas zufügen, was man selbst nicht will) nicht vertretbar.

Universalität und Variabilität

Sind negative soziale Reaktionen auf Behinderte universell, d.h. in allen Ethnien vertreten? Oder sind sie variabel und von soziokulturellen Faktoren und der individuellen Persönlichkeitsstruktur abhängig? Nur wenn die Einstellung und das Verhalten variieren, sind Chancen auf eine Veränderung der Reaktion offen.

Leider gibt es kaum umfassende interkulturell vergleichende Studien. Erste Forschungsansätze und Hypothesen von Obele & Cloerkes (Cloerkes, 1985) sollen hier kurz wiedergegeben werden. Verhaltensbiologisch orientierte Ethnologen gehen von einer angeborenen Idealvorstellung aus, die sich bis ins Tierreich zurückverfolgen läßt. Es gibt eine grundlegende universelle Tendenz, auf extreme körperliche und geistige Andersartigkeit negativ zu reagieren. Soziologisch orientierte Autoren berichten von einer Ambivalenz zwischen Ablehnung und Hilfe, Ausstoßung und Attraktion. Dieser Konflikt sei universell, die Lösung kulturspezifisch. Kulturelle Unterschiede in der sozialen Reaktion auf Behinderte oder besser definiert auf Andersartige lassen sich mit dem Einfluß von Werten und spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen begründen. Diese Reaktion ist natürlich auch evolutionistisch erklärbar. Behinderte werden mit wachsendem Entwicklungsstand einer Gesellschaft einerseits - kulturoptimistisch - immer positiver bewertet, andererseits - kulturpessimistisch - aufgrund zugespitzter Funktionserfordernisse zunehmend mehr ausgegrenzt und abgewertet. Die Reaktion auf andersartige Menschen variiert interkulturell und hängt von der Art der Andersartigkeit ab. Extremreaktionen sind vielfach universell, finden meist direkt nach der Geburt statt und treffen hauptsächlich Menschen mit gut sichtbaren Behinderungen (Cloerkes, 1996, S. 588-594). "Die interkulturelle Ebene ist also gekennzeichnet durch Universalität mit Bezug auf die Bewertung von Behinderung und Variabilität mit Bezug auf die Reaktion gegenüber behinderten Menschen" (ebd., S. 594).

Auf der intrakulturellen Ebene sind keine eindeutigen Aussagen möglich. Es gibt viel Übereinstimmung in der Bewertung von Andersartigkeiten, die Reaktion ist aber sehr variabel und hängt von zahlreichen Einflußvariablen, nicht zuletzt von der Wirtschaftslage und den Wertvorstellungen ab. "Es geht um nichts weniger als den Unterschied zwischen der Einschätzung eines "Sachverhalts" und der Einschätzung eines "Menschen". Bei der Einschätzung eines Menschen ist eben nicht nur dessen körperlicher, geistiger oder psychischer Zustand von Bedeutung, sondern auch seine sozialen Beziehungen und vieles andere mehr" (ebd., S. 594). Die Reaktion auf behinderte Menschen ist wohl variabel, aber nicht beliebig.

Andersartigkeiten betreffend gattungsspezifischer Eigenschaften widersprechen den universell erlernten Normalitätserwartungen und haben somit Stimulusqualität. Dabei geht es um Grundelemente des Körpers. Daneben gibt es kulturtypische Eigenschaften von bestimmten körperlichen Äußerlichkeiten, die relativ sind und die in der jeweiligen Kultur Stimuluscharakter haben.

Drei wichtige Faktoren lassen sich als Reaktion auf Andersartigkeit empirisch nachweisen:

die Art der Behinderung (Hierarchie)

Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung

Situation der Gruppe (Krisen, ökologische Bedingungen).

Mögliche Perspektiven

strikte Trennung zwischen Behinderung und Behinderte

keine Verallgemeinerungen und Stigma-Generalisierungen

Person muß im Vordergrund stehen, nicht Behinderung

Reaktionsmöglichkeiten sind variabel, Spielraum für Verhaltensänderungen

schrittweise Reduzierung der subjektiven und objektiven Belastungen (Unsicherheit in der Interaktion, effiziente Hilfe statt Fürsorgeverhalten)

Kontakte qualitativ und quantitativ verbessern von frühester Kindheit an (Integration statt Ausgrenzung)

Anderssein muß gesellschaftliche Anerkennung erfahren

Leider gibt es keine Kultur mit Modellcharakter für unsere Gesellschaft. Behinderung ist überall unerwünscht. Die Reaktionsmöglichkeiten aber sind vielfältig und prinzipiell veränderbar. Es gilt das Wesen des Menschen ernst zu nehmen und die richtigen Schlüsse zu ziehen (s. ebd., S. 587 - 598).

Ich hatte nie das Empfinden, daß mein behindertes Kind etwas "Anderes" im Sinne von Andersartigkeit oder gar etwas Fremdes sei. - Im Gegenteil: Es verbindet uns eine große Vertrautheit, die ich auch zwischen ihm und seinen Brüdern beobachte. Als sie noch jünger waren, war es ihnen manchmal peinlich, wenn er auf dem Fußballfeld oder im Urlaub auffiel - aber nie haben sie abfällige Bemerkungen hingenommen.

Ich wollte auch nie, daß Unterschiede gemacht werden sollten, sei es im Bereich der medizinischen Vorsorge, im Schul-, Freizeit-, Arbeits- oder Wohnbereich. Natürlich sind seine Defizite zu berücksichtigen, ist anzuerkennen, wo es Hilfe braucht und ist seine Individualität zu respektieren. Das heißt aber nicht, daß es ein von Sondereinrichtungen bestimmtes Leben führen muß - sofern ich es verhindern kann.

Anknüpfüngspunkte des Dialogs

Die Beziehung zu geistig behinderten Menschen muß genauso eine dialogische sein, wie zu allen anderen, aber es ist darauf zu achten, daß man dafür einen Raum schafft, in dem sie sich orientieren und auch mithalten können. Wolfgang Jantzen spricht von basalen Voraussetzungen, die gewährleistet sein sollen, wenn subjektorientierte Bildung und Erziehung erfolgen soll.

"Unter Dialog verstehe ich nicht nur eine Ich-Du-Bezogenheit im Sinne Bubers oder eine Grundeinheit sprachlichen Verständnisses" (Jantzen, 1996, S. 346).

Jantzen will die vielfältigen stereotypen Besonderheiten im Alltag geistig Behinderter als Anknüpfungspunkt des Dialogs betrachten. "Dialog findet in einem Raum statt, der durch die Orientierung und Erfahrungen beider Partner determiniert ist. Damit ein Mensch sich entwickeln kann, muß dieser Raum durch Kooperation so strukturiert sein, daß es dort Orientierung ermöglicht, wo bisher Orientierungsverlust dominierte" (ebd., S. 346). Diese Orientierung darf natürlich nicht nur sprachlich erfolgen, sondern muß erfahrbar sein. Wie kann sich ein schwerstbehindertes Kind darauf einstellen, daß jetzt Nahrung in seinen Mund gelangt? Vielleicht durch vorheriges Berühren seiner Lippen oder durch ein gemeinsam festgelegtes Ritual (s. ebd., S. 346 f).

Mein Sohn trägt immer eine Spiel Quartettkarten hsl. mit Bildern von Tieren bei sich. Wenn er mit jemandem in Beziehung tritt (Bekannte auf der Straße, VerkäuferIn, KellnerIn usw.) zeigt er das Kartenspiel her und sucht ein besonderes Tier heraus. Wenn der/die Betreffende die Karten anschaut und vielleicht auch ein Lieblingstier heraussucht, kommt ein Dialog zustande, der auch auf andere Gebiete ausgedehnt werden kann. Das Ritual mit den Karten gibt ihm Sicherheit und hilft ihm, zu erkunden, ob der andere bereit ist, mit ihm zu kommunizieren.

Jantzen ist (ebenso wie u.a. Feuser) der Meinung, daß, wenn wir Behinderte auf das Erlernen "lebenspraktischer" Dinge reduzieren, wir nicht erwarten können, daß sich die geistige Behinderung auflöst. Flexibilität im Geiste entsteht erst durch flexiblen Umgang mit den Dingen. Wir geben vor, die Kinder durch Abhalten vom Experimentieren vor Beschädigungen zu bewahren, aber in Wahrheit wird alles vor ihnen bewahrt, was beschädigt werden könnte. Aber gerade für geistig Behinderte ist es besonders wichtig, alles anzufassen, alles ausprobieren zu können (und nicht nur eigens dafür vorbereitete Gegenstände), um Rückwirkungen auf das eigene Handeln erfahrbar werden zu lassen. "Dies verlangt aber erneut, geistig behinderte Menschen als "normal" und vernunftfähig anzuerkennen und nicht zu glauben, durch irgendeine Art von Verbesonderung oder Ausschluß "normalisieren" zu können" (ebd., S. 347).

Wenn wir uns an die Verwirklichung des Zwischenmenschlichen wagen, wenn wir behinderte Menschen in eine dialogische Grundhaltung einschließen, ist Integration keine Zauberformel einiger weltfremder Idealisten oder ehrgeiziger Eltern, sondern die Konzeption eines pädagogischen Weges wechselseitiger Interaktion.

Erika Schuchardt beschreibt am Schicksal Johann Christian Friedrich Hölderlins (1770 - 1843) eine gelungene Integration, lange bevor es dieses Wort gab. Hölderlins Behinderung wurde damals eine Gemütsverwirrung genannt - heute würde es unter den Begriff geistig behindert fallen - und es drohte ihm die Ausgliederung in eine psychiatrische Anstalt. Dort traf er Menschen, die an ihn glaubten, seine Ausgliederung verhinderten, ihn nicht allein ließen und mit ihm zusammen lebten. (Ein prominentes Beispiel einer ähnlich gelungenen Integration und Verwirklichung aus unserer Zeit ist der australische Pianist David Helfgott). Hölderlin lebte mit seinen Einschränkungen und Grenzen inmitten der Gesellschaft und konnte seine Begabung entfalten. Der Handwerker, der ihn bei sich aufnahm, ließ ihn sein Anderssein leben und versuchte nicht, ihn mit allen Mitteln anzupassen, "was nur tiefer in das 'abnorme' Verhalten wie Zorn, Rückzug, Trotz geführt hätte". Das Wesentliche war das Leben mit ihm, das Respektieren und Verstehen wollen seines "Andersseins" - "seine angenommene Verhaltenweise aus wohl überdachten Gründen".

Kriterien der Integration

An Hölderlins gelungener Integration lassen sich Kriterien der Integration festmachen, die auch heute Geltung haben:

1. Leben in Würde und Freiheit (UN-Menschenrechtskonzeption), Normalisierungsprinzip,

Leben in uneingeschränkter Freiheit, selbstbestimmter Tages- und Lebenslauf,

eigener Lebensbereich,

grundsätzlich eigene Entscheidungen über Lebensform, Arbeit und Muße

2. Konflikt- und Kritikfähigkeit unterstützt durch Begleitung und selbst gesuchte Kontakte,

mit Auseinandersetzungen selbst umgehen lassen

3. Akzeptanz abweichenden Verhaltens

4. Bedingungslose Annahme des individuellen "Andersseins" im wechselseitigen Dialog,

gelebte Partnerschaft, Interaktion beim gemeinsamen Leben-Lernen, Ehrfurcht vor dem Leben, Erkennen des Geistes, Erkennen der einzigartigen Gottes- Geschöpflichkeit. (s. Schuchardt, 1996, S. 3-13).

Die heutige Integrations-Bewegung zur Erreichung dieser Ziele für alle Behinderten (nicht nur einzelner "Privilegierter") wurde hauptsächlich von Eltern, Betroffenen und einigen engagierten LehrerInnen ins Leben gerufen. Auf allen Bereichen wird daran gearbeitet, Integration aller Behinderten in allen Lebensbereichen Wirklichkeit werden zu lassen. Hier die wichtigsten Wegmarken dieser Bewegung:

Phasen der Integrations-Bewegung:

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konstituierte sich die Heilpädagogik. Das Ziel war, behinderte Kinder wohl zu bilden, aber mit den Mitteln der Separation, nämlich ausgegrenzt in eigenen Institutionen. Das ist auf einer Linie bis heute so geblieben und steht im Widerspruch zum Demokratisierungsprinzip als auch zu den Grundregeln der UN-Menschenrechtskonvention.

Mit Beginn der 70er Jahre erhebt sich der Ruf nach Reform und zur Gesamtschule. Die Eltern behinderter Kinder begehren auf und fordern die Integration durch angemessene methodische Wege - durch Einbeziehung der Sonderschule in die Gesamtschule. Diese Forderung stößt vorrangig auf Widerstand, hauptsächlich der SonderschullehrerInnen, die ihr Selbst- und ihr Rollenverständnis bedroht sahen, aber auch der anderen LehrerInnen, die dafür nicht speziell ausgebildet sind.

Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre, Integrationskindergärten, Integrations-veranstaltungen in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung in Deutschland (s. ebd., 1996, S. 19-21).

Mitte der 80er Jahre Integrationskindergärten und Integrationsklassen in Volksschulen auch in Österreich auf Schulversuchs-Basis.

Anschließend an die Volksschulen Schulversuche in Hauptschulen und vereinzelt in der Unterstufe der Allgemeinbildenden Höheren Schulen.

Gesetzliches Recht behinderter Kinder auf Unterricht in Volksschulen aufgrund der 15. Schulorganisationsgesetzes-Novelle von 1993 auf Verlangen der Eltern und nach Möglichkeit.

Gesetzliches Recht behinderter Kinder auf Unterricht in der Sekundarstufe aufgrund der 17. SchOG Novelle von 1997 auf Verlangen der Eltern und nach Möglichkeit.

Seit etwa zwei Jahren einzelne Angebote in Freizeitgestaltung, im Erwachsenen- und Weiterbildungsbereich auf integrativer Basis und Einrichtung von Projekten zur Berufsorientierung und Arbeitsassistenz.

Im Wohnbereich gibt es bei uns nur sehr wenige integrative Modelle (Wohngemeinschaften mit behinderten und nicht-behinderten Menschen). Die meisten Behinderten wohnen bei ihren Angehörigen, in Heimen oder kleineren Wohn-gemeinschaften.

Der Weg als Ziel

Integration als Ziel ist bekannter als Integration als Weg. Dieser Weg wechselseitiger Interaktion hängt sehr von der Bereitschaft der Noch-Nichtbetroffenen ab. Gemeinschaftsfähigkeit ist zweiseitig bedingt: Es kommt darauf an, ob ich auch gemeinschaftsfähig für den anderen bin. "Die Gemeinschaftsfähigkeit ist also davon abhängig, welche Möglichkeiten zur Begegnung Mitmenschen einander wechselseitig einräumen, inwieweit sie bereit dazu sind, "Schritte aufeinander zu" wirklich zu wagen! Das aber heißt, sich der Krise des eigenen Um-Denkens zuallererst selbst zu stellen" (Schuchardt, 1996, S. 32).

Integration als Weg erzeugt eine Wechselwirkung, wie ich sie in der Einleitung erwähnt habe. Behinderte Menschen erhalten die Möglichkeit durch ihre Integration auf die Struktur verändernd einzuwirken und umgekehrt: Die veränderte Struktur (integrierte Lebensweise) wirkt verändernd auf die behinderten und nichtbehinderten Menschen ein.

Idealzustände sind nicht erreichbar. Der Weg als Ziel ist jedoch ein gut begehbarer, auf dem jeder Schritt weiterführt - auch wenn manchmal der Eindruck besteht, wieder zurückweichen zu müssen.

Mir und dem Anderen die Möglichkeit zur Begegnung einräumen - ungezwungen, unvorbereitet, beiläufig. Wo und Wann kann das besser geschehen als im Miteinanderleben? Der/Die/Das Andere ist mein Gegenüber, der/die/das meine Anerkennung und meine Bestätigung braucht. Der Mensch hat den Wunsch nach Bestärkung durch andere, Bestärkung als das was man ist und werden kann - was jeder ist und was jeder werden kann.

5. Der Logos - das Gemeinschaftliche : Lebensunwertes Leben

5.1 Die Allheit des Menschengeschlechts

"Aber diese Welt, die Heraklit als die Welt der Menschen versteht, baut sich immer nur aus der Allheit des Menschengeschlechts auf, dem sie zugehört. Mit allem, was Menschen sind, tragen sie zum kosmischen Vorgang bei. Als Einzelne sind sie sogar im Schlaf, mögen sie auch jeder in seinem Eigenbereich versenkt sein, dennoch, wie Heraklit sagt, >Werker und Mitwirker am Weltgeschehen<, passive Werker. Das heißt: es gibt keinen Zustand, in dem der Einzelne lediglich ein Eigensein führte, ohne eben dadurch, was er in diesem Zustand lebt, sein Teil zum Werden seiner menschlichen Umwelt und zu dem der Welt überhaupt beizusteuern. Aber an der Weltgestalt selber, die eben ein menschlicher Kosmos ist, als Kosmos dem Menschen als Menschen kenntlich, daran bauen sie wachend, gemeinschaftlich, miteinander in der Welt umgehend, einander von der Macht des Logos her helfend, die Welt als Weltordnung zu fassen, ohne welche ordnende Fassung sie nicht Welt ist und nicht Welt sein kann. Das freilich vermögen sie nur, wenn und insofern sie wahrhaft Wachende sind, wenn sie nicht im Wachen schlafen und traumhaften Trug, eigene Einsicht genannt, spinnen, - wenn sie gemeinschaftlich existieren" (Buber, 1962, S. 33f).

Mit allem, was Menschen sind, tragen sie zum kosmischen Vorgang bei. Das heißt, daß behinderte Menschen, auch wenn wir den wachen Zustand an ihnen kaum oder gar nicht wahrnehmen können, ihren Teil zum kosmischen Vorgang und damit zum Logos, zum Sinn des Lebens, beitragen. Menschen als nicht lebenswert oder minderwertig zu erachten, oder unter dem Mantel der Barmherzigkeit sterben zu machen ist demzufolge wider den gemeinschaftlichen Kosmos und fügt der Welt Schaden zu.

Fredi Saal schreibt an Klaus Dörner zur Frage der "Unerträglichkeit" des Lebens:

"Als wirklich schwer behinderter Mensch, der nur mit allergrößten Schwierigkeiten ohne Hilfe anderer den Alltag überstehen könnte, habe ich das Recht, ja die Pflicht, mich meiner Umwelt zuzumuten. Ich bin ein Teil des Ganzen im menschlichen Kosmos. Ich trage dazu bei, daß niemand vergißt, dieses Ganze zu sehen, wie ich auch von den anderen mit ihrer eigenen Individualität darauf gestoßen werde, in ihnen einen Teil des Ganzen zu sehen, ohne den es den Menschen nicht gibt in seiner Totalität. Ich kann und muß also meinen Platz beanspruchen mit allen Ansprüchen an ein menschenwürdiges Leben..." (Malina, 1990, S. 160).

Was ist zumutbar? - Welches Leben? Wer ist wem zumutbar? Behinderte Kinder ihren Eltern, SonderschülerInnen SonderschullehrerInnen, behinderte Menschen speziellen BetreuerInnen oder jeder jedem oder keiner keinem? In diesem Ausdruck liegt soviel Abwertung und Ausgrenzung, daß ein Du-sagen von vornherein ausgeschlossen ist. Ich bin Fredi Saal dankbar, daß er den Mut hat, sich zuzumuten.

Das bringt mich zur nächsten Frage: Darf ein Behinderter Ansprüche stellen, oder sollen Behinderte auf unser Mitleid, unser Wohlwollen angewiesen sein, weil sie selbst nicht in der Lage sind, ihre menschlichen Rechte zu beanspruchen und durchzusetzen? (Ist das nicht ein Darwinismus, der schon längst überwunden sein sollte?) Tragen behinderte Menschen nicht vielmehr durch ihr bloßes Dasein zur Gesamtheit, zum Gemeinschaftlichen bei, wofür wir, die wir unsere Existenzansprüche behaupten können, Sorge zu tragen haben? Vielleicht können wir im Prozeß des Selbsterkennens zu dem Ergebnis kommen, daß es zu meiner Selbstwerdung der Allheit (also auch der Behinderten) bedarf.

"Heraklit sagt vom Denken, es sei allen gemeinschaftlich, und er erläutert dies auch noch dahin, alle Menschen hätten wie am Selbsterkennen so am Denken teil. In der Konkretheit seiner Betrachtung, die er bis in die höchsten Abstraktionen bewahrt, ist damit nicht das Allbekannte gemeint, daß jeder von uns die Denkfähigkeit besitzt, sondern daß wir, wenn wir dem Logos gemäß erkennen und denken, dies nicht isoliert, sondern gemeinschaftlich tun: wir verschmelzen all unser Sonderwissen, und auch noch zum Selbsterkennen hilft einer dem andern. Diesem Gemeinschaftlichen, an dem wir, miteinander lebend und aufeinander wirkend, teilhaben, >soll man folgen< (Buber, 1962, S. 48).

Das Denken und das Selbsterkennen ist allen gemeinschaftlich. Folglich darf sich niemand anmaßen, zu beurteilen, was jemand denken oder erkennen kann und darf. Im Gegenteil, wenn wir dem Logos gemäß denken und erkennen, tun wir das nicht isoliert, sondern gemeinschaftlich (s. auch C. G. Jung "das kollektive Unbewußte"). Es bedarf also jedes Menschen, jedes Seins und jedes Andersseins. Das Gemeinschaftliche zu erkennen ist unsere Aufgabe, aber nicht, indem wir vorgeben zu wissen, was für den anderen gut ist, indem wir domestizieren (wie es Friere nennt), sondern indem wir eintauchen in unser Wesen und in das des Anderen. [8]

"Und wie der Logos, so gehört auch der Kosmos dem Gemeinschaftlichen zu als dem, woran die Menschen wie an einem gemeinsamen Werke teilhaben. Daß er ihnen gemeinschaftlich ist, meint nicht die ebenfalls allbekannte Tatsache, daß sie sich mitsammen in der Welt befinden; es meint, daß ihr Verhältnis zu ihr ein gemeinschaftliches ist" (ebd., S. 48).

Ein behinderter Mensch hat kein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Welt als ein nicht-behinderter. Warum soll er nicht gemeinschaftlich an der Welt teilhaben, umsomehr da er ja an ihrer Gesamtheit mitwirkt?

"Gerade weil Heraklit anders als jene Inder das Sein des Seienden in all seiner Vielfalt annimmt und keine andere Harmonie kennt als die aus dessen Spannungen ersteht, und gerade weil er anders als jene Chinesen den Sinn des Seins nicht auf dem Grunde der Schiedlichkeit, sondern im Allgemeinschaftlichen findet, ist der Existentialanspruch hier ein so unmittelbarer" (ebd., S. 60).

Dem Gemeinschaftlichen folgen heißt demnach, das Sein des Seienden in all seiner Vielfalt anzunehmen. Dazu gehört eben auch das beschwerlich aussehende Leben von behinderten Menschen. Der Existentialanspruch ist ein unmittelbarer und unteilbarer.

"Logos ist etwas Vernehmbares, aber falsch Vernommenes, das in der rechten Weise, als Sinnwort eben, vernommen werden soll. ... Wohl hat jede Seele ihren Logos tief in sich, aber zu seiner Fülle gelangt der Logos nicht in uns, sondern zwischen uns; denn er bedeutet die ewige Chance der Sprache, zwischen den Menschen wahr zu werden. Darum ist er ihnen gemeinschaftlich. ... Erst durch unseren Dienst am Logos wird die Welt zu >demselben Kosmos für alle<. So und nur so haben die Wachenden, eben insofern sie wach sind, in Wahrheit eine einzige gemeinsame Welt, an deren Einheit und Gemeinsamkeit sie in allem wirklich wachen Dasein wirken. Denn wohl sind wir auch schlafend, wie Heraklit sagt, >Werker und Mitwirker< am Weltgeschehen, passive Werker; aber nur wachend, nur wach zusammenwirkend, lassen wir die Gesamtheit dieses Geschehens als Kosmos in die Erscheinung treten. Denn dann erfahren wir miteinander, helfen einander, erfahren und ergänzen einander in unserer Erfahrung, die Lebenden zusammenwirkend mit den andern Lebenden und alle Lebenden mit allen Toten" (ebd., S. 61-64).

Logos als etwas Vernehmbares als auch etwas in uns Seiendes soll zwischen den Menschen verwirklicht werden. Logos ist hier der Geist, der uns verbindet (davon wird im Teil III noch die Rede sein). Jeder - nach seinem Vermögen - ist aufgerufen, mit Hilfe des Logos am Kosmos zu bauen. Das erinnert an die Sinnfindung von Viktor Frankl und an die Verwirklichung von Werten, die in jeder Lebenslage möglich ist. Um zu einem sinnvollen Leben zu gelangen, gilt es die drei Arten von Werten - schöpferische Werte, Erlebniswerte, Einstellungswerte - zu finden und zu verwirklichen. Daß es sich dabei um zwischenmenschliche Bereiche handelt, wird bei Frankl nicht konkret betont, aber mir scheint es unumgänglich zu sein, daß in allem ein Anspruch des Wir ist, weil ich ja den für mich erkannten Wert leben und weitergeben will.

"Hier wird uns der zweite existentielle Anspruch Heraklits faßlich: daß die Person sich der großen Trägheit, die er eine viehische Sattheit nennt, entwinde und das Eigene, ohne ihm sein Eigensein zu verkürzen, so im gemeinschaftichen Logos verwirkliche, daß damit am gemeinsamen Kosmos gewirkt werde. Dieser aber, von dem wir herkommem und der von uns herkommt, ist, in seiner Tiefe gemeint, unendlich Größeres als die Summe aller traumhaften und rauchhaften Sondersphären, in die die Menschen vor dem Anspruch des Wir flüchten" (ebd., S. 64f).

Wenn wir Menschen aussondern oder ihnen gar das Lebensrecht absprechen, flüchten wir vor dem "Wir". Wir flüchten vor etwas, das uns allen gemeinsam ist und überantworten den Umgang mit Behinderten nur direkt betroffenen oder dafür besonders geschulten Personen. Wir flüchten nicht nur in Sondersphären, wir verweisen auch in Sondersphären.

"Die Flucht aus dem gemeinschaftlichen Kosmos in eine Sondersphäre, welche als das wahre Sein verstanden wird, ist auf allen ihren Stufen ... letztlich eine Flucht vor dem Existentialanspruch an die Person, die sich im Wir bewähren soll. Es ist eine Flucht vor der authentischen Gesprochenheit der Sprache, in deren Reiche Antwort geheischt wird, und Antwort ist Verantwortung" (ebd., S. 69).

Der Mensch ist angefragt - die Welt bringt etwas an den Menschen heran, macht ein Angebot - und der Mensch soll antworten. Diese Herausforderung findet - lt. Frankl - ständig statt. Flüchte ich oder mache ich etwas damit? Behinderung ist eine solche Herausforderung - aber nicht nur für die Betroffenen, nicht nur für die "Zuständigen", sondern für jeden einzelnen Menschen.

"Beim typisch heutigen Menschen hat sich die Flucht vor der verantwortenden personalen Existenz absonderlich polarisiert. Da er nicht willens ist, für die Echtheit seiner Existenz einzustehen, flüchtet er entweder in die breite Kollektivität, die ihm die Verantwortung abnimmt oder in die Haltung eines Selbst, das keinem als sich selber Rede zu stehen hat und den großen Generalablaß in der Sicherheit findet, mit dem Selbst des Seins identisch zu sein. ... Das deutlichste Kennzeichen dieser Art von Menschen ist, daß sie nicht wirklich auf die Stimme eines anderen hören können; in all ihr Hören mischt sich, wie in all ihr Sehen, die Beobachtung. Der andere ist nicht ihr Gegenüber, dessen Anspruch an sie dem ihren an ihn gleichen Rechtes gegenübersteht; der andere ist nur noch ihr Objekt" (ebd., S. 70).

An diese Aussagen Bubers über das Gemeinschaftliche, den uns allen verbindenden Logos, möchte ich die Diskussion über den Stellenwert behinderten Lebens angesichts Euthanasieforderungen und eugenischer Tendenzen in unserer Gesellschaft anknüpfen. Menschen werden zu Objekten und zu Material, mit dem manipuliert werden kann. Könnte es jemals wieder zu einer derart gemeinschaftsfeindlichen und arroganten (arrogare: nicht fragen) Ich-Es-Denkrichtung kommen, die so fatale, aber "folgerichtige" "Endlösungen" anstrebt, wie der Nationalsozialismus? - Daran will offiziell niemand rühren, und doch hat das Problem auch damit zu tun.

5.2 Euthanasie

Die Auseinandersetzung um gesundheits- und sozialpolitische Ziele und deren Finanzierbarkeit findet ihre gedanklich-philosophische Entsprechung in den bioethischen Diskussionen um Sterbehilfe für Alte und Behinderte, in der Definition von Personen und Nicht-Personen, Lebenswert und -unwert. Das Gespenst der Ressourcenknappheit wird heraufbeschworen. Werte wie Glück und Lebensqualität werden zu Selektionskriterien.

Zur Zeit der Industrialisierung wurde das Lebensrecht mit bestimmten Voraussetzungen von Leistung verknüpft. Seit den achtziger Jahren wird das alte Gedankengut um Selektion und Sterbehilfe wieder hervorgeholt - vielfach unter dem Deckmantel des Mitleids und der Humanität. Erinnert das nicht auch an den Nationalsozialismus und seinem zweifelhaften Begriff von verordnetem "Heil"?

Hat sich in unserem Denken ein Wertewandel vollzogen? Die medizinische Ethik orientierte sich bisher an Werten wie Abwendung von Tod, Heilung von Krankheit und Linderung von Schmerzen; gesundheitspolitische Ziele waren Lebensverlängerung und bestmögliche Gesundheit bzw. Versorgung für alle. Immer mehr Ärzte - ausgehend von den USA und den Niederlanden sprechen sich für Schwangerschaftsabbruch, Sterbenlassen schwerstbehinderter Kinder bis zur aktiven Sterbehilfe aus und geben so den finanzpolitischen Zielen ihre Unterstützung. Es gibt auch Philosophen, wie z.B. Peter Singer, die das gedankliche Rüstzeug liefern für diesen Wertewandel, der die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft auf die untersten Ränge verweist, wo ihr Lebensrecht nicht mehr allgemein anerkanntes Rechtsgut ist. Das zentrale Motiv ist Mitleid für die Kranken und Behinderten, die aufgrund ihrer Leiden nicht glücklich sein können und deren Dasein keinerlei Lebensqualität aufweist. Dabei wird vergessen, daß wir es sind, die für die Lebensqualität sorgen müssen. Lebensqualität im Sinne von Teilhabenlassen am sozialen Leben, Nichtaussonderung, Miteinander in allen Lebensbereichen. Es ist Beziehung - und wer kann beurteilen, wem sie nicht möglich ist - die Lebensqualität beinhaltet (s. Ruprecht, 1996, S. 141ff).

Lebensqualität - ein Kriterium für das Recht auf Leben?

Bioethische und utilitaristische Positionen benutzen den Begriff Lebensqualität im Sinne einer Qualitätskontrolle. Nur ein bestimmtes Maß an Lebensqualität, gemessen an "objektiven" Kriterien, gibt ein Recht auf Leben. Eine zu geringe Lebensqualität wird gleichgesetzt mit "nicht lebenswert" und dieses Verdikt mit "kein Recht auf Leben" (s. Ruprecht, 1986, S. 143).

Der Grundsatz von der "Heiligkeit des Lebens" ist bereits ins Wanken geraten und wird ersetzt durch den Maßstab "Quality of Life". Die Lebensqualität wird vorwiegend vom subjektiven Wohl der Patienten her untersucht. Aber niemand kann über den Zustand eines anderen urteilen. Ich nehme ja nur etwas wahr, das von meinem Empfinden geprägt ist. Behinderte und Schwerkranke sind nicht "naturgegeben" bedauernswerte Wesen, denen wohler ist, wenn sie tot sind. "Sie zu töten erscheint als ein Akt der Vernunft. Es bedeutet aber nicht weniger, als daß Abweichungen vom Standard gesellschaftlicher Gesundheitsnormen nicht mehr toleriert werden, sobald sie der Erfüllung arbeitsmarktgerechter Leistungsforderungen entgegenstehen" (ebd., S. 144).

In der Einstellung weiter Teile der Bevölkerung ist man eher bereit ein Almosen zu geben, als ein gerechtes Einkommen ohne herkömmliche Leistung zu gewähren. Diesem Phänomen nachzugehen, führt bis zu den eigenen Existenzängsten, die irreal sind und auch in der Ausländerproblematik (wie bereits erwähnt) zum Tragen kommen

"Ergebnisse der Lebensqualität-Forschung zeigen immer wieder eine überraschend positive, von Zuversicht gekennzeichnete Einstellung auch Schwerstkranker oder Behinderter. Sie erleben ihr Dasein lange nicht so desolat, wie es dem 'normalgesunden' Beobachter erscheinen mag. ... Wer sich näher auf behinderte Menschen einläßt, wird bald bemerken, daß ihre Lebensqualität und -zufriedenheit andere Quellen hat als das aus Unkenntnis gebildete Urteil Außenstehender annimmt" (ebd., S. 144f).

Der Begriff "Lebensqualität" ist in der Euthanasie-Debatte falsch verwendet bzw. wird er ad absurdum geführt. Die Qualität des Lebens gilt es zu verbessern und nicht, sie als Kriterium für das Lebensrecht aufzustellen; Beziehung und Integration sind ein Maßstab dafür. "Lebens"qualität kann doch niemals durch Tod ersetzt werden?

Es ist nicht passive oder aktive Sterbehilfe, was Schwerstbehinderte brauchen, sondern gute, liebevolle Betreuung, Schmerzfreiheit und Kontakt zu Menschen (s. ebd., S. 141-146).

Glück - ein Kriterium für das Recht auf Leben?

Auch das Wort "Glück" wird in der Lebensrechtsdiskussion verwendet. "Das Glücksverständnis der Utilitaristen entspricht dem Verständnis des modernen Selbst: seelische Erfüllung und Selbstverwirklichung sind nur erreichbar durch Entscheidungsfähigkeit, Wahlmöglichkeiten, Unabhängigkeit und die Fähigkeit, Ziele zu setzen und Kontrolle über die Richtung des eigenen Lebens haben können. Ist ein Mensch dazu nicht in der Lage, gilt er per se als unglücklich, sein Leben als nicht lebenswert. Ihn zu töten dient der allgemeinen Glücksvermehrung. Die subjektiven Glücksempfindungen behinderter Menschen 'zählen' nicht; 'pursuit of happiness' - das Recht jedes Individuums, sein individuelles Glück anzustreben, worin auch immer dieses bestehen mag, wird ihnen abgesprochen mit dem Verdikt, es sei ja keins bzw. gesellschaftlich nicht erwünscht, weil egoistisch und nicht der Erhöhung des Gesamtglücks dienend" (Ruprecht, 1996, S. 147).

Nach Singer hat ein schwerstbehinderter Mensch sowenig ein Recht auf Leben wie nichtmenschliche Lebewesen oder soviel. Nach dem Prinzip der unparteilichen Abwägung der Interessen aller von einer Handlung Betroffenen (eine Maxime des Utilitarismus) wäre ein Grund gegen das Töten eines behinderten Babys der Wunsch der Eltern, es am Leben zu halten, es zu lieben, zu erziehen und ihm ein gutes Leben zu bieten. Auch in allen Fällen, wo Aussicht auf ein den Umständen entsprechendes, glückliches Leben besteht, wäre Euthanasie verantwortungslos (s. Anstötz, 1990, S. 117).

Das Recht auf Leben hängt demnach ab von Eltern, Ärzten, Experten, von individuellen Sichtweisen also. Was ist dann aber mit ungewollten Kindern, die nicht behindert sind? Grenzen wären nicht mehr setzbar und vor allem nicht überprüfbar. Angst um das grundsätzliche Lebensrecht würde unser Dasein noch weiter belasten.

Gesunde können sich keine realistische Vorstellung davon machen, wie sie selbst empfinden würden, wenn sie von Behinderung oder Krankheit betroffen wären. Sie beurteilen Kranke und Behinderte nach ihren gesunden Maßstäben. Deshalb kann auch keine Definition von Glück, Leid und lebenswertem Leben von Außenstehenden getroffen werden. Meistens sind es die eigenen Ängste vor Schmerzen, Einsamkeit, Abhängigkeit und Machtverlust, die zum Tragen kommen. "Wertungen über Glück oder Unglück behinderter Menschen spiegeln vor allem das Diskriminierungsverhalten der Wertenden wider" (Ruprecht, 1996, S. 147).

Sterbewünsche und Tötungsphantasmen

"Der Wunsch zu sterben bzw. nach aktiver Sterbehilfe gilt der Bioethik bei Behinderten oder Schwerkranken als selbstverständlich. Eine empirische Untersuchung zu dem Thema hat das Verlangen nach Euthanasie aber so selten gefunden, daß es statistisch nicht signifikant war" (ebd., S. 147). Oft war es die Belastung der Angehörigen, die zum Wunsch nach Entlastung durch den Tod des zu Betreuenden führte. "Auch in der Diskussion um die Definition des Todes als Teilhirntod wird mit der Entlastung von Pflegepersonal und Familie argumentiert" (ebd., S. 148).

Eine Umfrage von Daniela Tauch 1987 zum Thema Sterbehilfe hat ergeben, daß nicht der Wunsch zu sterben im Vordergrund steht sondern die Angst vor Schmerzen, die Angst vor äußeren Bedingungen wie Hospitalisierung, die Angst, anderen zur Last zu fallen, die Angst vor Lieblosigkeit und Alleingelassenwerden, die Angst aber auch vor dem Nicht-Sterben-Können infolge intensivmedizinischer Maßnahmen. Nur 0,2 % der Befragten waren für aktive Sterbehilfe. Wichtig ist allen Befragten Schmerzfreiheit, liebevolle Betreuung, Kontakt zu nahestehenden Menschen (s. ebd., S. 148).

Der Wunsch nach Sterbehilfe für sich selbst kommt meistens von gesunden Menschen, die Angst vor Krankheit, Schmerzen und Tod haben. Sie wollen sich das Recht auf Euthanasie zu einem Zeitpunkt sichern, an dem sie noch nicht abschätzen können, wie sie als Kranke empfinden werden. Schmerzen können durch eine geeignete Schmerztherapie heute gut in den Griff bekommen werden. Es bedarf aber noch einer intensiven Erforschung des Schmerzes und der Weiterentwicklung von Methoden und Medikamenten zu größtmöglicher Wirksamkeit unter Vermeidung von Nebenwirkungen.

Ich glaube auch, daß aktive Sterbewünsche mit Depression als Krankheit zu tun haben, die behandelbar ist. Wer kann wirklich die Grenzen ziehen, was dem freien Willen und was dem Druck von außen oder innen entspringt? - Angehörige, Ärzte, Psychologen? [9]

Wenn wir mehr Vertrauen in die Ärzte und unsere Mitmenschen und nicht zuletzt in uns selbst haben könnten, würde das Sterben viel von seinem Schrecken verlieren. Die Hospizbewegung z.B. ist eine Organisation, die die Sterbenden und ihre Angehörigen in menschenwürdiger Weise begleitet, falls dies erwünscht ist. (Das ist positiv im Hinblick auf die vielen einsam Sterbenden in Kranken- und Altershäusern, aber es zeigt auch, wie weit wir uns von einer Kultur des Sterbens entfernt haben, indem wir auch dazu eigene Institutionen brauchen).

Wir müssen äußere Bedingungen für mehr Lebensqualität und Glück schaffen. Dazu gehört die Gewißheit, auf Hilfe rechnen zu können. Sparmaßnahmen dürfen nicht für eine definierte Gruppe von Menschen gelten. Das Lebensrecht für alle muß unter allen Umständen anerkannt und geschützt werden. "In den Religionen und Weisheitslehren aller Völker finden sich bezüglich des Tötens von Menschen fast identische Grundwerte. Die Geschichte zeigt, daß Versuche, sie auszuhöhlen (heute unter dem progressiven Deckmantel des Tabubruchs), immer dann von den herrschenden Gruppen unternommen wurden, wenn diese Werte sie an der Durchsetzung ihrer Interessen hinderten" (ebd., S. 148).

"Tötungswünsche" - wie Niedecken in ihrem Buch "Namenlos" (1989) ausführt - sowohl von Eltern, Angehörigen und Betreuern, als auch der Gesellschaft sind latent vorhanden. Sie resultieren aus dem unbewußten Haß auf Behinderte, der durch Versagensängste, Schuldgefühle und dem Nichteingestehen von Grenzen der individuellen Möglichkeiten entsteht. Wir wollen nicht wahrhaben, solche Phantasmen von "Töten" und "Nicht doch besser sterben-lassen" gegenüber Behinderten, die ja unserer "Menschlichkeit" bedürfen, zu haben, was zur Verdrängung führt. Alles was aber unbewußt da ist, beeinflußt lt. Psychoanalyse unser Handeln und so töten wir zwar Behinderte nicht, aber wir "morden ihre Seele", indem wir ihnen nicht ausreichende Lebensmöglichkeiten gewähren. Nur durch das Zulassen und Reflektieren solcher Gefühle sind wir in der Lage, rational entgegenzuwirken. Ich erinnere hier noch einmal an Bion und das "Verdauen" von Beta-Elementen (Gefühle) zu Alpha-Elementen (Denken).

Es führt kein Weg an der Bewußtmachung und Bewußthaltung der Tötungsimpulse vorbei, wie auch Erdheim in seinem Vorwort zu "Namenlos" schreibt. Ein solcher Prozeß ist schmerzhaft und erfordert Mut.

Es ist dies auch ein Grund, sich mit den philosophischen Positionen der Einschränkung des Lebensrechtes bewußt auseinanderzusetzen, um nicht unterschwelligen Tendenzen Vorschub zu leisten.

5.3 Genetische Beratung und pränatale Diagnostik

Durch die genetische Diagnostik schien sich die Möglichkeit zu eröffnen, auf individueller und familiärer Ebene erblich bedingte Erkrankungen und ihrem wiederholten Auftreten wirkungsvoll vorzubeugen. Behinderung sollte präventivmedizinisch vorgebeugt werden. Diese eugenische Utopie ist eine Strategie, die auf Leidensverminderung ausgerichtet ist.

"In den Anfängen der Eugenik lassen sich also zwei Paradigmen nachweisen, erstens ein darwinistisch-populationsgenetisches, und zweitens ein mehr humangenetisch-klinisches, an Erbkrankheiten orientiertes. Aus beiden Paradigmen wurden in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in vielen Ländern nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht zu praktisch-eugenischen Maßnahmen abgeleitet in der Überzeugung, daß die zukünftige Existenz der Menschen durch ein Nachlassen der natürlichen Selektion und die dadurch verursachte Zunahme schädlicher Erbanlagen bedroht sei" (Wolff, 1996, S. 95f).

Es gibt verschiedene Paradigmen in der Entwicklung der genetischen Beratung:

Das eugenische Paradigma basierte auf einer wissenschaftlich nicht begründbaren, emotional getragenen, gesellschaftlichen Utopie hinsichtlich der Gesundheit und der Verbesserung des Genpools einer Bevölkerung. Die Durchsetzung erfolgte je nach politischem Umfeld mit Mitteln der Direktivität, mit mittelbarem oder unmittelbarem Zwang, wie z.B. im Nationalsozialismus.

"das präventivmedizinische Paradigma setzt sich die individuelle Leidensminderung durch Verhinderung von genetisch bedingten Erkrankungen und Behinderungen zum Ziel, um so zu einer ökonomischen Verteilung knapper Ressourcen im Bereich der medizinischen Versorgung zu kommen. Es baut dabei auf das rationale Kalkül und damit auf die im Eigeninteresse gebotene Akzeptanz der als vernünftig angesehenen Entscheidungen durch Betroffene und bedient sich als Mittel zur Erreichung dieses Zieles einer wohlmeinenden, autoritativen, paternalistischen Arzt-Patientenbeziehung" (ebd., S. 98).

Das psycho(soziobio-)logische Paradigma will in einer Problemsituation, die durch das Auftreten einer Behinderung oder eines solchen Risikos entsteht, Hilfe anbieten. Die Basis ist ein nichtdirektiver Kommunikationsprozeß (s. ebd., S. 98f).

Pränatale Diagnostik beinhaltet die Option auf einen Schwangerschaftsabbruch bei einer kindlichen Fehlentwicklung oder Erkrankung. Die ethischen Grundlagen und Konflikte werden in vielen Diskussionen thematisiert. Ein Team von Ärzten, Theologen, Psychologen und Mitgliedern von Selbsthilfegruppen usw. versuchen, verantwortbare, humane, pragmatische Handlungswege beim Umgang mit dieser neuen technischen Methode zu finden. Es bleibt aber ein ungelöster Konflikt sowohl auf der individuellen wie auf der gesellschaftlichen Ebene:

im Bereich der Medizin: Es läßt sich kein ärztliches Handlungsziel, wie Beseitigung von Schmerzen, Heilung und Gesundung definieren. Haben Arzt und Patient das gleiche Ziel? Worauf soll das Vertrauen basieren, wenn der hypokratische Eid auf Erhaltung des Lebens verkehrt wird?

Im Bereich der Theologie: Das Leben ist heilig, unantastbar, auch wenn es Ansichten gibt, daß Leben in verschiedenen Stadien anders zu bewerten ist. (Nicht der Wert ist in verschiedenen Stadien - z.B. ein Fötus im 3. Monat - anders einzustufen, sondern die Dichte der Beziehungsgeschichte).

Psychologen wissen um die Problematik von Schuldgefühlen, die immer entstehen, wenn es um pränatale Diagnostik, Schwangerschaftsabbruch und behinderte Kinder geht.

Betroffene fühlen sich in ihrer Existenz angegriffen. Hätte es die pränatale Diagnostik damals gegeben, würden sie eventuell nicht leben. Wenn man pränatales Leben zur Disposition stellt, bedeutet das auch, daß man einem geborenen behinderten Kind oder Erwachsenen das Lebensrecht abspricht. Sicher ist in den ersten Schwangerschaftsmonaten die soziale Präsenz eines Kindes anders als nach der Geburt (s. ebd., S. 107). Es steht aber außer Zweifel, daß es dem Wesen nach bereits ein Mensch ist, ein Mensch, der in seinem So-sein nicht akzeptiert wird.

Eine pränatale Diagnostik - es gibt sie und es ist gut, daß es sie gibt - soll sich auf eine umfassende Beratung von Eltern beschränken und nicht indirekt den Druck auf Eltern verstärken. Unterschwellig wird im Denken die pränatale Diagnostik oft mit dem Abtreiben eines behinderten Kindes gleichgesetzt. Genetische Beratung hingegen klärt Eltern aufgrund einer Genuntersuchung über eventuelle Risiken auf. Falls sie Träger von genetischen Erbkrankheiten sind, können sie bereits vor der Empfängnis eine Entscheidung über ihre Kinderwünsche treffen. Absolute Sicherheit gibt es weder in der einen noch in der anderen Richtung.

Grundsätzlich ist hier ein Umdenken vonnöten: Behinderte Kinder sind keine Katastrophe. Man kann ein gutes Leben mit ihnen führen. Allerdings muß auch die Gesellschaft in allen Bereichen ihren Teil dazu beitragen, indem sie ihr Wertesystem ändert und Verantwortung übernimmt. Sie muß Behinderung als Seinsart vorbehaltlos anerkennen und Sorge für eine gute Lebensqualität tragen.

Natürlich wünschen sich Eltern und die Gesellschaft gesunde Kinder. Deshalb kann auch eine pränatale Diagnostik von Vorteil sein, um sich aufgrund einer Diagnose auf ein behindertes Kind vorzubereiten. Dann kann dieses Kind auf die Welt kommen, ohne Entsetzen und Ablehnung zu erfahren und vielleicht zu einem erwünschten und ersehnten Kind werden. Trauerarbeit und die Verarbeitung von Schuldgefühlen kann dann schon frühzeitig erfolgen und zu Versöhnung und sogar freudigem Erwarten führen.

In der Diskussion um das Lebensrecht Schwerstbehinderter kann die intrauterine Tötung zur Tötung oder zum Sterbenlassen aus Mitleid nach der Geburt führen, wie es von Peter Singer und Norbert Hoerster (Neugeborene und das Recht auf Leben, Frankfurt 1995) bereits gefordert wird. Es wird noch diskutiert, wie lange nach der Geburt dies erlaubt sein soll. Das Spektrum reicht von der 27. Schwangerschaftswoche bis vier Wochen nach der Geburt. In Frankreich ist es erlaubt, ein behindertes Kind mittels einer Spritze im Mutterleib vor der Geburt zu töten. Es kommt für Ärzte zu dem unverständlichen Paradoxon, daß geborene und sogar frühgeborene Behinderte behandelt werden müssen, nicht-geborene aber getötet werden dürfen. Auch in Österreich dürfen behinderte Feten ohne Einschränkungen der Fristenlösung abgetrieben werden. Rational gesehen haben Singer und Hoerster Recht: Ist der Unterschied zwischen einem geborenen Kind und einem Kind im dritten Schwangerschaftsdrittel wirklich so signifikant, daß er elementare Urteile wie "Töten", "Sterben lassen" oder "Leben erhalten" rechtfertigt? - Wir sind schon weit auf dem Weg der Euthanasie!

Das Lebensrecht für Neugeborene führt zwangsläufig zur Frage des Lebensrechts für Ungeborene. Es gibt keine gentechnische Unschuld. Schon die Auswahl von Forschungs- und Diagnosefragen berührt die Frage nach Aussonderung unerwünschten Lebens, auch wenn ursprünglich die Heilungschancen im Vordergrund standen.

In einer Vorlesung über Bioethik waren die Studierenden entsetzt über die mögliche Freigabe der Tötung von leichtbehinderten oder gar gesunden Babys (als Diskussionsbasis), während es ihnen bei schwerstbehinderten, die keine lange Lebenserwartung hatten, durchaus verständlich, wenn auch nicht unbedingt richtig vorkam. Es ist sehr schwierig, bewußt zu machen, daß damit Diskriminierung, Aussonderung und Aberkennung der Menschenwürde passiert, auch wenn es aus Mitleid geschieht.

"Präventive Eugenik des Mitleids" wie sie von Jonasvorgestellt wird, kann doch wohl dem ethischen Anspruch nicht genügen. "Wer sollte denn entscheiden, wann eine solche Art von Prävention noch angezeigt ist, und wann nicht mehr? Man wird auch nicht begründen können, daß es ein originäres Interesse eines erkrankten oder behinderten Kindes gibt, verhindert, d.h. nicht geboren zu werden" (Wolff, 1996, S. 106). Kranke oder als behindert eingestufte Kinder werden dem angenommenen Lebenswert einer "gesunden" Familie geopfert.

Nun ist es aber so, daß die Rechtsprechung im Hinblick auf die ärztliche Verantwortung bei nicht durchgeführter Pränataldiagnostik oder Schwangerschaftsabbruch Rahmenbedingungen setzt. "Der Arzt schuldet Unterhaltszahlungen für ein krankes/behindertes Kind, das nach falscher oder unvollständiger Beratung oder Diagnostik geboren wird" (ebd., S. 107).

Andererseits hat der Bundesgerichtshof in Deutschland 1983 in einem Rötelnfall festgestellt: "Der Mensch hat sein Leben grundsätzlich so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist, und hat keinen Anspruch auf seine Verhütung oder Vernichtung durch andere. ... Insofern hat also jeder Mensch seine Existenz und seine genetische Konstitution hinzunehmen, wie sie ist. Wir können deshalb aus einem pränataldiagnostischen Befund keine Verpflichtungen im Hinblick auf den Umgang mit einem möglichen Schwangerschaftsabbruch ableiten" (ebd., S. 106).

Aus diesen zwei Beispielen ergibt sich, daß Ärzte wohl die Pflicht haben, in bestimmten Fällen (genetisch vorbelastete Eltern, schwangere Frauen ab 35 Jahren) auf vorgeburtliche Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch hinzuweisen, die Eltern aber mit Hilfe von Beratungen frei entscheiden dürfen/müssen. Gesellschaftlich erwächst daraus leicht ein Druck zum Schwangerschaftsabbruch. [10]

Ethische Grundüberlegungen

Die Durchführung vorgeburtlicher Diagnostik entspricht zunehmend der Normalität. "Schwangerschaft auf Probe" wird zur Praxis (s. Pander, 1996, S. 118f). "Dies bedeutet, daß die Schwangerschaft und damit das Kind als Mensch erst dann angenommen wird, wenn sich durch vorgeburtliche Diagnostik zeigt, daß bestimmte erkennbare Erkrankungen bzw. Behinderungen nicht vorliegen" (ebd., S. 119). Es wird also von vornherein in der Familienplanung mit einem Schwangerschaftsabbruch kalkuliert - ein Konflikt, der schon im vorhinein gegen das Kind entschieden ist. "Ein Schwangerschaftsabbruch aus sogenannter embryopathischer Indikation im Rahmen einer individuellen Abwägung ist jedoch nur dann wirklich ethisch zu rechtfertigen, wenn die Schwangere unverschuldet in diese Notlage der Konfrontation mit einer sicheren oder wahrscheinlichen Erkrankung oder Fehlbildung des Feten geriet, nicht jedoch, wenn diese Situation in die Entscheidung zur Schwangerschaft mit einkalkuliert wurde.[11] Letzteres erscheint nicht als hinreichender Grund für die Durchbrechung des Tötungsverbots" (ebd., S. 119). Diese Argumentation mag richtig sein in Bezug auf die Schwangere, aber ist sie auch richtig in Bezug auf das Kind?

"Ist ein behindertes Kind ein Schaden?" (ebd., S. 119).

In einzelnen Fällen hat die Rechtsprechung in Deutschland die Geburt eines behinderten Kindes als schadenersatzpflichtiges Ereignis zugunsten auf schadenersatzklagender Eltern bewertet (vgl. BGH VI ZR 85/82; BGH VI ZR 105/92). "Eine Öffentlichkeit, die der entsprechenden juristischen Argumentation nur die Quintessenz entnehmen kann, daß Konfrontation mit behindertem Leben ein zu vermeidender Schaden ist, wird kaum eine positive Einstellung zu Behinderten aufbauen können" (ebd., S. 120). Dadurch wird die Pränataldiagnostik und der selektive Schwangerschaftsabbruch gefördert.

Ethische Forderungen

"Paare mit Kinderwunsch müssen sich der ethischen Dimension ihrer Entscheidung zu Pränataldiagnostik bewußt sein. "Schwangerschaft auf Probe" ist keine ethisch akzeptable Option der Familienplanung. ...

Angehörige Behinderter, z.B. Eltern behinderter Kinder, müssen sich der Verantwortung bewußt sein, daß sie in ihren privaten und öffentlichen Äußerungen und Verhaltensweisen die individuelle und öffentliche Vorstellung von einem Leben mit einem behinderten Kind entscheidend mitprägen" (Pander, 1996, S. 124). Z.B. Schadenersatzforderungen, wenn vom Arzt keine Pränataldiagnostik angeraten wurde. aber auch Schwangerschaftsabbruch aufgrund vorgeburtlicher Diagnostik eines Kindes mit Behinderung.

In der genetischen Beratung Tätige müssen sich ihrer neutralen, non-direktiven Aufgabe der Aufklärung bewußt sein. Es darf nicht Aufgabe genetischer Beratung sein, darauf hinzuweisen, daß behindertes Leben verhindert werden soll. Ethische Erwägungen sollen expliziter Bestandteil genetischer Beratung sein.

"Humangenetiker als Wissenschaftler müssen sich der möglichen Folgen ihrer Forschungstätigkeit, d.h. z.B. konkret, der Möglichkeit eines ethisch unverantwortlichen Einsatzes von Forschungsergebnissen bewußt sein; sie müssen Rechenschaft ablegen 'über die ethische Korrektheit ihrer Angebote und ihrer Gründe'. ...

Juristen müssen sich der Verantwortung bewußt sein, daß die Formulierung juristischer Normen und Abwägungen gleichzeitig auch allgemein normenbildend ist".

Politische Entscheidungsträger haben die Aufgabe, in ihren Aussagen und konkreten politischen Handlungen die Voraussetzungen für eine möglichst behindertenfreundliche Gesellschaft zu schaffen. Gesetze müssen die Gleichstellung aller Menschen beinhalten. Um das zu erreichen braucht es ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot Behinderter (auch vor der Geburt) (s. ebd., S. 124f).

Der Stellenwert behinderten Lebens

"Die Untersuchung von Zellmaterial oder Fruchtwasser in pränataler Diagnostik wird vorgenommen, um genetisch bedingte Krankheiten oder Veränderungen als Folge genetischer Störungen erkennen zu können. Für die meisten pränatal feststellbaren Schädigungen gibt es bisher keine Therapie. Insofern sind die Handlungsoptionen nach sogenannt positivem Befund ethisch nicht neutral" (Neuer-Miebach, 1996, S. 131).

Gerechtfertigt wird genetische Diagnostik durch folgende Argumente:

"Je früher eine genetische Testung erfolgen könne, um so eher hätten Eltern bzw. Betroffene selbst Sicherheit über eventuell genetisch bedingte Schädigungen oder Risiken.

Je mehr Diagnoseverfahren verfügbar sind, um so größer seien die Handlungsoptionen für die Eltern.

Durch Schwangerschaftsabbruch könne das Leiden eines Kindes vermieden werden.

Die Überlastung durch ein krankes oder behindertes Kind sei einer Familie nicht zuzumuten.

Screening und Schwangerschaftsabbruch seien kostengünstiger als Behandlung, Pflege und Förderung von chronisch kranken oder behinderten Menschen.

Zunehmend kann nach pränataler Diagnostik invasive Pränatalmedizin, u.a. mit operativen Eingriffen im Mutterleib, vorgeburtliche Schädigungen reparieren" (ebd., S. 132).

Besonders problematisch scheinen mir die Punkte 3, 4 und 5 zu sein. Wer kann Leiden eines anderen beurteilen? Was ist, wenn Kinder später krank und behindert werden? Sind sie dann zumutbarer? Sind Kinder überhaupt zumutbar? Darf man Kosten gegen Leben abwägen? Der Utilitarismus läßt wenigstens noch das Glück als Kriterium für lebenswert zu.

Aus obigen Argumenten ist auch herauszulesen, daß Diagnostiker und beratende Ärzte zuwenig über das Leben mit Behinderung wissen und deshalb ein Votum für Schwangerschaftsabbruch und Abwehr von Behinderung und Krankheit abgeben.

Es sind auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die nicht dazu angetan sind, ein Leben mit Behinderung freudig anzugehen, abgesehen von drohender Ressourcenverknappung im sozialen Bereich (s. ebd., S. 133).

Eine "technologische Eugenik" (Beck) hat sich als Gesundheitsvorsorge mit dem wissenschaftlichen Segen der Genberatung eingeschlichen. Der mündige Bürger kann frei entscheiden, ob er Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch durchführen will oder nicht. Dadurch wird durch "Freiwilligkeit" und "Selbstbestimmung" das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Werten und Gentechnologie zu einem privaten Verhältnis. Das ist eine unvertretbare Überforderung des einzelnen und "Zugleich blendet diese Zuweisung aus, wer über das humangenetische Schicksal derjenigen entscheidet, die nicht, nicht mehr oder nicht allein und freiwillig sich entscheiden können, die auf Hilfe angewiesen sind, Geld kosten und wenig oder nichts erwirtschaften" (s. ebd., S. 129).

Das Streben nach möglichst erbgesundem Nachwuchs kann als implizite Eugenik gesehen werden, wenn genetisches Massenscreening, Entdeckung und Abbruch genetische belasteter Schwangerschaften Ziel der Genforschung ist. Therapeutische Möglichkeiten und Eingriffe im Mutterleib gibt es nur sehr wenige. Natürlich ist es erklärtes Ziel der medizinischen Genetik, bestmögliche Lebensbedingungen zu schaffen. Die Befunde werden an ihrem "Krankheitswert" gemessen und die Konsequenzen dieser Bewertung als "lebenswert" oder "leidvoll" sind symptomatische Behandlung, Heilversuche oder Eliminierung (s. ebd., S. 129f). "In diesem Sinne wird Eugenik hier als Be- bzw. Abwertung von bestimmten menschlichen Eigenschaften verstanden, die eliminiert werden sollen, weil sie als nicht lebenswert oder leidvoll unterstellt werden" (ebd., S. 130).

Selbsthilfeverbände und -initiativen

fordern, daß

"Behindertsein und Kranksein in unserer Gesellschaft uneingeschränkt akzeptiert und getragen wird,

nicht immer neue diagnostische Verfahren entwickelt werden, die die Schere zwischen Diagnostik und Therapie vergrößern, ohne daß die genetische Versicherungsmentalität zurückgenommen würde,

keine Prä- und Postnatal-Diagnostik ohne vorausgehende Beratung durchgeführt werden dürfe,

kein Automatismus Diagnose - positiver Befund - Schwangerschaftsabbruch Platz greifen dürfe (z.B. Bei der Feststellung von Mukoviszidose oder Trisomie 21),

keine diskriminierenden Sonderregelungen für geschädigtes oder behindertes Leben aufgestellt oder praktiziert werden,

der Schutz des ungeborenen Lebens in gleicher Weise umfassend geregelt wird wie der Schutz des geborenen Lebens,

nur gezielte Diagnostik und kein Screening angeboten wird,

ein Zwang zur Inanspruchnahme von genetischer Diagnostik zu verhindern sei,

Beratung und Hilfe zum Leben mit Behinderung und chronischer Krankheit Bestandteil der Diagnostik vorausgehenden Beratung sein müsse,

eine pragmatische Anpassung ethischer oder rechtlicher Normen an den Forschungsstand bestimmter Disziplinen entsprechend den Grundwerten unserer Verfassung nicht zulässig sei" (Neuer-Miebach, 1996, S. 134).

Gesellschaftliche Aussichten

die wenig Optimismus hinsichtlich des Stellenwertes von behindertem Leben zulassen:

"Medizinische Wissenschaft setzt sich im Selbstlauf durch. Ethische Dilemmata werden offenkundig in der massenhaften Anwendung.

Obwohl es mittlerweile gesellschaftliches Allgemeingut ist, daß der Mensch nicht nur aus Genen besteht, herrscht nach wie vor die biologistisch orientierte Definitionsmacht der Medizin vor.

Behindertes Leben ist nicht Subjekt von autonomen Lebensentwürfen, sondern wird Objekt von medizintechnischen Abwägungsprozessen.

Infolge genetischer Testung findet eine subtile Verschiebung von Werten statt, da auffällige Befunde zu vorgeburtlicher Auslese verleiten und das Recht auf und die Freiheit zum Leben behinderter und chronisch kranker Menschen bedrohen" (ebd., S. 134f).

Ich glaube, daß keine genetisch "saubere" Gesellschaft entstehen wird - auch wenn dies für die nächsten 20 Jahre prognostiziert ist, weil sie technisch möglich wird. Naturbedingte Vielfalt und Veränderung werden nicht egalisierbar werden. Außerdem sind nur weniger als 10% aller Behinderungen genetisch bedingt. Die genetische Disposition wird (noch) überschätzt und läßt sich nicht einmal mit kapitalistischer Ökonomie rational erklären, schon eher mit einem schrankenlosen Manipulationsdrang (s. ebd., S. 135).

Jedenfalls gibt es die genetische Testung und sie wird angewandt. Die langfristige Bedrohung für das Menschsein muß ernstgenommen werden. Ich verweise hier noch einmal auf die zwei Menschenbilder von Dörner, das medizinisch-technische und das menschlich-soziale. Das erstere muß, um segensreich für die Menschheit zu wirken, in das zweite eingebettet werden.

"Der biomedizinische Fortschritt kann nicht aufgehalten werden, ebensowenig der Zerfall der Gesellschaft in Werte-Subkulturen. Der bioethischen Durchorganisierung der Gesellschaft kann und muß allerdings entgegengetreten werden mit der Menschenrechtstradition und einem Menschenbild, das auf der Vollständigkeit des Menschseins beruht. So wie der Tod ein Teil des menschlichen Lebens ist und die moderne Euthanasiebewegung eine Verarmung des Lebens zur Folge hat, genauso gehört die Geburt behinderter Menschen zum Leben. Sie ist weder ein Schicksalsschlag noch ein vermeidbarer Defekt der Natur. Umgekehrt muß man fragen: Was wäre unsere Gesellschaft ohne Menschen mit Behinderung? Jenseits einer religiösen Sinngebung behaupte ich, daß unsere Gesellschaft arm, roh und entwicklungsgehemmt wäre ohne die 5% Behinderten, psychisch Kranken und Unangepaßten. Wäre es nicht eine ungeheuerliche Verarmung, wenn die Prognose der Betreiber der Alfafetoproteintests stimmt und in Bälde keine Kinder mehr mit Spina Bifida geboren würden?" (Wunder, 1994, S. 122).

Ich möchte noch einmal betonen, daß die meisten Diagnosen ja nicht dazu führen, eine Krankheit oder einen "Defekt" zu vermeiden (was sicher das ursprüngliche Ziel ist), sondern das "Vermeiden" der ganzen Person zur Folge haben. Also nicht die Behinderung wird "verhindert", sondern das Kind, der Mensch.

Ich bin befreundet mit einer jungen Frau, die mit Spina Bifida geboren wurde. Wieviel ärmer wäre die Familie, die Umgebung, die Welt - ohne sie?

Auch wenn sich jeder Mensch freiwillig und autonom zur Gentechnik verhalten kann, geht es um genetische und soziale Auslese. Es geht um Be- bzw. Abwertung von behindertem Leben. Dadurch verändert sich unauffällig das Menschenbild: die Lebensberechtigung des einzelnen wird gewichtet. Die ethische Grundfrage bleibt: "Wer hat aufgrund welcher Kriterien die Kompetenz über das Menschsein anderer Menschen zu entscheiden?" (s. Neuer-Miebach, 1996, S. 135f).

"Hier muß gegen die Definitionsmacht der Stärkeren, der Gesunden, festzulegen, was Menschsein ist, der Grundsatz behauptet werden: 'Jeder Mensch tritt (...) als gezeugtes und geborenes Mitglied in die Gesellschaft ein'. Der Charakter der Menschenrechte als Abwehr und Schutz wird hier praktisch. Um menschliches Leben der Beliebigkeit zu entziehen, muß Menschsein an der biologischen Zugehörigkeit zur Gattung festgemacht werden. Dies ist das einzige zweifelsfreie Argument" (ebd., S. 136).

5.4 Lebensrecht und Gesellschaftliche Interessen

Nun gibt es aber Philosophen (z.B. J. G. Murphy und Peter Singer), die diese moralische Relevanz der Gattungszugehörigkeit bestreiten und als Gattungsegoismus auslegen. Das Menschsein, "die Conditio humana" ist für sie keine letzte Begründungsinstanz, weil sie keine konkrete Größe ist. Mit der Gleichheitsidee würde begründet, daß auch Schwerst Geistigbehinderte als menschliche Wesen zu charakterisieren sind, mit gleichen Ansprüchen auf Menschlichkeit - aber ihnen fehlen gerade jene Qualitäten, die das rechtfertigen. Sie besitzen nicht die moralisch relevanten Eigenschaften, wie reflektive Intelligenz, Selbstbewußtsein usw., die sie von Tieren unterscheiden.

Wenn Murphy 1984 einen Vortrag mit dem Jonathan-Swift-Zitat: "Do the Retarded Have a Right Not to Be Eaten?" ("Haben die Geistigbehinderten ein Recht nicht aufgegessen zu werden?") betitelt, dann stößt diese Provokation natürlich auf Angst und Abwehr. Er will mit diesem Schock aber auch frei von Sentimentalitäten machen und die Rechte der Behinderten ohne Pathos dem härtesten Test unterziehen, indem er fragt, ob sie sich moralisch von Lebewesen unterscheiden, die zu töten und zu essen wir uns berechtigt fühlen. Er ist der Meinung, daß die bewußtseinsmäßige und tatsächliche Integration schwerstbehinderter Mitglieder unserer Gesellschaft Gründe haben muß, die einer Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Interessen standhalten muß (s. Anstötz, 1990, S. 74-80).Was sind die gesellschaftlichen Interessen? Was veranlaßt die Gesellschaft, für die Schwächeren - zu denen wir alle in bestimmten Phasen unseres Lebens gehören - zu sorgen?Unsere Gesellschaft ist geformt von "egoistischem" und als Gegenüber "altruistischem Verhalten", das von der historisch-gesellschaftlichen Situation abhängt. Im heutigen Materialismus äußert sich der menschliche Egoismus im rücksichtslosen Aufstiegsstreben, im Leistungsdenken, im Streben nach Reichtum und Privilegien. - Das ist erforderlich für die kapitalistische Gesellschaft. Der menschliche Altruismus äußert sich im Erziehen der Kinder, in der Pflege der Kranken und Alten, in der Hilfe für Hungernde und sozial Schwache usw.

Unsere Gesellschaftserhaltung ist dann möglich,

wenn Kinder zu Befürwortern der Gesellschaft erzogen werden,

wenn jeder im Krankheitsfall mit Hilfe rechnen kann. (Dahinein fällt natürlich auch Behinderung, ob angeboren oder später erworben - eine Daseinsform, die für jeden jederzeit zutreffen kann.)

wenn soziale Mißstände und Ungleichheiten so weit gemildert werden können, daß kein gesellschaftszerstörendes Potential entstehen kann.

Sowohl gesellschaftlich geformte egoistische als auch altruistische Verhaltensweisen sind notwendig für die Gesellschaftserhaltung (s. Haeberlin, 1985, S. 63-71).

Eine gelungene Integration von Egoismus und Altruismus führt sowohl persönlich als auch gesellschaftlich zu einem hohen Maß an Identitätsfindung.Ich möchte hier einfügen, daß der Gegensatz von Egoismus und Altruismus nicht gleichzusetzen ist mit Bubers dialogischem oder monologischem Dasein (wie im Teil II aufgezeigt). Altruismus hat nicht von vornherein mit dem Du-sagen zu tun. Manche Menschen, die in sozialen Tätigkeiten aufgehen und eine hohe altruistische Wertschätzung genießen, haben oft noch nie mit einem Mitmenschen von Wesen zu Wesen geredet. Sie vertreten eine Fürsorgehaltung, eine monologische Haltung, die von der eigenen gebrochenen Identität zeugt. Andererseits gibt es Leute, die nur zu ihren Feinden - die möglicherweise aus egoistischem Verhalten dazu werden - eine persönliche Beziehung haben; eine Beziehung, die irgendwann vielleicht einmal eine dialogische werden kann (s. Buber, 1994, S. 168).Zur Regulierung gesellschaftlichen Verhaltens bedarf es metaethischer Positionen, wofür die Wissenschaftsethik zuständig ist. Es gilt, die erkenntnismäßigen und ethischen Grundlagen möglichst wertfrei zu reflektieren und daraufhin zu Konzepten und Handlungsanweisungen zu kommen. Im Kritischen Rationalismus, einer Erkenntnistheorie nach Karl Popper, die Anstötz für seine Argumentation heranzieht, sind wir auf der Suche nach der Wahrheit, können sie aber nie besitzen. Es kommt zu einer Synthese von Empirismus (Sinne) und Rationalismus (Vernunft) unter Weglassung klassischer Positionen wie das Streben nach Gewißheit. Wir verfügen über keine vollkommenen Lösungen, die jeglicher Kritik enthoben und keiner Verbesserung mehr fähig wären, aber wir können lernen - auch auf dem Gebiet der Ethik. Die menschliche Vernunft ist fehlbar, deshalb kann an einer ständigen Beseitigung von Irrtümern und Fehlern gearbeitet werden. Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern nur eine komparative Bewertung, was bedeutet, daß auch oberste Werte und Normen Hypothesencharakter haben, prinzipiell kritisierbar und revidierbar sind. (s. Anstötz, 1990, S. 22-25).Anstötz will in seinem Buch "Ethik und Behinderung" eine moralische Diskussion führen, die nicht aufgrund subjektiver Überzeugungen bestritten wird, sondern auf der Basis von Rationalität, empirischem Bezug und Kritik als Regulativ. Ethik soll ein Geschäft sein, das im Diesseits und mit diesseitigen Mitteln geregelt werden soll und zwar auf der Grundlage einer rationalen Argumentation und nicht mit dem Hinweis auf höhere Werte. Soweit kann ich den Ausführungen Anstötz' zustimmen. Daß er aber dann - Singer folgend - eine utilitaristische Ethik für den Umgang mit Schwerstbehinderten vertritt, dem möchte ich - was die Euthanasie betrifft - entschieden entgegnen; seine Forderung nach voller gesellschaftlicher Integration aber unterstützen. Die Argumentation:wenn Recht auf Leben, dann optimale Lebensbedingungen müßte lauten: Recht auf Leben und gute Lebensqualität.In der Frage um das Recht auf Leben für schwerstbehinderte Menschen legt Anstötz den Präferenz-Utilitarismus (Nützlichkeitsstandpunkt) Singers als ethische Position dar, die zu Ergebnissen kommt, die den Vorstellungen der traditionellen heilpädagogischen Ethik teilweise radikal widersprechen (Sterben lassen, Töten in bestimmten Fällen), teilweise aber auch entsprechen (Fürsorge) und sogar über diese hinausgehen (gesellschaftliche Integration) (s. Anstötz, 1990, S. 9). Er stellt Singers Sicht vor, daß in bestimmten Fällen nichtfreiwillige Euthanasie im Interesse des betreffenden Lebewesens gerechtfertigt werden kann. In allen Fällen aber, in denen die Aussicht auf ein den jeweiligen Umständen entsprechendes glückliches Leben gegeben ist (Leben das auch Entwicklungs-möglichkeiten beinhaltet), besteht die Verpflichtung der Gesellschaft, die Lebensqualität der betreffenden Menschen zu einem individuellen Optimum zu führen, unter besten medizinischen, pädagogischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen (s. ebd., S. 119f).

Versuche einer rationalen Argumentation für das Recht auf Leben

"Wenn heute Wissenschaftler fordern, man müsse um der "Freiheit der Wissenschaften" willen auch über das Lebensrecht und den Lebenswert von Menschen diskutieren, kann die Antwort nur lauten: obsta prinzipes!" (Wehret den Anfängen!) (Beck, 1996, S. 90).

Philosophen wie Singer und Anstötz werden bei uns mitunter mit Redeverbot belegt. Ich verstehe den Standpunkt behinderter Menschen, die sich durch solche Ansichten existentiell bedroht fühlen und solidarisiere mich mit ihnen. Trotzdem bin ich der Meinung - und befinde mich damit auf einer Gegenposition zu von mir sehr geschätzten Autoren wie z.B. Christoph Beck - daß wir uns auf eine ehrliche Diskussion einlassen müssen, um dem Gedankengut von "unwertem Leben", "Ersparen von Leiden" usw., das offen und unterschwellig vorhanden ist und nicht nur von Philosophen vertreten wird, entgegenzuwirken. Diese philosophischen und bioethischen Positionen zwingen uns, die besseren Argumente zu formulieren, um auch den schwerstbehinderten Menschen ihre Chancen auf Verwirklichung ihres Lebens zu wahren.

Anstötz führt an, daß das Christentum z.B. Gebote wie das Tötungsverbot nicht weiter begründen muß. Mit dem Hinweis auf die Gottgegebenheit entzieht es sich einer rationalen Argumentation. (Bibelexegeten sind anderer Meinung und beziehen die 10 Gebote auf eine lebbare Praxis; sie sollten den Menschen helfen, ihr Leben mit Gott und der Welt zu gestalten.) Seit der Aufklärung sind wir aufgerufen, ethisch relevante Gebote und Verbote wie das Gebot des Nichttötens durch bloß rationale Überlegung zu legitimieren (s. Anstötz, 1990, S. 3).

Man kann nun einwenden, daß Buber seine Ansichten mit der Existenz von "Geistigem", also mit "höheren" nicht beweisbaren Werten begründet, und daß es wohl kaum gelingen kann, das Lebensrecht aufgrund von absoluten Tatsachen zu verteidigen. (Für Buber sind diese Werte sehr wohl empiristisch und phänomenologisch feststellbar). Genauso kann man fragen, ob Singer beweisen kann, daß ein Mensch, der nicht über die objektiv wahrnehmbaren Kriterien des Menschseins verfügt, nicht mehr vom Tiersein unterscheidbar ist und somit getötet werden darf?

Zusammenfassung der Ansichten von Singer und Anstötz:

1. These: Wer bestimmte Kriterien nicht erfüllt, ist keine "Person" und somit vom Tier nicht zu unterscheiden.

2. These: Wer keine "Person" ist, darf getötet werden (oder auch Tiere nicht).

Schlußfolgernde Hypothese: Die Tötung Schwerstbehinderter ist erlaubt, (wie auch das Töten von Tieren).

Einschränkende Konditionen: Wenn Glück und Entwicklung möglich sind - auch im Falle des Wunsches von Eltern, ihr behindertes Kind zu lieben und zu versorgen - wäre Euthanasie verantwortungslos.

Feststellung:

Die einschränkenden Konditionen werden zur Antithese, die die Hypothese falsifizieren: "Glück" - wie ich schon dargestellt habe - ist relativ und von außen nicht beurteilbar. Entwicklungsmöglichkeiten können nach modernen holistischen Denkweisen grundsätzlich niemandem abgesprochen werden. In den folgenden Kapiteln zeige ich Menschenbilder auf, die jedem Menschen ihm eigene Entwicklungsmöglichkeiten zuschreiben. Glück und Entwicklung sind demnach immer möglich, womit dem Argument nach nichtfreiwilliger Euthanasie widersprochen sein wird, und uns die Verpflichtung zur Einlösung eines möglichst guten Lebens für schwerstbehinderte Menschen bleibt.

Zusammenfassung von Singers und Bubers Positionen:

Singers Thesen zum Nicht-Menschsein (s.o.) stehen gegen Bubers Antithese, daß der Mensch seinem Wesen nach immer Mensch ist.

Feststellung:

Daraus kann keine Synthese erfolgen. Keine der beiden Thesen kann mit absoluter Sicherheit bewiesen oder falsifiziert werden. Ein entscheidendes Argument gegen Singers Thesen aber kommt aus der Logik: Wenn so folgenschwere Entscheidungen über Leben oder Tod, die nicht widerrufbar sind, an einem Begriff wie dem Mensch-(Person-)sein oder nicht, hängen, müssen alle Zweifel und Gegenargumente ausgeräumt sein. Das sind sie nicht...

In dieser Diskussion über die Aufhebung des Tötungsverbots an Menschen geht es immer darum, über Schwächere zu bestimmen. Singer legt es als Gattungsegoismus aus, wenn wir uns erlauben, hochentwickelte Tiere zu töten, welche Kriterien des Menschseins eher erfüllen als schwerstbehinderte Menschen. Der Gattungsegoismus bedarf sicher einer eingehenden Auseinandersetzung, aber nicht in Richtung Durchbrechen des Tötungstabus, sondern in Richtung Erweiterung unserer Verantwortlichkeit. Vielleicht gelangen wir - im Angesicht des Geistes (Teil III) - einmal zu dem Schluß, daß wir auch mit den Tieren und den Dingen würdevoller umgehen sollten.

In den folgenden Abschnitten führe ich postrelativistische Menschenbilder näher aus, die Bubers Menschenbild sehr ähnlich sind. Diese sprechen klar für das Lebensrecht, ohne sich auf höhere Werte zu berufen. Feuser z.B. argumentiert durchaus rational und wissenschaftlich, wenn er aufgrund von Selbstorganisations- und Ko-Evolutionstheorien (Erkenntnistheorien, die hier nicht erklärt werden können) zu dem Schluß kommt, daß grundlegend Menschliches auch bei Menschen vorhanden ist, an denen wir es nicht beobachten können, weil es sich unseren üblichen Kontroll- und Testmechanismen entzieht.

"Es läßt sich der Beweis führen, daß sämtliche, z.B. schwer beeinträchtigten Menschen durch die "Euthanasie" befürwortenden Philosophien und Philosophen abgesprochenen bio-psycho-sozialen Eigenschaften nicht nur diesen Menschen (wenngleich in der klassischen Weise nicht beobachtbar) eigen und verfügbar sind, sondern bereits Ausgangs- und Randbedingungen für die Entstehung und Evolution des Lebendigen waren" (Feuser, 1996, S. 9).

Eine implizite Darstellung, worin sich der Mensch vom Tier unterscheidet, ist im Teil I, der philosophischen Anthropologie, und in Teil III, in dem die besondere Repräsentanz des Geistes dargelegt ist, enthalten. Auch in diesem Teil war schon ausführlich die Rede davon, und ich erinnere nur kurz:

der Mensch ist Geistwesen als Prozeßrichtung (S. 32)

Fähigkeit zur Zuwendung ohne Zweck (S. 34)

Eigenart seiner Beziehungen zu den Dingen und Wesen (S. 34)

das dialogische Verhältnis: der Mensch hat ein Gegenüber (S. 37)

das doppelte Prinzip des Menschseins: Urdistanz und Beziehung (S. 43).

Buber sieht das spezifisch Menschliche darin, daß der Mensch zu einer Form der "Hinwendung zum Du" aus freien Stücken fähig ist und andererseits diese Zuwendung als "Ja des Seindürfens" zum Menschwerden braucht. Allen anderen Lebewesen ist dies nicht gegeben. Der Mensch ist als einziges Lebewesen in der Lage, sich sowohl als ein vom Anderen getrenntes Ich wahrzunehmen ("Urdistanz") als auch zur Hinwendung zum Du ("Beziehung"). Diese spezifisch menschliche Beziehungsfähigkeit sieht Buber ontologisch grundgelegt.

Das Wesentliche ist, daß bei Buber das Menschsein potentiell immer gegeben ist, während es bei Singer von der Verwirklichung bestimmter Kategorien abhängt.

5.5 Der Logos[12] - Menschsein: Begründung für ein Recht auf Leben

"Gehen wir von dem menschlichen Leben aus, das jeder von uns lebt, und der Bedeutung des Wortes für dieses Leben, dann sind drei Seinsweisen der Sprache unterscheidbar. Nennen wir sie präsenter Bestand, potentialer Besitz und aktuelles Begebnis. ... Jene beiden, Bestand und Besitz, setzen ein geschichtlich Erworbenes voraus; hier aber ist nichts andres vorauszusetzen als der verwirklichungsfähige Wille von Menschen zur Kommunikation. Diese stiftet sich in einem Sich-einander-zuwenden von Menschen; sie wird in der wachsenden Fruchtbarkeit dieser Grundhaltung die Gebärde, die Lautgebärde, das Wort gewinnen" (Buber, 1962, S. 7ff).

Weiterführend zu dem am Anfang des Kapitels erörterten gemeinschaftlichen Mitwirken am Kosmos ist lt. Buber der Logos ein grundlegendes Kriterium des Menschseins und damit eine Begründung für das Recht auf Leben. Der Logos, das im Menschen ontologisch angelegte "Wort", ist die Möglichkeit, mit jedem Menschen und sei er noch so schwer behindert, durch eine ihm gemäße Art in Beziehung zu treten, und sei es nur durch das Bewegen eines Fingers oder eines Augapfels. Selbst wenn es für uns nicht wahrnehmbar ist, gibt es Beziehung und Entwicklungsmöglichkeiten, wozu ganzheitliche Denkweisen berechtigen. Alles was im Menschen potentiell angelegt ist - Geist, Logos, Beziehung - ist für den Menschen spezifisch - auch wenn es in diesem Leben nicht erkennbar zur Entfaltung kommt - und unterscheidet ihn vom Tier (das Tier hat auch Teil am Geist, Logos, Beziehung, aber auf seine spezifische Seinsweise).

Die Fähigkeit des Menschen, sich mit Hilfe der Geistbegabtheit zu transzendieren, enthebt ihn außerhalb des medizinisch-technischen Zusammenhangs jeglicher Sachdiskussion. Der Mensch ist in jeder Form mehr als ein wissenschaftlich zerlegbares Konstrukt.

Dieser Aspekt sollte auch berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Leben mit Hilfe unserer hochentwickelten technologischen Medizin um jeden Preis zu verlängern. Die Würde des Menschen ist in allen Phasen zu wahren. Deshalb muß meiner Meinung nach eine gute Schmerztherapie Vorrang vor lebensverlängernden Maßnahmen haben. Es ist zu respektieren - und ich glaube auch erkennbar im "Angesicht des Geistes" - wenn ein Leben zu Ende geht. Es ist mir bewußt, daß sich Angehörige und Ärzte, die Entscheidungen in Grenzsituationen zu treffen haben, auf einer schmalen Gratwanderung befinden. Wir dürfen uns aber darauf verlassen, daß wir im Du-Sagen, in der Vergegenwärtigung des ganzen Menschen richtig zu handeln vermögen.

Der Logos - der Geist - ist von Anfang an da und wirkt in allen Stadien. Zu diesem Schluß sind auch andere moderne Autoren gekommen:

Portmann wendet sich entschieden gegen ein einseitiges, verkürztes Bild vom Menschen. Es ist unzulässig, nur beim Vorhandensein spezifischer Merkmale Leben als menschliches Leben zu bezeichnen. Das Geistige ist dem biologischen nicht bloß aufgesetzt, sondern der Mensch durchläuft im Unterschied zu allen anderen Lebewesen eine einzigartige, einmalige und eigenständige Entwicklung. Das Geistige bildet mit dem körperlichen Werden eine unzertrennbare Einheit. "Das Personale erstreckt sich hier auf ein relationales dialogisches und gesellschaftliches Sein, d.h., daß menschliche Personalität ein Sein in und durch menschliche Beziehungen darstellt, wobei jedem menschlichen Wesen ein Personstatus zukommt" (Theunissen, 1996, S. 179). Schon während der Schwangerschaft beginnt eine lebendige personale Beziehung, die nur in der Unmittelbarkeit erfahren werden kann. Das kommunikative Signal des Säuglings ist der Bezugspunkt für ein inniges Miterleben und Spüren, für Empathie, Freude, Lebenserfülltheit, Anteilnahme - also für eine Hinwendung zum Du.

Bei einem afrikanischen Volk [13] fängt diese Beziehung bereits vor der Empfängnis an. Die Mutter geht einige Tage in den Wald, um ein Lied für ihr zukünftiges Kind zu finden. Dieses Lied begleitet den Menschen durch sein ganzes Leben und wird noch auf dem Totenbett gesungen.

Es ist ein Irrtum, zu meinen, es gehe um Form und Inhalt, daß also Schwerstbehinderte zur Kommunikation nicht in der Lage wären. "Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht" (ebd., S. 180).

Selbst beim Betrachten eines schlafenden Kindes passiert Beziehung, und es ist auch bekannt, daß Komapatienten Wahrnehmungen über Beziehungen haben, auch wenn sie in einer anderen Ebene stattfinden.

Jeder Mensch - auch schwerstgeistigbehinderte Menschen - sind bildsam bzw. lern- und entwicklungsfähig. "Darüber hinaus macht sich an dieser Stelle das Etikett Behinderung eigentlich überflüssig, da sich jeder Mensch in seinem einmaligen weltoffenen Dasein definiert und es demzufolge keine Andersartigkeit, keine "anders strukturierten" Menschen gibt; die Bedeutung einer Hirnschädigung oder eines Organdefektes ist lediglich die, daß die Möglichkeiten, Freiheit, Weltoffenheit und Weltverantwortung zu realisieren, individuell unterschiedlich sind - und dies gilt jedoch für jeden Menschen!" (ebd., S. 180).

Die systemische Sicht betrachtet den Menschen als Prozeß und als offenes System, d.h. ganzheitlich. "Die systemische Sicht des Menschen geht von der Annahme aus, daß sich die Person in der Interaktion mit ihrer Mitwelt konkretisiert" (ebd., S. 181). Der Mensch ist ein lernendes, sich veränderndes Wesen. Er erreicht nie eine absolute Form, sondern das System Mensch ist offen und Teil von anderen Systemen.

Aus diesem Menschenbild lassen sich nach Probst Prämissen für die pädagogische Arbeit ableiten:

Menschen müssen mit Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten leben lernen.

Möglichkeiten für die betroffenen Menschen sind zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, sich am Leben zu beteiligen.

Autonomie und Integration sind zu erhöhen.

Das Potential des Systems ist zu fördern.

Probleme sind zu definieren und zu lösen.

Flexibilität und Eigenschaften der Anpassung und Evolution sind zu erhalten.

Halte die Prozesse in Gang - es gibt keine endgültigen Lösungen.

Balanciere die Extreme (s. ebd., S. 182).

"Die Sicherung des Lebensrechtes für alle Menschen, unabhängig von Art und Schwere einer Behinderung, stellt die zentrale ethische Aufgabe für Menschen dar, die mit anderen in Beziehung treten, die als behindert gelten" (ebd., S. 182).

5.6 Ethik und Menschenwürde

Der Entwurf einer Bioethik-Konvention des Europarates im Oktober 1994 beinhaltet sehr stark den Gedanken, Experimente an Behinderten ohne deren Zustimmung zum Wohle aller möglich zu machen. Experten sollen beurteilen, was an nicht einwilligungsfähigen Menschen an Operationen usw. durchgeführt werden darf. Dies signalisiert, wie groß der Interventionswille bereits geworden ist und wie die moralische Entgrenzungsbereitschaft und zugleich ein pragmatischer Begrenzungszwang zunimmt. Damit tut sich auch eine Spannung zwischen Sozialpolitik und Kostenentwicklung auf. (s. Zwierlein, 1996, S. 154).

Deutschland und Österreich haben diese Konvention noch nicht unterschrieben hsl. wegen des vehementen Einspruchs von Behindertenorganisationen aber auch von WissenschaftlerInnen und EthikerInnen wie z.B. Christine von Weizsäcker und Wilma Kobusch. Klaus Dörner warnt davor, Bioethik als Dienstleistungsethik zu mißbrauchen. Oft werden erst im nachhinein Argumente gefunden, um das zu rechtfertigen, was gemacht wird.

In der ethischen Diskussion, in der es auch um Vergaben von Mitteln und Ressourcen geht, muß der Begriff der Menschenwürde einen zentralen Platz einnehmen. Die Würde des Menschen ist im Anschluß an Kant als valuativ, als Zweck in sich selbst und als Preislosigkeit zu verstehen. "Jeder Mensch ist danach einzigartig und inkommensurabel. Dies bedeutet, daß er nicht durch einen Preis bemessen werden kann, daß er Quantifizierungen sprengt und daß er auch nicht ausschließlich als Mittel für einen Zweck funktionalisiert oder instrumentalisiert werden darf" (ebd., S. 155). Normativ bedeutet Menschenwürde "Unantastbarkeit", womit ein deontologisches-kategorisches Tabu verbunden ist, d.h., daß negative Handlungen, die die gebotene Achtung der Menschenwürde verletzen, unbedingt zu unterlassen sind. Dazu gehören Entscheidungen über das Recht auf Leben durch Dritte und Experimente an nicht einwilligungsfähigen Menschen.

Die Achtung der Menschenwürde bedeutet auch, die prinzipielle Intransparenz des Menschen, seinen Geheimnischarakter anzuerkennen. "Der Mensch entzieht sich aller inhaltlichen Definitionsherrschaft; es übersteigt nach einem Wort von Pascal der Mensch den Menschen unendlich: die wahre Definition des Menschen ist seine Nichtdefinierbarkeit" (ebd., S. 155).

"Alle Vorzüge der Menschenwürde gebühren jedem Menschen von Natur aus, vom ersten Augenblick seines Daseins an" (ebd., S. 156).

Hier wird noch einmal - aus ethischer Sicht - die Fragwürdigkeit von Begriffen wie Lebensqualität, Glücksempfinden und Kosten-Nutzen-Rechnung in Zusammenhang mit Menschenwürde und Personsein aufgegriffen:

Die Menschenwürde ist eine verfassungsmäßige Wertvorgabe und verlangt Bedarfsdeckung und Leistungsgewährung "ohne Ansehen der Person". "Im Bedarfsfall ist jedem Menschen unabhängig von irgendwelchen privilegierenden Definitionsmerkmalen das "Seine", die ihm notwendige Grundversorgung effektiv und unter Wahrung seiner Würde und Freiheit zu gewähren" (ebd., S. 156). Nun verlangt aber das Wirtschaftlichkeitsgebot eine sachgerechte Zuteilung von Leistungen, von Rechten und Pflichten nach Möglichkeit, Notwendigkeit und Bedarf. Die Mittel und Ressourcen sind knapp. Als Rationierungs- und Selektionskriterium wird gerne der Begriff der "Lebensqualität" eingesetzt. Sie bezieht sich auf Zustände des Glücks, der Sozialrelevanz und der Gesundheit. Das sind Dimensionen der körperlichen Verfassung, des psychischen Empfindens, der sozialen Integration und der funktionalen Kompetenzen. Der Mensch wird nicht nach seiner Einzigartigkeit und Unantastbarkeit bewertet, sondern nach seiner Meßbarkeit und Kommensurabilität. Personsein wird durch Merkmale definiert wie Autonomie, (Selbst-)Bewußtsein, Handlungsfähigkeit, Freiheit, Zeitsinn u. a. "Lebewesen, die die Personenqualität nicht aufweisen, werden als Nicht-Personen, als präpersonale oder depersonalisierte Wesen betrachtet. Wer die Eigenschaft der Personenqualität nicht besitzt, ist jeder möglichen Selektion preisgegeben, die für Nicht-Personen vorgesehen ist (s. ebd., S. 160).

Aber nicht nur die Personenqualität führt zur Selektion, sondern auch der Begriff der Lebensqualität, wenn eine Kosten-Nutzen-Rechnung angewendet wird. Der moralische Ansatz ist das "Mitleid". Die Qualität des Lebens wird aus einer Binnenperspektive des Betroffenen betrachtet, die ich als Nichtbetroffener nicht haben kann. Ich bestimme also, ob ein anderer sein Leben lebenswert empfindet oder nicht. Dabei spielt immer auch der maximale Gesamtnutzen eine Rolle. Es wird eine Art Glücksbilanzierungssaldo gezogen. Die Logik ist, daß begrenzte Mittel dort eingesetzt werden, wo am meisten herausgeholt werden kann. Damit wird die Universalität der Menschenwürde verletzt, der Gleichheitsgrundsatz zerstört und das Solidaritätsprinzip unterminiert. "Alle sozialpolitische Leistungsgewährung muß prinzipiell unabhängig vom vermeintlich meßbaren Wert einer Person sein. Weder der Wert noch das Gelingen eines Lebens können oder dürfen an die (fremdbestimmten) Kategorien der Leistungs- und Nutzen- oder Glücksmaximierung gebunden werden" (ebd., S. 161).

Von dieser Lebensqualitätsselektion sind besonders Ungeborene, Neugeborene, Mißgeburten, Schwer- und schwerstbehinderte Menschen, alte Menschen und Senile, chronisch Kranke und Pflegebedürftige und Komatöse betroffen. Sie sind sozial stigmatisiert und ökonomisch motiviert ausgegrenzt. Lebensqualität ist aber nicht meßbar und vergleichsfähig. Freud, Leid, Glück und Verzweiflung kann man nicht als Nutzen oder Kosten quantifizieren und darstellen. Es gibt keine absoluten Gesichtspunkte. "Das utilitaristische Rationalitätskonzept des Lebensqualitätsbegriffs trägt nicht weit. Es fordert aber einen hohen Blutzoll" (ebd., S. 162).

"Eine Maximierung des Gesamtglücks der Menschen ist kein ethisches Ziel. ... Die Ausgrenzung oder Beseitigung von Menschen als Mittel zur Steigerung des Glücks der anderen ist im Gegenteil ein sicheres Zeichen der Inhumanität. ... Es gilt, jeden Gedanken zurückzuweisen, der die Unantastbarkeit der Schwächsten untergräbt" (ebd., S. 163). "Solidarität gegenüber den Schwächsten ist nicht die zufällige Gnade der Affluenz, des Überflusses der Mittel, sondern erwächst aus der wechselseitigen Anerkennung unbedingter Würde aller Menschen ohne lebensqualitative Privilegierung oder Dequalifizierung. ... Aktive Behindertenpolitik in diesem Kontext ist kein Luxus, sondern notwendige Pflicht, die Menschen Menschen schulden, weil sie aufeinander verwiesen und einander zur "Obhut anvertraut sind" (ebd., S. 163).

Eine integrative Behindertenpolitik würde viele der erwähnten Probleme auffangen. Die Kosten würden sich auf Dauer gesehen - und dafür gibt es Untersuchungen - abschwächen. Natürlich kann auf zusätzliche ambulante Hilfen nicht verzichtet werden, aber sie wären allemal kostengünstiger als eigene Institutionen. Vieles würde durch Gegenseitigkeit geleistet werden. Das Miteinander könnte für alle zu einer Bereicherung werden, wie es im südlichen Italien seit langem die Praxis ist und wofür ich Beispiele kenne.

Menschen-, Grund- und Bürgerrechte

Die Beachtung der Würde des Menschen ist ein unantastbares Grundrecht in unserer Gesellschaft. Die Menschenrechte sind eine Entwicklung unserer Zivilisation und reichen zurück bis in die Antike. "Die menschliche Würde ist Ausgangspunkt für die Beschreibung der unveräußerlichen Rechte des Menschen, die ihm als "personale Grundausstattung" zukommen" (Stadler, 1996, S. 166).

Grundrechte sind letztlich Beziehungsrechte: sie dienen der Regelung der Beziehung zwischen Menschen, indem sie jedem Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft Achtung und Schutz gewähren. Die Würde eines anderen zu respektieren ist kein beliebiges Verhalten, sondern ein einforderbares Recht in konkreten Situationen des Lebensalltags.

Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen, die ihre Interessen oft nicht selbst wahrnehmen können, werden manche Bürgerrechte nicht zugestanden wie z.B. Teilnahme am Arbeitsleben und Teilhabe an der Gesellschaft. Dadurch werden sie an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehindert (s. ebd., 1996, S. 168).

Es geht nicht darum, Menschen mit Behinderung der "Normalität" anzupassen, sondern Menschen mit Behinderung an der "Normalität" teilhaben zu lassen, sie nicht auszugrenzen und eigene Ghettos für sie zu schaffen.

In meiner Ausführung über den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderten werden überwiegend negative Verhaltensweisen aufgezeigt. Geht man aber in der Zivilisation noch weiter zurück bis in das 4. Jahrtausend v.Chr. gibt es einzelne Forschungsergebnisse, die darauf schließen lassen, daß bei den Sumerern Menschen mit Behinderungen eine anteilnehmende Aufmerksamkeit gegeben wurde. Es herrschte die Auffassung, daß Menschen mit Behinderung auch von den Göttern erschaffen wurden (s. ebd., S. 169).[14]

"Menschsein ist repräsentiert durch die Vielfalt der Daseinsformen, zu denen auch das Behindertsein gehört. Pädagogisches (und soziales) Handeln muß auf Bewahrung und Entfaltung des Menschen auf jeder Altersstufe und in jeder Seinsweise gerichtet sein, erst nach vielen Jahren der Pflege, Erziehung und Bildung zeigt sich welche Entfaltung der Persönlichkeit auch bei schwerster Behinderung möglich ist" (ebd., S. 170).

Jede Entwicklung in unserem Leben bleibt fragmentarisch und wird erst in einer anderen Dimension vollendet.

Die formale Gleichheit behinderter Menschen ist in unserer Gesellschaft durch vielseitiges Bemühen im therapeutischen und pädagogischen Bereich vielfach gegeben. Es geht um die materielle Gleichstellung auch wenn man die dafür erforderliche Leistung nicht erbringen kann, und um die reale Gleichheit mit den vorherrschenden ideellen und materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft (s. ebd., S. 170).

5.7 Menschenbilder

Behindertenfeindliches Denken hat seine Wurzeln in Menschenbildern, dominiert von Ideologien, Vorstellungen, Religionen oder Philosophien. Wir tragen oft Bilder in uns, die wir nicht selbst gezeugt haben, sondern die wir - unreflektiert - übernommen haben. Es kommt zu Vorurteilen und Klassifikationen, die immer neu hinterfragt werden müssen, um nicht unser Leben und das Leben anderer mit nicht-bewußten Menschenbildern ungünstig zu gestalten.

"Menschenbilder - Bilder von Menschen, d.h. von anderen und von sich selbst - beeinflussen bewußt oder unbewußt Handeln und Verhalten. In jedem Augenblick der Begegnung - bei jedem Anschauen, Berühren, Füttern, Wickeln ... - wird das Handeln stets beeinflußt von dem Menschenbild, welches in einem selbst ist. Ist einem dieses Bild bewußt, ergibt sich die Chance eines selbstbeobachteten reflektierten sozialen Handelns, das mehr Menschlichkeit befördern kann" (Theunissen, 1996, S. 177).

Für behinderte Menschen hat es bis zurück zu Platon eigene anthropologische Ansichten gegeben, wie:

Animalistisch-vegetabilistische Bilder: Menschen wurden Pflanzen und Tieren gleichgestellt - wahrnehmungs- und empfindungslos.

Idealistische: Idealvorstellungen von Jugendlichkeit und Schönheit: "Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper".

Magische und religiöse Bilder: behinderte Menschen werden gleichgesetzt mit Teufeln und Dämonen. Behinderung ist eine Strafe Gottes.

Mechanistische Bilder: Mensch wird der Maschine gleichgesetzt. Der Mensch wird nur in einzelnen Teilen wahrgenommen, nicht als Ganzheit.

Infantilistische Bilder: Behinderte als ewige Kinder - auf früher Stufe der Entwicklung stehengeblieben. Behinderte sind Mängel- oder Defizitwesen.

Alle diese Menschenbilder sind distanzierend. Sie basieren nicht auf Interaktion und Kommunikation, sondern auf Manipulation und Segregation (s. ebd., S. 177f).

Diese Menschenbilder haben bis in die heutige Zeit ihre Spuren hinterlassen und spielen in der Gesellschaft eine größere Rolle als man glauben möchte. Folgende Ansichten und Zitate sind noch stark vertreten und stammen z.T. aus meiner persönlichen Erlebniswelt: "Das Kind hat den Teufel im Leib.", "Hüte dich vor den Gezeichneten!", "Gesunder Geist in einem gesunden Körper." "Dieses Kind wird dir immer bleiben und nicht weggehen wie die anderen". "Ich habe sieben Kinder, aber eine solche Strafe Gottes ist mir erspart geblieben." - Ausspruch einer alten Bäuerin angesichts meines behinderten Kindes. Und eine sehr gebrechliche alte Frau meinte sogar: "Das wäre dir bei Hitler erspart geblieben."

Über Peter Singers utilitaristisches Menschenbild, das heute weit verbreitet ist, habe ich bereits geschrieben. Es sei nur kurz erinnert: Nur Lebewesen, die ganz bestimmte Eigenschaften besitzen, sind fähig, Glück zu erfahren bzw. zu einer Erfüllung zu gelangen. Und zwar sind es die Eigenschaften, die Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen (hochentwickelte Tiere) als "Person" charakterisieren. Die Hauptmerkmale sind Rationalität und Selbstbewußtsein (s. ebd., S. 178).

Portmanns philosophisch-anthropologisches Menschenbild und die systemische Sicht habe ich in Zusammenhang mit dem Logos als Gegenpositionen zum utilitaristischen Menschenbild vorgestellt.

Der Schweizer Heilpädagoge Urs Haeberlin hat ein "Menschenbild für die Heilpädagogik" entworfen. Dieser Titel ist aber irreführend. Haeberlin fordert ein Menschenbild für alle. Wenn wir dem Behinderten die gleiche Menschenwürde zusprechen wie uns selbst, wird sich diese Auffassung im Verhalten gegenüber Behinderten niederschlagen, und der Gedanke einer "Aufpäppelung des Schundes" und des "Abfalls der Menschheit" kann gar nicht aufkommen. Das würde heißen, daß für alle das gleiche Menschenbild gelten muß - für Behinderte dasselbe wie für uns selbst. Wir müssen also nach einem Menschenbild suchen, das für uns selbst Gültigkeit hat. Dieses Menschenbild wird dann die Grundlage zum eigenen Menschsein; eine Vorstellung erarbeiten, wie man sich selbst als Mensch und sein Verhalten zu anderen Menschen definieren will - also keine spezifische Anthropologie der Behinderten, sondern Selbsterkenntnis und Selbsterziehung als Mensch.

Wenn wir uns um ein Menschenbild bemühen, das sich grundlegend für die allgemeine Menschenwürde entschieden hat, umfaßt es alle Menschen, auch die Behinderten. Somit geht es um uns selbst, unsere eigene Identitätsfindung, womit der lebenslängliche Prozeß der "Vermenschlichung" gemeint ist (s. Haeberlin, 1985, S. 11-14).

W. Jantzen nimmt eine von der marxistischen Philosophie geprägte Position ein: Humanität für alle, und Humanität sei nur gegen Herrschaft und Entfremdung in humanen Taten herstellbar (s. Stadler, 1996, S. 171).

Mit diesem Menschenbild könnte sich eine gute integrative Behindertenpolitik begründen lassen: Humanität für alle, humanitäre Taten gegen Herrschaft und Entfremdung. Herrschaft und Entfremdung spielen im Umgang mit Behinderten noch eine große Rolle. Aber ein solches kollektivistisches Menschenbild ist auch eine Verkürzung des individuellen Menschseins - des "Anderen". Der Logos, der Geist, das wahre Zwischenmenschliche als Gegensatz zum Kollektiv wird nicht gesehen. Außerdem ist der Kommunismus selbst an der Umsetzung der Menschenrechte und der Humanität in totalitären Systemen gescheitert.

Ich komme nun auf Martin Bubers Menschenbild zurück: Es beinhaltet Vorstellungen über den Menschen, seine Ganzheit und seine Entwicklungsbedingungen, sein Sein und Werden.

"Menschwerdung" bedeutet, die Polarität zwischen Ich und Du erleben zu können. Der Mensch kann nur dann "Ich" sagen, wenn er sich vom "Du" getrennt weiß, sich als selbständig erlebt. Es gibt kein Ich für sich allein, sondern immer nur ein Ich in Beziehung zum Du oder zum Es, wobei das "Ich-Du" für die Verwirklichung des Zwischenmenschlichen steht, das "Ich-Es" für dessen Verfehlung und Entwirklichung. "Ich-Du" ist subjektivierend, "Ich-Es" objektivierend.

Die spezifisch menschliche Beziehungsmöglichkeit und -fähigkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch nicht nur aus dem Zweck seiner Nöte und Bedürfnisse, sondern aus dem "Überfluß seiner Existenz", der aus eigenen geglückten gelebten Beziehungen entsteht, handelt. Beziehung ist eine Form der zwischenmenschlichen Zuwendung, wobei die Beziehungspartner einander als "Personen" meinen und sich nicht nur einander zuwenden, um soziale Bedürfnisse zu befriedigen oder etwas vom anderen zu bekommen oder diesen in eine bestimmte Richtung beeinflussen zu wollen. Diese Beziehungsqualität betrifft den Menschen als ganzes in seinem Sein (s. Wilburger, 1989).

Buber wäre falsch verstanden, wenn man das Menschsein nur solchen Menschen zugestehen würde, die diese Fähigkeiten aktiv gestalten können. Die Verwirklichung des Zwischenmenschlichen und des Selbst ist in jedem Menschen ontologisch angelegt und kann mehr oder weniger verwirklicht werden. Es ist aber die Aufgabe jener Menschen, die "wachend am Kosmos mitarbeiten", den in irgendeiner Weise "behinderten Menschen" entgegenzukommen und sie in ihrer Verwirklichung zu unterstützen.

Menschenbilder bleiben immer Modelle und können die volle Wirklichkeit vom Menschen niemals erfassen. Sie sind auch immer in Gefahr, ideologisch ausnutzbar zu sein. Die Dynamik, die Offenheit und der Wandel von Menschenbildern muß immer gegenwärtig sein. Menschenbilder sind nicht statisch, nicht gottgegeben, sondern konstruiert. Sie haben eine Vergangenheit, die zwar verworfen werden kann und auch muß, aber doch in die Gegenwart hereinreicht.

Ich bin überzeugt, daß ein Menschenbild auf der Basis der Beziehung, der Zwischenmenschlichkeit das grundlegende ist, das, auf dem "Vermenschlichung" passieren kann. Irgendwann wird man noch größere Zusammenhänge im holistischen Sinn und unter Einbeziehung des Unterbewußtseins erkennen können. Daß sich aber das Menschenbild noch einmal auf breiter Basis in die Richtung bewegt, in der Menschen in ihrem Menschsein nicht anerkannt werden, ist nicht mehr vorstellbar.

Vom Menschenbild her müssen Bezüge zur Ethik hergestellt werden. Erziehungswissenschaft ist von der normativen Anthropologie nicht abzutrennen und daher selbst normativ. Ethik gewinnt überhaupt an Bedeutung - wie kann der technische Fortschritt verantwortet werden, Manipulationen eingedämmt usw.? Auch in Bezug auf die Umwelt haben Menschenbildüberlegungen eine neue Perspektive. Überall ertönt der Ruf nach einer "Neuen Ethik".

Unsere Zeit der "Postmoderne" ist verbunden mit Kritik und Abschiednahme von der wissenschaftlich-objektiven Vernunft und dem unbegrenzten Funktionalismus. Das Irrationale wird reaktiviert, holistische Denkweisen, Ganzheitsvorstellungen, Harmonisierungstendenzen usw. hervorgeholt. Sind wir auch auf dem Weg zu einer postmodernen Erziehungswissenschaft? Wie sieht ihr Menschenbild aus? (Meinberg 1988, 240 ff.).

5.8 Eine neue Sozialethik

Allgemein verbindliche moralische Grundlagen des sozialen Handelns scheinen verloren zu gehen: Grundlagen, die Ungleichheit überwinden helfen, Ressentiments auflösen, Diskriminierung vorbauen, Gewalt zum Verschwinden bringen, der technischen Machbarkeit entgegentreten und eine Alternative zur Monetarisierung darstellen können. Sind wir in einer Krise des Sozialen und Wertewandels? Es findet eine Art Werteerosion statt, die sich aus immanenten Gegensätzen der bürgerlichen Moral und aus der Dynamik der modernen Industriegesellschaft ergibt. Wir leben in einer "Risikogesellschaft". Es besteht kein geschlossenes verbindliches Wertesystem mehr. Wir gewinnen damit eine weitreichende Pluralität gesellschaftlicher Leitbilder, Sinngebungen und Lebensformen, eine bislang nicht gekannte Wahlfreiheit, damit aber auch eine große Diffusion und Orientierungsunsicherheit.

Es kommt zu Wertekonflikten und Werte-Spaltung. Von den Arbeitnehmern des Technischen und des Sozialen werden ganz gegensätzliche Fähigkeiten verlangt, nämlich instrumentell-ökonomische und kommunikative. Soziales wird zu Sozialtechnologie und Hilfe gerät unter das Kosten-Nutzen-Kalkül.

Die Koordinaten von Mitmenschlichkeit und Hilfe werden verschoben. Traditionelle soziale Netzwerke lösen sich auf. Die Familie, die es in der traditionellen Form kaum mehr gibt, soll Träger einer umfassenden Sittlichkeit sein und ist damit überfordert. Andererseits wachsen dem Staat Zuständigkeiten des sozialen Ausgleichs und der Organisation von Hilfe zu. D. h., daß soziale Werte der ausschließlichen Disposition des individuellen Gewissen und der persönlichen Sittlichkeit entzogen werden. "Hilfe und Beistand für Schwache und Bedürftige wird mehr und mehr aus der individuellen Lebensführung und der persönlichen Sinnfindung ausgekoppelt und Gegenstand anonymer staatlicher Organisation bzw. professioneller Durchführung" (Thiel, 1996, S. 460).

Das Zusammenleben und die Hilfe für Schwache und Bedürftige wird immer betroffenenferner und expertenlastiger organisiert. Dieses System organisierter Hilfe koppelt sich von der Lebenswelt ab und kann nicht mehr angemessen auf Erwartungen und Wünsche der Hilfsbedürftigen eingehen. Es hat eine krankmachende und problemerzeugende Auswirkung für alle. Hilfsbedürftige sind nicht mehr konkrete Personen, sondern Spendenempfänger für die gesorgt wird. In dieser Abschiebung liegt die sehr große Gefahr der Entpersonalisierung bis hin zum unwerten Leben einerseits aus falsch verstandenem Mitleid, andererseits aufgrund des Kosten-Nutzen-Faktors.

Ich-Es-Beziehungen nehmen überhand und drängen das Ich-Du-Sagen zurück - eine Entwicklung, die sich letztendlich krankmachend und realitätsentfremdend für alle auswirkt; ein Ausweichen vor dem Geist und ein Rückweichen des Geistes, wie im Teil III dargelegt, als Folge mangelnden Beziehungsgeschehens.

"Diese Entwicklung kulminiert im Zusammenhang mit Fragen der Gentechnologie oder der Intensiv- und Transplantationsmedizin in einer erschreckenden Neuthematisierung der Frage nach lebenswertem und lebensunwertem Leben oder - um es anders zu formulieren - in der Bestimmung von Leben, das mehr Wert, und Leben, das weniger Wert hat" (ebd., S. 462). Eine utilitaristische Ethik entsteht, in der gelten soll, daß unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten die Entscheidung auszuwählen ist, die für alle das optimale Ergebnis hat. Grenzfälle, in denen ein Mensch seine Interessen nicht einbringen kann, werden von Experten entschieden (s. ebd., S. 456-462). "So erlaubt - wie bereits erwähnt - der Entwurf einer Bioethik-Konvention auf europäischer Ebene die Forschung an und die Entnahme regenerativen Gewebes bei behinderten, kranken und alten Menschen, die als nicht entscheidungsfähig gelten, ohne deren Zustimmung und ohne therapeutische Zielsetzung" (ebd., S. 462).

Dieser Tendenz gilt es entschieden entgegenzuarbeiten!

In allen Bereichen des Sozialen haben sich Selbsthilfegruppen gebildet, die sich für gleiche Rechte und direkte Hilfe einsetzen und auch einen Bewußtwerdungsprozeß in Gang gesetzt haben. Sie ersetzen aber nicht die Verantwortlichkeit der Gesellschaft oder des Einzelnen. Im Gegenteil, sie machen uns bewußt, daß z.B. Behinderung alle angeht.

Subsidiarität und Selbsthilfegruppen

Staatliches Handeln wird nachrangig und soll erst dann einsetzten, wenn kleinere Einheiten die erforderlichen Hilfsleistungen nicht erbringen können. Die Kostenexplosion und die Abwendung der Menschen von großen Organisationen haben zur Wiederentdeckung der Subsidiarität d. h. zu einer Rückbesinnung auf kleinere soziale Einheiten geführt. In diesem Zusammenhang hat sich eine neue Sozialform entwickelt, nämlich die Selbsthilfegruppe. Engagement aus eigener Betroffenheit, gegenseitige Hilfe und Gruppenbindung und nicht zuletzt ein neues Selbstverständnis haben zu einer gewandelten Vorstellung von Hilfe und Unterstützung geführt: "Solidarität (gleiche Betroffenheit und Handlungsperspektive), Subsidiarität (Selbstverantwortung und wechselseitige Hilfe) und Eigennutz (Selbsthilfe und persönliche Problembewältigung) werden miteinander verbunden" (Thiel, 1996, S. 463).

"Für diese Subsidiarität in Solidarität sind folgende Werte charakteristisch:

Selbstbestimmung

Echtheit

Wahrhaftigkeit

Selbstverantwortung

Selbstentwicklung

Selbstvertrauen/Hoffnung

Gleichgestelltheit

Freiwilligkeit des Engagements

solidarisches Handeln

Einheit von persönlicher und gesellschaftlicher Problembewältigung

politische Mündigkeit" (ebd., S. 464).

Die neue Sozialethik muß eine neue Verbindung von Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität ermöglichen. Sie muß in stärkerem Maße Thema in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion werden, ja um die verschärften sozialen und gesellschaftlichen Probleme der Zukunft bewältigen zu können, muß ihr eine Vorrangstellung eingeräumt werden.

Eine solche neue Sozialethik darf keine Zweckethik sein, die den Machthabern das Wort redet. Es muß eine Ethik sein, die auf reflektierten Menschenbildern basiert, die den Menschen in seinem ganzen Wesen erfassen und die Würde, die jedem geborenen und noch nicht geborenen Menschen innewohnt, berücksichtigt. Ich bin auch der Meinung, daß jedes andere Lebewesen und die Materie ihre Würde haben, die wir mit unserer menschlichen Würde im Umgang mit Ihnen miteinzubeziehen haben; aber das ist nicht Thema meiner Arbeit.

Mit diesem letzten Kapitel des Teiles II schließe ich an mein fiktives Gespräch mit Martin Buber im Teil I über die Problemgeschichte und die gesellschaftlichen Entwicklungen im Umgang mit behinderten Menschen an:

"Jenseits des Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen. Für die Lebensentscheidung der kommenden Geschlechter ist durch diese Wirklichkeit, deren Entdeckung in unserem Zeitalter begonnen hat, der Weg gewiesen, der über Individualismus und Kollektivismus hinausführt. Hier deutet sich das echte Dritte an, dessen Erkenntnis dazu helfen wird, dem menschlichen Geschlecht echte Person wiederzugewinnen und echte Gemeinschaft zu stiften" (Buber, 1954, S. 169).

Im Teil III Im Angesicht des Geistes wird der Bogen weitergespannt. Der Hoffnung Bubers:

"...und wer den ersten Baum pflanzte, ist eben er, der den Messias erwarten wird" (Buber, 1960, S. 15)

dürfen wir uns anschließen; daß wir unser Menschsein in der Welt weiterverwirklichen. - Im Angesicht des Geistes der Wirklichkeit, des Geistes der Beziehung, des Geistes der Erkenntnis, des Geistes der Entscheidung, des Geistes des Anfangs und des Geistes der Wandlung.

Zusammenfassende Bemerkung

Die Menschheit lebt aus dem Ja des Seindürfens des einzelnen, das in wahrhaftigen Begegnungen ausgesprochen wird.



[8] Wenn ich erkenne und denke, mein Kind ist wertvoll, dann überträgt sich das auf mein Kind und die ganze Umgebung - Denken und Erkennen ist also "ansteckend" - leider auch im Negativen (Ausländerproblematik). Deshalb ist es unerläßlich, selbst einzutauchen, selbst zu erkennen suchen.

[9] Inwieweit spielt ein verinnerlichter Utilitarismus bei Selbstmord eine Rolle, wenn Fragen auftauchen, wie z.B.: Wem bin ich noch nütze? Habe ich ein Lebensrecht? Kann ich den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen noch entsprechen? - Führt der Utilitarismus in die Depression?

[10] Ich führe hier keine generelle Diskussion zum Thema Schwangerschaftsabbruch, sondern weise auf die Diskriminierung behinderter Feten hin. Persönlich bekenne ich mich gegen die Abtreibung, distanziere mich aber von jeglicher Bestrafung. Aufklärung, Bewußtseinsbildung und Hilfen sind angebracht. Außerdem respektiere ich in all diesen heiklen Fragen die persönliche Betroffenheit, die persönliche Freiheit und die persönliche Verantwortung. Das muß allerdings auch für Behinderte gelten!

[11] Und die Spirale dreht sich weiter: Bub ja, Mädchen nein, oder umgekehrt; genetische Auswahlmöglichkeiten - ein beängstigendes Szenarium!

[12] Ich weise auf die Begriffserklärungen auf Seite 6 hin. Der "Logos" wird bei Buber in mehrfacher Bedeutung verwendet: "Wort", "Geist", das "Gemeinschaftliche" und hat mit Beziehung zu tun. Immer aber ist es das, was im Menschen grundgelegt ist und über den Menschen hinausgeht.

[13] Eine Geschichte, für die ich leider keinen Quellennachweis habe.

[14] s. Auffassungen im Mittelalter: "Teufelsbalg"; oder heute noch bei uns: Irrtum der Natur - Warum läßt Gott so etwas zu? usw.

Teil III Im Angesicht des Geistes

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Einleitung zu diesem Kapitel ist sehr persönlich, weil ich nicht nur über den Geist schreiben will, sondern auch dem nachspüren möchte, was es heißt, sich auf den Geist einzulassen. "Sich-Einlassen auf den Geist". So viele Gedanken, die auf mich einstürmen! Vieles habe ich gehört, gelesen, gedacht über den Geist. Aber wann hat er sich mir angetan? Wann war ich in der Lage, mich auf ihn einzulassen? Plötzlich ist die Frage da: Wie wird der Mensch? Er wird empfangen, getragen, geboren. Was ist es, sich ein Kind zu wünschen, zu zeugen, zu gebären? - Es ist Beziehung; es ist, sich einlassen auf das, was kommt - ein Leben lang.

Ich erinnere mich an die Geburt meiner Kinder. Im Moment des Gebärens geschieht etwas Unbeschreibliches. Das Glücksgefühl ist grenzenlos. Es hat nichts zu tun mit dem Wie des Kindes. Es hat zu tun mit dem Elementarsten, mit Schöpfung, mit dem Werden des Du. Nie ist der Geist präsenter, das Leben lebendiger. Niemals kann in so einem Augenblick ein Kind etwas Negatives, etwas Katastrophales sein - wenn ich in der Lage bin (wenn es mir auch ermöglicht wird), die neue Fülle zuzulassen.[15] Mit jedem Kind vermehrt sich der Geist in der Welt, neue Funken sprühen; werden versenkt, um, wie es die chassidische Tradition sagt, neu gehoben zu werden.

Nach einer chassidischen Erzählung sind aus einem Überfluß der Schöpfung göttliche Funken (Geist) in jedes Seiende - in jedes zu Werdende (das Potential ist von Anfang an da) gefallen. Es ist der Sinn des Lebens, diese Funken zu heben und wirksam werden zu lassen. Auch im "Bösen" sind solche Funken. Wenn sie gehoben werden, wird das "Böse" verwandelt. (In diesem Sinne der Wandlung kann hier für den Begriff "das Böse" das Wort "Leid" verwendet werden).

Keine Behinderung, kein Schmerz, nicht einmal der Tod kann diese Funken auslöschen oder ungeschehen machen. Sie hinterlassen auf immer Spuren, Spuren des Menschen-geistes, Spuren des Göttlichen.

In dem Abschnitt "Persönliche Stellungnahmen" sind diese Funken erfahrbar, wird spürbar, um was es geht. Im Du-sagen ist Geist. Wirklichkeit und Beziehung werden lebbar.

Den Moment der Geburt habe ich deswegen als Beispiel genannt, weil er mir als erstes in den Sinn kam, und weil er einen Beginn darstellt. Es gibt natürlich viele Beispiele im täglichen Leben, in denen Geist spürbar wird: Immer wenn wir z.B. "angerührt" sind, wenn uns eine neue Erkenntnis beglückt, wenn wir Lebendigkeit spüren, und immer wenn wir uns einander zuwenden.

Stark spürbar war für mich Geist auch am Ende des Lebens, das ja auch ein Beginn ist. Als mein Vater starb, sprach er von seiner Überzeugung eines allumfassenden Geistes - und der Raum schien erfüllt davon.

"Wer ich bin, fragen Sie? Ich weiß es nicht. Ich weiß höchstens, daß ich auf dem Weg zu mir bin und daß ich dann sehr überrascht sein werde. Und ich weiß nur, daß ich mich sehne, mit allem, was lebt, in Beziehung zu stehen. Daß das Gute sich wohlfühlt, weil es die Ewigkeit kennt. Und daß das Böse, das große Geheimnis, von Gott gerichtet (im Sinne von "richtig machen", verwandeln) wird und damit aufhört, das Böse zu sein" (Weinreb, 1985, Umschlagseite).

Methodische Anmerkung:

Wie im Teil II bediene ich mich verschiedener Zitate aus Bubers Werken, die besonders mit "Geist" zu tun haben. Ich stelle sie wiederum als Idealtypen voran, denen ich in der Wirklichkeit des Lebens nachgehe.

In den "Persönlichen Stellungnahmen" kommen Behinderte oder Angehörige von Behinderten zu Wort, die schildern, wie sie ihre Behinderung erleben und wie sie damit umgehen.

Im letzten Abschnitt greife ich noch einmal das Thema Integration in allen Lebensbereichen auf und gebe wiederum Stellungnahmen von Betroffenen, Angehörigen und von mir wieder. Dazu gehe ich kurz auf mir wichtige Bereiche ein, die im Teil II keine Berücksichtigung gefunden haben.



[15] Mit dieser Aussage möchte ich nicht Probleme negieren, sondern zum Ausdruck bringen, daß sie für diesen Moment in den Hintergrund treten können.

1. Die Wirklichkeit des Geistes

"Die Wirklichkeit des Geistes aber ist uns nicht ohne den Menschen gegeben; alles uns gegebene Geistige hat seine Wirklichkeit in ihm" (Buber, 1960, S. 10).

Den Geist im Buber'schen Sinn gibt es nur in Zusammenhang mit dem Menschen. Er wird Wirklichkeit im Menschen und der Mensch ist Mensch durch den Geist. Dieser Geist umhüllt uns zeitlos, manifestiert sich im Menschen und weht im "Zwischen". Er gibt die Richtung an zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Gott und befähigt uns zu unserer Bestimmung - Beziehung. Der Geist ist nicht eine philosophische Überzeugung, sondern existenzverbindlich in jedem Menschen, d.h. ich bin mit jedem Menschen und allem Seienden durch den gemeinsamen Geist dialogisch verbunden.

Buber betrachtet die Beziehung zu den Dingen und Tieren, zu denen ja auch ein Du-Sagen stattfinden kann und auch eine Erwiderung, als die Vorschwelle der Mutualität (Gegenseitigkeit). Die Schwelle ist das Ich-Du-Verhältnis zwischen Menschen, und die Sphäre des Geistes nennt er die Überschwelle, die des Balkens, der die Tür oben deckt. Diese Sphäre des Geistes ist in zwei Bezirke geteilt:

Was an Geist schon in die Welt eingegangen ist und wahrnehmbar und zeigbar ist.

Das, was an Geist bereit ist, in die Welt einzugehen. Dieser Bereich ist noch nicht wahrnehmbar, leuchtet aber in kaum beschreibbaren Vorgängen im Leben des Menschen auf, denen Geist als Begegnung widerfuhr (s. Buber, 1994, S. 123-126).

"Wer in der Beziehung steht, nimmt an einer Wirklichkeit teil, das heißt: an einem Sein, das nicht bloß an ihm und nicht bloß außer ihm ist. Alle Wirklichkeit ist ein Wirken, an dem ich teilnehme, ohne es mir eignen zu können. Wo keine Teilnahme ist, ist keine Wirklichkeit[16]. Wo Selbstzueignung ist, ist keine Wirklichkeit. Die Teilnahme ist um so vollkommener, je unmittel-barer die Berührung des Du ist.

Das Ich ist wirklich durch seine Teilnahme an der Wirklichkeit. Es wird um so wirklicher, je vollkommener die Teilnahme ist" (ebd., S. 65f).

Der Geist ist Wirklichkeit und die Teilnahme an der Wirklichkeit geschieht durch den Geist; den Geist, "der sich dem Menschen antut" und in ihm als potentiell antwortender Funke vorhanden ist.

Die Offenbarungen Gottes (bzw. der Geist) werden nicht ausgeschüttet, sondern sie tun sich dem Menschen an. Sie ergreifen sein ganzes Element in all seinem Sosein und verschmelzen damit (s. ebd., S. 118).

Wenn ich Geist mit der Offenbarung Gottes gleichsetze, so will ich damit ausdrücken, daß es bei Buber nicht um eine religiöse Gebundenheit geht, sondern um eine "neutrale" Macht, die den Menschen in seiner Ganzheit anfragt, unabhängig von weltanschaulichen oder religionsgebundenen Regeln oder Dogmen (s. Reichert, 1996, S. 9). Wie ich bei den

Begriffserklärungen schon angeführt habe, sehe ich bei Buber keinen Unterschied zwischen dem "Heiligen" und dem "Geistigen". Das Geistige ist das Erbe des Heiligen (s. ebd., S. 36).

Der Geist bildet keinen Bereich außerhalb des alltäglichen Lebens, sowie auch "das Heilige" im Alltäglichen seinen Platz hat. Es ist nicht Herausnahme, Heraustritt, Ekstase und bedarf auch keiner Abtötung oder Sublimierung der Triebe. So ist das Geistige nicht eine eigene Sphäre, auf die man sich zurückzieht, und es soll auch das Leben nicht bestimmen, auf daß es nicht unecht werde.

"Wenn das Religion ist, so ist sie einfach alles, das schlichte gelebte Alles in seiner Möglichkeit der Zwiesprache" (Buber, 1986, S. 60).

Nach chassidischer Auffassung ist die Zuwendung zu Gott die Zuwendung zu den Dingen des Alltags. Wenn eine Trennung erfolgt, erkrankt der Kontakt mit den Dingen und Wesen. "Die chassidische Lehre von dem heiligen Umgang mit allem Seienden widerspricht dieser Zersetzung der lebendigen Begegnungskraft als dem fortschreitenden Ausweichen des Menschen vor der Begegnung mit Gott in der Welt" (Reichert, 1996, S. 37).

Ausweichen vor der Begegnung mit Gott, Ausweichen vor dem Zulassen des Geistes, Ausweichen vor der Beziehung mit Menschen - eine Verkettung, die zu Leid, Krankheit, "Heillosigkeit" führt.

"Der Geist wird nicht im Hain gesponnen, er west von je, und das Leben kann ihn in die menschliche Wirklichkeit aufnehmen. Ein Leben, das nicht zu verwirklichen sucht, was der Lebende im Grunde seiner Selbstbesinnung als das Rechte meint oder ahnt, ist nicht bloß des Geistes unwert, auch lebenswert ist es nicht" (ebd., S. 37).

Buber vertraut auf die geistgeleitete natürliche Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen und auf die Kraft der Selbstbesinnung. Wir sind in der Lage, das Rechte zu erkennen und dann ist es ein Anliegen des Geistes, davon Zeugnis abzulegen.

So wie der Glaube nicht ein Gefühl in der Seele des Menschen ist, sondern sein Eintritt in die Wirklichkeit, in die ganze Wirklichkeit ohne Abstrich und Verkürzung, so will auch der Geist ins Leben und schreibt dem Leben nicht vor, wo es ihn einlassen soll. Und so wie das Rot weder dort in den Dingen, noch hier in den Seelen leuchtet, sondern aus dem Aneinandergeraten beider - ein rotempfindendes Auge und eine roterzeugende Schwingung - so leuchtet der Geist durch Beziehung in unserem Leben auf (s. Buber, 1994a, S. 7-11).

Es ist nun klar, daß mit Geist nicht das gemeint ist, was wir herkömmlich mit "geistigem Leben" bezeichnen: Philosophieren, Lesen, Denken, usw. (in Abgesondertheit und unter Vernachlässigung der Beziehungen) - im Gegenteil, damit entfernen wir uns vom Geist in der Wirklichkeit des täglichen Lebens. Der Geist leuchtet auf, wenn zwei gegenüberseiende Wesen in Beziehung treten; physikalisch gesprochen, wenn sie sich "reiben". Geist wird nicht erzeugt, sondern er ist immer schon da und wartet darauf, in Begegnungen verwirklicht zu werden.



[16] Ein ähnlicher Terminus wird in der Quantenphysik verwendet.

2. Beziehungsgeschehen im Geist

Zumeist meint man, wenn man von einer fortschreitenden Entwicklung des geistigen Lebens redet, die stete Ausbildung der Fähigkeit von Generation zu Generation. "Wobei man sich freilich der eigentlichen Sprachsünde wider den Geist schuldig macht; denn jenes >geistige Leben< ist zumeist das Hindernis für ein Leben des Menschen im Geist und bestenfalls die Materie, die darin, bewältigt und eingeformt, aufzugehen hat.

Das Hindernis. Denn die Ausbildung der erfahrenden und gebrauchenden Fähigkeit erfolgt zumeist durch Minderung der Beziehungskraft des Menschen - der Kraft, vermöge deren allein der Mensch im Geist leben kann" (Buber, 1994, S. 40f).

Das, was wir oft unter "geistigem Leben" meinen, entwickelt sich auf Kosten der Beziehungskraft. Der Geist, von dem hier die Rede ist, bedarf nicht des Studiums, wohl aber des Sich-Einlassens. Dann erfolgt Führung von innen her und "Umkehr" zum Wesentlichen. Ein ständiges Betonen des Geistigen, ein Rückzug auf geistige Gebiete gefährdet das Beziehungsgeschehen und kann zu einer "Verkehrung" des Geistes führen, wovon bei der Sünde gegen den Geist noch die Rede sein wird. Die Beschäftigung mit dem Geist darf nicht Verdrängung sein, sondern soll verwandelnd in das Leben eingreifen. Auch die Wissenschaft muß die Beziehungen, die Zwischenmenschlichkeit berücksichtigen, um einen Wert für das Leben zu schaffen. Der Geist ermöglicht Antworten, wo der Mensch angefragt ist.

"Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. ... Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. Vermöge seiner Beziehungskraft allein vermag der Mensch im Geist zu leben" (ebd., S. 41).

Beziehungskraft entsteht und wächst durch den Geist und infolge der Beziehungskraft kann der Mensch im Geist leben. Gelungene Beziehungen vermehren die Beziehungskraft des einzelnen und vermehren den Geist, der bereit ist in die Welt einzugehen. Leider ist das eine Verkettung und Verstärkung, die auch im Negativen wirkt. Jede mißglückte Beziehung vermindert die Beziehungskraft. Aber die Wirklichkeit des Geistes ist jederzeit gegeben und somit auch die Beziehungsmöglichkeit. Eine Gegebenheit, derer sich die Psychotherapie bedient (z.B. die Übertragung in der Psychoanalyse).

Der Beziehungsvorgang spielt sich zwischen dem Du und dem Es ab. Das Du muß immer wieder Es werden. "Denn so wird Erkenntnis, so wird Werk, so wird Bild und Vorbild in der Mitte der Lebendigen. Was aber so zum Es sich gewandelt hat, dem ist, dem zum Ding unter Dingen Erstarrten, der Sinn und die Bestimmung eingetan, daß es sich immer wieder entwandle. Immer wieder - so war es gemeint in der Stunde des Geistes, als er sich dem Menschen antat und die Antwort in ihm zeugte - soll das Gegenständliche zu Gegenwart entbrennen, einkehren zum Element, daraus es kam, von Menschen gegenwärtig geschaut und gelebt werden" (ebd., S. 42).

John Taylor schreibt - Buber folgend - daß der Geist das ist, "was dazwischen liegt". Er macht Getrenntheit und Verbundenheit, Distanz und Beziehung, also das, was das Menschsein auch ausmacht, wirklich durchführbar und lebbar - den immer wieder-kehrenden Wechsel zwischen Ich-Du und Ich-Es (s. Taylor, 1995, S. 8).

"I recognize, I respond, I fall in love, I worship - yet it was not I who took the first step" (ebd., S. 17). (Ich erkenne, ich antworte, ich liebe, ich bete an - aber nicht ich tat den ersten Schritt.) In jeder solchen Begegnung ist da ein Dritter, der den Anstoß gibt, der als "go-between" handelt, der zwei Wesen sich gegenseitig bewußt werden läßt, der eine gegenwärtige Beziehung zwischen den beiden herstellt. Dieser unsichtbare Geist der Verbindung steht aber nicht nur einfach zwischen uns, er aktiviert jeden von innen. Er wandelt das Es in ein Du. Diese Du-Erfahrung erfolgt gnadenhaft. Es liegt in seiner Natur, daß sie unerwartet kommt. Und wenn sie nicht kommt, ist das kein Grund, sich schuldig zu fühlen (s. ebd., S. 15).

Taylor schreibt hier von einem Mißverständnis, vor dem auch Buber warnt, und das mir sehr wichtig ist, zu betonen: Die Ich-Du Beziehung kann nicht gewollt herbeigeführt und "kultiviert" werden, sondern sie wird einem zuteil. "Der Geist tut sich mir an". Es hat also keinen Sinn, Schuldzuweisungen hereinzubringen. Was man allerdings tun kann, ist, sich an den Ort der Möglichkeiten zu begeben, und das ist die Gemeinschaft - für mein Anliegen natürlich im besonderen die Gemeinschaft mit behinderten Menschen. Es gilt auch, die Sinne wachzuhalten und zu verfeinern und nach dem Geist zu verlangen. Das Sich-Einlassen kann wohl nur momentweise gelingen und bleibt im übrigen eine Sehnsucht.

"Sondern die Sehnsucht geht nach der welthaften Verbundenheit des zum Geiste aufgebrochenen Wesens mit seinem wahren Du" (Buber, 1994, S. 29).

Das Ich-Du-Erlebnis ist wie eine Offenbarung (theophanie), von der man nur den Ort kennt, und der Ort ist die Gemeinschaft (s. Taylor, 1995, S. 16). Wer sich nicht in die Gemeinschaft begibt, hat wenig Chance auf das "Schauen des Gegenübers". Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Zugewandtheit zu den Menschen, die aufgrund ihrer Einstellung und ihrer Haltung vielleicht, öfter zu solchen Erlebnissen kommen. Auf der Suche sein, die Sehnsucht wachhalten und sich nicht mit der Eswelt begnügen, wie Buber betont:

"Die Erfüllung dieses Sinns und dieser Bestimmung wird von dem Menschen vereitelt, der sich mit der Eswelt als einer zu erfahrenden und zu gebrauchenden abgefunden hat und nun das in ihr Eingebundene, statt es zu lösen, niederhält, statt ihm zuzublicken, beobachtet, statt es zu empfangen, verwertet" (Buber, 1994, S. 42).

3. Erkenntnis im Geist

"Erkenntnis: Im Schauen eines Gegenüber erschließt sich dem Erkennenden das Wesen. Er wird, was er gegenwärtiglich geschaut hat, wohl als Gegenstand fassen, mit Gegenständen vergleichen, in Gegenstandsreihen einordnen, gegenständlich beschreiben und zergliedern müssen; nur als Es kann es in den Bestand der Erkenntnis eingehen. Aber im Schauen war es kein Ding unter Dingen, kein Vorgang unter Vorgängen, sondern ausschließlich gegenwärtig" (Buber, 1994, S. 42f).

Im Geist der Beziehung geschieht Erkenntnis. In diesen Momenten des "Schauens" können Bewußtseinsänderungen herbeigeführt werden. Es kann zu Wendepunkten im Leben kommen, die geschichtliche Auswirkungen haben. Ungeheure Kräfte sind am Werk, die die Welt verändern können.

"One might say that a flash of recognition has a higher voltage than a flash of lightning, that the power that makes us suddenly aware is the secret of all evolution and the spark that sets off most revolutions" (Taylor, 1995, S. 16). (Man könnte sagen, daß die momentane Erkenntnis heller leuchtet als ein Blitzstrahl, und daß die Kraft des plötzlichen Bewußtwerdens das Geheimnis der Evolution ist und der Funke, der die meisten Revolutionen auslöst.)

Was geschieht, wenn eine Mutter ihr Kind nicht hergibt, obwohl es vor der Geburt zur Adoption bestimmt war? Welche Kraft ist am Werk, wenn Eltern ihr schwerstbehindertes Kind jahrelang hingebungsvoll betreuen? (s. Kreuz-Abnahme w. u.). Was bewirkt, daß eine LehrerIn - gegen Widerstände der Schulbehörde - ein behindertes Kind in ihre Klasse aufnimmt? Welche Macht verursacht, daß ich auf eine Weise sehe, wie ich vorher nicht gesehen habe? Was macht eine Landschaft oder eine Person oder eine Idee lebendig und wird Gegenwart, der ich mich hingebe? Es ist der Geist, der durch das Du-sagen zur Erkenntnis, zur intensivsten Beziehung führt - zur Liebe.

Das Schauen wird in die Es-Form der begrifflichen Erkenntnis eingeschlossen. Daraus kann und muß es jederzeit wieder erschlossen und gegenwärtig geschaut werden. Damit wird der Sinn des Erkenntnisaktes - zwischen Menschen Wirkliches und Wirkendes - erfüllt. Aber man kann das Es Gewordene - das so beschaffene Ding - als Es belassen, als Es erfahren und als Es gebrauchen. Am besten läßt sich das an einem Kunstwerk verdeutlichen. Wenn ich es nur als Ding bestehend aus Farben oder Tönen ansehe oder anhöre, erschließt sich mir nicht der Sinn dieses Werkes speziell für mich. Erst wenn ich staunend und gegenwärtig in Beziehung trete, wenn ich schaue, höre, ohne Beurteilung, Einordnung und Vergleichung, tut sich mir eine Ganzheit, vielleicht ein Moment des Glücks auf. Das Du erscheint, spricht dich an und du antwortest. Im Schauen erschließt sich die Gestalt. Was zu Gebilde gebannt war, was schläft, wenn niemand es schaut, erwacht im Schauen (s. Buber, 1994, S. 43f).

Das Erkannte will festgehalten werden. Es soll nicht wieder verloren gehen. Dazu muß es zum Es werden. In unserer Kultur vielleicht zu schnell, zu "ungeschaut", vielleicht auch zu endgültig, so daß es sich für lange Zeit nicht mehr ins Du wandeln kann.

Für das Erlebnis des "Schauens" braucht es Aufmerksamkeit, Bereitschaft, Da-sein. Im Geist zu leben, heißt präsent zu sein, offen zu sein, mich und das andere wahrnehmen zu wollen und daraus zu handeln. Dann ist der Willkür, von der im nächsten Zitat die Rede ist, Einhalt geboten. Die Willkür, die oft der Stärkere über den Schwächeren ausübt, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Im Geist der Erkenntnis, im Geist der Kunst und im Geist des reinen Wirkens - Handlung ohne Willkür - erscheint aus tieferem Geheimnis das Du, spricht den Menschen selber an, und er antwortet mit seinem Leben. Das Wichtige ist nicht was da ist, oder was da sein soll, sondern wie im Geist, im Angesicht des Du, gelebt wird, damit der Geist auf Erden nicht sterbe (s. ebd., S. 44).

Wie kann im Geist, im Angesicht des Du gelebt werden? Das ist wohl eine lebenslange Suche nach dem Sinn des Lebens (Du?) und nach weltanschaulichen Paradigmen und Begründungen (Es?).

Viktor Frankl beschreibt etwas ähnliches in seiner Anleitung zur Sinnsuche: Realität wahrnehmen - Möglichkeiten auf ihren Wert prüfen - auf dem Hintergrund meiner Möglichkeiten wählen - wirklich machen: gelebter Sinn. Auch dabei geht es hauptsächlich um Beziehung, denn der Mensch kann lt. Frankl nicht "nicht"- in-Beziehung-stehen.

Auf mein Thema angewandt lautet die Frage: Wie leben wir mit Behinderten im Angesicht des Geistes? Ist Aussonderung oder gar Infragestellen des Lebensrechtes angesichts des Geistes lebbar? Der Hintergrund der Möglichkeiten oder der Hintergrund der Geistesgeschichte spielt dabei natürlich eine große Rolle. Aber vielleicht nähern wir uns jetzt einer Zeit im Sinne einer nächsten Stufe, in der Aussonderung überwunden werden kann.

Oft wird damit argumentiert, daß die Rahmenbedingungen noch nicht passen, die Ausbildung der Lehrer, die Räumlichkeiten, die Behelfe usw. "Wichtig ist nicht, was da ist, oder was da sein soll, sondern wie im Geist, im Angesicht des Du, gelebt wird". Natürlich sind Rahmenbedingungen wichtig und es muß vehement daran gearbeitet werden, aber sie sollten nicht als Ausrede gegen die Integration ausgespielt werden. In keinem Bereich kann mit Idealbedingungen begonnen werden. Nicht das Es ist zuerst, sondern das Du.

"Das Volk verwirklicht in Bubers Sinn den Geist, das in den Beziehungen seiner Mitglieder Gerechtigkeit und Friede verwirklicht" (Reichert, 1996, S. 125).

Vielleicht können wir im Geist der Erkenntnis und im Geist der Beziehung auch eine Brücke (Brücke = Zwischen) über unsere Grenzen hinaus erahnen. Ich glaube, daß dieser Geist auf Erden auch das verbindende Element zu einem vollendeten Leben nach dem Tod ist. Ich könnte mir vorstellen, daß die bestehenden menschlichen Beziehungen ohne unsere diesseitigen Grenzen und Einengungen bestehen bleiben.

"Der Zweck der Beziehung ist ihr eigenen Wesen, das ist: die Berührung des Du. Denn durch die Berührung jedes Du rührt ein Hauch des ewigen Lebens uns an" (Buber, 1994, S. 65).

4. Entscheidung im Geist

"Die Vertiefung und Bestätigung der Entscheidungslosigkeit ist die Entscheidung zum Bösen" (Buber, 1986a, S. 28).

Durch den Geist der Erkenntnis, das Wissen um "gute" und "schlechte" Dinge in der Welt, das Wissen um die Gegensätzlichkeit und das Wissen um die Freiheit, wissen wir auch um das Sich-Entscheidenmüssen.

In seinem Buch "Bilder von Gut und Böse" schreibt Buber, daß erst durch den Akt der Erkenntnis das Böse entstanden ist. Kain konnte erst nach der Tat erkennen, was er getan hatte. Vorher gab es keinen Tod und somit auch keinen Mord.

Die biblischen ersten Menschen sind durch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen an die Gegensätzlichkeit dieser Welt ausgeliefert, aber noch nicht an die Entscheidung zwischen Gut und Böse, weil es Gut und Böse noch nicht gibt. Die Entscheidung ist eine zwischen einer guten Gesinnung (Gehorsam) und ihrem Fehlen, was ein Mangel an der Richtung auf Gott zu ist.

Kain hat Gott auf dessen Anruf nicht geantwortet und aufgrund dieser "Entscheidungslosigkeit" das Böse herbeigeführt. Er hat sich nicht gegen Gott entschieden, sondern ihn ignoriert und aus einem Anlaß heraus, im "Wirbelsturm der Entscheidungslosigkeit", auf seinen Bruder losgeschlagen; daß er Abel damit töten konnte, wußte er nicht. Die Entscheidung zum Bösen ist erst ein Zweites und wesentlich seltener als die Entscheidungslosigkeit (s. Buber, 1986a, S. 11-29).

Entscheidungslosigkeit führt demnach zum Bösen, weil es eine Nichtentscheidung für das Gute ist. Auch über dem "Chaoswirbel der Entscheidungslosigkeit" schwebt der Geist und ist bereit, in die Wirklichkeit einzutreten. Dann genügt es aber noch nicht, eine Entscheidung zugunsten des "Erkannten" zu treffen, sondern die Kraft dessen, wogegen wir uns entschieden haben, muß in die Für-Entscheidung einfließen, sonst ist die Entscheidung kraftlos und halbherzig.

"Nur wer Beziehung kennt und um die Gegenwart des Du weiß, ist sich zu entscheiden befähigt. Wer sich entscheidet, ist frei, weil er vor das Angesicht getreten ist. ... Nun aber erst hebt die Verwirklichung in mir an. Denn nicht das hieße entschieden haben, wenn das Eine getan würde und das Andere bliebe gelagert, erloschne Masse, und verschlackte mir die Seele Schicht auf Schicht. Sondern nur wer die ganze Kraft des Anderen einlenkt in das Tun des Einen, wer in das Wirklichwerden des Gewählten die unverkümmerte Leidenschaft des Ungewählten einziehen läßt, nur wer >Gott mit dem bösen Triebe dient<, entscheidet sich, entscheidet das Geschehen. Hat man dies verstanden, so weiß man auch, daß eben dies das Gerechte zu nennen ist, das Gerichtete, wozu sich einer richtet und entscheidet; und gäbe es einen Teufel, so wäre es nicht, der sich gegen Gott, sondern der sich in der Ewigkeit nicht entschied" (Buber, 1994, S. 54f).

Wir müssen uns immer neu entscheiden, denn es gibt keine absolute Wahrheit, sondern nur die Idee der Wahrheit. Auch Werte haben nur Hypothesencharakter und sind immer neu zu verifizieren. Letzte Wertmaßstäbe können zwar mit Hilfe sachlich-logischer Analyse noch offengelegt werden, sind aber danach eine persönliche Angelegenheit und eine Sache des Gewissens und der Entscheidung (s. Weber, 1982, S. 151).

Wenn wir uns entschieden haben, gilt es, die Erkenntnisse in Einstellungen, Haltungen und im Handeln umzusetzen. Verbale Bekenntnisse kapitulieren oft vor den Anforderungen und Schwierigkeiten der Umsetzung. Gerade im Bereich der Integration Behinderter ist die Diskrepanz groß. Die derzeitige Gegebenheit beider Möglichkeiten, Sonderschule und Integrationsklassen, läßt die Kraft der Entscheidung vermissen. Die Zweigleisigkeit kommt zudem teurer, was gerne so dargestellt wird, daß die Integration kostenintensiver ist als Sondereinrichtungen. Es gibt Untersuchungen, die zu einer Kostenneutralität gelangen und auf lange Sicht sogar zu einer Kostenverminderung. Abgesehen davon würde eine eindeutige politische Entscheidung für die Integration Behinderter und ihre Umsetzung, Zweifeln und Unentschlossenheiten, die viel Energie brauchen, entgegenwirken.

Die Erkenntnis wird sich zur Entscheidung durchringen, auch wenn es lange dauert. Ich folge diesbezüglich der Meinung Herbert Vorgrimlers:

Aus der Erkenntnis erwächst das Bemühen, die Verhältnisse menschlich zu gestalten. Dieser Geist gibt uns Ahnungen über gelungene menschliche Beziehungen, Füreinandersein und nicht zuletzt, Ahnungen über eine grenzenlose Freiheit. "Er erwirkt alles Positive, das in diesem Leben zustande gebracht wird. So ist er, 'ausgegossen über alles Fleisch' (Joel 2,28), die geheime Antriebskraft dieser Menschheitsgeschichte - und doch nicht siegreich, solange diese Geschichte dauert" (Vorgrimler, 1983, S. 187).

Der Geist kann nicht siegreich sein in unserer Welt. Wir können nicht zu einem Idealzustand gelangen, aber wir können einen solchen anstreben und dadurch Schritte in die richtige Richtung machen. Buber schreibt, daß der Geist zu verschiedenen Geschichtszeiten unterschiedlich stark wirksam ist: Es gibt Zeiten des Fortschreitens des Geistes und Zeiten, in denen er zurückgedrängt wird.

"Es gibt aber eine qualitative Verschiedenheit der Geschichtszeiten. Es gibt ein Reifwerden der Zeit, wo das niedergehaltene, verschüttete wahre Element des Menschengeistes zu unterirdischer Bereitschaft gerät, in solcher Drängung und solcher Spannung, daß es nur einer Berührung des Berührenden harrt, um hervorzubrechen" (Buber, 1994, S. 119).

In solchem Reifwerden (Du-werden) der Zeit erscheint das wesende Wort. Die Verbundenheit von Ich und Welt wird erneuert. Der Geist ist an immer mehr Orten und antwortet durch ein Schauen, ein bildendes Schauen. Umkehr und nicht Willkür ist angesagt. Es gelingt die Mischung von Göttlichem und Menschlichem. Zu anderen Zeiten wird das Wort zersetzt. Die Religionen entarten (Es-werden), die Beziehungskraft wird verschüttet, die Umkehr niedergehalten. Der menschliche Kosmos zerfällt. Es geschieht Entwirklichung - Verfremdung (s. ebd., S. 118ff).

Wie auch in Teil I dargestellt, gibt es Zeiten, in denen der Geist "auf Erden haust" - und Zeiten, in denen er sich zurückzieht. In welcher Zeit wir gerade leben, läßt sich aus der Gegenwart kaum beurteilen. Es gibt Zeichen für das eine als auch für das andere. In Bezug auf mein Thema sind es einerseits die Bestrebungen nach einem menschenwürdigen Leben für Behinderte und andererseits das Wiederaufleben von abwertenden Tendenzen. Ich persönlich bin überzeugt, daß die Integrationsbewegung "vom Geist berührt" ist und daß die Gemeinschaft, die Humanität überwiegen wird. Es gilt allerdings, sich dafür einzusetzen. Nur Toleranz wäre als Antwort an den Geist zu wenig. Toleranz muß übergehen in Anerkennung (Goethe). Und die Anerkennung kann nicht Privatsache bleiben, sondern ist politisch umzusetzen.

Die Entstehung der Welt geschieht immer neu im Du-sagen, im Erkennen, im Entscheiden und dem daraus resultierenden Handeln. Dabei kommt es auf jeden einzelnen an.

"Den Selbst-Sinn, das nicht mit in die Welt Einbeziehbare, trage ich in mir. Den Seins-Sinn, das nicht mit in die Vorstellung Einbeziehbare, trägt die Welt

in sich. ... Die Entstehung der Welt und die Aufhebung der Welt sind nicht in mir; sie sind aber auch nicht außer mir; sie sind überhaupt nicht, sie geschehen immerdar, und ihr Geschehen hängt auch mit mir, mit meinem Leben, meiner Entscheidung, meinem Werk, meinem Dienst zusammen, hängt auch von mir, von meinem Leben, meiner Entscheidung, meinem Werk, meinem Dienst ab" (ebd., S. 95f).

5. Die Sünde am (Heiligen) Geist

"Wenn sich der Mensch aber dem 'Anspruch der Andersheit' nicht aussetzt, wenn er den Geist, dessen Gebiet das 'Zwischen' ist, nur auf sich selbst zurückbiegt und sich als Einzelwesen genügt, wird der Geist zum Gegenspieler des Menschentums. "Kein anderer als der Geist selber begeht, abgeschnürt, die Sünde am heiligen Geist"(Buber, 1986, S. 87).

Was ist gemeint mit der Sünde am heiligen Geist, die der Geist selbst begeht? Hat sie damit zu tun, daß wir durch den Geist zwar erkennen können, aber manches nicht erkennen wollen, weil die Umsetzung mit Konsequenzen, mit Verzicht, mit Mühsal zu tun hat? Wenn ich mich in dieser Arbeit mit Menschsein, Beziehung, Dialogik, Geist usw. theoretisch auseinandersetze und zu Erkenntnissen komme, die eindeutig auf Lebensrecht und Integration aller Behinderter (und aller anderen Minderheiten) hinausgehen, selbst aber Menschen diskriminiere, kann der Geist keine Wirkung zeigen, und er wird ad absurdum geführt.

Ganz kurz will ich den Gedanken hier ein wenig freien Lauf lassen. Die "Sünde gegen den Geist" - den Geist der Beziehung und den Geist der Erkenntnis, der ja ein und derselbe ist - scheint sehr verbreitet zu sein, wie unzählige Beispiele aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und natürlich auch aus dem Privatleben vermuten lassen. Die atomare Abrüstung geht nur langsam vonstatten, obwohl wir über die nicht wiedergutzumachende Zerstörungskraft wissen. Erkenntnisse über die Schäden, die wir der Umwelt zufügen, finden nur wenig Entsprechung. Wissenschaftler arbeiten - ungeachtet der ethischen Dimension - an der Manipulation des menschlichen Genoms - um nur einige populäre Bereiche anzusprechen. Auch im kleinen handeln wir oft wider besseres Wissen, insbesondere, wenn wir die Würde eines Menschen - auch unabsichtlich - mißachten oder es tolelrieren (s. Verwirklichung der Menschenrechte), usw.

Der Geist wird aus Gewinnsucht, Egoismus und Trägheit auf uns selbst zurückgebogen. Kein Ich-Du, nur Ich.

Biblisch gesehen ist die Sünde gegen den Geist die Weigerung, das vom Heiligen Geist angebotene Heil anzunehmen, und als solche ist sie nicht verzeihbar. "Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, die Lästerung des Geistes aber wird nicht vergeben werden ... weder in dieser noch in der zukünftigen Welt". (Mt. 12.31,32). Im Brief an die Hebräer (Hebr. 10.26-31) heißt es: "Wenn wir nämlich mutwillig sündigen, nachdem wir die klare Erkenntnis der Wahrheit erkannt haben, dann bleibt kein Opfer für die Sünden mehr übrig ...".

Und im Katechismus der Katholischen Kirchen wird die Sünde folgendermaßen definiert: "Die Sünde ist eine Handlung, die der Vernunft widerspricht. Sie verwundet die Natur des Menschen und beeinträchtigt die menschliche Solidarität" (Katechismus, 1993, S. 491).

Mit diesen Zitaten will ich nicht "ewige Höllenqualen" heraufbeschwören, sondern die Wichtigkeit des Handelns nach der Erkenntnis betonen. Es geht auch nicht darum, zu richten (wem stünde es zu?) sondern aufzuzeigen, daß das Handeln gegen den Geist, gegen die Erkenntnis, gegen die Beziehung, den Menschen beeinträchtigt und verletzt und damit der Welt Schaden zufügt. Jedes Nein zur Beziehung (Beziehungsgeschehen in seiner Politarität von Aktualität und Latenz gemeint) verletzt mein Gegenüber und drängt mich selbst ein Stück weiter in die Einsamkeit.

Zur Sünde am Geist wird auch seine Verkehrung, wie sie sich im Selbst-Widerspruch niederschlägt:

"- Wenn der Mensch das Apriori der Beziehung nicht an der Welt bewährt, das eingeborene Du nicht am begegnenden auswirkt und verwirklicht, dann schlägt es nach innen. Es entfaltet sich am unnatürlichen, am unmöglichen Gegenstand, am Ich; das heißt: es entfaltet sich da, wo es gar keinen Ort zur Entfaltung hat. So entsteht das Gegenübertreten in sich selbst, das nicht Beziehung, Gegenwart, strömende Wechselwirkung, sondern nur Selbstwiderspruch sein kann. ... Hier ist der Rand des Lebens. Ein Unerfülltes ist hier in den wahnwitzigen Schein einer Erfüllung geflüchtet; nun tastet es in den Irrgängen umher und verliert sich immer tiefer" (Buber, 1994, S. 72f).

Damit soll nicht gesagt sein, daß der Mensch sich nicht zurückziehen darf. Es gibt Zeiten in denen der Mensch einsam sein muß - in die Wüste gehen muß - um sich zu sammeln, auch um nachzudenken und zu entspannen (um nicht reagieren zu müssen). Es geht um die Beibehaltung der Richtung zum Du, um das Aufrechterhalten der Beziehungen im Hintergrund.

" - Es gibt zweierlei Einsamkeiten, nach dem, wozu sie sich wendet. Ist Einsamkeit der Ort der Einigung, wie sie auch dem Verbundenen nottut, ehe er das Allerheiligste betritt, wie sie ihm aber auch mitten in seinen Proben, zwischen dem unvermeidlichen Versagen und dem Aufstieg zur Bewährung nottut: dazu sind wir beschaffen. Ist sie jedoch die Burg der Absonderung, wo der Mensch mit sich selbst Zwiesprache führt, nicht um sich für das Erwartende zu prüfen und zu meistern, sondern im Selbstgenuß seiner Seelenfiguration: dies ist der eigentliche Abfall des Geistes zur Geistigkeit" (ebd., S. 105f).

Kurzer Exkurs zum Selbst:

Im Symbolischen Interaktionismus (George Herbert Mead, 1863-1931) hat der Mensch ein Selbst, das mit sich selbst interagieren kann und zwar auf eine soziale Art - eine Kommunikationsform, in der die Person sich selbst als eine Person anspricht und darauf antwortet. Man zeigt sich selbst etwas an, ist mit sich selbst ärgerlich, treibt sich selbst an usw. Das Handeln wird danach ausgerichtet. Durch die Interaktion mit sich selbst steht der Mensch in einer ganz andersartigen Beziehung zu seiner Umgebung als das Tier. Der Mensch setzt sich mit dem was er wahrnimmt aktiv auseinander. Sein Verhalten ist keine Reaktion auf das, was er wahrnimmt, sondern es ist eine Handlung, die aus der Interpretation hervorgeht, die im Selbst-Anzeigen vorgenommen wurde. Der Mensch handelt sich selbst gegenüber und handelt anderen gegenüber so, wie er sich selbst sieht (s. Blumer, 1973, S. 92-94).

Ob diese Sichtweise des Symbolischen Interaktionismus dem entspricht, was uns Buber in Bezug auf die Rückbiegung des Geistes sagt, wäre eine eigene Untersuchung wert, die ich hier nicht führen kann. Der Mensch steht auch in diesem Denkmodell immer in Beziehung. In Beziehung zu sich selbst und durch sich zu anderen. Allerdings kann ich mit meinem Spiegelbild keine Beziehung im Sinne von Du-Sagen haben. Ich werde also selbst zum Es (majestätischer Plural; Papst: Wir - Ich und die Wahrheit). Auch das "Schauen" des Gegenübers ist nicht möglich, wenn jedes Andere durch meine Interpretation gemessen und bewertet und somit zum Es wird, noch bevor ich Du-sagen kann.

Ganz kurz erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch C. G. Jung, (Mit ihm hat Buber eine Diskussion über den Gottesbegriff geführt, die einer Vergegnung gleichkommt.)

Bei Jung ist das Selbst das Ziel des Individuationsprozesses, des Ganzwerdens. Ein Ziel, das die Dauer des Lebens mit Sinn erfüllt. Es ist eine Lebensaufgabe, aus dem Selbst herauszuwachsen, Ich zu werden und in Beziehung zu treten. Am Ende des Lebens kehrt das Ich wieder zum Selbst zurück. In einer zweiten Bedeutung ist das Selbst der universale vollkommene Mensch der Ur- und Endzeit (das kollektive Unbewußte), der in der Selbstverwirklichung eine Anstrengung für das Menschliche an sich sieht (s. Kast, 1997, S. 13ff).

Und Buber schreibt zum Selbst:

"Irrig ist es, hier von der Individuation allein zu sprechen; diese bedeutet nur das urnotwendig personhafte Gepräge aller Verwirklichung des Menschseins. Nicht das Selbst als solches ist das Letztwesentliche, sondern daß der Schöpfungssinn des menschlichen Daseins sich je und je als Selbst erfülle. Die erschließende Funktion zwischen den Menschen, die Hilfe zum Werden des Menschen als Selbst, das Einander-Beistehn zur Selbstverwiklichung des schöpfungsgerechten Menschentums ist es, das das Zwischenmenschliche zu seiner Höhe führt" (Buber, 1994, S. 291).

Das was wir heute als Selbstverwirklichung so sehr anstreben, ist oftmals das Gegenteil von dem was es sein soll: eine erschließende Funktion zwischen den Menschen, das gegenseitige Helfen zum Menschwerden, ein Zugehen auf den Menschen.

Buber hat sich auch mit Mystik und östlichen Philosophien wie dem Buddhismus auseinandergesetzt und ist u. a. zu folgendem Schluß über die dort praktizierte Selbstfindung gekommen:

"Alle Versenkungslehre gründet in dem gigantischen Wahn des in sich zurückgebognen menschlichen Geistes: er geschehe im Menschen. In Wahrheit geschieht er vom Menschen aus - zwischen dem Menschen und Dem, was nicht er ist. Indem der zurückgebogne Geist diesem seinem Sinn, diesem seinem Beziehungssinn absagt, muß er Das, was nicht der Mensch ist, in den Menschen hereinziehen, er muß Welt und Gott verseelen. Dies ist der Seelenwahn des Geistes" (ebd., S. 94f).

Einen Mißbrauch des Geistes sieht Buber auch in der Trennung von "Drinnen" und "Draußen": Da - Beziehung, Dort - Distanz. Beziehung aber - Geist - ist nicht abrufbar.

Der Mensch hat den Geist zum Genußmittel präpariert, der je nach Bedarf und Gelegenheit konsumiert wird. Das geht auf Kosten der Beziehungsfähigkeit. Was fängt der Mensch nun mit den ihn umlebenden Wesen an? Er hat sein Leben mit den Mitmenschen in zwei - unter dem Grundwort der Trennung stehende - Reviere geteilt:

Es-Revier

Ich-Revier

Draußen: Einrichtungen, Arbeit, Zweck

Drinnen: Daheim, Gefühle, Erholung

Die Abgrenzung läßt sich zwar nicht permanent durchhalten - Gefühle brechen manchmal in die Es-Welt ein - sie wird aber immer wieder hergestellt (s. ebd., S. 45f).

Erdheim nennt die Trennung zwischen "Familie" und "Kultur" in einem ähnlichen Sinn einen Antagonismus und Anachronismus als Produkt unseres Zivilisationsprozesses. Das Individuum muß in beiden Welten leben und den Widerspruch ertragen. In unserer Zeit sind die Frauen davon am meisten betroffen, weil ihnen die Familie "übergestülpt" ist, sie sich aber auch in der Berufswelt zurechtfinden müssen und wollen. Erst wenn die Männer ihren Anteil am Familienleben übernehmen und den Frauen einen gerechten Anteil an der "Öffentlichkeit" abtreten, wird ein ausgeglicheneres Verhältnis eintreten (s. Erdheim, 1987, S. 65-73).

"Aber das abgetrennte Es der Einrichtungen ist ein Golem und das abgetrennte Ich der Gefühle ein umherflatternder Seelenvogel. Beide kennen den Menschen nicht; jene nur das Exemplar, diese nur den >Gegenstand<, keins die Person, keins die Gemeinsamkeit. Beide kennen die Gegenwart nicht: jene, auch die modernsten, nur die starre Vergangenheit, das Fertigsein, diese, auch die ausdauerndsten, immer wieder nur den huschenden Augenblick, das Nochnichtsein. Beide haben keinen Zugang zum wirklichen Leben. Einrichtungen ergeben kein öffentliches und Gefühle kein persönliches Leben" (Buber, 1994, S. 46).

Diese Trennung von "Drinnen" und "Draußen" ähnlich der viel früher geschehenen Trennung von Körper, Geist und Seele steht der Ganzheit, der Integrität des Menschen entgegen. Die Zivilisation als Es-Welt, die das Du-sagen erschwert, muß fortschreiten, aber wir können Dialogik mit seinen wesentlichen Merkmalen Aktualität und Latenz in alle Lebensbereiche hineinzubringen versuchen. Daß dies nur sehr begrenzt durchführbar ist, ist mir durchaus klar, aber es wäre eine Möglichkeit, dieser "Entmenschlichung" der Betriebe und der "Radikalisierung" der Wirtschaft etwas entgegenzusetzen. Gerade behinderte Menschen in der Arbeitswelt können sehr dazu beitragen, Leistung (im wirtschaftlichen Sinn) zu vermenschlichen; diese Leistung als alleinigen Maßstab für die Qualität eines Menschen zu hinterfragen.

Andererseits braucht es im Bereich des "Drinnen" einer Öffnung nach "Draußen". Gerade Kleinfamilien haben schwer zu tragen an ihrer Isoliertheit, an den Anforderungen "heile Welt" zu leben.

Das ist die Not unseres Zeitalters. Die Menschen leiden unter dieser Trennung und versuchen, Gefühle in die Einrichtungen zu bringen, was daran scheitert, daß die Gefühle unwirklich geworden sind und nicht das Du offenbaren.

"Wahres öffentliches und wahres persönliches Leben sind zwei Gestalten der Verbundenheit. Auf daß sie werden und bestehen, tun Gefühle not, der wechselnde Gehalt, tun Einrichtungen not, die stetige Form, aber auch beide zusammengetan schaffen das menschliche Leben noch nicht, sondern das dritte schafft es, die zentrale Gegenwart des Du, vielmehr, daß ichs wahrer sage, das in der Gegenwart empfangene zentrale Du" (ebd., S. 48).

Ich habe die Mitarbeiter einer Behindertenorganisation, die für Integration eintritt, gefragt, ob sie privat Kontakte zu einer behinderten Person hätten. Das wurde von allen verneint. Es reiche, wenn sie sich in der Arbeit damit beschäftigten. Allerdings kannten sie in ihrem privaten Umfeld auch keine Behinderten. In der Arbeit komme die Beziehung oft aus Zeitmangel (Kosten!) zu kurz. Man sei aber sehr bemüht darum.

Es ist in Sozialberufen notwendig, sich zu distanzieren und abzugrenzen, um effektiv arbeiten zu können und um nicht dem Helfersyndrom zu unterliegen (Heilung der eigenen gebrochenen Identität durch dominierendes Helfen-wollen und Nicht-abgrenzen). Menschen in Sozialberufen haben die Belastung, die Probleme ihrer Berufswelt nicht in ihre Privatsphäre hineinzutragen. Dann sind sie besser in der Lage, ihrer anstrengenden Arbeit nachzugehen. Das ist eine Notwendigkeit, aber es heißt nicht, daß in der Arbeit nicht Du-Beziehungen aufleben können, die natürlich wieder dem Los des Es-werdens unterworfen sind. Und es geht auch darum, Haltungen und Einstellungen zu hinterfragen und nicht zweierlei Maß anzuwenden, für das Privatleben und für die Berufswelt.

Das Ich-Du-Verhältnis zwischen Menschen kann natürlich nicht immer in voller Gegenseitigkeit stattfinden. Es ist der Beschränkung durch unsere Unzulänglichkeit ausgeliefert, aber auch der Beschränkung durch innere Gesetze unseres Miteinanderlebens unterstellt. Die volle Mutualität ist uns Menschen nicht gegeben, sondern ist eine Gnade, der man ab und zu glückhaft innewird. Die volle Mutualität darf sogar nicht immer sein, wenn das Verhältnis zueinander dauern soll; z.B. zwischen Lehrern und Schülern, Betreuern und Betreuten, weil sonst keine Weiterentwicklung, keine Arbeit stattfinden kann. Wohl aber muß der Schüler, der Betreute, in seiner Ganzheit gemeint und bejaht sein, nicht als eine Summe von Eigenschaften, Strebungen und Hemmungen. Die Situation darf nicht nur von seinem Ende aus gesehen werden, sondern auch von dem seines Gegenüber aus in all ihren Momenten erlebt werden. Das Verhältnis muß ein umfassendes sein. Nur so kann erreicht werden, daß auch im Gegenüber das Ich-Du-Verhältnis erweckt wird, daß also auch der Lehrer bzw. Betreuer als diese bestimmte Person gemeint und bejaht ist (s. Buber, 1994, S. 130f).

Hier verweist Buber noch einmal auf unsere Beschränktheit und die Gnadenhaftigkeit der Du-Beziehung. Arbeit im psycho-sozialen Bereich - und auch der vorliegende Text - bleiben beschränkt auf das, was möglich sein könnte und in glückhaften Momenten passiert. Konkrete Anforderungen, die die Lage der Behinderten verbessern können, sind im Teil II formuliert.

Der Mensch, dem die Freiheit bewußt ist, weiß, daß sein sterbliches Leben dem Wesen nach ein Schwingen zwischen Du und Es (Rhythmisches Prinzip) ist, und er spürt dessen Sinn. An der Schwelle des Heiligtums, das er immer wieder verlassen muß, entzündet sich in ihm immer neu die Antwort, der Geist. Hier, im unheiligen und bedürftigen Land, hat sich der Funke zu bewähren. Mit diesem Funken läßt sich die Notwendigkeit der Eswelt ertragen (s. ebd., S. 55f).

6. Vom Geist des Anfangs

Die Gegenwart des Du schwebt - wie der Geist über den Wassern - über der Eswelt. Nutzwille und Machtwille des Menschen wirken naturhaft und rechtmäßig, solang sie an den menschlichen Beziehungswillen geschlossen sind und von ihm getragen werden. Die Zeit kann nicht zurückgeschraubt werden. Nur der Präzisionsapparat dieser Zivilisation ermöglicht der angewachsenen Menschheit das Leben.

Die Wirtschaft (Nutzwillen) und der Staat (Machtwillen) haben teil am Leben, solange sie am Geist teilhaben. Der Geist gibt die Grenze ein. Er schwärmt nicht, sondern er dient der Wahrheit. Er verstößt die Vernunft nicht, sondern hält sie im Schoß. Das Du kann nicht rein verwirklicht werden, sondern muß sich alltäglich am Es bewähren. Deshalb ist täglich neu die Grenze zu ziehen, die Grenze zu entdecken. Nur der Geist kann Arbeit und Besitz erlösen, indem er der Arbeit Bedeutung und Freude verleiht und dem Besitz Ehrfurcht und Opferkraft einströmt. So kann das der Eswelt verhaftete zur Darstellung des Du gelangen (s. Buber, 1994, S. 50ff).

Der Geist ist in und zwischen den Menschen und Dingen und schwebt über der Es-Welt - ein sehr beruhigender Gedanke angesichts des Pessimismus, der uns manchmal niederdrückt.

Am Geist teilhaben, vernünftige Grenzen setzen, die Es-Welt "aufweichen" - keine Schwärmerei - der Geist des Anfangs macht es immer wieder möglich und gibt uns neuen Mut.

Hans Jürgen Baden schreibt von einem Geist des neuen Anfangs, der immer auf uns wartet: "Bei jedem Beginn erfahren wir die Berührung durch eine Macht, die über uns hinausreicht. Die Philosophen sprechen vom Sein, die Gläubigen von Gott; aber wir ahnen, daß sich hinter diesem unterschiedlichen Vokabular die gleiche Wirklichkeit verbirgt. ... Die geheimnisvolle Kraft, von der ich sprach, ist in uns eingetreten, hat sich in uns verzweigt. Wir gewinnen wieder - ich nehme eine Formel von Paul Tillich auf - Mut zum Sein. Dieser Mut zum Sein verwandelt mit einem Schlage die gesamte Landschaft unseres Lebens. Unzählige Neubeginne stehen uns bevor, einer erregender als der andere. Wir widerlegen die melancholische Behauptung, daß es nichts Neues unter der Sonne gäbe und alles längst da gewesen sei" (Baden, 1983, S. 24).

Und weiter: "Auf diese Berührung des Geistes bleiben wir ständig angewiesen. Ohne den schöpferischen Geist geraten wir wie die Fliege ins Netz der Gewohnheit, des Stumpfsinns, des Ekels - und kommen darin um. ... Die Anwesenheit des Geistes entscheidet allein darüber, ob sich das Leben lohnt und ob die Welt noch Verheißungen für uns besitzt" (ebd., S. 26f).

Erstarrte Strukturen, konservative Einrichtungen sträuben sich oft sehr gegen etwas Neues, gegen Veränderungen. Sonderschulen haben sich bewährt, warum also Integration? "Wenn wir es einmal zulassen (zusätzliche Stützlehrerstunden für ein schwerstbehindertes Kind), könnten Dämme brechen" hielt mir der Landesschulinspektor auf meine Anfrage entgegen. Ich hoffe bis heute (acht Jahre), daß Dämme brechen! Immerhin ist Integration in den Grundschulen inzwischen - wenn auch streng geregelt und wohl noch ungeliebt - möglich geworden.

Natürlich hat auch "Bewahrendes" seine Berechtigung. Es wäre nicht sinnvoll, alles Neue sofort zu übernehmen, aber davon kann in den Integrationbemühungen keine Rede sein, denn jahrelange wissenschaftliche Begleitung und Evaluation ist dem Begehren nach einer allgemeinen Einführung vorausgegangen.

Vermutlich geht es bei der Ablehnung von Neuem auch um Macht, erstarrte Positionen, und nicht zuletzt um Bequemlichkeit. [17] Es bedarf des Geistes des Dusagenkönnens, um sich auf etwas Neues einlassen zu können, um vom Kreisen um das eigene Ich abzukommen..

Der Machtmensch antworten auf das Du mit Es. Er nimmt an keiner Wirklichkeit mehr teil und behandelt sich selbst schließlich als Es und gerät in Selbst-Widerspruch (s. ebd., S. 70ff).

"Ob die Einrichtungen des Staates freier und die der Wirtschaft gerechter werden, ist wichtig." Das können sie nicht von sich aus. Das hängt davon ab, ob der dusagende Geist am Leben und an der Wirklichkeit bleibt. Der Geist wirkt mit seiner die Eswelt durchdringenden und verwandelnden Gewalt. ... Der Geist ist wahrhaft >bei sich<, wenn er der ihm erschloßnen Welt gegenübertreten, sich ihr hingeben, sie und an ihr sich erlösen kann. Das könnte die zerstreute, geschwächte, entartete, widerspruchdurchsetzte Geistigkeit, die heute den Geist vertritt, freilich erst, wenn sie wieder zum Wesen des Geistes, zum Dusagenkönnen gediehe" (ebd., S. 52f).



[17] Die Lehrergewerkschaft wehrte sich gegen die Einführung der Integration in Volks- und Hauptschulen mit dem Argument, daß ihr Berufsbild sonderpädagogische Elemente nicht enthalte, und sie sich nicht für den Beruf eines Sonderschullehrers entschieden hätten.

7. Im Geist der Wandlung

Das Kapitel, das ich hier einfüge, ist nicht mit Buber-Zitaten unterlegt, steht aber sehr wohl mit dem Geistbegriff und dem Menschenbild Bubers in engem Zusammenhang - Bewältigung von Leid, Umgang damit im täglichen Leben, Sinnfindung.

7.1 Versuch einer Deutung und Bewältigung von Behinderung und Leid

Jedes Menschenleben ist fragmentarisch und fordert schmerzliche Verluste und Verzichte. Das betrifft auch und oft in besonderem Maße Behinderte und ihre Angehörigen. Die Frage nach dem "Warum" tut sich immer wieder auf. Der Zusammenhang zwischen Gott und dem Leid wird in der Philosophie und Theologie unter dem Begriff "Theodizee" verhandelt. Leibniz unterscheidet drei Arten von Übel:

das metaphysische Übel: Es entsteht aus der geschöpflichen Begrenztheit eines Wesens. Alles Geschaffene ist unvollkommen, denn sonst wäre es wie der Schöpfer göttlich. (Auf Erden ist alles fragmentarisch und wird erst in einer anderen Dimension zur Ganzheit.)

das physische Übel: Schmerz, Leid, Krankheit, Katastrophen. (Es hat auch mit unserer Verwiesenheit auf etwas zukünftig Vollkommenes zu tun und existiert als Gegenpol zu Lust, Glück, Gesundheit, Beständigkeit ...)

das moralische Übel: Es besteht in der Sünde. Als freie Wesen hat Gott die Menschen erschaffen, damit sie sittlich handeln. Die Freiheit wird oft zum Bösen mißbraucht.

Darüber hinaus gibt es noch eine vierte Form des Übels: das erkenntnismäßige nach Odo Marquard, das besagt, daß ein großer Teil unseres Leidens in Täuschung und Irrtum liegt.

Es gibt keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Leid. Leid läßt sich nicht begreifen nur praktisch bestehen. Erklärungsversuche wie Leid als Prüfung oder Chance zur Bewährung, oder Leid als Erziehungsmittel oder Strafe sind längst überholt und lassen sich mit unserem Gottes- und Menschenbild nicht mehr verbinden. Für die Hl. Schrift gehören Leiden und Hoffnung zusammen. Von Jesus her gesehen bleibt Gott, auch wenn das Leiden scheinbar sinnlos ist, verborgen anwesend. Er leidet mit uns. Er bewahrt uns nicht vor allem Leid, aber in allem Leid. Wir sollen Solidarität im Leiden beweisen und es mitzutragen versuchen. Aber Leid ist nicht nur zu ertragen, sondern muß bekämpft werden, im einzelnen und in den leidverursachenden Strukturen und Verhältnissen. Vielleicht kann mit einer solchen Antwort Leid nicht vergessen aber verarbeitet werden (s. Reiter, 1996, S. 609-617).

Leid, Krankheit, Behinderung, Grenzen verweisen auf etwas zukünftig Vollkommenes und existieren als Gegenpol (und sind als solcher nicht verhinderbar) zu Lust, Glück, Gesundheit, Beständigkeit. Gemäß dem medizinisch-technischen Menschenbild nach Dörner sind die Naturwissenschaften bestrebt, Leid zu bekämpfen und auszumerzen - das ist ihre Aufgabe und ist wichtig; das sozialisierte Menschenbild hingegen, muß mit dem Leid umgehen. Im Geist der Beziehung gilt es, sich in das Wesen des Leides hineinzubegeben, es zu verstehen versuchen, sich mit Leidenden zu solidarisieren, und das Leid dadurch zu lindern und vielleicht zu verwandeln.

Bion spricht von projektiver Identifikation (ein Begriff von Melanie Klein in der Mutter-Kind-Beziehung) als Urform menschlicher Kommunikation: Leid (Gefühle) aufnehmen - verstehen - mit dem eigenen Wissen anreichern - und sozusagen "verdaut" zurückzugeben (s. Bion, 1990, S. 19).

Viktor Frankl legt der Frage nach dem Sinn des Lebens drei Wertkategorien zugrunde:

schöpferische Werte, die im Tun verwirklicht werden,

Erlebniswerte, die passiv aufgenommen werden und

Einstellungswerte, wo ein Unabänderliches hingenommen werden muß.

Das menschliche Leben erfüllt sich demnach nicht nur im Schaffen und im sich Freuen, sondern auch noch im Leiden. Das Dasein behält seine Geltung auch jenseits von Erfolg oder Erfolglosigkeit. Es findet eine Rückbesinnung auf Wert und Würde des menschlichen Daseins statt. Eine innere Erfüllung ist unabhängig von äußeren Umständen möglich. Das Ja des Lebens erfüllt sich noch im Scheitern und findet seinen letzten Sinn im Tod (s. Frankl, 1995, S. 145f).

Wir müssen mit Leid umgehen, da wir es nicht vermeiden können. Dazu bedarf es, da wo wir es nicht verändern können, einer inneren Einstellung. Aber da, wo wir angefragt sind, z.B. bei der Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse für alle, muß der politische Wille zur Durchsetzung vorhanden sein.

Eine Wertentscheidung für gleiche Rechte und auch Pflichten ist zwar ein individueller Bewußtwerdungsprozeß, muß dann aber den Willen, sich aktiv an Demokratisierungsprozessen zu beteiligen, beinhalten, sonst ist sie nur eine Sentimentalität. Nur wenn wir den Glauben der Gleichheit der Menschenwürde mit dem Ideal der gesellschaftlichen Gleichheit verbinden, können wir leidverursachende Strukturen verändern und Verhältnisse schaffen, in denen Menschen nicht mehr diskriminiert und ausgegrenzt werden. Dann erreichen wir einen Zustand der Integrität und inneren Freiheit, den Haeberlin die "sittliche Haltung" nennt (s. Haeberlin, 1985, S. 74).

Der Geist greift verwandelnd in das Leben ein. Im Geist der Beziehung wird auch das Leid gewandelt. Wie im Kapitel Euthanasie ausgeführt, wird die Bedrohung durch Isolation und Einsamkeit im Kranksein und Sterben am meisten gefürchtet. Auch Behinderte empfinden Ablehnung und Aussonderung als eigentliche Hinderung am Leben.

In der Bibel gibt es das Versprechen eines neuen Herzens und eines neuen Geistes - es ist ein Herz aus Fleisch, es ist der Geist der Beziehung:

"Und ich werde ihnen ein einziges Herz geben und einen neuen Geist in ihr Inneres legen und werde entfernen das Herz von Stein aus ihrem Leibe und ihnen ein Herz von Fleisch geben, damit sie nach meinen Satzungen wandeln und meine Gesetze beobachten und sie erfüllen" (Ez. 11,19-21).

7.2 Persönliche Stellungnahmen

Die folgenden Texte Behinderter oder ihrer Angehörigen erzählen aus der Praxis, wie sie Behinderung erleben und mit ihr umgehen. Ich möchte die Texte, die sehr persönlich und künstlerisch - "Geist-reich" im Sinne dieser Arbeit - gehalten sind, für sich sprechen lassen und mich jeglichen Kommentars enthalten.

"Kreuz-Abnahme"

"Du hast die Hände Deines Kindes angeschaut, so fein, so zart, gar nicht von dieser Welt. Sie würde Harfe spielen in dem nächsten Leben, hast Du gedacht - und plötzlich hatte alles einen Sinn.

Und in der Lehre Sathya Sai Babas, des Avatars im fernen Indien, hast Du gefunden, was Du brauchtest, um dieses Leben zu verstehen: In jedem, ob behindert oder nicht, wohnt Gott als Licht. Mit freiem Willen ausgestattet, macht es sich auf den Weg in diese Welt, entfernt sich immer mehr vom lichten Ursprung und verstrickt sich in die Dunkelheit. Nur ein Gesetz regiert sein Leben, das Gesetz des Karma, d.h. was Du gesät hast, wirst Du ernten. Ein Leben wäre viel zu kurz für Saat und Ernte. Drum schließt sich eines an das andre an, normal, behindert, "groß".

Nun leidest Du nicht mehr, denn Deines Kindes Seele wollte dieses Leben. Du hörst mit Schuldzuweisungen auf, denn Schuld hat niemand, er spielt nur seine Rolle im karmischen Geschehen.

Und Schuldgefühle sind fehl am Platze, denn du hilfst dem Kind bei der Gestaltung seiner Zukunft.

Du hast den Sinn erkannt! Gebenedeit bist Du wie jene Mutter, die ihr Kind am Kreuze sterben sah und dennoch wußte, daß es immer leben würde.

20 Jahre Leben mit einem schwerbehinderten Kind: das sind 7000 Tage voller Arbeit und 7000 Nächte voller Leid.

Aber in den 20 Jahren hast Du mehr gelernt als je zuvor.

Nun weißt Du, daß Er in allen ist und daß Du Ihm in Deinem Kind begegnet bist, so nah wie nie zuvor. Im Schoß der Zeit liegt schon bereit der Schlüssel für die Ewigkeit zu zweit im Haus des Herrn" (Zeile, 1996, S. 291f).

("Zeile, Edith, Dr., Am Büchsenackerhang 21, 69118 Heidelberg; Studium der Anglistik, klassischen Philologie und Geographie; Arbeitsgebiete: Autobiographisches Schreiben, Mediale Lebensberatung", in: Zwierlein, 1996, S. 627).

"Ich gebe nicht auf"

"Jedes Jahr am Erntedankfest wird mir signalisiert, daß meine Eltern für mich nicht dankbar sein müssen. Dank für die gesunden Kinder mit den roten Wangen. Da sollte man dreinschlagen. Das ist ein Gesundheitskult ersten Ranges. Ich jedenfalls will ein lebender Beweis dafür sein, daß sich auch ein behindertes Leben lohnt. Ich werde noch mehr darüber schreiben müssen, sonst glaubt es keiner. Ich kann es wohl glaubhaft vermitteln, denn ich hatte einen schlechten Start fürs Leben. Aber nun will ich leben und sehe meine Aufgabe darin, etwas ins Bewußtsein der Menschen zu rücken, was verlorenging. Sinnvolles Leben ist nicht an Gesundheit gekoppelt" (Zöller, 1995, S. 97).

"Ich werde Mensch"

"Ich werde Mensch.

Wie kann man

sich verschließen!

Da hat kein Schlüssel

eine Chance.

Die Liebe aber öffnet

alle Schleusen,

und Tränen fließen spärlich.

Doch es geht langsam.

Es bleiben die Narben,

das muß so sein.

Wenn es gelänge,

den stummen Mund zu öffnen,

wäre fast alles gut.

Das gelang heute prima,

ich konnte es sagen

und sie verstand es sogar.

Das war wie ein Wunder.

Es war auf einmal da"

(Zöller, 1995, S. 32).

("Zöller, Dietmar, Haldenstraße 10/5, 70771 Leinfelden-Echterdingen; Arbeitsgebiete (alsBetroffener): Autismus, Wahrnehmungsstörungen, "gestützte Kommunikation", in: Zwierlein, 1996, S. 628).

"Georgs Schullebenslauf"

"Zuerst bin ich in Prad Kindergarten gegangen.

Im Kindergarten hat es mir gefallen.

Ich habe manchmal auch für das Leben gekämpft.

Nachher bin ich in Mals beim runden Turm in die Schule gegangen.

Die Schule ist für mich ein Beruf.

Schulegehen schadet nicht, es schadet auch den Erwachsenen nicht.

Dann bin ich in ein Heim nach Vorarlberg gekommen.

Die Klosterfrauen sind zu streng mit mir gewesen.

Sie haben einem mit einem Stecken auf die Hände geschlagen.

Schlagen ist eine Sünde.

Im Heim haben mir die Schlafzimmer am besten gefallen.

Wenn man schläft dann träumt man.

Nachher bin ich in die Werkstatt gekommen.

In der Werkstatt gefällt es mir sehr gut.

In der Werkstatt bin ich ein Dichter.

Dichter sein ist ein feiner Beruf.

In der Werkstatt sind alles Behinderte.

Ich bin nicht behindert, ich kann reden.

Ich will immer Ruhe haben.

Die Künstler brauchen immer Ruhe.

Ich möchte das ganze Leben in der Werkstatt bleiben" (Paulmichl, 1990, S. 8).

(Paulmichl, Georg: "geb. 1960, lebt in Prad im oberen Vinschgau und besucht dort seit Jahren die Behindertenwerkstatt. Nach dem alltäglichen Sprachgebrauch wird er zu den geistig Behinderten gezählt", Paulmichl, 1990, Umschlagseite).

"Künstlerin und behindert - kein Problem?"

"Wage das Leben"

"...

Alles ist erlaubt

in der Kunst.

Alles?

Gegen

alle Normen,

alle Denkgewohnheiten, alles Überlieferte,

für ewig

wahr / sicher /gültig

Erachtete.

Gegen dies Alles

steht einzig und allein

Macht der Träume.

die

...

Ich habe einen krummen Rücken

aber ich verbiege mich nicht.

Ich stehe zu mir,

so wie ich bin.

Schön.

Ja, ich bin schön.

Und ich wünsche mir,

daß auch andere Menschen

ihre Schönheit erkennen.

Ihren Selbstwert entwickeln,

Sich entwickeln,

was heißt das anderes,

als die Maske abzulegen

und sein wahres Gesicht zu zeigen.

Schrecklich und schön"

(Pisu, 1996, S. 409ff).

("Pisu, Alida, c/o Tibackx, Erfurter Straße 46, 51103 Köln; Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und Theaterwissenschaft; Arbeitsgebiete: Künstlerisch tätig als Autorin, Schauspielerin, Malerin, Dozentin an der VHS Köln", in: Zwierlein, 1996, S. 625).

"Leben kann man nur sich selber"

"Meine angeborene Spastik fegt meine Körperbewegungen ganz schön durcheinander. Von ruhigem Ebenmaß keine Spur. Die ungewollten Verrenkungen geben mir den torkelnden Gang eines weinseligen Zechers. Meine Aussprache ist nicht deutlich, der Speichel läuft mir manchmal gegen meinen Willen das Kinn hinunter, und auch das Gesicht verzieht sich mitunter zu einer wahrhaftig nicht schön zu nennenden Grimasse. Die Hände und die Finger sperren sich gegen viele Tätigkeiten, die anderen Menschen keines besonderen Gedankens wert sind, das Schreiben z.B. oder das Brotestreichen. ... Da ich 'so geboren' wurde, wie andere vielleicht mit roten Haaren oder mit blauen Augen geboren wurden, habe ich mich niemals anders gefühlt, als andere Leute; als ganz und gar 'normal'. Doch diese anderen Leute erzählten mir immer wieder, ich sei 'behindert', darum nicht normal - und das sei schlimm! Und als sie es mir lange genug erzählt hatten, glaubte ich es ihnen. Schließlich waren sie in der Mehrzahl" (Saal, 1994, S. 28f).

("Saal, Fredi, Strippchens Hof 25, 45479 Mühlheim/Ruhr; freier Autor", in: Zwierlein, 1996, S. 626).

7.3 Integration

Zum Abschluß will ich mit einigen Stellungnahmen Betroffener zu einzelnen Bereichen der Integration meinen persönlichen Anspruch der völligen Integration behinderter Menschen in allen Lebensbereichen einbringen. So wie alle anderen Beiträge in dieser Arbeit sind auch sie nur ausgewählte Beiträge. Es gäbe noch viele Themen, die mir nicht möglich waren, unterzubringen, wie z.B., Wohnen, Arbeit, Sexualität, "gestützte Kommunikation" mit deren Hilfe einige der vorigen Beiträge geschrieben wurden, usw. Da es mein Ziel ist, Menschen mit Behinderung in alle Lebensbereiche miteinzubeziehen, ist aber implizit alles enthalten.

Mit der Einreihung in dieses Kapitel des "Geistes der Wandlung" möchte ich betonen, daß es nicht um eine "Umwandlung" behinderten Lebens geht, sondern um eine Wandlung des Umgangs damit - und dazu bedarf es des Geistes.

"Ungelebtes Leben - Nicht die Behinderung blockiert das Dasein, sondern die Art und Weise, mit ihr umzugehen"

In der Menschheitsgeschichte gibt es nur wenige Beispiele eines positiven Umgangs mit Behinderten. Das ist ein Erbe der Tierwelt. Aber der Mensch erhebt den Anspruch, seine tierische Natur zu transzendieren und in vernunftgetragene Humanität aufzulösen, sie sozusagen einzuschmelzen.

Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus brach eine Zeit der betonten Behindertenfreundlichkeit an. Schuldgefühle? Mit viel finanziellen Mitteln und mit humanitärer Aufgeschlossenheit wurden Sonderschulen, Therapieeinrichtungen, Hilfen angeschafft. Lebensrecht, Bildungsfähigkeit und Lebensqualität für alle wurden propagandiert.

Was war falsch daran? Ein unreflektiertes Menschenbild. Nicht das Anderssein wurde akzeptiert, sondern es wurde versucht, das "Andere" "normal" zu machen. Der Glaube an die Medizin und die Pädagogik waren uneingeschränkt.

Heute müssen wir sehen, daß die Medizin nicht in der Lage ist, behindertes Leben zu verhindern oder umzuwandeln - trotz pränataler Diagnostik. Auch die Pädagogik ist in ihrem Bemühen, anzupassen, gescheitert. Sonderschüler haben schlechte Aussichten auf ein normales Leben und auf einen Arbeitsplatz. Sie bleiben oft ein Leben lang in Institutionen. Das betrifft natürlich auch Behinderte, die später durch Unfall oder Krankheit behindert wurden.

Nun ist es Zeit für einen weiteren großen Entwicklungsschritt: die Integration Behinderter in allen Lebensbereichen. Das muß im Kindergarten und in der Schule anfangen. Nur ein Leben miteinander läßt uns in unserem Menschsein weiterkommen. Wir sind in das Geschick des Anderen verwoben. Nicht die caritative "Hingabe", uneigennütziges Erbarmen mit den "Zukurzgekommenen" ist unsere angemessene Verhaltensweise, denn im Verhalten gegenüber Abgewerteten bereite ich das geistige Klima mit, in dem ich vielleicht selbst einmal unter ungünstigeren Bedingungen als heute leben muß. Wir sind nicht "gute" Menschen, sondern wir handeln "gut", damit es uns einmal in schlechten Zeiten "wohl ergehe". Diesen Aspekt der Humanität gilt es zu begreifen (s. Saal, 1996, S. 293-302).

Dieser Aspekt ist reziproker Altruismus (wie du mir, so ich dir,) der auch viel mit Gattungsegoismus zu tun hat. Natürlich spielt diese Seite eine große Rolle, aber ich glaube daran, daß die menschliche Sehnsucht darüber hinausgeht. Wir wollen nicht nur "gut" sein, damit es uns in schlechten Zeiten wohl ergehe, sondern wir wollen verstehen, und wir sind zur Empathie fähig. Wir wollen "die Funken des Geistes lösen" und in unserem Menschsein weiterkommen (Trieb zum Sinn - wie Frankl es bezeichnet).

Was Fredi Saal als einen weiteren großen Entwicklungsschritt bezeichnet - die Integration in Kindergarten, Schule usw., wird von vielen Eltern behinderter Kinder vehement betrieben und findet auch langsam Gehör in der Öffentlichkeit und im Gesetz.

Integration und Ausgrenzung aus Elternsicht

"Wir sind heute davon überzeugt, und haben es uns zur Philosophie gemacht, daß wir mit unserem Schicksal bewußter gelebt haben und auch die noch vor uns liegenden Jahre intensiver aufnehmen. Nach dem Durchleben unseres Schmerzes mit vielen Sorgen haben wir auch die Freude stärker empfunden; und das ist auch heute noch so.

Die Behinderung unseres Sohnes wurde für uns Alltag. Wir grenzten uns trotz vielseitiger Behindertenarbeit nicht ab, sondern suchten umso mehr auch weiterhin Kontakte zu Freunden, Bekannten und Geschäftsfreunden ohne derartiges Schicksal und sehen dies auch heute noch als die erste Stufe zur Integration von Behinderten an" (Wimmer, 1996, S. 312).

Ich schließe mich dieser Aussage an. Nur gegen das Wort "Schicksal" im Sinne von etwas, was einen ungerechterweise hart trifft, habe ich Einwände. Ich habe nie gefragt "warum ich", denn dann müßte ich auch fragen "warum nicht ich", da es Behinderung unter anderem eben gibt. Jakob ist Jakob - so wie er ist. Er ist nicht anders vorstellbar. Ihn in diesem So-sein nicht nur anzuerkennen sondern zu bestätigen, war nicht immer leicht. Zu sehr unterliegt man den Normen, die ich weiter vorne beschrieben habe.

Es war aber normal für mich, mit ihm auf den Spielplatz zu gehen und das übliche Leben weiter zuführen, soweit dies außerhalb der Zeiten von Untersuchungen, Klinikaufenthalten und Therapien möglich war. Diese Untersuchungen waren immer von großer Sorge vor bedrohlichen Krankheiten oder Operationen begleitet, aber auch von der Gewißheit, daß sich Jakob in seinem verzögerten Rhythmus kontinuierlich weiterentwickeln würde, was sich auch bis jetzt bestätigt hat.

Ich will nicht verschweigen, daß es Zeiten gegeben hat, in denen ich mich überfordert und resigniert gefühlt habe. Mein Mann und meine beiden älteren Söhne haben durch ihre selbstverständliche Art mit Jakob umzugehen, auch mir Sicherheit und Bestätigung gegeben.

Erst bei der Einschreibung in den Kindergarten traf mich die ganze Erkenntnis, daß nichts so weitergehen würde wie bisher. Der Kindergarten könne Jakob nicht aufnehmen - er gehöre in eine Sondereinrichtung! Dazu waren wir nicht bereit. Schließlich konnte er einen Waldorf-Kindergarten besuchen. Das wirft bei mir die Frage auf, warum es immer alternative, gesellschaftliche Randinstitutionen sind, die offener für das Menschliche eintreten als die konventionellen, meist unflexiblen Einrichtungen. Wird hier dem Geist mehr Raum gegeben? - Erkenntnis, Entscheidung, Mut zu Neuem, Wandlung?

Dem folgte der harte Kampf um Integration in Volks- und Hauptschule, die dann auf Schulversuchs-Basis stattfand. - Es wurde eine gelungene und schöne Zeit für alle Beteiligten.

Auch für die Schule war die Integration positiv, wovon die Abschiedsworte nach fünf Jahren zeugen:

"Integration an unserer Schule"

"Schulische Integration wird nicht durch räumliche Maßnahmen oder einen rationalen Entschluss erreicht! Sie ist ein andauernder Prozess, der "im Kopf begonnen" werden muss.

Integration führt zur Bildung aller Persönlichkeitsdimensionen. Nicht nur Wissen und Kenntnisse, sondern auch die Pflege der Gefühle gehört zur sozial-integrativen Schule. Eine solche Schule will zur gegenseitigen Hilfe erziehen, das kooperative Verhalten fördern, Einfühlungsvermögen und Sensibilität füreinander entwickeln, solidarisches Verhalten unterstützen und Mitmenschlichkeit einüben.

Wir sind froh, daß wir durch den Impuls von Jakob und allen Kindern, die erhöhten Förderbedarf hatten, die Chance erhalten haben, unsere Schule/unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

Wir haben ungeahnte Wege und Zugänge zu Jakob entdeckt und die Möglichkeit erfahren, etwas Positives bewirken zu können. Wer sich auf die Entdeckung der "Langsamkeit" einlässt, fördert Dinge zutage, die man aus der eigenen Geschwindigkeit/ Hektik/Stresssituation heraus kaum wahrzunehmen wusste.

Schule zum Wohlfühlen: Jakob hat viel zur Erreichung dieses Zieles beigetragen." (Ossi Arnold, Direktor der Hauptschule Weer, in einem Elternbrief).

Nach neun Jahren Integration ist nun die Sonderschule für Jakob die einzige Möglichkeit, weiter die Schule zu besuchen. Jakob ist gerne in der Schule, und es ist wichtig für ihn, noch möglichst lange zur Schule zu gehen, da er sich ja langsamer entwickelt und länger zum Lernen braucht. Leider wird das in den Schulgesetzen nicht berücksichtigt. Ein integrativer Schulbesuch ist maximal neun Jahre möglich; eine Sonderschule darf elf Jahre absolviert werden. Gesunde Kinder dürfen fast unbegrenzt unsere Schulsysteme nützen - eine Diskriminierung von Behinderten, die nach dem Diskriminierungsgesetz (in Ausarbeitung) angefochten werden muß.

Ich bin im Gespräch mit dem Direktor einer allgemeinbildenden Höheren Schule, einen Schulversuch an der Oberstufe zu wagen, aber es wird wohl noch viel Überzeugungsarbeit und politischen Einsatz brauchen, bis das möglich sein wird. Berufsschulen wären offener, aber von der Struktur her (ein Schultag/Woche oder dreimonatige Turnusse) nicht so gut geeignet. In Vorarlberg wurde eine Ganzjahresklasse in einer Berufsschule geschaffen, die für Jugendliche ohne Lehrstelle, als auch für Behinderte zugänglich ist. Es wird auch vehement daran gearbeitet, berufsbildende Schulen für die Integration zu öffnen.

In Italien wird in jeder Schule mit speziell adaptierten Lehrplänen integriert; in Südtirol bereits in Mittelschulen und Berufsschulen, natürlich auch in den Grundschulen.

Es gibt aber auch andere Ansichten von Eltern behinderter Kinder, die ich nicht verschweigen möchte und ein Beispiel dafür sei wiedergeben:

Kurt Wolber ist der Meinung, daß eine Integration geistig behinderter Menschen in unserer Gesellschaft kein erstrebenswertes Ziel sei. Sie brauchten eine auf ihre geistigen Defizite zugeschnittene Erziehung und Betreuung. "Dies kann - bis auf wenige Ausnahmen, die nicht Richtschnur sein können - nur ein Heranbilden zur Bewältigung praktischer Bedürfnisse des Alltagslebens sein. Bildungsmaßnahmen im künstlerischen und gelegentlich im handwerklichen Bereich gehen über diesen Rahmen hinaus und sind oft auch angezeigt. Einer Integration im Bildungsbereich sind jedoch m. E. Grenzen gesetzt.

Gleiches gilt m. E. aber auch für die Integration im Zusammenleben" (Wolber, 1996, S. 327).

Herr Wolber hält spezielle Einrichtungen - diese sollen dann allerdings mit der Gesellschaft - kooperieren - für sinnvoller, weil sie den Eigenarten der geistig behinderten Menschen besser Rechnung tragen (s. ebd., 1996, S. 327f).

Sondereinrichtungen wie das Elisabethinum des Seraphischen Liebeswerkes in Axams [18] , eine Förderstätte für mehrfach behinderte Kinder, sind sowohl materiell als auch personell bestens ausgestattet. Es herrscht ein guter Geist der Liebe und Achtung gegenüber behinderten Menschen, und das Bestreben, sie in die Gesellschaft zu integrieren. Aus verschiedenen Beispielen weiß ich, daß das aber schwer möglich ist, wenn wir damit nicht schon im Kindergartenalter beginnen.

Es braucht noch viel Umdenken, Bewußtseinsänderung und Mut, bis wir die Ausgrenzung überwunden haben, und auch Behinderte zu unserem Alltagsbild gehören. Eine mengenmäßig starke Konzentrierung von behinderten Menschen wirkt angsterregend und abschreckend auf Menschen, die nichts damit zu tun haben, während einzelne und kleine Gruppen gut akzeptiert werden können.

In zwei bis drei Jahren hoffen wir, daß Jakob in einem integrativen Projekt "Berufsorientierung und Arbeitsassistenz" teilnehmen und vielleicht zu einer ihm angemessenen Arbeit finden kann. Bis dahin hoffe ich auch, daß die Bestrebungen nach Erwachsenenbildung und Freizeitgestaltung auf integrativer Basis erste Früchte tragen und in unserer Gesellschaft etabliert werden.

Aufgabe der Erwachsenenbildung bei geistig behinderten Menschen

"Geistige Behinderung" ist ein sehr schwammiger Begriff. Eine Definition von Grunwald (Deutscher Bildungsrat 1979) lautet "wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger, sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher" (Hammerschmidt, 1996, S. 352).

Diese Definition verdeutlicht den erschwerten Zugang geistig Behinderter zur Welt, der durch ein Nichtangebot noch vergrößert wird. Geistig behinderte Menschen brauchen ein Leben lang - in Freiwilligkeit natürlich - Erwachsenenbildung als ein "explizites pädagogisches Programm" und nicht ein Nebenher von versorgenden Maßnahmen zur Überbrückung von Zeit. Die Verwirklichung des Grundrechts auf Bildung für alle Menschen muß Eingang finden in unser Bildungssystem und dort stattfinden, wo die allgemeine Erwachsenenbildung stattfindet, nämlich in Volkshochschulen und vergleichbaren Institutionen. Am besten integrativ (s. ebd., 1996, 350-358).

Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung wird noch kaum angeboten. Erste Schritte in diese Richtung werden von der EU unterstützt, wie z.B. das Projekt OASE (Ohne Aussonderung Sich Entfalten) des Vereins TAfIE Innsbruck-Land (Tiroler Arbeitskreis für Integrative Erziehung).

Der behinderte Mensch in der Kunst

Es gibt einen Bereich, in dem behinderte Menschen aus ihrer Ghetto-Situation heraustreten können, und das ist die Kunst. Es gibt sie, die behinderten Künstler. Abgesehen von den mund- und fußmalenden, auch schauspielernden und allen anderen Künsten folgenden körperlich Behinderten, gibt es geistig Behinderte, die Maler und Dichter und Musiker sind, wie obige Beispiele (z.B. Paulmichl) zeigen; oder der Pianist David Helfgott und seinerzeit Friedrich Hölderlin. Es gibt Menschen, die an sie glauben, sie "fördern" d.h. sie in ihrem Sinne arbeiten lassen. Im Verein TAfIE gibt es ein frauenspezifisches Kunstprojekt "frau + drüber", das es gerade behinderten Frauen in Zusammenarbeit mit nicht behinderten Frauen ermöglicht, ihre individuellen Probleme und Erfahrungen mit dem Frausein (Gewalt, Ablehnung, Einsamkeit) öffentlich auszudrücken.

Hier dreht sich das Schema um, nicht die Behinderten sind es, die "bedürftig" sind, sondern die Behinderten schaffen etwas, dessen wir bedürfen. Sie sind keine Almosenempfänger und "dürfen" sogar öffentlich auftreten. Zeugen diese Beispiele davon, daß wir Behinderte akzeptieren können, sobald sie anerkannte Künstler sind? Es ist höchste Zeit, daß behinderte Menschen - wie in den USA und den skandinavischen Ländern - selbstverständlich ins öffentliche Bild gehören, und es nicht nur einzelnen, besonders begabten, gelänge, das Ghetto, die Isolation, zu überwinden. Es würde ihr Selbstbewußtsein enorm steigern und ihre ganz gewöhnlichen Begabungen offensichtlicher werden lassen (s. Vollmer, 1996, S. 395f).

"Wenn in-der-Welt-Sein bedeutet, für den anderen sichtbar zu sein, dann besteht die Tragödie der Geisteskrankheit darin, unsichtbar zu sein" (Toresini 1990, S. 104).

Geistigbehinderte sind in unserer Öffentlichkeit - wie bereits erwähnt - kaum sichtbar, was ihre Isolation dokumentiert. Eine amerikanische Studentin wunderte sich, daß es in Österreich so wenige Behinderte gebe, weil sie im Gegensatz zu ihrer Heimat so selten welche sehe.

"Die überwiegende Scheu bei der Begegnung mit Behinderten im Alltag dürfte auf Unerfahrenheit zurückzuführen sein. ... Behinderungen können nur durch Integration überwunden werden und nicht durch Ausgrenzung. Behinderte sind ein Teil unserer Gesellschaft. ... Um die Sorgen, Nöte und Leiden erträglich zu machen, muß die Integration der Behinderten vorangetrieben werden. Zu dieser gemeinsamen Aufgabe werden alle, und insbesondere die Politiker, aufgerufen" (Wimmer, 1996, S 317f).

Es ist ein langer Weg, ein Weg der kleinen Schritte, bis Behinderung so normal ist, daß es nicht mehr der speziellen Integration bedarf, sondern Behinderte zu unserem Straßenbild und zu unserem Alltagsleben gehören. Ein langer Weg, der mit Sinnfindung in einem engen Zusammenhang steht. Ein Weg, der über die schulische Integration, Berufsausbildung und Weiterbildungsmöglichkeiten im Erwachsenenleben führt und erst dann am Ziel ist, wenn wir das Wort "Behinderte" nicht mehr brauchen.

Zusammenfassende Bemerkung

Im Angesicht des Geistes, der in der Welt, um uns, zwischen uns und in uns Wirklichkeit ist, und im Angesicht des Geistes, der bereit ist, in vermehrtem Maße in der Welt wirksam zu werden, ist Ausgrenzung einzelner Menschen oder Gruppen nicht lebbar.



[18] Solchen Institutionen wie auch Caritas, Lebenshilfe usw. gebührt große Anerkennung, weil sie zu den Pionieren der Behindertenbetreuung gehören. Zu einer Zeit, als sich die Gesellschaft noch nicht um behinderte Menschen bemühte, haben sie sich ihrer in karitativer Weise angenommen. Sie haben ihre Konzepte inzwischen auch weiterentwickelt in Richtung ambulante Betreuung und gesellschaftliche Integration. Ich wünsche mir jetzt den nächsten Schritt, ein tatkräftiges Eintreten für die volle Integration behinderter Kinder in Schule und Kindergarten.

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Quellennachweis für das Bild

Blake, William: The Trinity, in: Taylor, The Go Between God, 1995, S. 119

Lebenslauf

Name:

Christine Barbara Schnaiter, geb. Sollerer

Geboren:

2. Jänner 1947

Geburtsort:

Oberau/Wildschönau

Eltern:

Florian und Josefine Sollerer

Staatsangehörigkeit:

Österreich

Rel. Bekenntnis:

Römisch-Katholisch

Familienstand:

verheiratet mit Heinz Schnaiter

Kinder:

David, Simon, Jakob

Wohnort:

6114 Kolsass, Schneiderweg 13

Schulbildung mit Abschluß:

1953 - 1957

Volksschule Oberau

1957 - 1961

Hauptschule Wörgl

1961 - 1964

Kaufmännische Berufsschule Wörgl

1971 - 1976

Abendgymnasium für Berufstätige Innsbruck

Seminare und Kurse mit Abschluß:

1981 - 1983

Studium der Anglistik und Theologie (4 Semester) ohne Abschluß

1989 - 1992

Theologischer Kurs der Wiener Theologischen Kurse, Kurstyp 1

1993

Theologische Erwachsenenbildung. Fernkurs für Theologische Bildung

Okt. 1993 - März 1996

Christlich Orientierte Persönlichkeitsbildung, Grundkurs Gestaltpädagogik am Religionspädagogischen Institut in Innsbruck (RPI).

9. 7. - 13. 7. 1995

Einführung in die Paarsynthese am Institut für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge (IIGS) Graz

Okt. 1993 - Feb. 1999

Grundlagen der Persönlichkeitsbildung (Propädeutikum) im zweiten Studienfach

Okt. 1993 - März 1999

Studium der Pädagogik - erster und zweiter Studienabschnitt

Praxis:

1961 - 1964

Kaufmännische Bürolehre

1964 - 1974

verschiedene Haushalts-, Büro- Verkaufs- und Hoteltätigkeiten im In- und im Ausland (England, Frankreich)

1974

Geburt des ersten Kindes

1977

Geburt des zweiten Kindes

1980

kurze Tätigkeit als Berufsschullehrerin

1983

Geburt des dritten Kindes

1983 - 1998

Mitarbeit in verschiedenen Arbeitskreisen und Elternvereinen

seit Jänner 1997

Vorstandsmitglied des Vereins TAfIE Innsbruck-Land (Tiroler Arbeitskreis für Integrative Erziehung)

Quelle:

Christine Barbara Schnaiter: Im Geist der Beziehung - Integration. Martin Bubers Menschenbild im Umgang mit behinderten Menschen

Diplomarbeit am Inst.f. Erziehungswissenschaften Innsbruck, März 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.02.2006

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