Die innere Modeberaterin

Als blinde Frau auf dem Weg zum eigenen Kleidungsstil

Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: AEP Informationen 1/2019: Trotz aller Barrieren. Ganz Frau-Sein mit Behinderungen, S. 8-10 AEP Informationen (1/2019)
Copyright: © Marion Putzer-Schimack 2019

Abbildungsverzeichnis

    Die innere Modeberaterin

    Ich stehe wieder einmal vor meinem Kleiderschrank und weiß nicht, was ich anziehen soll. Schon dreimal habe ich sämtliche Stücke auf der Stange hin- und hergeschoben. Nichts hat mich besonders angesprochen. Für das blaue Kleid ist es eindeutig zu kalt. Die bestickte Jeanshose zwickt auf den Hüften. Die ist über Weihnachten einfach kleiner geworden. Ja, und zu dem bordeaux-farbenen Rock habe ich nicht die passenden Schuhe.

    Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass blinden Menschen ihr Outfit egal sei. Wichtig sei vor allem, dass die Kleidung sich gut anfühle. Auf mich trifft dies überhaupt nicht zu. Mich ansprechend anzuziehen und attraktiv aufzutreten, ist mir sehr wichtig. Und einem schönen Kleid kann schon mal der Tragekomfort zum Opfer fallen. Manchmal muss Schönheit tatsächlich ein bisschen leiden.

    Die Stimmen von außen

    Da ich ja ohne prüfenden Blick in den Spiegel auskommen muss, bediene ich mich anderer Informationen über mein Aussehen. Zum einen verlasse ich mich auf Rückmeldungen von meinen Mitmenschen. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, welche Äußerungen für mich wertvoll und aussagekräftig sind und welche nicht. Mittlerweile weiß ich, wer geschmacksmäßig auf meiner Linie ist, wer einen zu konservativen oder ausgeflippten Geschmack hat oder wer einfach glaubt, mir aufgrund meines mangelnden Sehvermögens gute Ratschläge geben zu müssen.

    Besonders schätze ich Hinweise, dass mit meinem Outfit etwas nicht stimmt. Wenn ich z.B. zwei verschiedene Socken trage oder eine Weste verkehrt – mit den Nähten nach außen – angezogen habe. Und es gibt für mich nichts Ärgerlicheres, als wenn ich abends feststelle, dass ich den ganzen Tag mit einem großen Ketchup-Fleck auf der Bluse herumgelaufen bin. Es macht mich dann oft wütend und traurig, dass keiner meiner sehenden Mitmenschen mich darauf aufmerksam macht. Woran ihr Schweigen liegt, weiß ich nicht. Ist es ihnen peinlich, mich darauf anzusprechen? Denken sie, ich wäre verletzt oder gekränkt, oder meinen sie, es wäre mir ohnehin egal? In jedem Fall ist mir Offenheit lieber, denn dann habe ich die Chance, den Fleck zu kaschieren oder etwas anderes anzuziehen.

    Ich habe manchmal auch das Gefühl, dass man es blinden Menschen nachsieht, wenn sie sich unpassend kleiden oder beschmutztes Gewand tragen. Dann heißt es: „Die sieht es halt nicht. Ist doch nicht so wichtig, dass sie etwas schlampig ausschaut.“ Weit gefehlt: Für mich und für viele andere blinde Frauen (und sicher auch Männer) ist das sehr wohl wichtig. Ich beanspruche für mich das Recht, gepflegt und sauber gekleidet zu sein, und bemühe mich auch darum.

    Abbildung 1.

    Hände einer Puppe, welche gerade Häckeln.

    © Karin Flatz

    Meine innere Stimme

    Neben dem, was mein Umfeld mir zu meinem Aussehen rückmeldet, gibt es noch mein eigenes Gefühl. Es ist vollkommen subjektiv, gibt mir darüber Auskunft, ob ich mich hübsch fühle, und hat wenig mit dem zu tun, was man äußerlich wahrnehmen kann. Oft kommt es vor, dass ich ein Kleidungsstück probiere und von der Verkäuferin oder meiner Begleitung höre: „Darin siehst du so gut aus. Das steht dir super.“ Mein Gefühl ist aber ein ganz anderes. Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Ich kann es nur so beschreiben: Ich sehe mich einfach nicht in diesem Kleidungsstück, denn mein Gefühl sagt mir, dass es nicht zu mir passt. Nicht selten kaufte ich mir das Teil trotzdem. Naja, die Verkäuferin sieht immerhin, wie es mir steht. Die wird es schon wissen, denke ich dann. Meistens habe ich diese Stücke nie oder nur äußerst selten getragen.

    Auf dem Weg zu mir

    Mehr und mehr vertraue ich diesem Gefühl, dieser Stimme meiner inneren Modeberaterin. Als Frau mit einer Behinderung erlebe ich häufig Suggestionen und Aufforderungen wie: „Du kannst das nicht alleine entscheiden, du brauchst auf jeden Fall Hilfe, du sollst dich nur auf das Urteil von sehenden Personen verlassen.“ Umso wichtiger empfinde ich es, in zunehmendem Maße spüren zu lernen, was für mich gut und richtig ist, und herauszufinden, was mein „Eigenes“ ist. Dazu gehört für mich als blinde Frau, meinen eigenen Kleidungsstil zu entwickeln.

    Der Weg dahin ist manchmal schwierig, hin und wieder frustrierend, aber meistens sehr spannend und lustvoll. Es geht darum, mutig zu sein und den EinflüsterInnen zu trotzen, über den eigenen Schatten zu springen und immer mehr Selbstvertrauen aufzubauen.

    Blinde Shopping-Queen

    Mittlerweile ist das Shoppen für mich zu einem lieben Hobby geworden, und am liebsten fröne ich ihm ganz alleine. So kann ich nach Herzenslust in meinen Lieblingsgeschäften stöbern, verschiedenste Stile ausprobieren und selbst entscheiden, was den Weg in meine Einkaufstasche finden wird.

    Ob ein Geschäft von mir in die Riege der Lieblingsläden aufsteigen kann, hängt einerseits von der Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit der VerkäuferInnen, andererseits auch stark von der Größe und Übersichtlichkeit der Räumlichkeiten ab. In den großen Bekleidungsketten finde ich mich nicht gut zurecht. Das Überangebot an Waren erschlägt mich, und ich finde einfach keine für mich durchschaubare Ordnung, um das Sortiment systematisch zu durchforsten. Ein Kleiderständer da, einer dort, hier eine Schaufensterpuppe. Oder, ups! Ich glaube, das war doch keine Schaufensterpuppe! Wo sind jetzt wieder die Umkleidekabinen? Und wenn ich Unterstützung benötige, finde ich bestimmt kein Personal. Sofern ich mich an diesem Punkt nicht bereits hoffnungslos verirrt habe und den Ausgang finde, verlasse ich solche Geschäfte meist schnell wieder.

    Besserwisser unerwünscht

    ZeitgenossInnen, die mir sagen: „Du siehst ja nicht, was dir gut steht. Und du greifst immer zu den gleichen Dingen. Ich will dir ja nur helfen, dich abwechslungsreicher zu kleiden“, nehme ich gar nicht mehr mit auf meine Einkaufstouren. Kompetente und ehrliche Beratung durch eine Verkäuferin oder Begleitperson hingegen schätze ich sehr. Wichtig ist mir dabei ihre Fähigkeit, Dinge möglichst anschaulich zu beschreiben. Die Form und die Schnitte kann ich ertasten. Um aber eine vollständige Vorstellung des gewünschten Teils zu bekommen, benötige ich Informationen über Farben und Muster. Ich habe einige Lieblingsfarben und greife auch gerne zu bestimmten Materialien. Bordeauxrot, ein kräftiges Blau, Grün und Schwarz dominieren sicher meinen Kleiderschrank. Das sind die Farben, in denen ich mich wohlfühle. Ich bevorzuge Naturmaterialien wie Baumwolle und Viskose und meide solche mit zu hohem Kunstfaseranteil – mit zunehmender Übung kann ich das mit den Händen ganz gut ertasten. Außerdem mag ich lockeres schlabbriges Gewand nicht. Es missfällt mir, wenn Pullover so an mir herunterhängen. Zugegeben, solche Schnitte kaschieren die schwimmreifenartigen Gebilde an der Hüfte. Trotzdem, ich möchte mich von Kleidungsstücken eingehüllt und gehalten fühlen. Ich möchte sie spüren.

    Seit meiner Erblindung haben sich Begriffe für Farben in der Mode sehr verändert. Ich erinnere mich an Blau, Grün, Dunkelrot, Rosa, aber heute höre ich Begriffe wie: „Der Schal ist magenta, mit aubergin, dazu noch aquamarin und petrol, mit einer Spur curry und olivgrün.“ Olivgrün kann ich mir gerade noch vorstellen, aber mit Magenta oder Petrol kann ich gar nichts anfangen. Umso wichtiger ist, dass ich gute Beschreibungen erhalte. Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass Magenta eine Art dunkles Rosa in Richtung Lila ist. Und erst seit kurzem verbinde ich Petrol (= Treibstoff für Fahrzeuge) nicht mehr mit einem schlammfarbigen Braungrau. Mittlerweile weiß ich auch, dass Farben von Sehenden sehr individuell wahrgenommen werden. Dieselbe Jacke ist für eine Person pink, für die andere mehr lila und für die dritte wieder eher Beere. Da greife ich wirklich lieber zu Bordeaux, denn das verbinde ich mit einem Glas wunderschönen dunklen Rotwein.

    Abbildung 2.

    Eine Reihe zusammengesetzter Bilder.

    © Karin Flatz

    Die ideale Shopping-Begleiterin

    Es gibt manche Stellen an meinem Körper, wegen derer ich auf sehr eng anliegende Kleider, T-Shirts oder Hosen verzichte. Ich weiß, wo sie sind, und ich weiß, welche Art Kleidung diese unvorteilhaft zur Geltung bringen. Aber dann hängt da so ein fantastisch kurzes, schwarzes Lederkleidchen, das ich unbedingt probieren möchte. Ich bringe also meine kritische innere Modeberaterin zum Schweigen und zwänge mich hinein in das Teil, wobei ich mir so sehr wünsche, dass es passt und ich mir das Zwicken an den verschiedensten Körperstellen nur einbilde. Wie sollte eine gute Shopping-Beraterin dann reagieren? Idealerweise etwa so: „Hm, es ist ein sehr enges Kleid. An den Hüften sitzt es sehr straff, ebenso bei der Oberweite. Und es ist auch recht kurz. Ich finde, es betont deine Figur nicht so optimal.“ Diese Aussage ist ehrlich, aber gleichzeitig diplomatisch. Und ich wäre nicht gekränkt, weil sie mich auf Problemzonen hinweist.

    Eine hilfreiche Verkäuferin oder Shopping-Begleiterin ist nicht aufdringlich, während ich die Kleiderstangen durchsuche, aber sie ist zur Stelle, wenn ich sie brauche. Bereitwillig gibt sie mir Auskunft über Preis, Größe und Materialzusammensetzung des Kleidungsstücks, beschreibt mir Muster sowie Farbe und gibt, wenn ich sie danach frage, eine ehrliche Meinung darüber ab, ob es mir gut steht. Sollten wir in unserer Einschätzung nicht übereinstimmen, dann erklärt sie mir, wie sie das Kleidungsstück an mir wahrnimmt. Sie geht dabei möglichst sachlich und beschreibend vor. Ausdrücke wie „Aus meiner Sicht …“ oder „Ich finde ...“ schätze ich auch deshalb, weil sie die persönliche Bewertung der Person widerspiegeln. Eine gute Shopping-Begleiterin gesteht mir meinen eigenen Geschmack zu und lässt mir die freie Wahl. Auf diese Art von Beratung reagieren meine innere Modeberaterin und ich sehr positiv, denn wir beide lieben es, selbstbestimmt zu shoppen.

    Autorin

    MARION PUTZER-SCHIMACK, Mag.a, ist Erziehungswissenschafterin und Lebens- und Sozialberaterin. Sie lebt mit einer fortschreitenden Netzhauterkrankung und arbeitet beim Blinden- und Sehbehindertenverband Wien im Bereich Veranstaltungsmanagement und psychosoziale Arbeit. Zurzeit befindet sie sich in der Ausbildung zur Personenzentrierten Psychotherapeutin.

    Quelle

    Marion Putzer-Schimack: Die innere Modeberaterin. Erschienen in: AEP Informationen 1/2019: Trotz aller Barrieren. Ganz Frau-Sein mit Behinderungen, S. 8-10.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 10.07.2019

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