Inklusion zwischen Hilfe und Kontrolle

Zur Ambivalenz inklusiver Bemühungen im Bereich der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung

Autor:in - Robert Scheuring
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift Distanz - Online Magazin abseits deutscher Konsenswünsche, Thema: Behinderung, Ausgabe #02 Juni 2015, S. 27, www.distanz-magazin.de Distanz (2/15)
Copyright: © Robert Scheuring

Formale Selbstbestimmung

Dieser vielfach als „Paradigmenwechsel“ bezeichnete Wandlungsprozess von der Be- und Aussonderung behinderter Menschen hin zu Selbstbestimmung und Partizipation erhält durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, welche in Deutschland am 24. Februar 2009 ratifiziert wurde, seine völkerrechtliche Fundierung. Die besondere Bedeutung des Abkommens liegt darin begründet, dass es bestehende Menschen- und Freiheitsrechte für die Situation von Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Während die meisten Menschenrechtsverträge auf internationaler Ebene, wie z.B. die UN-Konvention gegen Rassismus (CERD) oder die Konvention über die Rechte von Frauen (CEDAW), das Thema Behinderung in ihren Formulierungen komplett ausgeklammert haben[1] wurde mit der UN-BRK ein Dokument geschaffen, das dieser Aussparung ein Ende setzt. Ziel der Konvention ist die Verwirklichung von Chancengleichheit, Barrierefreiheit und Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Teilhabebereichen, sowie die Beseitigung bestehender Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Diskriminierung, die einer umfassenden Partizipation behinderter Menschen entgegenstehen.[2] Aufgrund ihres bindenden Charakters lassen sich mit Hilfe der UN-BRK, zumindest formal gesehen, alle sozialpolitischen Maßnahmen, die der Selbstbestimmung und Partizipation von Menschen mit Behinderung entgegenstehen als menschenrechtswidrig klassifizieren.[3]



[1] Siehe hierzu weiterführend der Aufsatz von Schulze, Marianne (2011). Menschenrechte für alle: Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In: Flieger, Petra; Schönwiese, Volker: Menschenrechte - Integration - Inklusion. Aktuelle Perspektiven aus der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 11–27.

[2] vgl. Art. 1, Abs.1 BRK; Art. 3 BRK.

[3] vgl. Theunissen, Georg (2013). Entwicklung und Diskussionsstand eines praxisgestaltenden Paradigmas in Europa. In: Schwalb, Helmut; Theunissen, Georg: Unbehindert arbeiten, unbehindert leben. Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Arbeitsleben im internationalen Vergleich. Stuttgart: Kohlhammer (Heil- und Sonderpädagogik), S. 9–24. Hier: S. 11.

Auflösung des Normalitätsparadigmas?

Sowohl der beschriebene Paradigmenwechsel als auch die UN-BRK sind eng mit dem Schlagwort der „Inklusion“ verknüpft. Was allerdings genau unter dieser Leitformel verstanden werden kann, ist nicht immer klar umrissen. Vielmehr erschweren verschiedene Bedeutungszusammenhänge die exakte Erfassung des Inklusionsbegriffs und seine Abgrenzung vom Begriff der „Integration“. Im Alltagsverständnis hat sich, neben der synonymen Verwendung von Inklusion und Integration, vor allem die verkürzte Ausdeutung des Begriffs im Sinne einer „Optimierung“ der bestehenden Integrationspraxis etabliert.[4] In beiden Fällen wird jedoch übersehen, dass mit dem inklusiven Leitgedanken nicht nur quantitative, sondern vor allem qualitative Unterschiede zum Prinzip der Integration verknüpft sind: Letzteres löst zwar die Segregation bestimmter Personengruppen und deren „Behandlung“ in Sondersystemen auf, behält allerdings die Vorstellung von Normalität und Abweichung, sowie die damit verbundene Dominanzstellung der „Normalen“ bei. Inklusion hingegen zielt auf die Auflösung der Hegemonie des Normalitätsparadigmas. Kategorisierungen bzw. dichotome Einteilungen, wie z.B. behindert/ nicht-behindert, männlich/ weiblich, etc., sollen zugunsten des Gedankens einer „Einheit des Heterogenen“[5] überwunden werden. Damit einher geht die normative Vision einer Gesellschaft die auf Heterogenität aufgebaut ist und in der soziale Ausgrenzung, Diskriminierungen und Marginalisierungen der Vergangenheit angehören. Anknüpfend stellt sich allerdings die Frage, wie es um die praktischen Versuche der Verwirklichung des Inklusionsideals unter den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen bestellt ist. Verkehrt sich Inklusion angesichts ihres idealistischen Erlösungsanspruchs vielleicht sogar zwangsläufig in ihr Gegenteil? Im Nachfolgenden soll dieser Gedankengang weiter verfolgt werden, indem die Janusköpfigkeit des Inklusionsideals exemplarisch am Beispiel der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung diskutiert wird.

Text im Bild: Verkehrt sich Inklusion angesichts ihres idealistischen Erlösungsanspruchs vielleicht sogar zwangsläufig in ihr Gegenteil? Quelle: http://distanz-magazin.de/2-behinderung/



[4] vgl. Sander, Alfred (2004). Inklusive Pädagogik verwirklichen - Zur Begründung des Themas. In: Schnell, Irmtraud; Sander, Alfred (Hrsg ).: Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, S. 11–23. Hier: S. 11.

[5] Kulig, Wolfram (2010). Soziologische Anmerkungen zum Inklusionsbegriff in der Heil- und Sonderpädagogik. In: Theunissen, Georg; Schirbort, Kerstin: Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitgemäße Wohnformen, soziale Netze, Unterstützungsangebote. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer (Heil- und Sonderpädagogik), S. 49–59. Hier: S. 51.

Inklusion und die Überwindung institutionalisierter Ausgrenzung

Es wäre fatal, die gegenwärtigen Bestrebungen zur Umsetzung des Inklusionsgedankens im Bereich der beruflichen Teilhabe behinderter Menschen gänzlich als regressiv zu verwerfen. Dadurch würde verkannt, dass sich durch den angesprochenen Wandel von institutionalisierter Segregation durch Sondereinrichtungen hin zu mehr Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit die konkreten Gestaltungsräume behinderter Menschen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation verbessert haben. So sind Menschen mit Behinderung bei der Sicherung ihrer materiellen Lebensgrundlage grundsätzlich nicht mehr an ein Arbeitsverhältnis des „zweiten“ Arbeitsmarktes gebunden. Pädagogische wie sozialpolitische Inklusionsbemühungen eröffnen die Perspektive des Ausgangs aus der räumlichen wie sozialen Isolation der klassischen „Behindertenwerkstätten“[6] und der mit ihnen einhergehenden expertokratischen Bevormundung durch Akteur*innen sozialer Arbeit zugunsten einer eigenständigen Wahl zwischen Sondereinrichtung und Normalarbeitsverhältnis.Neben der Stärkung ihres Wunsch- und Wahlrechts bieten die erweiterten Beschäftigungsmöglichkeiten Menschen mit Behinderung die Chance auf mehr soziale Anerkennung durch Angehörige der nichtbehinderten Dominanzkultur. Wenngleich Lohnarbeit aufgrund von Wertewandel und allgemeiner Wohlstandsentwicklung zumindest subjektiv für viele Menschen an identitärer Bedeutung verloren zu haben scheint, bleibt sie in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften das zentrale Moment der Lebensgestaltung und Identitätsentwicklung: „Je knapper Arbeit wird, umso bedeutsamer wird die individuelle Partizipation an der Arbeitsgesellschaft für die persönliche Statusdefinition und das Gefühl, nicht zu dem exkludierten Drittel der Arbeitsmarktverlierer zu gehören“[7]. Durch die Teilnahme am Produktionsprozess und der damit verbundenen Demonstration von Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit können defizitorientierte Fremdwahrnehmungen abgebaut und das Risiko sozialer Isolation reduziert werden.



[6] Anknüpfend an Wolfgang Becker (Becker, Wolfgang (1988). Der Schein von Freiheit. Rehabilitation geistig und seelisch Behinderter durch Arbeit. Hamburg: EB-Verl. Rissen (Beiträge zur sozialen Entwicklung des Gesundheitswesens, 2).) lassen sich auch die heutigen Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) aufgrund ihrer Tendenz zur sozialen Ausgrenzung in die Tradition „totaler Institutionen“ (Goffman, Erwin (1973). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt: Surkamp.) stellen: Der Großteil der Werkstätten ist noch immer am Stadtrand und somit weitab von der Lebens- und Arbeitswelt der „Normalbevölkerung“ angesiedelt. Aufgrund fester Gruppenstrukturen und begrenzter Arbeitsmöglichkeiten wird das Verhalten der Betroffenen auf Anpassung ausgerichtet: Abweichungen wie z.B. die Verweigerung der Arbeitsleistung werden zwangsläufig problematisiert oder gar sanktioniert, wobei die Deutungsmacht bezüglich des Arbeitsverhaltens behinderter Menschen nicht bei den Betroffenen selbst, sondern auf Seiten des Fachpersonals liegt.

[7] Bieker, Rudolf (2005). Individuelle Funktionen und Potentiale der Arbeitsintegration. In: Bieker, Rudolf: Teilhabe am Arbeitsleben. Wege der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 12–24. Hier S. 14.

Inklusion als neoliberale Erscheinungsform?

Dennoch scheint eine kritische Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Inklusionspraxis unerlässlich. Eine einseitige Fokussierung auf die vordergründig positiven Aspekte der Verwirklichung eines „Rechts auf Arbeit“ verkennt die Kehrseite dieser dialektischen Entwicklung und damit ihre Funktion bezüglich der Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse. Vielmehr gilt es, die notwendige Eingebundenheit inklusiver Bemühungen in die bestehende ökonomische Ordnung und deren Herrschaftsstrukturen zu thematisieren. Vor dem Hintergrund einer Wirtschaftsordnung, die von Individualisierung, Flexibilisierung und Eigenverantwortlichkeit geprägt ist, erscheinen pädagogische und sozialstaatliche Anstrengungen zur Umsetzung der Inklusionsforderungen weniger als emanzipatorische Hilfskonzepte, denn als Mittel zur Unterwerfung behinderter Menschen unter die aktuelle Form kapitalistischer Verwertungszwänge.

Die Internalisierung von Arbeitsnormen

Mit dem sich Anfang der 1970er Jahre anbahnenden Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und den damit verbundenen Modernisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen ging ein zunehmender Bedeutungsverlust menschlicher Arbeitskraft einher. Das fordistische Normalarbeitsverhältnis, welches sich zumindest noch durch das Merkmal der Unbefristetheit auszeichnete, wurde durch neue Beschäftigungsformen wie z.B Leih- und Teilzeitarbeit, Minijobs, Projektarbeit und befristete Beschäftigung ersetzt[8]. In Bezug auf die staatliche Sozialpolitik lässt sich vom Prozess einer umfassenden Neoliberalisierung sprechen, der von den Schlüsselbegriffen Deregulierung, Liberalisierung und Flexibilisierung geprägt ist. Die Verantwortung für den Erfolg am Arbeitsmarkt wird gänzlich dem Individuum auferlegt, was gleichzeitig eine verschärfte Internalisierung der Erwerbsarbeitsnorm mit sich bringt: „Das traditionell verankerte Prinzip der Beruflichkeit sowie der individuelle Wunsch nach einer kontinuierlichen und (möglichst) sinnstiftenden Erwerbsarbeit sollen zugunsten einer schlichten, arbeitsethischen Zuspitzung der Erwerbsarbeitsnorm aufgegeben werden, nach der jedwede Beschäftigung besser zu sein hat als eine Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen“.[9] Durch das neoliberale Modell des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ sieht sich auch die Soziale Arbeit mit grundlegenden Transformationsanforderungen konfrontiert. Mit dem sozialpädagogischen Leitprinzip der Aktivierung der Bürger*innen wird nicht nur der staatlichen Einsparungspolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts[10], sondern auch dem spätkapitalistischen Zeitgeist von Eigenverantwortung und autonomem Problemmanagement, der den Betroffenen selbst die Schuld für ihre soziale Lage zuschreibt, entsprochen. Soziale Arbeit soll demnach einerseits Angebote schaffen („fördern“), gleichzeitig aber auch deren Annahme überwachen („fordern“): „Wenn der Spruch ‚jeder ist seines Glückes Schmied‘ […] Akzeptanz findet, dann auch der, dass man manche, ‚zu ihrem Glück zwingen‘ muss“.[11] Im Gegensatz zur Sozialen Arbeit des Fordismus muss die heutige Sozialpädagogik die Menschen nun nicht mehr an den verbindlichen Maßstab eines Normalarbeitsverhältnisses bzw. einer Normalbiographie anpassen, sondern ist vielmehr dazu aufgefordert, die heterogenen Berufs- und Lebenswünsche so zu organisieren, dass sie, egal in welcher Form, zum Funktionieren des wirtschaftlichen Gesamtsystems beitragen.[12] Welche Konsequenzen lassen sich nun aus den aufgezeigten sozio-ökonomischen Entwicklungen in Bezug auf die Inklusionsdebatte erkennen?

Text im Bild: Mit dem sozialpädagogischen Leitprinzip der Aktivierung der Bürger*innen wird nicht nur der staatlichen Einsparungspolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern auch dem spätkapitalistischen Zeitgeist von Eigenverantwortung und autonomem Problemmanagement, der den Betroffenen selbst die Schuld für ihre soziale Lage zuschreibt, entsprochen. Quelle: http://distanz-magazin.de/2-behinderung/



[8] vgl. Gröschke, Dieter (2011). Arbeit, Behinderung, Teilhabe. Anthropologische, ethische und gesellschaftliche Bezüge. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 47.

[9] Englert, Kathrin; Grimm, Nathalie; Sondermann, Ariadne (2012): Die zentrale Bedeutung von Erwerbsarbeit als Hindernis für alternative Formen der Vergemeinschaftung. In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs- Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 124, S. 11-25. Hier: S. 12.

[10] In Deutschland ist es die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die durch ihre umfassende Arbeitsmarkt- und Sozialreform (Stichwort: Agenda 2010) den Weg zur weiteren Umbau des Sozialstaates beschreitet und damit letztlich liberal-konservative Ideen kreativ fortentwickelt.

[11] Knopp, Reinhold (2007). Position und Perspektive kritischer Sozialer Arbeit. In: Knopp, Reinhold; Münch, Thomas: Zurück zur Armutspolizey? Soziale Arbeit zwischen Hilfe und Kontrolle. Berlin: Frank & Timme (Transfer aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, Band 5), S. 33–53. Hier S. 35.

[12] vgl. Kunstreich, Timm (2001). Grundkurs Soziale Arbeit Band II. Blicke auf die Jahre 1955, 1970 und 1995 sowie ein Rückblick auf die Soziale Arbeit in der DDR. 2. Aufl. Bielefeld: Kleine (Impulse - Werkstatt Fachhochschule, 7), S. 405

Behindertenpolitik als Arbeitsmarktpolitik

Mit dem Rückzug des Sozialstaates und dem Abbau von Sozialhilfeleistungen zugunsten von Deregulierung und Liberalisierung wird auch die staatliche Behindertenpolitik zunehmend auf Aktivierung und Eigenverantwortung ausgerichtet: „Behindertenpolitik gerät in das Fahrwasser einer ‚aktivierenden‘ Sozialpolitik, die alle ‚in Arbeit‘ bringen will und die mit ihren Instrumenten mehr auf ‚Fordern‘ als auf ‚Fördern‘ setzt. ‚Integration‘ und ‚Inklusion‘ bedeuten dann Einbeziehung eines jeden/einer jeden in irgendeine Form von Lohnarbeit im Rahmen einer Lohnarbeitsgesellschaft.[13] Eine defizitorientierte, medizinisch-individualistische Sichtweise auf Behinderung, die einer Gruppe potenzieller Lohnarbeiter*innen aufgrund ihrer Abweichung von gesellschaftlichen Normvorstellungen die Fähigkeit zur Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt und damit zum „Brachliegen“ nutzbaren Humankapitals führt, erscheint in der postfordistischen Bundesrepublik nicht mehr zeitgemäß. Die Betroffenen sollen vielmehr selbstbestimmt auswählen dürfen, unter welchen Bedingungen und auf welchem Arbeitsmarkt die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft von statten gehen soll. Aus dieser Perspektive erscheinen auch der vielfach gefeierte Paradigmenwechsel im Umgang mit Menschen mit Behinderung, sowie die daran anschließenden Förderprogramme und Qualifizierungsmaßnahmen primär als sozialpolitische Maßnahmen deutscher Standortsicherung vor dem Hintergrund rückläufiger Erwerbsarbeitszahlen und demographischer Entwicklungen. Nicht die Interessen der Betroffenen sondern die Angst vor zukünftigem Arbeitskräftemangel und das langfristige Ziel einer Entlastung der Sozialhilfeträger bilden den Ausgangspunkt inklusiver Behindertenpolitik. So wird bereits im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Notwendigkeit einer „Beschäftigungsoffensive für Menschen mit Behinderung“ verwiesen. Ziel dieser Kampagne (zu deren Verwirklichung bereits erhebliche finanzielle Mittel aus dem Ausgleichsfonds für die berufliche Qualifizierung und Wiedereingliederung behinderter Menschen zur Verfügung gestellt wurden) ist es, den perspektivisch steigenden Bedarf nach gut qualifizierten und ausgebildeten Arbeitskräften durch die Aktivierung des „inländischen Fachkräftepotenzials“ - zu welchem eben auch Menschen mit Behinderung zählen - zu kompensieren.[14] Daneben ergibt sich ein weiteres Problem: Wenngleich gegenwärtig die durchaus problematische räumliche Trennung der Arbeitswelten behinderter und nichtbehinderter Menschen durch zahlreiche inklusive Modellprojekte bereits beseitigt wird, so geschieht dies nicht ohne neue Ausgrenzungsmechanismen zu produzieren. Zwar scheint durch den Leitgedanken einer inklusiven (Arbeits-)Gesellschaft für alle die Kategorie „Behinderung“ als zentrales Ausschlusskriterium in den Hintergrund zu treten. Gleichzeitig tritt aber mit dem Prinzip der Leistungsfähigkeit des Einzelnen ein neues hegemoniales Selektionskriterium zu Tage.[15] Menschen mit Behinderung werden als Arbeitskräfte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt akzeptiert, sofern sich für die Unternehmen keine ökonomischen Nachteile ergeben. Mögen sie auch nicht ganz so leistungsfähig sein wie ihre nichtbehinderten Arbeitsplatzkonkurrent*innen so sind sie doch entsprechend kostengünstiger, motivierter, leistungsbereiter, „dankbarer“ und lassen sich hervorragend zur Aufwertung des Mit dem sozialpädagogischen Leitprinzip der Aktivierung der Bürger*innen wird nicht nur der staat- lichen Einsparungspolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern auch dem spätkApita listischen Zeitgeist von Eigenverantwortung und autonomem Problemmanagement, der den Betroffenen selbst die Schuld für ihre soziale Lage zuschreibt, entsprochen. betrieblichen Images heranziehen - und dies natürlich alles nur im Sinne der Verwirklichung von Inklusion und zur Wahrung der Menschenrechte.



[13] vgl. Gröschke 2011, S. 50.

[14] vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011). Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. S.38f.

[15] Die Zentrierung auf Leistungsfähigkeit lässt sich exemplarisch an § 136, Abs. 2 SGB IX verdeutlichen: Hier wird der Universalitätsanspruch auf berufliche Teilhabe in der WfbM – und dies „unabhängig von Art oder Schwere der Behinderung“ (ebd.) - zugunsten der Fähigkeit zur Erbringung eines „Mindestmaß[es] wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ (ebd.) eingeschränkt.

Was bleibt?! Plädoyer für eine kritische Skepsis gegenüber dem inklusiven Glücksversprechen

Das dialektische Verhältnis von Unterwerfung und Befreiung, durchzieht alle Versuche der praktischen Umsetzung des Inklusionsgedankens im Bestehenden zwangsläufig; auch und vor allem im Bereich der beruflichen Teilhabe. Dabei entspricht Inklusion - ungeachtet ihres emanzipatorischen Anspruches der Veränderung gesellschaftlicher Dominanzstrukturen - dem neoliberalen Zeitgeist der spätkapitalistischen Gesellschaft und trägt somit zur Reproduktion ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse bei.Unter dem Versuch seiner gesellschaftlichen Verwirklichung wird das Ideal zwangsläufig zur Ideologie, indem es den Anschein erweckt, bereits realisiert, bzw. realisierbar zu sein.[16] Nur eine kritisch-materialistisch ausgerichtete Behindertenhilfe böte folglich das Potenzial, Inklusion eben nicht mehr nur als positives Ideal eines zu verwirklichenden Endziels, sondern primär als ideologischen Begriff aufzufassen, dessen Sinngehalt es stets neu in seinem jeweiligen Bedeutungszusammenhang zu erfragen gilt.

Quelle

Robert Scheuring: Inklusion zwischen Hilfe und Kontrolle - Zur Ambivalenz inklusiver Bemühungen im Bereich der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung, erschienen in: Zeitschrift Distanz - Online Magazin abseits deutscher Konsenswünschen, Ausgabe #02 Juni 2015, Thema: Behinderung, http://distanz-magazin.de/2-behinderung/

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Stand: 8.1.2015



[16] vgl. Adorno, Theodor W. (1972). Beitrag zur Ideologienlehre. In Theodor Wiesengrund Adorno,: Gesammelte Schriften Band 8 – Soziologische Schriften I. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 457-478. Hier: S. 472f.

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