Ein Einblick in den Lebensalltag von Menschen, die behindert werden

Eine Analyse des Verhaltens gegenüber Menschen mit (körperlicher) Behinderung in alltäglichen Begegnungen

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Masterarbeit
Releaseinfo: Masterarbeit eingereicht bei Herrn Dr. Univ.-Ass. Sascha Plangger; Institut für Erziehungswissenschaften; Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzen-Universität; Innsbruck 2014
Copyright: © Schennach 2014

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Dank

Ich bedanke mich bei meinen Eltern Josefine und Andreas, bei meinem Mann Moritz und bei meiner Schwiegermutter Sylvia, die mich während meines Studiums immer unterstützt und mir diesen Abschluss ermöglicht haben. Auch bedanken möchte ich mich bei meiner gesamten Familie und meinen Freunden für ihre Hilfsbereitschaft und Motivation.

Des Weiteren bedanke ich mich bei Herrn Dr. Univ.-Ass. Sascha Plangger für die Betreuung meiner Masterarbeit.

„Innsbruck hat in der Folge jahrelanger Kämpfe immerhin alle öffentlichen Busse mit Klapprampen ausgestattet. Ich fahre nicht oft mit den Bussen, bin Auto-verwöhnt (schlechtes Gewissen). Einmal fahre ich wieder mit dem Bus, bitte den Buslenker die Rampe auszuklappen und gebe ihm Geld für die Fahrkarte. Der Busfahrer: ‚Hast deinen Behindertenausweis dabei? Du bekommst die Karte ermäßigt.’ Ich antworte: ‚Ich möchte bitte eine normale Karte.’ Der Fahrer: ‚Aber mit einem Ausweis bekommst du die Karte ermäßigt!’ Ich: ‚Ich habe keinen Ausweis und möchte eine normale Karte.’ Der Busfahrer schon recht unwillig: ‚Aber...’ Da mischt sich eine Frau ein und sagt zum Fahrer: ‚Schauen Sie ihn doch an!’ – zeigt auf mich – ‚Wozu braucht der einen Ausweis, schauen Sie ihn doch einfach mal an, der braucht keinen Ausweis!’ Ich sage: ‚Ich will bitte eine normale Karte.’ So geht es mehrfach zwischen Busfahrer, der Frau und mir hin und her. Irgendwann dreht sich der Busfahrer zu mir: ‚Hier, für dich die ermäßigte Karte! Aber das nächste Mal nimmst du den Ausweis mit!!!’“

(Schönwiese, Volker 2011, S. 154f)

Einleitung

Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und gleichwertige gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit „Behinderung“ sind zentrale Elemente in den Zielsetzungen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der Disability Studies sowie sehr aktuelle und zentrale Bezugspunkte in erziehungswissenschaftlichen Forschungsfragen- und Interessen.

Ein sehr wesentlicher Einflussfaktor auf das Erreichen dieser Ziele ist das Verhalten von Personen[1], das Personen mit „Behinderung“ vor allem auch in alltäglichen Interaktionssituationen entgegengebracht wird.

Aus diesem Grund ist eine Analyse des Verhaltens gegenüber Menschen mit „Behinderung“ von wissenschaftlicher Relevanz und Aktualität.

Im Rahmen dieser Masterarbeit soll daher das Verhalten von Personen gegenüber Personen mit „Behinderung“ untersucht werden.

Das Interesse für die Bearbeitung dieses Themas entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als Persönliche Assistentin für Menschen mit „Behinderung“. Das Modell der Persönlichen Assistenz entwickelte sich im Rahmen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und soll die Durchführung der vorhin genannten Zielsetzungen ermöglichen. Als Persönliche Assistentin habe ich daher die Aufgabe, Menschen mit „Behinderung“ auf ihrem alltäglichen Lebenswegen zu unterstützen, um ihnen weitreichend ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Während ich meine Kund/- innen in ihrem Alltagsleben begleiten durfte, war ich immer wieder erstaunt und erschrocken über manche Verhaltensweisen, die andere Personen meinen Kund/- innen entgegenbrachten. Durch diese Beobachtungen während meiner Arbeit wurde mein Interesse für das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ geweckt, weshalb ich mich schlussendlich dafür entschied, mich in meinen Forschungsbemühungen für die Masterarbeit diesem Thema zu widmen.

In der vorliegenden Arbeit soll deshalb in erster Linie untersucht werden, wie sich das Alltagsleben für Menschen mit „Behinderung“ hinsichtlich der ihnen entgegengebrachten Verhaltensweisen gestaltet und welche stigmatisierenden Elemente in diesen Begegnungen zu erkennen sind. Des Weiteren soll von Interesse sein, welche Rolle das Beisein einer Persönlichen Assistenz im Bezug auf die Selbstbestimmung des Assistenznehmers oder der Assistenznehmerin spielt und inwieweit eine Selbstbestimmung durch das Wahrnehmen der Assistenz als „Stellvertretung“ für den Assistenznehmer oder die Assistenznehmerin verhindert oder verringert wird.

Das Ziel dieser Untersuchung ist demnach, ersichtlich zu machen, welche Erfahrungen Menschen mit „Behinderung“ mit dem Verhalten anderer Personen machen und wie sich ihre Interaktionssituationen gestalten. Dabei soll auch berücksichtigt werden, welche Faktoren eventuell zu positiven Interaktionen und Verhaltensweisen führen können. Des Weiteren soll in Erfahrung gebracht werden, welchen Einfluss die Persönliche Assistenz auf die Interaktion und die Verhaltensweisen von Personen gegenüber Personen mit „Behinderung“ hat und worauf deshalb in der Tätigkeit als Persönliche Assistenz geachtet werden sollte.

Bei der Bearbeitung dieses Themas soll anlehnend an Anne Waldschmidt (2003, S. 12f) „Behinderung“ keinesfalls „als (natur-)gegebene, vermeintlich objektive, medizinisch-biologisch definierte Schädigung oder Beeinträchtigung verstanden [werden], sondern [...] als ein kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal“ betrachtet werden, weshalb der Begriff als Verdeutlichung dafür immer unter Anführungszeichen gesetzt werden soll. Es wird daher im Rahmen dieser Arbeit - im Sinne der Disability Studies und des sozialen Modells von „Behinderung“ (siehe Kapitel 1) - davon ausgegangen, dass „Behinderung“ nicht etwas ist, das einfach vorhanden ist, sondern etwas beschreibt, das erst durch gesellschaftliche Prozesse hergestellt wird.

Des Weiteren soll darauf verzichtet werden eine explizite definitorische Trennung von den unterschiedlichen Arten von „Behinderung“, wie etwa körperlicher und geistiger „Behinderung“, herauszuarbeiten. Vielmehr soll unter „Behinderung“ grundlegend eine „behindernde“ Gesellschaftsordnung und demnach „behindernde“ Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ verstanden werden, welche die unterschiedlich definierten Formen von „Behinderung“ gleichermaßen betrifft.

Aufgrund der körperlich sichtbaren „Behinderung“ meiner Kundinnen, die in meinen Forschungsprozess als Begleiterinnen und Interviewpartnerinnen inkludiert waren und aufgrund meines Forschungsinteresses, das sich auf die kurzfristige und spontane Reaktion von Personen gegenüber Personen mit „Behinderung“ in Alltagssituationen bezieht, spielt in der vorliegenden Arbeit vor allem der Faktor der Sichtbarkeit der „Behinderung“ eine zentrale Rolle. Im Rahmen der Stigmatheorie bewegen wir uns damit hauptsächlich in der Perspektive von sogenannten diskreditierten Personen, d.h. von Personen, die aufgrund einer „Behinderung“, welche für andere Personen wahrnehmbar ist, abwertenden Verhaltensmustern ausgesetzt sind. (siehe Kapitel 3.1; 3.4)

Von zentraler Bedeutung ist deshalb nicht die Art der „Behinderung“ einer Person, sondern dass einer Person, durch ein bestimmtes wahrnehmbares Merkmal, eine „Behinderung“ zugeschrieben wird.

Die im Rahmen dieser Masterarbeit erbrachten Ergebnisse wurden durch einen theoretischen und einen empirischen wissenschaftlichen Zugang erarbeitet.

Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit werden die (Hinter-)Gründe für die abwertenden und diskriminierenden Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ diskutiert und die bisherigen Ergebnisse bezüglich der unterschiedlichen Verhaltensweisen veranschaulicht. Dabei werden Forschungsmeinungen und Theorien aus dem Bereich der Stigmatheorie herangezogen. Es wird grundlegend mit der theoretischen Annahme gearbeitet, dass die Zuschreibung eines gewissen (Stigma-)Merkmals der Auslöser für eine negative Kategorisierung und demnach herabwertende und diskriminierende Verhaltensweisen gegenüber Personen mit „Behinderung“ sein kann.

Des Weiteren wird im theoretischen Teil der Arbeit die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ aufgegriffen und beschrieben, welchen Einfluss das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ auf die Verwirklichung einer selbstbestimmten Lebensweise haben kann und welche Rolle dabei auch die Persönliche Assistenz spielt. Eine Aberkennung der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ wird dabei als stigmatisierendes Verhalten diskutiert, wodurch die Verbindung zwischen den theoretischen Inhalten der Stigmatheorie und dem Faktor Selbstbestimmung ersichtlich wird.

Im zweiten Teil der Arbeit wird der empirische Forschungsprozess beschrieben, wobei eine teilnehmende Beobachtung im Rahmen meiner Tätigkeit als Persönliche Assistenz und zwei problemzentrierte Interviews mit meinen Kundinnen (Assistenznehmerinnen) durchgeführt wurden. Die Assistenznehmerinnen wurden dabei nicht als Probanden behandelt, sondern als Mitwirkende in meinen Forschungsarbeiten gesehen. Vor allem durch die Interviews war es möglich, meine eigenen Beobachtungen zu hinterfragen und zu reflektieren und eine „Expertenperspektive“ zu gewinnen.

Sowohl die theoretischen als auch die empirischen Ausarbeitungen haben grundsätzlich ergeben, dass sich in vielen alltäglichen Begegnungen von Personen mit Personen mit „Behinderung“ stigmatisierende und in dem Sinne abwertende und diskriminierende Verhaltensweisen erkennen lassen. Bei diesen stigmatisierenden Verhaltensweisen handelt es sich sehr häufig nicht um offensichtliche, gesellschaftlich negativ definierte Verhaltensweisen, sondern um „getarnte“ negative Verhaltensweisen, die gesellschaftlich positiv beurteilt werden, jedoch für die Betroffenen immer noch ein nachteiliges Verhalten bedeuten. Es wurden allerdings auch Faktoren ersichtlich, welche die Interaktion zwischen Personen und Personen mit „Behinderung“ möglicherweise positiv beeinflussen können und die somit entscheidende Anhaltspunkte für die Bemühungen darstellen, eine Veränderung in diesem Bereich zu bewirken.



[1] Wenn von Personen oder Menschen im Allgemeinen gesprochen wird sollen Personen bzw. Menschen mit und ohne „Behinderung“ gleichermaßen angesprochen werden. Vor allem im Hinblick auf die empirische Forschung kann keine wahrheitsgetreue Aussage darüber gemacht werden, ob eine beobachtete Person „behindert wird“ oder nicht. Zu berücksichtigen ist natürlich, dass die häufigsten Begegnungen und damit erforschten Situationen mit Personen ohne (ersichtliche) „Behinderung“ stattfinden.

I Theoretischer Teil

1. Das Verständnis von „Behinderung“ im Rahmen der Disability Studies

Im folgenden Kapitel soll ein Überblick über die Disability Studies und deren Forschungsinteressen gegeben werden und in diesem Rahmen auch das Verständnis von „Behinderung“ in den Disability Studies erläutert werden. Diese Masterarbeit soll sich auch im Forschungsbereich der Disability Studies positionieren, weshalb „Behinderung“, wie folgt beschrieben, verstanden werden soll. Zudem wird auf eine etwas spezifischere Definition von „Behinderung“ durch Günther Cloerkes eingegangen werden, der sich unter anderem speziell mit der Interaktion zwischen Menschen mit und ohne „Behinderung“ auseinandergesetzt hat und für diesen Forschungsbereich eine Arbeitsdefinition aufgestellt hat.

1.1 Die historische Entwicklung der Disability Studies und deren inhaltliche Interessen

Die Disability Studies entstanden und entwickelten sich aus den Behindertenbewegungen, die in den 1960er Jahren in unterschiedlichen Ländern aufkamen. Als Beispiele zu nennen sind etwa die Krüppelbewegung in Deutschland oder die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Ziel dieser Bewegungen war der Kampf für Autonomie, Unabhängigkeit sowie Gleichberechtigung von Menschen mit „Behinderung“ und in diesem Sinne der Kampf gegen Diskriminierung. (vgl. Renggli 2004, S. 15)

Neben den öffentlichen Protesten und der Bildung von Organisationen gewannen die Inhalte der Behindertenbewegung auch im akademischen Bereich größere Beachtung. Die Herausbildung eines wissenschaftlichen Bereichs, der sich reflexiv mit dem Themenbereich „Behinderung“ auseinandersetzte, erfolgte zunächst in den USA und in England sehr stark, wo die Disability Studies seit Anfang der 1980er Jahre an Universitäten gelehrt werden. An dieser Stelle zu nennen sind der amerikanische Soziologe Irving Kenneth Zola und der englische Sozialwissenschaftler Michael Oliver, die beide selbst behindert sind. Sie gelten als Schlüsselfiguren in der Entwicklung der Theorie des sozialen Modells, das für das Verständnis von „Behinderung“ im Rahmen der Disability Studies zentral ist und auf das im nächsten Kapitel noch genau eingegangen wird. (vgl. Waldschmidt 2009, S. 126/ Degener 2003, S. 23f)

In Deutschland können nach Waldschmidt (2003, S.11/ 2009, S. 127) die beiden Tagungen „Der (im)perfekte Mensch“ (2001) und „PhantomSchmerz“ (2002), sowie die Sommeruniversität „Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken!“ als Startsignale für den Einzug der Disability Studies gedeutet werden, wobei die Autorin darauf hinweist, dass auch schon früher entstandene wissenschaftliche Arbeiten dem Bereich der Disability Studies zugeordnet werden können. Mittlerweile haben die Disablility Studies auch im deutschsprachigen Raum ihren Platz an einigen Universitäten gefunden, wie beispielsweise auch an der Universität Innsbruck. (vgl. Waldschmidt 2009, S. 127f)

Bei den Disability Studies handelt es sich um eine internationale Querschnittsdisziplin, die nach Waldschmidth und Schneider (2007, S. 12f) drei wesentliche Ziele erreichen möchte.

Zum Ersten verfolgen die Disability Studies das Ziel den Forschungsgegenstand „Behinderung“ ins Zentrum eines wissenschaftlich fundierten Forschungsprogramms zu stellen. Alle Arbeiten, die in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen zu dem Thema „Behinderung“ durchgeführt werden bzw. wurden, sollen unter dem Deckmantel der Disability Studies zusammengebracht werden, um damit ein eigenes Forschungsgebiet etablieren zu können.

Zum Zweiten haben die Disability Studies auch einen emanzipatorischen Anspruch. Es wird versucht, die Forderungen „behinderter“ Personen auch auf einer wissenschaftlichen Ebene aufzunehmen um Veränderungen bewirken zu können. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, müssen „behinderte“ Menschen selbst zu Wort kommen und selbst Wissenschaft betreiben können. Bei den Begründern und Begründerinnen der Disability Studies handelt es sich deshalb auch um Wissenschaftler/-innen, die selbst eine „Behinderung“ haben oder hatten, oder durch ihr familiäres Umfeld damit vertraut sind. Das Ziel in diesem Zusammenhang ist das Erlangen eines vollkommenen Subjektstatus und eine uneingeschränkte Partizipation.

Ein dritter wesentlicher Punkt in den Disability Studies ist das Ausüben von Kritik gegenüber den Rehabilitationswissenschaften. Die Disability Studies orientieren sich nicht, wie etwa die Rehabilitationswissenschaften, an einem individuellen oder auch medizinischen Modell von „Behinderung“ (siehe Kapitel 1.2), sondern an einem sozialen Modell (siehe Kapitel 1.2), das die Gesellschaft als wichtige Variable bei der Entstehung von „Behinderung“ miteinbringt. (vgl. Waldschmidt/Schneider 2007, S. 12f)

„In den Disability Studies geht man davon aus, dass körperliches >Anderssein< und >verkörperte Differenz< weit verbreitete Lebenserfahrungen darstellen, deren Erforschung zu Erkenntnissen führt, die nicht nur für die auf >Behinderung< spezialisierten gesellschaftlichen Teilsysteme und die so genannten >Betroffenen<, sondern für die allgemeine Gesellschaft und für das Verständnis des Zusammenlebens von Menschen schlechthin relevant sind.“ (Waldschmidt/Schneider 2007, S. 13)

Anlehnend an dieses Zitat, soll im nächsten Kapitel nun das Soziale Modell von „Behinderung“ und das Verständnis von „Behinderung“ im Bereich der Disability Studies näher erklärt werden.

1.2 Eine neue Denkweise von „Behinderung“ durch das im Rahmen der Disability Studies entwickelte „soziale Modell“ und die Definition von „Behinderung“ aus einer interaktionistischen Perspektive durch Günther Cloerkes

Mit der Entwicklung der Disability Studies fand eine Veränderung des akademischen Denkens in Bezug auf „Behinderung“ statt. Vor diesem Paradigmenwechsel herrschte in wissenschaftlichen Kreisen ein medizinisches Verständnis von „Behinderung“ vor. Dieses medizinische Modell von „Behinderung“, das auch individuelles Modell von „Behinderung“ genannt wird, fokussiert die körperliche Unvollkommenheit eines „behinderten“ Menschen, wodurch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen als wesentliches Problem gedeutet werden. Das Problem liegt damit bei der Person selbst. Im Rahmen des sozialen Modells von „Behinderung“ wird die soziale Benachteiligung ins Zentrum gerückt, die ein Mensch durch die Gesellschaft erfährt und damit „behindert wird“. (vgl. Priestley 2003, S. 23f/ Waldschmidt 2009, S. 130f)

„Nach dem sozialen Model[l] sind es die Treppen am Eingang eines Hauses, die es einer Rollstuhlfahrerin unmöglich machen, in das Haus hinein zu kommen. Nach dem medizinischen Model[l] kommt die Rollstuhlfahrerin nicht in das Haus, weil sie nicht gehen kann.“ (Degener 2003, S. 24)

Mit dieser Entwicklung eines Verständnisses von „Behinderung“ als soziales Konstrukt hat sich also der Problemfaktor, der zunächst dem Individuum selbst zugeschrieben wurde, in den Bereich der Gesellschaft verschoben. „Behinderung“ wird demnach als etwas verstanden, das durch gesellschaftliche Prozesse produziert wird. Einhergehend mit diesem neuen Verständnis von „Behinderung“ unterschied man nun auch den Begriff „Beeinträchtigung“ (impairment) von dem Begriff „Behinderung“ (disability), wobei letzterer sich eben nicht auf ein „Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation“ (Waldschmidt 2009, S. 130) bezieht.

Aus diesen Gründen geht es in Forschungsunternehmungen der Disability Studies nicht darum, eine „behinderte“ Person zum Forschungsgegenstand zu machen, sondern es soll „Behinderung“ als Ausgrenzungsfaktor im Kontext eines gesellschaftlichen Systems analysiert werden. Die Disability Studies beschäftigen sich daher mit Einschränkungen, die sich durch die Systematik einer Gesellschaft für „behinderte“ Menschen und nicht etwa durch den körperlichen Zustand eines Individuums ergeben. (vgl. Priestley 2003, S. 26ff)

Nach Priestley (DPI 1982 zit. nach Priestley 2003, S. 27) kann man „Behinderung“ im Rahmen des sozialen Modells als den

„Verlust oder die Begrenzung von Möglichkeiten, am normalen Leben in der Gemeinschaft auf gleichberechtigter Ebene mit anderen teilzunehmen, die auf räumliche und soziale Barrieren zurückgeführt werden können“

definieren.

Auch Günther Cloerkes versteht „Behinderung“ als etwas, das sozial konstruiert ist und befindet sich damit mit seiner Definition im sozialen Modell von „Behinderung“. Darüberhinaus hat er sich unter anderem speziell der Forschung über „Behinderung“ im interaktionistischen Bereich gewidmet und eine dementsprechende Definition ausgearbeitet.

Die Definition, die Cloerkes in seiner Arbeit vorstellt, wurde zusammen mit Dieter Neubert im Rahmen einer Studie zum interkulturellen Vergleich herausgearbeitet und ist nach Cloerkes für den behindertensoziologischen Forschungsbereich von Interesse. Die Definition betrachtet „Behinderung“ aus einer interaktionistischen Perspektive, weshalb sie für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung ist. (vgl. Cloerkes 2007, S. 7)

Nach Cloerkes (2007, S. 8) ist

„[e]ine Behinderung [...] eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird.“

Er verwendet den Begriff „dauerhaft“ um eine „Behinderung“ von einer Krankheit zu unterscheiden, weshalb er auch chronische Krankheiten zu dem Bereich „Behinderung“ zuordnet. „Sichtbar“ bezieht sich darauf, dass andere Personen über diese Abweichung Bescheid wissen, also ein Merkmal als Abweichung erkennen. Dabei muss dieses Merkmal bzw. die Abweichung nicht unbedingt visuell sichtbar sein. Eine Person muss das Merkmal aber durch irgendetwas erkennen können und darauf reagieren, wobei die (negative) Reaktion der entscheidende Faktor ist.

Für Cloerkes (ebd.) ist demnach ein Mensch

„>>behindert<<, wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist.“

Unter „sozialer Reaktion“ versteht Cloerkes nicht in erster Linie formale Definitionsvorgänge, wie sie z.B. in der Diagnostik auftreten können, sondern vor allem „die Gesamtheit der Einstellungen und Verhaltensweisen auf der informellen Ebene zwischenmenschlicher Interaktion.“ (ebd.) Sehr wichtig an dieser Stelle noch hinzuzufügen ist, dass Cloerkes darauf hinweist, dass die negative Bewertung bzw. Einstellung zu „Behinderung“ nicht gleichzeitig zu einer negativen Reaktion im Sinne eines negativen Verhaltens führen muss. Er betont, dass ein Unterschied zwischen der Bewertung von „Behinderung“ und der Reaktion auf bzw. dem Verhalten gegenüber Personen mit „Behinderung“ besteht und hier in jedem Fall eine strikte Trennung vorgenommen werden soll.

Ausschlaggebend für die vorgestellte Definition ist daher, dass Cloerkes davon ausgeht, dass gewisse Merkmale von Personen auffallen und zu Spontanreaktionen führen. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Merkmalen mit Stimulusqualität“. Entscheidend für ihn ist daher das Auftreten einer (negativen) Reaktion.

Dieses Merkmal, das eine Reaktion auslösen soll, ist nach Cloerkes eine „Andersartigkeit“ und entspricht nicht den sozialen Erwartungen. „Andersartigkeit“ muss dabei aber nicht schon zwingend als etwas Negatives bewertet werden. Es kann sich dabei auch um eine positive oder ambivalente Bewertung handeln, wobei eine gleichgültige Haltung gegenüber dem Merkmal ausgeschlossen wird, da es sich im Rahmen der Definition um ein Merkmal mit Stimulusqualität handeln muss.

Demnach wird nach Cloerkes erst dann von „Behinderung“ gesprochen, wenn diese „Andersartigkeit“ auch tatsächlich negativ bewertet wird. Diese Bewertung hängt von den jeweiligen Normen und Erwartungen einer Kultur ab, wodurch sich in diesem Bereich auch Unterschiede in den Kulturen ergeben können. (vgl. ebd. S. 5f)

Felkendorff (2003, S. 42f) weist darauf hin, dass nach Cloerkes Definition das Erkennen dieser „Andersartigkeit“ auch durch nur eine Person geschehen kann, oder sogar durch die Person mit dem Merkmal selbst. Beispielsweise kann deshalb auch ein Merkmal, das im Grunde für andere nicht sichtbar oder erkennbar ist, aber von der Person selbst als nicht der Norm entsprechend und unerwünscht eingestuft wird, als „Behinderung“ gedeutet werden.

Der Bezug, der in Cloerkes Definition zu der „körperlichen Abweichung“ hergestellt wird, ist nicht als zentraler Blick auf das Körperliche zu verstehen und ist keine Annäherung an das individuelle oder medizinische Verständnis von „Behinderung“. Es geht Cloerkes um die Reaktion von Personen, wenn diese ein solches Merkmal oder eine Abweichung bei einer Person bemerken und daher um die gesellschaftliche Systematik, die „Behinderung“, durch eine negative Bewertung dieser Abweichung, entstehen lässt. Kurz gesagt entsteht „Behinderung“ nach Cloerkes im Rahmen einer Interaktion. Er befindet sich damit mit seiner Definition im sozialen Modell von „Behinderung“ und interpretiert sie als ein Produkt gesellschaftlicher Vorgänge. (vgl. Cloerkes 2007, S. 5f)

An dieser Stelle soll noch darauf hingewiesen werden, dass meiner Interpretation zufolge auch das im Folgenden vorgestellte kulturelle Modell von „Behinderung“ für die Definition Cloerkes eine Rolle spielt. Es wird im nächsten Kapitel noch genauer darauf eingegangen werden, wie sich dieser Zusammenhang des kulturellen Verständnisses von „Behinderung“ und der Definition Cloerkes gestaltet.

1.3 Die Erweiterung des Begriffsfeldes „Behinderung“ in den Disability Studies durch das „kulturelle Modell“

Wie in den vorangegangenen Seiten beschrieben wurde, spielt das soziale Modell von „Behinderung“ in den Disability Studies eine zentrale Rolle und ist wegweisend für das Verständnis von „Behinderung“. Trotzdem wird das soziale Modell innerhalb der Disability Studies auch kritisiert. Einer der wichtigsten Kritikpunkte betrifft dabei den wissenschaftlichen Umgang mit dem „Körperlichen“. Beispielsweise kritisieren poststrukturalistische Ansätze, dass die Schädigung oder Beeinträchtigung (engl. Impairment), also das Körperliche, in dem sozialen Modell von „Behinderung“ zu wenig ins Blickfeld rückt. Dabei soll natürlich nicht der Körper wieder als Problemfaktor in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern es geht darum, Impairment auch als historisch und kulturell sehr ausschlaggebende Variable anzuerkennen und hinsichtlich historischer und kultureller Entwicklungen zu analysieren. Dem sozialen Modell wird diesbezüglich ein unkritischer Naturalismus vorgeworfen, in dessen Rahmen Impairment als naturgegeben interpretiert wird.

Die Interessen der kulturwissenschaftlich ausgelegten Forschung liegen demnach darin, den Prozess selbst zu untersuchen, der überhaupt zu Kategorisierungen führt. Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse werden daher als etwas Relatives und Historisches, also sich mit der Zeit änderndes, verstanden. (vgl. Waldschmidt 2009, S. 131)

Shelley Tremain (2000/ 2001, zit. nach Waldschmidt 2007b, S. 180) weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass es Aufgabe der Disability Studies sei, Impairment ebenfalls als soziales Konstrukt, das erst durch die gesellschaftliche Systematik entsteht, zu analysieren.

Im kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz wird im Grunde die gängige Forschungsperspektive umgedreht: „Die Mehrheitsgesellschaft wird aus Sicht der ‚Behinderung’ untersucht und nicht umgekehrt, wie es eigentlich üblich ist.“ (Waldschmidt 2003, S. 16) Die Forschungsinhalte beziehen sich somit beispielsweise darauf, wie kulturelles Wissen zu Körperlichkeit erzeugt wird, wie Normalitäten oder Abweichungen entstehen, wie sich gesellschaftliche Praktiken der Ein- und Ausschließung gestalten oder wie neue Körperbilder und Subjektbegriffe erschaffen werden. (vgl. ebd.)

In den kulturwissenschaftlichen Bereichen der Disability Studies geht es demnach auch darum, „[w]elches Verhältnis [...] zwischen dem >behinderten Körper< (impairment) und >Behinderung< (disability) [besteht].“ (Waldschmidt 2007a, S. 39)

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Verhältnis zwischen dem „Körperlichen“ und dem sozialen Konstrukt „Behinderung“ auch Bedeutung für die Inhalte der vorliegenden Masterarbeit hat. Wie es schon der Definition Cloerkes entnommen werden kann, wird die Reaktion auf eine „behinderte“ Person durch das Erkennen einer „(körperlichen) Abweichung“ hervorgerufen. Meiner Ansicht nach spielt daher auch das Körperliche, im Rahmen dieser Definition von „Behinderung“ eine Rolle. Jetzt sind wir im Grunde an einem Brennpunkt der Disability Studies und auch dieser Masterarbeit angekommen. Wie in diesem Kapitel erläutert wurde, wird an der Ausrichtung des sozialen Modells von „Behinderung“ kritisiert, dass sie der Verkörperung von „Behinderung“ bzw. dem Entstehen der Kategorisierung „behinderter Körper“ keine Beachtung schenkt und „Impairment“ in dem Sinne als naturgegeben interpretiert. Auch an Goffman, der in dieser Arbeit eine sehr zentrale Rolle spielen wird, kritisiert Waldschmidt (2011, S. 94), dass er die körperliche Beeinträchtigung als naturgegeben interpretiert und sich nicht reflexiv zu ihr verhält. Sie weist des Weiteren darauf hin, dass sich die Gestaltung und der Ablauf von face-to-face-Interaktionen vor dem Hintergrund vorangegangener und gegenwärtiger Prozesse von Macht, Gewalt und Herrschaft ergeben, weshalb die gesellschaftsanalytische Ebene nicht ignoriert werden darf.

Ich stimme den angeführten Argumentationen zu und kann in Bezug auf das soziale Modell von „Behinderung“ ebenfalls diese Lücke feststellen, weshalb es sehr interessant wäre, mein Forschungsinteresse aus sozialer sowie kultureller Perspektive zu analysieren. In der vorliegenden Arbeit soll aber trotzdem nicht ein umfassender Bezug zu beiden Modellen hergestellt und keine Forschung aus beiden Perspektiven durchgeführt werden, da sich die Forschungsfrage dieser Arbeit ganz speziell auf die Verhaltensebene und in diesem Sinne auf eine Handlungsebene bezieht. Es soll also nicht gesellschaftsanalytisch vorgegangen werden, sondern Handlungsorientiert.

Um diese Lücke, die sich durch die Orientierung an einer Forschungsperspektive, in diesem Falle an dem sozialen Modell von „Behinderung“, nicht weiterhin wortlos bestehen zu lassen, soll dennoch ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass diese Arbeit nur eine mögliche Perspektive erörtert und es hinsichtlich weiterer Beschäftigungen in diesem Bereich von Interesse wäre, durch die zweite kulturell ausgerichtete Forschungsperspektive ein noch umfassenderes Bild der Forschungsarbeit zu geben.

Zusammenfassend soll demnach „Behinderung“ in der vorliegenden Masterarbeit als etwas verstanden werden, dass durch gesellschaftliche Prozesse entsteht und sich nicht auf eine „behinderte“ Person, sondern deren Benachteiligungen durch räumliche, und anlehnend an meine Forschungsfrage, vor allem soziale Barrieren bezieht. Dabei soll berücksichtigt werden, dass das (Wieder-)Erkennen eines beeinträchtigten Körpers bzw. das Einstufen eines Körpers als „beeinträchtigten“ nicht naturgegeben ist, sondern ebenfalls erst durch gesellschaftliche Prozesse entstanden ist.

Im nächsten Kapitel soll nun eine theoretische Darstellung bezüglich des Entstehens von Verhaltensweisen und Reaktionen gegenüber Menschen mit körperlicher „Behinderung“ erfolgen und ausgearbeitet werden, welche Thesen zur Begründung negativer Reaktionsmuster gegenüber Menschen mit körperlicher „Behinderung“ von den Wissenschaftler/-innen argumentiert werden.

2. Ein Einblick in unterschiedliche Forschungsbereiche und deren theoretische Ausarbeitungen zum Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ sowie eine theoretische Positionierung der vorliegenden Forschungsarbeit

In diesem Kapitel soll eine Übersicht über die unterschiedlichen Forschungsbereiche, die sich mit der in dieser Arbeit dargestellten Thematik auseinandersetzen, gegeben werden und es soll dargestellt werden, welche Grundthesen die jeweiligen Forschungsbereiche vertreten. Der Grund für die Berücksichtigung und Darbietung mehrerer theoretischer Zugänge im Rahmen dieser Arbeit ist, dass die unterschiedlichen Forschungsbereiche Gemeinsamkeiten in ihren theoretischen Ausarbeitungen aufweisen weshalb sie in jedem Fall auch als sich ergänzende Bereiche verstanden werden können und ihre Zusammenhänge Beachtung finden sollten. Darüber hinaus handelt es sich bei den Disability Studies, wie schon beschrieben wurde, um eine Querschnittsdisziplin, in der unterschiedlichste Forschungsbereiche vertreten sind. Auch dieses Kennzeichen der Disability Studies soll an dieser Stelle noch einmal Beachtung finden.

Des Weiteren soll im Rahmen der folgenden Darstellung der unterschiedlichen Forschungsperspektiven auch geklärt werden, in welchem Forschungsbereich sich die vorliegende Masterarbeit einordnen lässt.

Die Autoren Cloerkes (2007; 1985), Fries (2005) und Nickel (1999) nehmen in ihrer Literatur Bezug auf die unterschiedlichen Forschungsbereiche und Analysen hinsichtlich der Reaktion und des Verhaltens gegenüber Menschen mit „Behinderung“. Im Folgenden erfolgt daher eine Darstellung ihrer Ausarbeitungen.

Grundsätzlich unterscheiden die Autoren vier Forschungsbereiche, die sich mit dem hier behandelten Thema auseinandersetzen.

2.1 Psychoanalytischer Forschungsbereich

Im psychoanalytisch orientierten Erklärungsansatz spielt vor allem die „Angst-Abwehr“ eine sehr zentrale Rolle.

Für das Verständnis dieses theoretischen Modells muss aber zunächst einmal grundsätzlich die Unterscheidung in drei Instanzen des psychischen Apparates dargestellt werden, da diese Unterscheidung die Basis für psychoanalytische Untersuchungen darstellt. Mit dem Instanzenmodell des psychischen Apparates unterscheidet Freud zwischen dem „Es“, dem „Ich“ und dem „Über-Ich“. Das Es bezieht sich auf den Bereich der Triebe und der unbewussten sowie verdrängten Vorstellungen. Das Es kann man im Grunde als etwas charakterisieren, dessen Bestrebungen aufgrund seiner Triebhaftigkeit auch meistens nicht den normativen Werten der Gesellschaft entsprechen. Das Ich ist die Schlüsselstelle des psychischen Apparates. Es reguliert unterschiedliche Einflüsse von Innen (Es) und Außen (Über-Ich) und vermittelt zwischen diesen beiden Instanzen. Die Regulation geschieht durch Angst und Schuldgefühle, die durch den Einfluss des Über-Ichs entstehen. Das Über-Ich bezieht sich demnach auf gesellschaftliche Richtlinien und Normen und möchte diesen gerecht werden. (vgl. Ermann 2008, S. 40ff)

Um Konflikte bewältigen zu können, die möglicherweise zwischen den drei Instanzen entstehen, werden automatisch unterschiedliche Abwehrmechanismen aktiv, auf die Cloerkes (1985) im Bezug auf „Behinderung“ kurz eingeht. (vgl. Lahmer 2006, S. 247f)

Nach Cloerkes (1985, S. 21) ist die „[n]atürliche, triebhafte Ablehnung des Behinderten (‚Es’) [...] gesellschaftlich stark sanktioniert und diese Tatsache führt zu Schuldangst vor dem verinnerlichten Über-Ich (‚Gewissen’)“. Diese Schuldangst, die aufgrund der negativen Gefühle gegenüber der „behinderten“ Person hervorgerufen wird, kann nun durch unterschiedliche Abwehrmechanismen verarbeitet werden. Beispielsweise ist es möglich, dass die Schuldangst verdrängt wird, bevor sie in das Bewusstsein der Person vordringt. Zwei weitere sehr interessante Abwehrvarianten, die Cloerkes aufgreift, sind die Projektion und die Rationalisierung. Bei der Projektion werden eigene Gefühle, wie die widersprochenen Regungen, die durch die Begegnung mit einer „behinderten“ Person entstehen können, auf diese Person übertragen bzw. dieser Person zugeschrieben. Die Rationalisierung bezieht sich auf das Rechtfertigen von eigenen Handlungen durch Vernunftgründe, also auf eine rationale Erklärung, oder wie es Cloerkes beschreibt auf eine Scheinbegründung. (vgl. Cloerkes 1985, S. 21f; Lahmer 2006, S. 247f) Demnach können beispielsweise „die eigenen, widersprochenen Regungen [...] dem Behinderten zugeschrieben [werden] (‚Projektion’) und die ganze Aktion mit einer Scheinbegründung versehen [werden] (‚Rationalisierung’).“ (Cloerkes 1985, S. 22)

Zusammenfassend orientiert sich der psychoanalytische Forschungsbereich daher an der These, dass eine „gesunde“ Person sich bei der Begegnung mit einer Peron mit „Behinderung“ unbewusst schuldig fühlt, woraufhin dieser Schuldgedanke abgewehrt wird und damit der Ausgangspunkt für Angstkomplexe und Ablehnung gegenüber der Person mit „Behinderung“ geschaffen wird. (vgl. Cloerkes 1985)

2.2 Psychologischer Forschungsbereich

Auch im Bereich der psychologischen Forschung wird der Kategorie „Angst“ besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weshalb sie nach Cloerkes auch nicht vollständig von der psychoanalytischen Forschung getrennt werden sollte. (vgl. Cloerkes 1985, S. 25)

Grundsätzlich werden von den Autoren Cloerkes, Fries und Nickel zwei bedeutende theoretische Abhandlungen im Rahmen des psychologischen Forschungsbereichs vorgestellt, die im Folgenden kurz beschrieben werden sollen.

  1. Body-Concept- bzw. Body-Image-Ansatz

In diesem theoretischen Modell spielt vor allem die Vorstellung von sich selbst – im Rahmen des symbolischen Interaktionismus wird von „Selbst“, self-concept oder self-image gesprochen – eine zentrale Rolle. Dieses Bild von sich selbst beinhaltet auch die Vorstellung, die ein Mensch von seinem Körper hat. An dieser Stelle wird von body-image oder auch body-concept gesprochen.

Hinsichtlich der großen Bedeutung von Schönheit und körperlicher Integrität in unserer Gesellschaft, haben diese Faktoren auch einen starken Einfluss auf unser body-image.

Die zentrale und ausschlaggebende These in diesem theoretischen Bereich ist daher, dass der Grund für eine angstbesetzte Begegnungssituation von Menschen mit „Behinderung“ und Menschen ohne „Behinderung“ darin liegt, dass Menschen, wenn sie einer Person mit „Behinderung“ begegnen, unbewusst eine Bedrohung ihrer eigenen physischen Integrität verspüren. Zum einen geschieht dies dadurch, dass „der Nichtbehinderte eine andauernde Angst vor Verlust dieses Besitzstandes [empfindet], die bei jeder Konfrontation mit einem Körperbehinderten erneut aktualisiert wird.“ (Cloerkes 1985,S. 28) Zum anderen weisen Wissenschaftler/-innen auf die Möglichkeit einer „magischen Furcht“ vor Ansteckung hin, die sich aus der historischen Entwicklung ablesen lässt und die in erster Linie aufgrund von Unwissenheit entstehen kann.

Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Einstellung gegenüber eines Menschen mit körperlicher „Behinderung“ dabei auch stark von dem self-image und vor allem dem body-image einer Person abhängt. Je nachdem wie groß die Angst einer Person ist, ihre körperliche Integrität zu verlieren, wird sie bei einer Begegnung mit einer Person mit körperlicher „Behinderung“ mehr oder weniger Verlustangst verspüren. (vgl. Cloerkes 1985, S. 26ff; Fries 2005, S. 54; Nickel 1999)

  1. Kognitive Konsistenztheorien

In diesem theoretischen Bereich wird davon ausgegangen, dass „Gedanken, Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen dazu tendieren, sich selbst auf sinnvolle und vernünftige Weise zu organisieren“. (Schmidt et al., 1975, S. 154 zit. nach Cloerkes 1985, S. 30)

Im Bezug auf die Einstellungen, Vorurteile und Verhaltensweisen gegenüber Personen mit einer „Behinderung“ geht man demnach davon aus, dass Personen Einstellungen und Verhaltensweisen entwickeln, die Spannungen in ihrem Lebensalltag vermindern sollen. Daher werden beispielsweise auch ausgewogene Beziehungen unharmonischen Beziehungen vorgezogen. (vgl. Fries 2005, S. 54)

Die Autoren gehen in diesem Zusammenhang wiederum auf zwei theoretische Ausarbeitungen ein. Zum einen wird die Gleichgewichtstheorie Herders kurz dargestellt. Die Grundannahme dieser Theorie ist, dass wir in Interaktionen einen Gleichgewichtszustand erreichen möchten, der vor allem auch von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der Interaktionspartner abhängt. Demzufolge verursachen Faktoren wie Andersartigkeit und Fremdheit, die häufig bei „behinderten“ Personen wahrgenommen werden, eine Störung des Gleichgewichtszustandes in Interaktionen und führen daher zu negativen Reaktionen. Zum anderen beschreiben die Autoren die kognitive Dissonanztheorie Festingers. Das Problem, auf das sich diese Theorie bezieht, ergibt sich im Grunde durch eine Dilemma-besetze Situation in der sich eine Person befindet. Eine Dissonanz entsteht dadurch, dass eine Person aufgrund gesellschaftlicher Anforderungen gezwungen wird etwas zu tun, was eigentlich nicht ihren Vorstellungen und Überzeugungen entspricht. Fries (2005, S. 54f) weist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf Spendenaktionen hin, die eine gute Möglichkeit zur Dissonanzreduktion darstellen. Die Gesellschaft fordert uns auf, auf Menschen mit „Behinderung“ zuzugehen und Hilfe zu leisten. Wie in den dargestellten Theorien schon ersichtlich wurde, werden viele Personen mit dieser Anforderung Schwierigkeiten haben und vor allem einen persönlichen Kontakt vermeiden wollen. Sie befinden sich demnach in dem bereits beschriebenen Dilemma zwischen gesellschaftlichen Forderungen und eigenen Vorstellungen, haben jedoch beispielsweise den Ausweg der Spendenaktion, wo sie beiden Ansprüchen entgegenkommen können. Im Bezug auf Menschen mit „Behinderung“ ergibt sich dadurch die Situation des Ausschlusses und der Isolation (vgl. Cloerkes 1985, S. 30ff; Fries 2005, S. 54f; Nickel 1999)

2.3 Sozialpsychologischer Forschungsbereich

In den theoretischen Abhandlungen im sozialpsychologischen Forschungsbereich spielen vor allem die Benachteiligung von Minderheiten bzw. die unterschiedlichen Theorien zu Minoritäten eine zentrale Rolle.

Beispielsweise geht Barker (1946, 1948 zit. nach Cloerkes 1985, S. 34ff) davon aus, dass Menschen mit „Behinderung“ als Minorität betrachtet werden können und demnach die Kriterien, die im Rahmen der Definition von Minderheiten gelten, auch auf Menschen mit „Behinderung“ anzuwenden sind. Jordan (1963, zit. nach ebd.) hingegen kritisiert Barkers Minoritätstheorie und weist in seinem Ansatz der „Disadvantaged Group“ darauf hin, dass sich eine Theorie, welche sich im Grunde auf Gruppen bezieht, nicht ohne weiteres auf „behinderte“ Personen als Einzelpersonen übertragen lässt. (vgl. Cloerkes ebd.; Nickel 1999)

Cloerkes weist in diesem Zusammenhang auf zwei unterschiedliche Sichtweisen in diesem Forschungsbereich hin. Die erste Sichtweise bezieht sich auf eine klare definitorische Einordnung von Menschen mit „Behinderung“, deren Anhänger von einer Unterscheidung zwischen Minoritäten und Menschen mit „Behinderung“ ausgehen. Die zweite Sichtweise bezieht sich auf die soziale Reaktion von Menschen ohne gegenüber Menschen mit „Behinderung“, deren Vertreter von Gemeinsamkeiten zwischen Minoritäten und Menschen mit „Behinderung“ ausgehen.

Cloerkes ordnet sich dabei in seiner Arbeit der zweiten Gruppe zu, da die soziale Reaktion in seiner Arbeit eine zentrale Rolle darstellt und er die Ansicht vertritt, dass nicht entscheidend ist, „ob Körperbehinderte nun alle definitorischen Kriterien einer Minorität erfüllen oder nicht, sondern allein die Tatsache, da[ss] sie von den Nichtbehinderten offensichtlich als eine solche aufgefa[ss]t und entsprechend behandelt werden.“ (Cloerkes 1985, S. 42)

Ein ausschlaggebendes Unterscheidungskriterium der eben genannten Gruppen ist die theoretische Argumentation hinsichtlich des Vorhandenseins von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Menschen mit „Behinderung“. Für die erstgenannte Gruppe, die sich auf definitorische Faktoren konzentriert, ist das größte Unterscheidungsmerkmal von Personen mit „Behinderung“ zu Minoritäten das Fehlen einer Gruppe. Davis (1961, S. 122 zit. nach Cloerkes 1985, S. 38) weist in diesem Zusammenhang auf die fehlenden Gruppencharakteristika im Bezug auf Menschen mit „Behinderung“ hin, wodurch sich seiner Ansichten nach keine generalisierenden Stereotype gegen „Behinderte“ entwickeln würden und die negativen Reaktionen damit nicht der Person selbst entgegengebracht würden, sondern vielmehr der „Behinderung“ als solcher. Cloerkes (1985, S. 38ff) kritisiert diese Argumentation und weist darauf hin, dass zum einen eine Trennung der Reaktion auf eine Person mit „Behinderung“ und der Reaktion auf „Behinderung“ nicht sehr sinnvoll erscheint, da sie sich in beiden Fällen negativ auf die Gesamtpersönlichkeit der Person auswirken wird und zum anderen durch empirische Forschungen bereits ersichtlich wurde, dass Vorurteile und Stereotype gegenüber Menschen mit „Behinderung“ sehr wohl bestehen. Somit geht die zweite Gruppe, für welche die soziale Reaktion ausschlaggebend ist, von einem Bestehen von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber „Behinderten“ aus, wie es auch bei Minoritäten der Fall ist. Entscheidend für diese Gruppe ist, dass „Behinderte“, wie Minoritäten, „von einer Majorität als ‚anders’ und abweichend definiert werden.“ (Cloerkes 1985, S. 39)

2.4 Soziologischer Forschungsbereich

Zum einen beschäftigen sich soziologische Ansätze mit der Analyse von „Behinderung“ aus Sicht brauchbarer oder eben unbrauchbarer Arbeitskraft. Es wird also im Grunde ein Bezug zur kapitalistischen Warenproduktion und der minderwertigen Leistungsfähigkeit von Menschen mit „Behinderung“ als Auslöser für die Diskriminierung und Ausschließung von Menschen mit „Behinderung“ hergestellt. In diesem Bereich ist Wolfgang Jantzen zu nennen, der sich mit „Behinderung“ aus dieser Perspektive beschäftigt hat. Für ihn ergibt sich die Ablehnung von „Behinderten“, wie es beschrieben wurde, durch ihre verminderte Arbeitskraft. Er geht von einem Menschenbild des „behinderten“ Menschen aus, das im Zuge des Sozialisationsprozesses durch ein „falsches Bewusstsein“ geprägt wird. In dieses „falsche Bewusstsein“ dringen, durch eine aktive Aneignung, gesellschaftliche Werte und Normen, die einem historischen und kumulierten Erbe der Gesellschaft entnommen werden. (vgl. Cloerkes 1985, S. 46ff) Darüber hinaus beschäftigt sich Jantzen nach Nickel (1999) ebenfalls mit der sogenannten „Warenästhetik“, wobei es darum geht, dass auch das Erscheinungsbild einer Ware (wie z.B. der Ware Arbeitskraft) sehr entscheidend ist und von ästhetischen Normen abhängt und Menschen mit „Behinderung“ diesen Normen häufig nicht entsprechen können und damit eine minderwertige Ware darstellen.

Andere soziologische Ansätze beschäftigen sich mit „Behinderung“ als „abweichendes Verhalten“ bzw. als Abweichung. Abweichung ist hier als etwas zu verstehen, wodurch gesellschaftliche Erwartungen, die sich aus Wertevorstellungen und internalisierten Normen ergeben, nicht erfüllt werden. Ein Mensch mit „Behinderung“ weicht damit durch sein Verhalten oder auch durch sein äußeres Erscheinungsbild von diesen Erwartungen ab.

Cloerkes (1985, S. 50ff; 2007, S. 160ff) unterscheidet in diesem Forschungsbereich zwischen dem strukturellen Ansatz und dem prozessualen Ansatz oder auch „labeling approach“. Ersterer bezieht sich dabei darauf, dass eine Abweichung zweifelsfrei festgestellt werden kann, wobei die Verletzung der Normen diese Abweichung bestimmt. Bei Menschen mit „Behinderung“ ist diese Abweichung von Normen etwa durch eine Diagnose festzustellen. Es geht also in erster Line darum, welche Person abweicht und welche nicht, also um eine Spannung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Abweichungen von diesen Anforderungen. Im Rahmen des prozessualen Ansatzes geht es eben nicht darum wer abweicht, sondern darum, wie andere Personen eine „abweichende“ Person charakterisieren. Die zentrale Rolle spielt hier also die Interaktion und die daraus resultierenden sozialen Reaktionen. „Abweichendes Verhalten ist jedes Verhalten, das die Leute so etikettieren“ (Becker 1963, S. 9 zit. nach Cloerkes 2007, S. 163).

Cloerkes und auch die vorliegende Masterarbeit bewegen sich im Bereich des Prozessualen Ansatzes, in dem vor allem auch die Stigmatheorie eine zentrale Rolle spielt. Die Stigmatheorie nach Goffman und deren Weiterentwicklungen und Wiederaufnahmen durch andere Forscher/-innen werden als zentrale Bezugstheorie dieser Arbeit im nächsten Kapitel vorgestellt.

2.5 Zusammenführung der vorgestellten Forschungsbereiche

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im psychoanalytischen und psychologischen Forschungsbereich die Kategorie „Angst“ im Zentrum der Analysen steht. Im psychosozialen Forschungsbereich geht es vor allem um die Frage einer Minorität und inwieweit Menschen mit „Behinderung“ in den Untersuchungen auch als eine solche verstanden werden können. Im soziologischen Bereich, in welchen sich auch die vorliegende Arbeit einordnen lässt, geht es zum einen um eine Analyse von „Behinderung“ aus einer kapitalistischen Perspektive, welche die Leistungsfähigkeit eines Menschen ins Zentrum stellt, und zum anderen um eine Analyse des sozialen Konstrukts „Behinderung“, die „Behinderung“ im Rahmen einer gesellschaftlichen Abweichung untersucht, wobei die soziale Reaktion eine wichtige Rolle spielt.

Bei näherer Betrachtung der unterschiedlichen theoretischen Zugänge wird, wie schon darauf hingewiesen wurde, ersichtlich, dass sich die Theorien in manchen Ausarbeitungen und Thesen überschneiden und Zusammenhänge bilden, weshalb anlehnend an Cloerkes (1985, S. 80ff) auch ihre Gemeinsamkeiten gesehen werden und sie nicht gedankenlos einer absoluten Trennung unterworfen werden sollten.

Eine Gemeinsamkeit aller theoretischer Bereiche kann beispielsweise im Aufgreifen der Problematik von „Gleichgewichtszuständen“ gefunden werden, da alle Theorien in ihren Analysen zu „Behinderung“ auf die Gefährdung dieser „Gleichgewichtszustände“ Bezug nehmen. Neben den kognitiven Konsistenztheorien, die dem psychologischen Bereich zugeordnet werden, spielt Gleichgewicht auch im psychoanalytischen Ansatz eine große Rolle, da es darum geht die drei Instanzen Ich, Über-Ich und Es auszubalancieren. Ebenfalls im soziologischen Bereich, vor allem im prozessualen Ansatz, kommt dem „Wunsch“ in Interaktionen ein Gleichgewicht herzustellen eine große Bedeutung zu. Die Interaktionspartner/-innen sind darin gefordert, ein gewisses Maß an Ausgewogenheit in die Interaktion einzubringen und Spannungen auszugleichen. Auch im psychosozialen Ansatz spielt Gleichgewicht eine wichtige Rolle. Es geht um das Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen und um das Ungleichgewicht zwischen Majorität und Minorität.

Die Autoren sind sich zudem darin einig, dass auch der Kategorie „Angst“ in allen Forschungsperspektiven eine Bedeutung zukommt. Die Verhaltensweisen von Personen ohne „Behinderung“ gegenüber Personen mit „Behinderung“ werden von dem unbehaglichen Gefühl der Angst mitbestimmt. Menschen mit „Behinderung“ entsprechen nach allen theoretischen Ausarbeitungen nicht dem gesellschaftlich erwünschten Bild einer Person und werden somit als etwas Fremdartiges und Minderwertiges wahrgenommen, das man selbst nicht sein möchte. Der Mensch hat Angst davor, auch „behindert“ zu werden, Angst davor nicht mehr am Arbeitsmarkt bestehen zu können, Angst davor diskriminiert und stigmatisiert zu werden und Angst davor nicht mehr den Normen der Gesellschaft entsprechen zu können und einer Gruppe der Minderwertigen zugeordnet zu werden. Cloerkes (1985, S. 82) beschreibt diese Situation der Angst als

„das Moment des Andersartigen, vom gewohnten Erscheinungsbild Abweichenden im Behinderten, das zunächst weitgehend irrationale und unspezifische Gefühle von Angst und Unsicherheit beim Nichtbehinderten hervorruft, die dann zur Grundlage der sozialen Reaktion werden und ihren Charakter prägen.“

Grundlegend lässt sich feststellen, dass die unterschiedlichen Forschungsperspektiven durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen und daher auch ihre Zusammenhänge Beachtung finden sollten, weshalb sie in dieser Arbeit berücksichtigt worden sind.

Im Folgenden Kapitel soll nun auf die Stigmatheorie nach Erving Goffman und deren Weiterentwicklungen eingegangen werden.

3. Prekäre Interaktionssituationen von Menschen mit und ohne „Behinderung“ und das abwertende Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ – Erklärungsansätze durch die Stigmatheorie Erving Goffmans

Nachdem ein Überblick über das weitere Forschungsfeld des hier behandelten Themas gegeben und auf Zusammenhänge hingewiesen wurde, sollen nun die Ausarbeitungen zur Stigmatheorie, welche in dieser Arbeit die zentrale Bezugstheorie darstellt, veranschaulicht werden. Dabei werden zum einen die theoretischen Ausarbeitungen von Erving Goffman dargestellt und bearbeitet werden, der schließlich als Begründer dieser Theorie gilt. Zum anderen werden auch die Ergebnisse aktuellerer Forscher/-innen veranschaulicht werden um zu skizzieren, welche Weiterentwicklungen es in diesem theoretischen Bereich gegeben hat und welche kritischen Argumentationen die Forscher/-innen entgegenzubringen haben.

3.1 Eine Einführung in Goffmans Stigmatheorie

Am Beginn dieses Kapitels soll zunächst die Etymologie des Begriffs „Stigma“ aufgegriffen werden. Nach Goffman (1975, S. 9) verwendeten ursprünglich die Griechen den Begriff „Stigma“ für eine bewusst, durch Brennen oder Schneiden, herbeigeführte Zeichnung des Körpers jener, die vom Volk als schlechte, unmoralische und unreine Personen charakterisiert wurden. Bei diesen Personen handelte es sich beispielsweise um Sklaven, Verbrecher oder Verräter. Die körperliche Zeichnung stand demzufolge für die Unehre einer Person. Neben dieser Bedeutung des Begriffs spricht man später bei den Christen von einem „Stigma“ als göttliches Zeichen der Gnade, das sich in Form von Blumen auf der Haut zeigt. Aus diesem Verständnis des Begriffs entwickelte sich darüberhinaus eine medizinische Perspektive, die ein „Stigma“, also eine Zeichnung der Haut, auf eine physische Unstimmigkeit zurückführte.

Die heutige Bedeutung des Begriffs lehnt sich wieder stark an das ursprüngliche Begriffsfeld der Griechen an, wobei nicht mehr die körperliche Zeichnung im Vordergrund steht, sondern die Assoziation mit dem Unehrenhaften einer Person. Dabei haben sich auch Änderungen bezüglich der Dinge, die als unehrenhaft eingestuft werden, vollzogen. (vgl. Goffman 1975, S. 9)

Nach Goffman (1975) ist die Gesellschaft für eine Kategorienbildung von Personen verantwortlich. Sie gibt uns ein weites Spektrum von Attributen, die wir den Personen der jeweiligen Kategorien zuordnen, da wir sie für diese Gruppen als etwas Natürliches empfinden. Die Anforderungen die wir damit an eine Person haben sind uns zunächst nicht bewusst und werden von Goffman daher als „ >> im Effekt << gestellte Forderungen“ (ebd. S.10) eingeordnet bzw. spricht er in einem weiteren Schritt von der „Charakterisierung [einer Person] >> im Effekt <<“ (ebd. S. 10). Bewusst werden uns diese Annahmen, die wir über eine Person haben erst dann, wenn eine akute Frage auftaucht, die sich an die Erfüllung dieser Annahmen richtet.

Goffman spricht daher von zwei unterschiedlichen Identitäten:

  • Er nennt zum einen die „virtuale soziale Identität“, die sich auf das eben dargestellte „Charakterisieren im Effekt“ bezieht,

  • und zum anderen die „aktuale soziale Identität, die sich dann ergibt, wenn eine gewisse Kategorie und ihre Attribute sich tatsächlich bestätigt haben.

Von einem Stigma wir dann gesprochen, wenn eine bestimmte Diskrepanz zwischen diesen beiden Identitäten auftaucht. An dieser Stelle sei angemerkt, dass nicht jede Diskrepanz zu einem Stigma führen muss. Eine Diskrepanz kann ein Individuum beispielsweise auch „aufwerten“, wenn positive Eigenschaften entdeckt werden, die man dem Individuum vorher abgesprochen hat. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass ebenfalls eine negative Eigenschaft noch nicht auf ein Stigma abzielen muss. Ausschlaggebend ist immer, ob diese negative Eigenschaft mit den stereotypen Vorstellungen der Gesellschaft darüber, wie ein Individuum sein sollte, vereinbar ist oder nicht. Die negative Bewertung einer Eigenschaft kann also dazu führen, dass ein Individuum in der Vorstellung einer Person zu einem „befleckten, beeinträchtigten [Individuum] herabgemindert [wird]“. (ebd. S. 11) An dieser Stelle kann man dann von einem Stigma sprechen.

Der Terminus Stigma bezieht sich des Weiteren nicht auf eine Eigenschaft, sondern auf bestimmte Relationen. „Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend.“ (ebd. S.11) Cloerkes (2007, S. 169) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein Stigma sich demnach nur in sozialen Beziehungen darstellen kann. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht also nicht das Merkmal an sich, sondern die negativen Definitionen des Merkmals.

Goffman unterscheidet zwei Perspektiven von Stigmatisierten. Er spricht zum einen von den Diskreditierten und zum anderen von den Diskreditierbaren. Für Erstere ist ausschlaggebend, dass sie davon ausgehen, dass andere Personen über ihre „Andersartigkeit“ Bescheid wissen und sie wahrnehmen. Die Diskreditierbaren nehmen an, dass die „Andersartigkeit“ den anderen Personen weder bekannt ist, noch dass sie es in besonderer Weise wahrnehmen. Beide Perspektiven können auch von einem Individuum gekannt und erfahren werden, weshalb es nicht das Ziel Goffmans ist, beide komplett voneinander zu trennen. Er weist allerdings darauf hin, dass es wichtig ist, diese beiden Perspektiven auch unabhängig voneinander, zu berücksichtigen. Ausschlaggebend ist diese Unterscheidung beispielsweise im Bezug auf das Stigmamanagement, das im Kapitel 3.3 dargestellt wird.

Goffman beschreibt grundsätzlich drei unterschiedliche Typen von Stigma:

  1. „Abscheulichkeiten des Körpers“ bzw. physische Deformationen –

    Zu diesem Typ zählt beispielsweise die körperliche „Behinderung“, weshalb dieser Typ von Stigma und die daraus resultierende Stigmatisierung für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung ist.

  2. Individuelle Charakterfehler,

    wie etwa Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche Leidenschaften, tückische oder starre Meinungen sowie Unehrenhaftigkeit – diese Charakterfehler werden aus einem bekannten Katalog hergeleitet: Geisteskrankheit, Gefängnis, Sucht, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, etc.

  3. Phylogenetischen Stigmata,

    wie etwa Rasse, Nation und Religion - Diese Art von Stigmata wird weitergegeben und kann somit eine ganze Familie betreffen.

Alle diese unterschiedlichen Arten von Stigma haben nach Goffman gemeinsame und soziologisch bedeutsame Merkmale. In allen dreien wird ein Individuum aufgrund eines Merkmals, das sich der Aufmerksamkeit anderer aufdrängt, von diesen anderen Personen gemieden und dadurch die Erkenntnis seiner anderen Eigenschaften verhindert, oder es werden ihm negative Eigenschaften angedichtet. „Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten.“ (Goffman 2012. S.13)

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass sich Ähnlichkeiten in den Definitionen von Goffman und Cloerkes erkennen lassen, auch wenn Cloerkes sich speziell auf „Behinderung“ bezieht, was Goffman noch nicht macht. Beide gehen von einem Merkmal aus, einer „Andersartigkeit“, die negativ bewertet wird, was sich in der Reaktion auf diese Person bemerkbar macht.

Goffman spricht grundlegend von den „Normalen“ als Personen, die den Anforderungen der Kategorien entsprechen und diejenigen diskriminieren, welche den normativen Vorstellungen nicht entsprechen und als Stigmatisierte bezeichnet werden. Damit wird von Goffman nun die Unterscheidung zwischen den „Normalen“ und den „Stigmatisierten“ vorgenommen. (vgl. ebd. 9ff)

Die „Stigmatisierten“ werden nach Goffman in vielerlei Hinsicht von den „Normalen“ diskriminiert, wodurch sich auch die Lebenschance von den stigmatisierten Personen verringert. Die „Normalen“ suchen nun nach Möglichkeiten, um ihr schlechtes Verhalten zu rechtfertigen, wodurch beispielsweise einer stigmatisierten Person eine gewisse „Gefahr“ zugesprochen wird. (vgl. ebd. S. 13ff)

Daraus ergeben sich Spannungen und unterschiedliche Probleme in der Interaktion zwischen Menschen mit einem Stigma und Menschen ohne Stigma. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass im Grunde nach Goffman jede Person Stigmatisierung erfahren kann und nur die Anzahl der erfahrenen Situationen von Stigmatisierung unterschiedlich ist. (vgl. ebd. 166ff)

Unter anderem weist Waldschmitd (2007a, S. 33) darauf hin, dass dieses Verständnis Goffmans, die stigmatisierte Person als soziale Rolle oder Perspektive zu betrachten, die von jeder Person eingenommen werden kann, in Goffmans Theorie häufig übersehen wird.

Goffman nimmt in seinen Ausarbeitungen aber ganz deutlich Bezug darauf, dass die Rolle des Stigmatisierten als eine für jede Person einnehmbare betrachtet werden muss.

„Als Konklusion kann ich wiederholen, da[ss] ein Stigma nicht so sehr eine Reihe konkreter Individuen umfa[ss]t, die in zwei Haufen, die Stigmatisierten und die Normalen, aufgeteilt werden können, als vielmehr einen durchgehenden sozialen Zwei-Rollen-Proze[ss], in dem jedes Individuum an beiden Rollen partizipiert, zumindest in einigen Zusammenhängen und in einigen Lebensphasen. Der Normale und der Stigmatisierte sind nicht Personen, sondern eher Perspektiven.“

(Goffman 2012. S. 169f)

Ausschlaggebend ist daher, auch für die vorliegende Arbeit, dass sich für manche Individuen, beispielsweise durch auffälligere Merkmale, häufiger soziale Situationen ergeben, in denen sie in die Rolle der stigmatisierten Person schlüpfen und sie daher mit dieser Perspektive öfter konfrontiert werden als andere Individuen.

Am Ende dieses übersichtschaffenden Kapitels soll kurz darauf hingewiesen werden, dass die Formulierungen Goffmans in seiner Literatur eventuell einer Kritik bedürfen und kurz angesprochen werden sollen. Er schreibt in seinen Darstellungen ganz deutlich immer von „Uns und diejenigen, die von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen“ (Goffman ebd. S.13), als die Normalen. Zum einen lässt er damit die Interpretation zu, dass er annimmt, dass alle Leser/-innen seiner Arbeit kein Merkmal besitzen, wodurch sie stigmatisiert werden könnten und zum anderen steht diese Formulierung in einem Widerspruch zu seiner Argumentation, dass im Grunde jede Person Stigmatisierung erfahren kann und sehr wahrscheinlich auch wird.

3.2 Soziale, persönliche und Ich-Identität – das Identitätskonzept in der Stigmatheorie

Goffman unterscheidet im Rahmen seiner Stigmatheorie grundsätzlich zwischen sozialer, persönlicher und Ich-Identität, wobei sich die beiden erstgenannten auf den sozialen Raum beziehen und die Ich-Identität auf die Person selbst. Mit den drei unterschiedlichen Identitätskonzepten nimmt Goffman drei verschiedene analytische Perspektiven ein.

Mit dem Konzept der sozialen Identität betrachtet Goffman das Entstehen und Ausüben von Stigmatisierung. Das persönliche Identitätskonzept bietet dem Leser und der Leserin einen Einblick in die Komplexität des Stigmamanagements und der Informationskontrolle. Das Konzept der Ich-Identität bezieht sich auf die subjektive Ebene des stigmatisierten Individuums, wobei es um die Empfindungen des Individuums im Bezug auf seine Stigmatisierung geht.

Im Folgenden sollen nun die drei Identitätskonzepte kurz vorgestellt werden, um im nächsten Kapitel genauer auf die theoretischen Ausarbeitungen Goffmans einzugehen, welche sich aus den vorgestellten Perspektiven ergeben.

3.2.1 Die soziale Identität

Die soziale Identität bezieht sich auf die Kategorisierung von Personen und die Zuschreibung von Attributen, wie es im vorangegangenen Kapitel schon beschrieben wurde. Die soziale Identität ergibt sich demnach daraus, welcher Kategorie eine Person von ihrem Gegenüber zugeordnet wird und welche Eigenschaften ihr daraufhin zugestanden werden. „Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine >>soziale Identität<< zu antizipieren“. (Goffman 2012, S. 10) Die soziale Identität umfasst daher sowohl persönliche Charaktereigenschaften wie beispielsweise „Ehrenhaftigkeit“ als auch strukturelle Faktoren wie beispielsweise die Art des Berufes einer Person.

Es wurde zudem schon darauf hingewiesen, dass Goffman im Bereich der sozialen Identität zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität unterscheidet und die Diskrepanz zwischen diesen beiden Identitäten das Entstehen eines Stigmas nach sich ziehen kann. Wird also bei der Person, die zu einer bestimmten Kategorie zugeordnet wurde, ein negatives, nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechendes, Merkmal entdeckt, kann diese Person Stigmatisierungen ausgesetzt werden. (vgl. ebd. S. 10f)

Wie schon beschrieben wurde, bezieht sich das Konzept der sozialen Identität auf die Stigmatisierung von Individuen. An diesem Punkt soll darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Stigmatisierung“, abgeleitet vom Begriff „Stigma“, die Verhaltensebene gegenüber Menschen mit einem negativen Merkmal bezeichnet und damit die für diese Arbeit relevante Perspektive anspricht. (vgl. Cloerkes 2007, S. 10) Im Kapitel 3.4 wird deshalb auf den Sachverhalt der Stigmatisierung noch genauer eingegangen werden.

3.2.2 Die persönliche Identität

Die persönliche Identität bezieht sich auf die „Einzigartigkeit“ einer Person und setzt in der Interaktion dort an, wo Menschen sich tatsächlich persönlich kennenlernen – sich also nicht mehr völlig fremd sind. Dabei spielen für Goffman zwei Faktoren eine große Rolle.

Zum einen spricht er in diesem Zusammenhang von sogenannten positiven Kennzeichen oder auch „Identitätsaufhängern“ einer Person, also von singulären, ganz speziellen Merkmalen, die nur für diese eine Person geltend sind. Als Beispiel dafür nennt Goffman etwa das fotographische Bild einer Person, das andere Personen von ihr im Kopf haben.

Zum anderen weist Goffman auf die Bedeutung des ganzen Satzes an Fakten hin, der vor allem in seiner jeweiligen Kombination nur für eine einzige Person geltend ist. Ganz grundlegend hat daher persönliche Identität nach Goffman damit zu tun, dass jedes Individuum von allen anderen Individuen differenziert werden kann und jedem Individuum eine einzigartige Liste an unterschiedlichen sozialen Fakten zugeordnet wird. Sehr wichtig an dieser Stelle hinzuzufügen ist, dass persönliche Identität nach dem Verständnis von Goffman sich nicht auf das „Innerste seines Seins“ (ebd. S. 74) eines Individuums bezieht. Cloerkes (2007, S. 174) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass persönliche Identität bei Goffman daher als eine externe Kategorie verstanden werden muss, die das Individuum im sozialen Umfeld lokalisiert. (vgl. Goffman 2012, S. 67ff)

Bei der persönlichen Identität geht es auch darum, seine Identität beweisen oder ausweisen zu können. Hier spielen etwa Dokumente wie ein Reisepass oder auch der Fingerabdruck einer Person eine große Rolle.

Die persönliche Identität hat darüber hinaus für das Stigmamanagement eine große Bedeutung, worauf im nächsten Kapitel noch Bezug genommen wird.

3.2.3 Die Ich-Identität

Die Ich-Identität bezieht sich, wie es schon vorher kurz beschrieben wurde, als einzige auf die Person selbst bzw. auf das subjektive Empfinden eines Individuums. Die Ich-Identität beschreibt

„das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt [...und ist demnach] zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit“. (ebd. S. 132)

Die Ich-Identität bezieht sich folglich auf den „Innenaspekt“ von Identität. Goffman weist an dieser Stelle darauf hin, dass natürlich die soziale und persönliche Identität Einfluss auf die Ich-Identität und daher auf das Bild, das ein Individuum von sich selbst hat, nehmen. Er geht allerdings davon aus, dass dem Individuum trotzdem auch ein Freiraum bleibt, das Bild von sich selbst zu gestalten. Goffman geht auf diese Annahme leider nicht konkreter ein. Als Beispiel weist er darauf hin, dass eine Person meist das Prestige ihrer eigenen Beschäftigung höher einschätzt, als es anderweitig Beschäftigte tun.

Grundlegend geht Goffman aber davon aus, dass die Ich-Identität eines stigmatisierten Individuums von großer Ambivalenz gekennzeichnet ist. Es strebt beispielsweise danach als „normal“ angesehen zu werden und distanziert sich von anderen Individuen mit einem ähnlichen Stigma, indem es sich ihnen gegenüber gleich abwertend verhält, wie die Normalen sich ihm gegenüber verhalten. Es weiß nicht genau, was es von sich selbst halten soll, ob es sich als eine „normale“ Person verstehen soll oder doch als eine stigmatisierte. Goffman (1995, S. 136) geht davon aus,

„da[ss] das stigmatisierte Individuum sich als nichts anderes als irgendein anderes menschliches Geschöpf definiert, während es von sich und den Menschen seiner Umgebung zur gleichen Zeit als jemand, der abgesondert ist, definiert wird.“

Nach diesem Überblick über das Identitätskonzept Goffmans soll nun im nächsten Kapitel darauf eingegangen werden, welche Möglichkeiten ein Individuum heranzieht um mit seinem Stigma umzugehen. Goffman spricht in diesem Zusammenhang vom „Stigmamanagement“. (vgl. ebd. S. 132f)

3.3 Der Umgang mit dem Stigma – Stigmamanagement

Goffman beschäftigt sich in seinen Ausarbeitungen zur Stigmatheorie auch damit, wie ein Individuum mit dem Besitz eines Stigmas umgehen kann. Das Individuum verwendet dabei in der Interaktion mit anderen, verschiedene Techniken. Goffman spricht zusammenfassend von dem „Management eines Stigmas“. (Goffman 2012, S. 72)

Das Stigmamanagement betrifft im Grunde alle Perspektiven[2], die wir bereits kennengelernt haben. Die Perspektive der diskreditierten Personen spielt genauso eine Rolle wie die der diskreditierbaren, und die Perspektiven der sozialen und der Ich-Identität haben genauso eine Bedeutung für das Stigmamanagement wie die der persönlichen Identität.

Wie schon darauf hingewiesen wurde, spielt das Stigmamanagement jedoch für zwei Perspektiven eine größere Rolle als für die anderen.

Im Bereich der persönlichen Identität und im Bezug auf die diskreditierbaren Personen werden die Ausmaße des Stigmamanagements besonders gut ersichtlich und es ergeben sich nach Goffman insbesondere für diese Perspektiven spezielle Herausforderungen, auf welche im Rahmen dieses Kapitels eingegangen werden soll.

Während es bei den diskreditierten Personen, die schon davon ausgehen, dass ihr Merkmal sichtbar ist, in der Interaktion mit anderen Personen eher darum geht, die Spannungen zu vermindern, besteht das Interesse der diskreditierbaren Personen möglicherweise darin, ihr Merkmal zu verstecken und zu versuchen, dem was als normal gilt so gut wie möglich zu entsprechen. Dieses Unternehmen des „Verschleierns“ des unterwünschten Merkmals wird umso schwieriger, je besser ein Individuum ein anderes kennt und je mehr Kontakt zwischen den Individuen besteht, je mehr es also um den Bereich der persönlichen Identität geht.

Somit kann die Annahme gemacht werden, dass es für eine Person, die sich in der Perspektive einer diskreditierbaren Person befindet und gleichzeitig in der Situation des engeren Kontaktaufbaus zu einem Individuum, besonders schwierig werden kann, ihr Stigma zu managen.

Die diskreditierbare Person, deren Merkmal meist nicht für andere unmittelbar ersichtlich ist, muss einige Entscheidungen treffen. Sie wird sich für oder gegen eine Offenlegung ihres Merkmals entscheiden müssen, also dafür zu lügen oder nicht zu lügen. Des Weiteren wird sie sich überlegen müssen, wenn sie einer Person Auskunft über ihr Merkmal gibt, welche Person dies sein wird und wie sie die Situation gestalten will, in der sie dieser Person die Auskunft erteilt. Es wird ersichtlich, dass sich die Schwierigkeiten der diskreditierbaren Person vor allem auf den Bereich der persönlichen Identität beziehen, da es hauptsächlich um den Umgang mit bekannteren Personen geht. (vgl. ebd. S.56f; S.72ff)

An dieser Stelle soll kurz darauf hingewiesen werden, dass natürlich die „Sichtbarkeit“ eines Merkmals, nach Goffman deren „Visibilität“, eine ganz entscheidende Rolle dafür spielt, wie ein Individuum mit seinem Stigma umgeht bzw. welche Möglichkeiten ihm dadurch eröffnet werden. Visibilität bezieht sich darauf, „wie gut oder wie schlecht das Stigma ausgerichtet ist, Informationsmittel zu liefern, die mitteilen, da[ss] das Individuum es besitzt.“ (ebd. S. 64) Es geht daher nicht darum, ob das Merkmal direkt sichtbar ist, sondern darum ob es in irgendeiner Weise, wie etwa auch durch Hören (z.B. im Bezug auf Stottern), wahrgenommen werden kann. Entscheidet sich daher ein Individuum dafür, sein Merkmal nicht offenzulegen und zu „täuschen“, ist der Visibilitätsgrad des Stigmas sehr entscheidend.

Im Folgenden soll nun näher auf dieses eben genannte „Täuschen“ eingegangen werden. Es geht beim „Täuschen“ darum, sein Stigma in irgendeiner Weise zu verschleiern, sodass es dem Gegenüber nicht mehr direkt zugänglich ist.

Goffman beschreibt unterschiedliche Strategien, die Individuen im Rahmen des „Täuschens“ verwenden.

Ein Individuum kann beispielsweise versuchen, sein Merkmal zu verstecken oder zu verwischen, also sein Stigma-Symbol zu verbergen. Ein ganz einfaches Beispiel dafür ist etwa das Verwenden von Kontaktlinsen anstatt einer Brille. Während die Brille in der Regel gut wahrgenommen werden kann und das Vorhandensein einer Sehschwäche assoziiert wird, können Kontaktlinsen verhindern, dass die Sehschwäche von anderen Personen auf den ersten Blick ersichtlich ist. Ein etwas komplexeres Beispiel ist etwa die Eheschließung eines homosexuellen Mannes und einer lesbischen Frau um den Schein einer „normalen“ Sexualorientierung zu bewahren.

Ein Individuum kann auch dadurch täuschen, dass es sein stigmatisiertes Merkmal als ein anderes Merkmal, das weniger stigmatisiert wird, darstellt. Goffman weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass beispielsweise Personen mit einem geistigen Defekt manchmal versuchen diesen zu verschleiern und eher eine Geisteskrankheit vortäuschen, da sie etwas weniger den normativen Vorstellungen widerspricht.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass sich ein Individuum Unterstützung durch andere Personen holt. So teilen sich die sozialen Beziehungen des Individuums auf in eine größere Gruppe von Personen, die nicht über das Merkmal Bescheid wissen und in eine kleinere Gruppe, die aufgeklärt ist. Ein sehr bekanntes Beispiel dafür, das auch von Goffman herangezogen wird, ist die Hilfestellung einer Person, das Alkoholproblem ihres Partners oder ihrer Partnerin geheim zu halten. Auch Personen mit einem Stigma helfen sich häufig gegenseitig beim Täuschen. Beispielsweise kann ein Homosexueller sich in einer Art und Weise einem anderen Homosexuellen annähern, sodass keine andere Person etwas Ungewöhnliches beobachten kann. Des Weiteren kann beispielsweise ein ehemaliger Mitkollege oder eine ehemalige Mitkollegin einer Anstalt für Geisteskranke, bei einer Begegnung diese gemeinsame Erfahrung nicht ansprechen und für sich behalten.

Ein Individuum kann auch versuchen, in Personenkontakten und Verhältnissen eine Distanz zu wahren, die möglicherweise verhindert, dass es zu unvorhersehbaren Situationen kommt, in denen das Merkmal eventuell enthüllt werden könnte.

Eine letzte Möglichkeit, die sich dem Individuum bietet und die sich im Grunde nicht mehr direkt auf das „Täuschen“ bezieht, ist die freiwillige Enthüllung des Merkmals, also die Entscheidung gegen eine Täuschung. Ein Individuum kann sich dafür entscheiden, sein Merkmal offenzulegen, wodurch sich seine Situation radikal verändert. Es wird von einem diskreditierbaren Individuum zu einem diskreditierten, also von einem Individuum, „das Information zu managen hat, [...zu einem], das unbequeme soziale Situationen zu managen hat“. (ebd. S. 126)

Neben den Techniken des „Täuschens“ beschreibt Goffman auch das „Kuvrieren“. Während das Täuschen hauptsächlich für diskreditierbare Personen relevant ist, bezieht sich das Kuvrieren auf beide Perspektiven. Im Bereich des Kuvrierens geht es darum Spannungen in Interaktionen zu vermindern und zu verhindern, dass das Stigma-Merkmal sich in den Vordergrund der Interaktion drängt und dadurch die offiziellen Inhalte der Interaktion aus dem Blick geraten. Das Täuschen spielt allerdingst auch für das Kuvrieren eine große Rolle und die Vorgehensweisen sind häufig sogar identisch, „da ja das, was ein Stigma vor unwissenden Personen verbirgt, auch die Dinge für die Wissenden erleichtern kann.“ (ebd. S. 129) Es geht also darum, auch durch die Techniken des Täuschens, dem negativen Merkmal die Aufmerksamkeit zu entziehen, um die Interaktion mit anderen Personen zu erleichtern.

Eine andere Technik des Kuvrierens gestaltet sich beispielsweise darin, dass eine Person mit einem Stigma ihre Handlungen so koordiniert, dass sie ihr fehlerhaftes Merkmal nicht offenlegen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ein Beispiel von Goffman ist an dieser Stelle, dass eine nahezu blinde Person es vielleicht vermeiden wird, im Kreise anderer Personen, auch wenn diese über das Merkmal bescheid wissen, zu lesen, da sie die Literatur sehr nah an ihre Augen heranbringen müsste und damit ihre Sehschwäche äußerst evident werden würde.

Eine andere Art des Kuvrierens ist beispielsweise, dass Personen mit einem Stigma die Strukturen in Interaktionen, die als normal betrachtet werden, erlernen und ihr Verhalten an diese Strukturen anpassen. So lernt etwa eine Person mit Hörschwäche in welcher Lautstärke sie mit anderen Personen reden muss, dass das Zuhören für diese Personen angenehm ist. (vgl. ebd. S. 56ff)

Es bieten sich also für Personen, welche die Rolle des stigmatisierten Individuums einnehmen, viele Möglichkeiten mit ihrem Stigma umzugehen und zu versuchen, dass das Stigmamerkmal in Interaktionen nicht zum zentralen Bezugspunkt wird.

Die vorgestellten Ausarbeitungen Goffmans zum Stigmamanagement nehmen in seiner theoretischen Arbeit zur Stigmatisierung einen zentralen Platz ein, weshalb sie im Rahmen einer Beschäftigung mit der Stigmatheorie ein unverzichtbarer Bestandteil sind.

Im Bezug auf die vorliegende Masterarbeit ist aber vor allem die Ebene der sozialen Identität und die Stigmatisierung von Personen mit einem Merkmal - demnach die Verhaltensebene - von großer Bedeutung, die im nächsten Kapitel aufgegriffen wird. An dieser Stelle muss aber unbedingt darauf hingewiesen werden, dass hinsichtlich einer Beschäftigung mit der Interaktion zwischen Menschen mit und ohne „Behinderung“, das Stigmamanagement natürlich in jedem Fall mitberücksichtigt werden muss.

Im folgenden Kapitel soll nun auf das diskriminierende Verhalten und in diesem Sinne auf die Stigmatisierung eingegangen werden.

3.4 Stigmatisierung – Die Verhaltensebene in der Stigmatheorie Goffmans

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Goffman (1975/ 2012) sich im Rahmen seiner Stigmatheorie nicht nur mit Einstellungen gegenüber Personen mit einem Stigma beschäftigt sondern auch die Verhaltensebene gegenüber Menschen mit einem Stigma in seine Analyse aufnimmt.

Anlehnend an Cloerkes (2007, S. 170) kann eine theoretische Unterscheidung zwischen den Begriffen „Stigma“ und „Stigmatisierung“ vorgenommen werden, wobei sich ersterer auf eine Einstellungsebene bezieht und der zweitgenannte auf eine Verhaltensebene verweist.

Das Begriffsfeld „Stigma“ bezieht sich auf die Einstellungsebene, da es das körperliche Merkmal an sich bezeichnet, das erst durch die Vorstellungen und Einstellungen von Personen zu einem negativen Merkmal, also einem Stigma, wird.

„Stigmatisierung“ bezieht sich nicht mehr direkt auf das (körperliche) Merkmal, also das Stigma, sondern auf die Verhaltensweisen gegenüber Personen mit einem Stigma, die sich durch das Wahrnehmen dieses Stigmas ergeben.

Demnach ist Stigmatisierung „das Verhalten aufgrund eines zueigen gemachten Stigmas.“ (Cloerkes ebd.)

Im Folgenden soll nun auf die Ausarbeitungen Goffmans (1975/2012) eingegangen werden, die sich mit der Stigmatisierung von Personen mit einem Merkmal auseinandersetzten.

An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich der für diese Arbeit zentrale theoretische Rahmen des Stigmatisierens vor allem auf die Beschädigung sozialer Identität bezieht und demnach auch die Sichtbarkeit eines Stigma-Merkmals von Interesse ist. Es geht also grundlegend um die Perspektive einer diskreditierten Person, die „einer sie nicht akzeptierenden Welt“ (Goffman 2012, S. 30) gegenübersteht.

Goffman geht davon aus, dass Personen, die sich in der Rolle des „Normalen“ befinden, eine Vielzahl an Diskriminierungen gegenüber Personen mit einem Stigma ausüben. Er weist darauf hin, dass die „Normalen“ versuchen, rationale Begründungen für die Minderwertigkeit und Gefährlichkeit der „Stigmatisierten“ zu finden, welche ihre diskriminierenden Verhaltensweisen rechtfertigen sollen.

Dem stigmatisierten Individuum werden beispielsweise sehr häufig negative Eigenschaften zugeteilt, die von dem einen negativen Merkmal hergeleitet werden, wodurch seine tatsächlich vorhandenen Eigenschaften keine Beachtung mehr finden. Ebenso können zufällige Fehlleistungen der stigmatisierten Person als Fehlleistungen, die auf das vorhandene Stigma zurückzuführen sind, wahrgenommen werden, wodurch sich wiederum die Andersartigkeit der Person bestätigt.

Goffman beschreibt des Weiteren Situationen, in denen Personen sich sehr für das negative Merkmal einer stigmatisierten Person interessieren und gezielt danach fragen.

Auch charakteristisch für die Begegnungssituation von einem stigmatisierten Individuum mit einem anderen Individuum ist das Anbieten oder Aufdrängen von Hilfestellungen, die möglicherweise nicht gebraucht oder gewollt werden.

Goffman geht grundsätzlich davon aus, dass durch die häufig diskriminierenden Verhaltensabläufe in „gemischten“ Interaktionen eine Unsicherheit und ein Unwohlsein auf Seiten des stigmatisierten Individuums entstehen. Gleichzeitig entsteht nach Goffman aber auch bei den „Normalen“ das Gefühl, dass diese Interaktionssituationen prekär sind. Von beiden Seiten wird verlangt gegenseitige Rücksichtnahme walten zu lassen, wodurch beide Seiten in diesen Interaktionssituationen gefordert oder auch überfordert sein können. Es wird von den Individuen der Versuch unternommen werden, die Situation so „normal“ wie möglich zu gestalten. Dabei bemühen sich nach Goffman vor allem die „Normalen“ das stigmatisierte Individuum so zu behandeln, als entspräche es einer Personenkategorie, welche die gesellschaftlichen Ansprüche erfüllt, ungeachtet dessen, ob diese Kategorie das Individuum zu einem „besseren“ oder „schlechteren“ macht. Das stigmatisierte Individuum versucht sich daraufhin an die ihm zugesprochene Kategorie anzupassen. Des Weiteren können „Normale“ eine Begegnungssituation so gestalten, dass sie das stigmatisierte Individuum einfach nicht beachten und seine Anwesenheit ignorieren.

Goffman geht also davon aus, dass in gemischten Interaktionssituationen das stigmatisierte Individuum sehr wahrscheinlich in Kategorien eingeordnet wird, die ihm nicht entsprechen, oder es überhaupt nicht beachtet wird. Diese Verhaltensabläufe führen zu einem Unwohlsein sowohl bei dem stigmatisierten Individuum als auch bei dem „normalen“ Individuum und „die Situation [wird] gespannt, unsicher und zweideutig für alle Teilnehmer und besonders für die Stigmatisierten werden.“ (Goffman 2012, S. 56)

So können etwa

„die behutsamen Hinweise, die üblichen, plötzlich tabu gewordenen Alltagsworte, das beständige Anderswohinstarren, die gekünstelte Leichtigkeit, die zwanghafte Geschwätzigkeit, [oder] der peinliche feierliche Ernst“ (Davis 1961, S. 123 zit. nach ebd., S. 30)

Verhaltenselemente von solchen Interaktionen werden. (Vgl. Goffman 2012 S. 13ff)

Ein weiterer, ganz wesentlicher Grund für „Normale“ eine gewisse Distanz zu stigmatisierten Individuen zu bewahren ist nach Goffman die Eigenschaft eines Stigmas, sich in seinen Auswirkungen auf andere Personen, die mit dem stigmatisierten Individuum in einer Beziehung stehen, auszubreiten. Goffman geht in seinen theoretischen Ausarbeitungen davon aus, dass Personen, die eine Beziehung zu einem stigmatisierten Individuum führen, durch diesen Kontakt ebenfalls einen „Grad von Stigma“ (ebd., S. 43) erwerben können, wodurch „solche Verbindungen vermieden oder, wo sie existieren, abgebrochen werden.“ (Ebd.)

Im Rahmen dieses Kapitels soll nun noch auf eine Gruppe „Normaler“ hingewiesen werden, die diesen gängigen diskriminierenden Verhaltensweisen widerstrebt. Goffman spricht in diesem Zusammenhang von den „Weisen“ oder auch sympathisierenden Normalen. Es handelt sich dabei um Personen,

„die normal sind, aber deren besondere Situation sie intim vertraut und mitfühlend mit dem geheimen Leben der Stigmatisierten gemacht hat und denen es geschieht, da[ss] ihnen ein Maß von Akzeptierung, eine Art von Ehrenmitgliedschaft im Clan zugestanden wird.“ (Goffman 2012, S. 40)

Diese Personen machen häufig eine persönliche Erfahrung, die ihr Innerstes verändert.

Goffman unterscheidet zwei Typen von Weisen. Der erste Typ bezieht sich auf „Normale“, die durch ihre Arbeit den Kontakt mit stigmatisierten Personen finden und dadurch einen Einblick in deren Lebenswelt erhalten. So können etwa Polizisten im Bezug auf Kriminelle zu Weisen werden, indem sie lernen diese Personen als das zu akzeptieren, was sie sind. Der zweite Typ bezieht sich auf Personen, die durch die Sozialstruktur in Beziehung zu einer stigmatisierten Person stehen. Dieser Typ bezieht sich daher beispielsweise auf Verwandte oder Freunde der stigmatisierten Person.

Nach Goffman können diese Weisen ein „Normalisierungs-Modell“ schaffen, indem sie aufzeigen, inwieweit ein Kontakt oder eine Interaktion mit einer stigmatisierten Person stattfinden kann, ohne dabei die Person mit einem Stigma so zu behandeln, als ob sie ein Stigma hätte. (Vgl. ebd., S. 40ff)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff „Stigmatisierung“ nach Goffman auf jeden Fall negative Verhaltensweisen gegenüber einem Individuum beschreibt, wobei das Individuum keine vollständige Akzeptanz erfährt und es abgewertet und diskriminiert wird. Es gibt unterschiedliche Arten, wie sich dieses diskriminierende Verhalten äußern kann, die von einer unangenehmen Aufdringlichkeit bis hin zur totalen Ignoranz reichen können.

Im nächsten Kapitel sollen nun die Ausarbeitungen anderer Forscher/-Innen hinsichtlich der Stigmatheorie sowie kritische Perspektiven und Weiterentwicklungen in diesem Forschungsbereich dargestellt werden.



[2] An dieser Stelle wird bewusst der Begriff Perspektiven herangezogen, da wiederum soziale Rollen beschrieben werden, die im Grunde von jeder Person eingenommen werden können.

4. Die Weiterentwicklungen im Bereich der Stigmatheorie und aktuelle Forschungsinhalte- und Ergebnisse zur Stigmatisierung von Menschen mit „Behinderung“

In einem großen Teil der deutschsprachigen Literatur spielt Goffman, im Rahmen der Ausarbeitungen der Stigma-Identitäts-Theorien, immer noch eine sehr zentrale und bedeutende Rolle. Unterschiedliche Autor/-innen (vgl. z.B. Cloerkes 1985/ 2007; Fries 2005, Tröster 1988, Maskos 2004, Waldschmidt 2007a/ 2011), die sich mit diesem Forschungsbereich auseinandersetzen, nehmen immer wieder Bezug auf seine Ausarbeitungen, bringen aber auch neue Sichtweisen und kritische Argumentationen an. Die bestehende literarische Präsenz von Goffmans theoretischen Ausarbeitungen war auch ein Grund dafür, seine Theorie als ein zentrales Element in diese Arbeit einzubringen.

Im Rahmen dieses Kapitels sollen die theoretischen Weiterentwicklungen Goffmans Stigmatheorie sowie kritische Bezugsnahmen zu Goffmans Ausarbeitungen dargestellt werden. Dabei soll berücksichtigt werden, dass die Stigmatheorie in ihrer Gesamtheit ein sehr umfangreiches Spektrum an möglichen Forschungsperspektiven und Interessen darstellt. In der vorliegenden Arbeit wird daher kein Anspruch gestellt, einen ganzheitlichen Überblick der Forschungen zu geben, die sich mit Inhalten der Stigmatheorie beschäftigen. Es sollen vor allem zentrale Veränderungen und Weiterentwicklungen im Bereich der Stigmatheorie sowie natürlich für die Arbeit relevante Forschungsentwicklungen dargestellt werden.

Ganz grundlegend lässt sich feststellen, dass die Ausarbeitungen Goffmans auch in aktuelleren Forschungen immer noch eine große Bedeutung haben. Die theoretischen Überlegungen vieler Autor/-innen lehnen sich immer noch stark an Goffmans Argumentationen an.

Diese Autor/-innen weisen allerdings auch auf unausgereifte Stellen in Goffmans Theorie hin. Des Weiteren kommen einige Inhalte seiner Theorie erst durch den Hinweis auf ihre Bedeutungen durch andere Forscher/-innen zur Geltung. Es gibt einige theoretische Inhalte, zu denen Goffman (1975/ 2012) in seiner Arbeit „Stigma“ flüchtig Bezug nimmt, aber deren großes Potential er nicht herausarbeitet.

Darüber hinaus weisen unterschiedliche Autor/-innen auch auf lückenhafte Überlegungen von Goffman hin und kritisieren seine theoretischen Ausarbeitungen an manchen Stellen.

Die wohl gravierendste theoretische Veränderung hat sich im Bezug auf die Annahme ergeben, dass die Identität eines Individuums, durch den „Besitz“ eines Stigmas und die darauf folgende Stigmatisierung, gefährdet sein muss.

Während etwa Goffman (1975/ 2012) oder auch Hohenheimer (1975) noch von einer zwingenden Beschädigung der Identität des stigmatisierten Individuums ausgehen, bleibt diese Annahme von aktuelleren Forschungen nicht ohne Widerspruch. Es hat sich gezeigt, dass es nicht unbedingt zu einer Beschädigungen der Identität aufgrund einer Stigmatisierung kommen muss und die Folgen einer Stigmatisierung sehr unterschiedlich sein können und man daher nicht von einem einheitlichen Beschädigungsmuster ausgehen kann. (vgl. Antor/ Bleidick 2001, S. 219)

Auch Cloerkes (2007, S. 173ff) beschreibt die Veränderungen der theoretischen Ansichten in diesem Bereich. Er zieht das theoretische Modell von Hans-Peter Frey heran, um auf den Irrtum von unausweichlichen Stigmatisierungsfolgen, wie sie die klassische Stigma-Identitäts-These annimmt, hinzuweisen. Frey berücksichtigt in seiner Theorie stärker den Innenaspekt eines Individuums, auf den beispielsweise Goffman nicht sehr ausführlich eingeht. Frey (1983, S. 43ff zit. nach Cloerkes 2007, S. 182ff) geht davon aus, dass ein Individuum auf eine Stigmatisierung auf zwei Arten reagieren kann. Er unterscheidet dabei das Soziale Selbst und das Private Selbst. Das Soziale Selbst bezieht sich auf das vermutete Fremdbild einer Person, also auf ihre Annahme darüber, welches Bild andere Personen von ihr haben. Das Private Selbst bezieht sich im Grunde auf das Selbstbild das eine Person hat, also darauf, wie sie sich selbst sieht. Das Private Selbst ergibt sich dabei aus der Bewertung des Sozialen Selbst und aus den daraus übernommenen Inhalten, wobei von Personen zugesprochene Inhalte auch zurückgewiesen werden können und nicht in das Selbstbild aufgenommen werden müssen.

Im Zusammenhang mit der Stigmatisierung kann eine Person im Bereich des Sozialen Selbst dem wahrgenommenen Fremdbild, das ihr entgegengebracht wird, widersprechen oder es sogar völlig leugnen. Sie kann sich davon distanzieren und generalisiert einzelne „negative“ Begegnungen nicht auf ihre gesamten Interaktionen. Die Person kann dadurch verhindern, sich selbst als eine grundlegend stigmatisierte und abgewertete Person zu betrachten.

Im Bereich des Privaten Selbst kann eine Person ein negatives Bild, das ihr andere vermitteln, zwar wahrnehmen, sie kann diese negativen Bewertungen aber als nichtgerechtfertigt oder unwichtig einstufen und ihr Selbstbild dadurch schützen.

Nur wenn beide Strategien nicht gelingen, kann eine positive Selbsterfahrung nicht mehr aufrecht erhalten werden.

„Stigmatisierungsfolgen sind also weder zwangsläufig noch einheitlich, wie die klassische Stigma-Identitäts-These behauptet. Sie müssen darum im konkreten Fall empirisch ermittelt werden.“ (Cloerkes 2007, S. 189)

Im Folgenden soll nun auf die theoretischen Entwicklungen im Bezug auf die Verhaltensebene - die Stigmatisierung - eines Individuums eingegangen werden, da dieser theoretische Bereich der zentrale in der vorliegenden Arbeit ist.

Es lässt sich feststellen, dass sich in diesem Bereich der Theorie im Grunde nicht viele Veränderungen ergeben haben. Das bedeutet aber nicht, dass Autor/-innen wenig Bezug auf dieses Thema nehmen. Im Bereich der Stigmatisierung lehnen sich die Argumentationen sehr stark an Goffman an und die theoretischen Überlegungen widersprechen seinen Ausarbeitungen größtenteils nicht.

Wie schon im Kapitel 3.4. herausgearbeitet und dargestellt wurde, bezieht sich der Begriff Stigmatisierung auf eine Verhaltensebene. Goffman (1975/ 2012) selbst erläutert diese Unterscheidung in seinem Werk „Stigma“ nicht. Er weist nicht bewusst darauf hin, dass sich die Begriffe „Stigma“ und „Stigmatisierung“ im Grunde auf unterschiedliche Ebenen beziehen. Cloerkes ( 2007, S. 170) nimmt diese begriffliche Unterscheidung jedoch in seine Arbeit auf und weist darauf hin, dass die Stigma-Theorie durch den Begriffsrahmen der „Stigmatisierung“ explizit auch zu einer Verhaltensebene Bezug nimmt. Während sich der Begriff „Stigma“ sehr nahe bei dem Begriff „Vorurteil“ befindet, der sich auf eine Einstellungsebene bezieht, sondert sich der Begriff „Stigmatisierung“ ab. Dabei ist allerdings nach Cloerkes zu berücksichtigen, dass ein Stigma sehr wohl auch in einem engen Zusammenhang mit der Stigmatisierung einer Person stehen kann, es muss aber nicht so sein. Cloerkes unterscheidet prinzipiell die Ebene der Einstellungen und des Verhaltens. Er ist der Ansicht, dass das tatsächliche Verhalten einer Person nicht zwingend auf ihre Einstellungen zurückzuführen sein muss. (vgl. Cloerkes 2007, S. 112f; S. 169ff)

Die unterschiedlichen Autor/-innen beschreiben Stigmatisierung grundlegend als ein negatives Verhalten gegenüber einer Person, der ein negatives Merkmal zugeordnet wird. Sie sind sich auch darin einig, dass beispielsweise Personen mit einer „Behinderung“ solchen Stigmatisierungen tatsächlich ausgesetzt sind und sich die Interaktionen zwischen Menschen mit und ohne „Behinderung“ dadurch schwierig gestalten. Die Interaktionen sind besetzt mit Spannungen, Unsicherheit und Ambivalenzgefühlen, wie es auch Goffman (1975/ 2012, S. 22ff) schon darstellt. (vgl. Cloerkes, 2007, S. 107ff; Finzen 2001, S. 29ff; Hohmeier 1975, S. 12f; Maskos 2004; Seywald 1977, S. 14f; Tröster 2008, S. 140ff)

Auch in den aktuelleren Forschungen zur Stigmatisierung von Personen wird immer wieder auf die Generalisierungstendenz eines Stigma-Merkmals hingewiesen. Wie schon Goffman (1975/ 2012, S. 14) und Hohmeier (1975, S. 7f) beschrieben haben, gehen beispielsweise auch Cloerkes (2007, S. 170) und Maskos (2004) davon aus, dass einem Individuum häufig weitere meist negative Eigenschaften aufgrund des einen Stigma-Merkmals zugesprochen werden. Maskos (ebd. zit. nach Wright, 1983, S. 32) weist darauf hin, dass das Körperliche ein zentraler Anlass dafür ist, einer Person weitere Eigenschaften zuzuordnen bzw. Rückschlüsse auf weitere Eigenschaften einer Person zu ziehen. Sie verweist auf die Experimente von Wright, die ergeben haben, dass eine (körperliche) „Behinderung“ die Beurteilung einer Person beeinflusst. Diese Generalisierung des Stigma-Merkmals auf die gesamte Person ist für Maskos (ebd.) ein zentraler Faktor für die Behindertenfeindlichkeit, da die Individualität der Person nicht mehr wahrgenommen wird.

Des Weiteren berichten Forscher/-innen auch in aktuelleren Arbeiten immer wieder von dem, was Seywald (1977, S. 39ff) „Irrelevanzregel“ nennt und auch Goffman (1975/ 2012, S. 28ff) schon beschrieben hat. Es wird in Interaktionen zwischen Personen mit und ohne „Behinderung“ der Versuch unternommen, eine Art „Scheinnormalität“ herzustellen. Das Stigma-Merkmal wird höflich übersehen und es wird ignoriert, dass etwas nicht „normal“ ist. Dieses ignorierende Verhalten gegenüber dem bestehenden Stigma-Merkmal führt dann zu Spannungen und einem unbehaglichen Gefühl während der Interaktion. (vgl. Cloerkes 2007, S. 107ff; Maskos 2004; Seywald ebd.)

Seywald (ebd.) weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass das Befolgen der Irrelevanzregel im Grunde schon beinhaltet, dass die dafür auslösende Eigenschaft negativ bewertet wird. „Situationen sind nicht peinlich, weil irgendwelche Faktoren offiziell irrelevant sind, sondern Faktoren sind irrelevant, weil sie peinlich sind.“ (ebd. S. 43) Für sie steht daher auch offene Diskriminierung nicht in einem vollkommenen Widerspruch zu diesem Versuch, eine „Scheinnormalität“ zu bewahren. Für Seywald (ebd.) beinhalten beide Verhaltensweisen eine soziale Abwertung der Person.

Das gegenteilige Verhalten zur Irrelevanzregel ist wohl das Aufzwängen von Hilfeleistungen, wovon Autor/-innen immer wieder berichten. (vgl. z.B. Cloerkes 2007, S. 106f) Auch an dieser Stelle soll wiederum darauf hingewiesen werden, dass auch schon Goffman (1975/ 2012, S. 26f) dieses Reaktionsmuster beschreibt. Seywald (1977, S. 40f) schreibt in diesem Zusammenhang von der „diffusen Hilfsbereitschaft“. Sie geht davon aus, dass sich „das Stereotyp des hilfsbedürftigen Krüppels und der Norm, einen solchen zu helfen, weithin am Leben erhalten [hat].“ (ebd. S. 41) Die Autorin weist zudem auf indirekte Hilfeleistungen hin, wie beispielsweise materielle Zuwendungen. Auch Cloerkes (ebd.) stellt die aufgedrängte Hilfeleistung, die er als persönliche und direkte versteht, und die unpersönliche Hilfeleistung, wie etwa Spenden, als typische Reaktionsformen gegenüber Personen mit „Behinderung“ dar.

Eine Weiterentwicklung im Bezug auf das Verständnis von „Stigmatisierung“ lässt sich im Zusammenhang mit gesellschaftlichen moralischen Erwartungen erkennen. Goffman (1995/ 2012) beschreibt in seinen Ausarbeitungen meist negative Verhaltensweisen gegenüber Personen mit einem Stigma. Er berücksichtigt dabei nicht die vorherrschenden moralischen Werte in der Gesellschaft, die im Grunde einem negativen Verhalten gegenüber „minderwertigen“ Personen widersprechen. Aktuellere Forscher/-innen berücksichtigen diesen Faktor und weisen auf Verhaltensweisen hin, die versuchen diesem moralischen Anspruch näherzukommen. Daraus ergeben sich negative Verhaltensweisen, die sich in einen „moralisch akzeptablen Mantel“ kleiden. Nach Cloerkes (ebd.) gehören beispielsweise auch die aufdringliche und unpersönliche Hilfeleistung zu den Reaktionen, die aus gesellschaftlicher Perspektive positiv bewertet werden, aber im Grunde immer noch eine ausgrenzende und negative Wirkung auf das stigmatisierte Individuum haben. Auch Äußerungen von Mitleid und Schein-Akzeptierung, wie sie in diesem Kapitel schon beschrieben wurde, sind Beispiele für diese gesellschaftlich angesehenen, aber immer noch negativen Verhaltensweisen.

Es wird also die Sichtweise vertreten, dass die „Diskriminierung Behinderter gerade darin besteht, die negative Haltung ihnen gegenüber in eine positive, oft besonders freundliche zu kleiden.“ (Maskos 2004)

An dieser Stelle soll kurz darauf hingewiesen werden, dass einer der zentralen Kritikpunkte an Goffmans Theorie sich grundlegend auf seine geringe Rücksichtnahme gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen bezieht. Beispielsweise kritisieren die Autorinnen Maskos (2004) und Waldschmidt (2007a, S. 32), dass Goffman die negative Reaktion gegenüber Personen mit körperlichen Auffälligkeiten als naturgegeben darstellt. Er berücksichtigt dabei nicht, dass der Bewertung eines Körpers als auffälligen schon ein Entwicklungsprozess vorangegangen sein muss, in dem sich diese negative Sichtweise entwickelt hat.

„Normen fallen nicht vom Himmel, sondern sind das Produkt von Verhältnissen, in denen sich ganz bestimmte, für die Erhaltung dieser Verhältnisse offenbar funktionale, Hegemonien durchgesetzt haben.“

(Davis, 1997 zit. nach Maskos 2004)

Des Weiteren kritisieren Maskos (2004) und Pfahl (2011, S. 61), dass Goffman neben den historischen Entwicklungsprozessen auch sozialstrukturelle und ökonomische Faktoren nicht in seiner Analyse berücksichtigt.

Exkurs: Der Zusammenhang der Begriffe "Diskriminierung" und "Stigmatisierung"

Ein weiteres Verhaltensmuster, auf das Autor/-innen im Zusammenhang mit der „Stigmatisierung“ von Personen starken Bezug nehmen ist das diskriminierende Verhalten bzw. die Diskriminierung. Der Begriff „Diskriminierung“ wird häufig als Synonym oder Subkategorie von „Stigmatisierung“ verwendet und spielt eine sehr entscheidende Rolle, wenn es darum gehen soll, Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ zu analysieren. Während die vorher beschriebenen Verhaltensweisen sich auf ganz bestimmte Reaktionsmuster beziehen, beschreibt der Begriff „Diskriminierung“, wie auch „Stigmatisierung“ eine übergeordnete Kategorie, die sich auf unterschiedliche Verhaltensweisen beziehen kann. (vgl. z.B. Cloerkes 2007, S. 168ff; Fries 2005, S.31ff; Maskos 2004, Steger 2007, S. 7ff)

Aufgrund der starken Präsenz des Begriffs im Bereich der Forschung zur „Stigmatisierung“, soll an dieser Stelle auf die Definition des Begriffs „Diskriminierung“ eingegangen werden. Des Weiteren soll er mit dem Begriff „Stigmatisierung“ in Verbindung gesetzt werden.

Fries (2005) bringt in seinen Ausarbeitungen zwei Definitionen von Diskriminierung an, die auch für die vorliegende Arbeit herangezogen werden sollen, da sie sich gut mit den theoretischen Ausarbeitungen in Verbindung setzen lassen.

Zum Einen wird nach Markefka (1995, S. 43 zit. nach Fries 2005, S. 31f)

„Diskriminierung [...] als Handlung verstanden, als eine registrierbare Folge individuellen Handelns, die eingetreten ist, weil Akteure andere Akteure aufgrund wahrgenommener sozialer oder ethnischer Merkmale als ungleiche bzw. minderwertige Partner angesehen und, im Vergleich zu den Angehörigen des eigenen Kollektivs, entsprechend abwertend behandelt haben“.

In Anlehnung an Heiden (1996) liegt nach dem Forum der behinderten Jurist/-Innen dann eine Diskriminierung vor,

„ [...] wenn Menschen wegen ihrer Beeinträchtigung in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, der gleichberechtigten Teilhabe am Leben der Gesellschaft oder in ihrer selbstbestimmten Lebensführung behindert oder benachteiligt werden“. (Heiden 1996, S. 17 zit. nach Fries 2005, S. 32)

Die Definition von Markefka beinhaltet ausdrücklich den Bezug zu der Verhaltensebene, da er Diskriminierung als Handlung versteht. Des Weiteren nimmt seine Definition Bezug auf ein abwertendes Verhalten aufgrund eines entdeckten negativen Merkmals. Im Grunde kann anlehnend an diese Definition eine sehr große Ähnlichkeit der Begriffe „Stigmatisierung“ und „Diskriminierung“ festgestellt werden, weshalb es auch sinnvoll erscheint, sie gemeinsam zu verwenden. Eine definitorische Trennung der Begriffe erscheint nicht sinnvoll und ist sehr wahrscheinlich auch nicht machbar.

Heidens (1996) Definition nimmt für diese Arbeit äußerst relevante, zusätzliche Elemente auf, die bis jetzt auch im Bereich des „Stigmatisierungs-Begriffs“ noch nicht direkt angesprochen worden sind. Er nimmt Bezug auf das Recht der Entfaltung der Persönlichkeit, der gleichberechtigten Teilhabe am Leben der Gesellschaft und der selbstbestimmten Lebensführung „behinderter“ Menschen. Während die beiden ersten Elemente auch schon im Rahmen der Stigmatheorie teilweise am Rande angesprochen worden sind, fehlt der Bezug zum Recht auf Selbstbestimmung noch vollkommen in den dargestellten Ausarbeitungen. Die selbstbestimmte Lebensführung ist allerdings in dieser Arbeit auch ein zentrales Analyseelement, da sie das Ziel der Independent-Living-Bewegung ist, das unter anderem auch durch das Systems der Persönlichen Assistenz erreicht werden soll. Selbstbestimmung sollte auch für Menschen mit „Behinderung“ ein Grundrecht darstellen und daher ist eine Einschränkung der Selbstbestimmung durch das Verhalten anderer Personen in jedem Fall als Stigmatisierung zu verstehen.

Im Bereich der Forschung zur Stigmatisierung von Menschen mit „Behinderung“ wird das Recht auf Selbstbestimmung häufig nicht direkt angesprochen, weshalb Heidens (1996) Definition von Diskriminierung eine große Rolle für diese Arbeit spielt. Durch Heidens Definition wird im Grunde die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dem stigmatisierenen Verhalten und der Aberkennung der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ möglich, da, wie es bereits angesprochen wurde, stigmatisierendes und diskriminierendes Verhalten von den Autor/ -innen als synonyme oder zumindest subkategoriale Begriffsgruppen verwendet werden. Während also im Bereich der Stigmatheorie das Element der Selbstbestimmung nicht ausdrücklich aufgenommen wird, bietet uns etwa Heidens Definition von Diskriminierung den Zugang zu einer Betrachtungsweise, in der ein Aberkennen der Selbstbestimmung als diskriminierendes und damit auch als stigmatisierendes Verhalten verstanden werden kann.

Im folgenden Kapitel soll nun genauer auf das Recht auf Selbstbestimmung und dessen Verwirklichung durch die Persönliche-Assistenz sowie mögliche Stigmatisierungen in diesem Bereich eingegangen werden.

5. Die Stigmatisierung von Menschen mit „Behinderung“ durch ein Aberkennen der Selbstbestimmung

Im Rahmen dieses Kapitels soll veranschaulicht werden, welch große Bedeutung Selbstbestimmung als Grundrecht von Menschen mit „Behinderung“ im Rahmen der Behindertenbewegungen hat und wie das Modell der Persönlichen Assistenz dieses Grundrecht auf Selbstbestimmung ermöglichen soll. Darüberhinaus soll aufgezeigt werden, wie das Absprechen dieses Grundrechts auf Selbstbestimmung zu Stigmatisierungen von Menschen mit „Behinderung“ führen kann.

5.1 Das Recht auf Selbstbestimmung und das Modell der Persönlichen Assistenz

Selbstbestimmung als Grundrecht von Personen mit „Behinderung“ ist ein zentrales Element der „Independent Living Bewegung“, die ihre Anfänge in den 60er Jahren vor allem in den USA fand. Ein Schlüsseljahr dieser Bewegung war das Jahr 1962, in dem sich Edward Roberts, der selbst körperlich behindert war, den Zugang zur kalifornischen Universität in Berkeley, trotz aller Widerstände, erkämpfte. Das neue Verständnis von „Behinderung“ und die neuen Perspektiven von Menschen mit „Behinderung“ haben auch die Disability Studies stark beeinflusst und mitgeformt.

Das Recht auf Selbstbestimmung als ein zentraler Grundsatz von Menschen mit „Behinderung“ wurde auch im europäischen Raum im Rahmen der Behindertenbewegungen, die ab den 60er Jahren vermehrt begonnen haben, gefordert. (vgl. Miles-Paul 2006, S. 31ff) Menschen mit „Behinderung“ wollten nicht länger „Objekte von Bevormundung, Betreuung und Wohltätigkeit sein“ (ebd., S. 33)

Selbstbestimmung wird in diesem Zusammenhang als „Autonomie“ verstanden und stellt einen Gegenbegriff zur Fremdbestimmung dar, wobei Fremdbestimmung beispielsweise als das Bestimmen über eine Person oder auch das Entscheiden für eine Person zu verstehen ist. Es geht darum, dass auch Menschen mit einer „Behinderung“ selbstbestimmte Wahlmöglichkeiten, die alle Lebensbereiche umfassen, haben sollen. Beispielsweise haben Menschen mit „Behinderung“ auch das Recht selbst zu entscheiden wo und wie sie wohnen möchten und sollen nicht gezwungen werden in einem Heim zu leben. (vgl. Franz 2002 S. 15ff)

Des Weiteren muss Selbstbestimmung auch von dem Begriff der „Selbstständigkeit“ getrennt werden. Selbstbestimmung und Selbstständigkeit werden häufig synonym verwendet oder miteinander verwechselt. Etwas selbstständig tun zu können bezieht sich häufig auf eine physische Fertigkeit und umfasst noch nicht die Dimension etwas selbst bestimmt zu tun. Selbstbestimmung bezieht sich eben nicht darauf, dass jemand physische Fertigkeiten besitzen muss um etwas selbstbestimmt zu tun, sondern dass jemand selbst bestimmen kann was getan wird. Beispielsweise ist Ströbl (2004, S. 140) der Ansicht, „dass kein Mensch alles selbstständig tun kann, aber jeder Mensch [selbst bestimmen kann], wie er leben möchte.“ (vgl. ebd.)

Ein Weiterer sehr wichtiger Grundsatz im Rahmen dieses Verständnisses von Selbstbestimmung ist, dass Menschen mit „Behinderung“ als „Experten in eigener Sache“ (Brozek 2005, S. 136) gesehen werden und ihnen die Kontrolle über das eigene Leben und die eigenen Angelegenheiten selbst überlassen wird.

Rothenberg (2012, S. 63) fasst die zentralen Elemente des Selbstbestimmt-Leben-Prinzips folgendermaßen zusammen:

  • Zuspruch der Kompetenz, selbst für das eigene Leben zuständig zu sein

  • Als Experte oder Expertin in eigenen Angelegenheiten akzeptiert werden

  • Selbstvertretung anstelle von Stellvertretung

  • Veränderung des Objekts der Fürsorge zum Subjekt des eigenen Handelns

  • Veränderung des Objekts der Forschung zum Subjekt eigener Forschung

Anlehnend an diese Forscher/-innen verstehe ich Selbstbestimmung auch als etwas, das nur erreicht werden kann, wenn Menschen mit „Behinderung“ von Menschen ohne „Behinderung“ gleichwertig behandelt werden und ihnen eine selbstbestimmte Lebensweise auch zugetraut wird.

Um den Grundsatz der Selbstbestimmung bestmöglich umsetzen zu können, wurde das System der Persönlichen Assistenz eingerichtet. Die Persönliche Assistenz soll Menschen mit „Behinderung“ Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ermöglichen und Fremdbestimmungen abbauen. (vgl. Brozek 2005, S. 135f)

Die Persönliche Assistenz ist im Grunde ein Dienstleistungsangebot für Menschen die eine Unterstützung brauchen und umfasst eine sehr große Bandbreite an unterschiedlichen praktischen Hilfestellungen im Alltag einer Person. Die Tätigkeiten sind daher schwer auf bestimmte Elemente zu beschränken. Es geht um eine umfassende und sehr individuelle Hilfestellung, die jeder Person ein selbstorganisiertes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen soll. Die Unterstützung soll daher auch in allen Lebensbereichen gewährleistet werden, also beispielsweise in der Arbeit genauso wie in der Freizeitgestaltung einer Person. (vgl. Franz 2002, S. 38f)

Ein Persönlicher Assistent bzw. eine Persönliche Assistentin soll daher für die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensweise seine eigene Persönlichkeit zurückstellen und im Sinne des Assistenznehmers bzw. der Assistenznehmerin handeln. Die Persönliche Assistenz gibt mit ihrer Tätigkeit somit das Einverständnis zu einer freiwilligen Fremdbestimmung. Natürlich muss dabei berücksichtigt werden, dass die eigene Persönlichkeit nicht vollständig abgelegt werden kann und eigene Elemente immer eingebracht werden. Dennoch soll es das Ziel der Assistenz sein, sich so gut wie möglich einer Fremdbestimmung und damit zugleich der Selbstbestimmung des Assistenznehmers oder der Assistenznehmerin hinzugeben. (vgl. Kotsch/ Altenschmidt 2007, S. 228ff)

Rothenberg ( 2012, S. 47f) bringt in ihren Ausarbeitungen auch eine kritische Betrachtungsweise im Bezug auf die Persönliche Assistenz an. Sie kritisiert, dass die Persönliche Assistenz häufig schon unreflektiert als Garantie für Selbstbestimmung gesehen wird und dadurch beispielsweise behindernde Faktoren in der Infrastruktur nicht überdacht werden, die eine Assistenz überhaupt nötig machen. Sie nennt als Beispiele etwa öffentliche Verkehrsmittel, die so gestaltet sind, dass eine Fahrt ohne Assistenz nicht möglich wird oder auch fehlende alternative Fahrangebote.

Anschließend an Rothenberg möchte ich nun im nächsten Kapitel die geschilderten Inhalte zum Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ und deren Gewährleistung durch die Persönliche Assistenz mit möglichen Stigmatisierungen in diesem Bereich in Verbindung bringen.

5.2 Stigmatisierung – Wenn Menschen mit „Behinderung“ nicht als selbstbestimmte Menschen akzeptiert werden

Wie ich schon vorher erwähnt habe bin ich der Ansicht, dass Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ nur erreicht werden kann, wenn sie ihnen nicht von anderen Personen von vornherein abgesprochen wird. Dies kann häufig schon in kleinen alltäglichen Begegnungen von Bedeutung werden, wie es in meinen empirischen Ausarbeitungen noch zu sehen sein wird. Kurz gesagt gehe ich also davon aus, dass Selbstbestimmung durch das Verhalten von anderen Personen auch verhindert oder eingeschränkt werden kann. Deshalb soll der Faktor Selbstbestimmung in meinen Analysen zum Verhalten gegenüber Personen mit „Behinderung“ und möglichen stigmatisierenden Elementen in diesem Verhalten mitberücksichtigt werden und das Absprechen der Selbstbestimmung einer Person als stigmatisierendes Verhalten gedeutet werden.

Da Selbstbestimmung im Rahmen der Behindertenbewegungen und der Vorstellung einer gleichberechtigten Lebensweise eines der zentralsten Elemente ist, wurde der Begriff auch bewusst separiert bearbeitet und erläutert.

Wie es in Rothenbergs Beispiel deutlich wird, wird die Persönliche Assistenz häufig schon als ausreichender Garant für eine selbstbestimmte Lebensweise verstanden und meinen Analysen zufolge auch manchmal als „Stellvertreter/-in“ des Assistenznehmers oder der Assistenznehmerin betrachtet, wodurch die vollkommene Selbstbestimmung einer Person mit „Behinderung“ verhindert wird.

Wie diese Interaktionssituationen aussehen, oder wie sich dabei die Verhaltensweisen gegenüber Personen mit „Behinderung“ gestalten, wird im empirischen Teil ausgearbeitet werden. Grundlegend soll der Begriff „Stellvertreter/ -in“ im Bezug auf die Persönliche Assistenz so verstanden werden, dass eine Person sich beispielsweise nicht direkt an die Person mit „Behinderung“ wendet, sondern ihr Gespräch mit der Persönlichen Assistenz führt, obwohl es um Angelegenheiten der Person mit „Behinderung“ geht. Dies kann etwa beim Einkaufen an einer Verkaufstheke passieren, wenn sich die Person mit „Behinderung“ etwas bestellen möchte und der Verkäufer oder die Verkäuferin mit der Persönlichen Assistenz sprechen anstatt mit der Person selbst.

Aus den genannten Gründen ist es wichtig, die Persönliche Assistenz auch aus dem Blickwinkel einer möglichen Einschränkungsquelle der Selbstbestimmung zu betrachten und sie nicht nur in ihrer Funktion als Hilfsmittel für eine selbstbestimmte Lebenswiese zu sehen. Diese Perspektive, in der die Persönliche Assistenz als hindernder Faktor im Bezug auf die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ reflektiert wird, soll daher im empirischen Teil ausgearbeitet werden.

6. Zusammenfassung des theoretischen Teils

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „Behinderung“ im Rahmen dieser Masterarbeit im Sinne der Disability Studies als etwas verstanden werden soll, das durch soziale Prozesse entsteht und sich damit beispielsweise auch in einem abwertenden und diskriminierenden Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ äußert. Abwertende und diskriminierende Verhaltensweisen wurden dabei unter dem zentralen Begriff der „Stigmatisierung“ zusammengefasst, bei der es darum geht, eine Person aufgrund eines negativ definierten Merkmales in ihrer gesellschaftlichen Stellung herabzusetzen. Diesbezüglich wurde darauf hingewiesen, dass berücksichtigt werden muss, dass die Definition eines (körperlichen) Merkmals als ein negatives erst durch gesellschaftliche Prozesse entstanden ist und nicht als naturgegeben betrachtet werden darf. Auf gesellschaftsanalytische Ausarbeitungen wird jedoch in dieser Arbeit verzichtet, da die Forschungsfragen stark Handlungsorientiert sind und es demnach mehr um die Analyse einer Verhaltensebene gegenüber Menschen mit „Behinderung“ geht als um eine Analyse der gesellschaftlichen Prozesse, die im Hintergrund zu diesen Verhaltensweisen führen. Dennoch darf natürlich nicht vergessen werden, dass den gegenwärtig zu beobachtenden Verhaltensweisen eine gesellschaftliche Entwicklung vorangegangen ist.

Stigmatisierende Verhaltensweisen können sich in einem aufdringlichen Verhalten gegenüber einer Person mit „Behinderung“ genauso zeigen wie in einem ignoranten Verhalten. Des Weiteren können, wie es beschrieben wurde, unbestritten negative Verhaltensweisen, aber genauso gesellschaftlich akzeptable Verhaltensweisen, die dennoch negative Auswirkungen auf eine Person mit „Behinderung“ haben, als Stigmatisierungen verstanden werden. An diesem Punkt soll beispielsweise noch einmal an die unpersönliche Hilfestellung durch Spendengelder erinnert werden, wobei das Spenden gesellschaftlich positiv bewertet wird, aber etwa Menschen mit „Behinderung“ dadurch stark von der Gesellschaft separiert und isoliert werden und kein persönlicher Kontakt entsteht. Auch zu berücksichtigen ist, dass durch das Aufrufen von Spenden an Menschen mit „Behinderung“ suggeriert wird, dass es sich dabei um hilfsbedürftige und arme Menschen handelt, die Mitleid benötigen, wodurch weitere Stigmatisierungen stattfinden.

Zusätzlich zu den negativen Verhaltensweisen, die im Rahmen der Stigmaforschung untersucht wurden, wurde auch das Aberkennen der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ als stigmatisierendes Verhalten gedeutet. Der Grund dafür ist, dass diese Perspektive in den Stigmaforschungen noch weitreichend fehlt, wobei die Erlangung des Rechts auf Selbstbestimmung eigentlich eines der zentralsten Elemente der Behindertenbewegung und in dem Rahmen der Independent-Living-Bewegung ist. Selbstbestimmung als Schlüsselbegriff der Behindertenbewegung darf deshalb in den Analysen zum Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ nach meinem Erachten nicht fehlen und wird deshalb auch als ein Analyseelement in die empirischen Forschungen dieser Arbeit aufgenommen.

Darüberhinaus spielt Selbstbestimmung für das soziale Feld, in dem die empirische Forschung durchgeführt wurde, eine wichtige Rolle, da die Beobachtungen und die daran anschließenden problemzentrierten Interviews im Rahmen eines Assistenzverhältnisses stattgefunden haben und die persönliche Assistenz, wie es bereits beschrieben wurde, das Werkzeug zur Erlangung der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ sein sollte.

Nach den dargestellten theoretischen Ausarbeitungen soll nun auf die empirischen Untersuchungen, die ihm Rahmen dieser Masterarbeit durchgeführt wurden, eingegangen werden.

II Empirischer Teil

7. Methodologisches Vorgehen

Im folgenden Kapitel soll ein Überblick darüber gegeben werden, wie in der vorliegenden Masterarbeit methodisch vorgegangen worden ist. Es wird zum Ersten noch einmal aufgegriffen werden, welches Forschungsinteresse verfolgt und mit welchen Forschungsfragen und Hypothesen gearbeitet wurde. Zum Zweiten werden die ausgewählten Methoden für die Erhebung und Datenauswertung vorgestellt und es wird begründet, warum sie für diese Untersuchung herangezogen wurden.

7.1 Forschungsinteresse, Forschungsfragen und Hypothesen

Das zentrale Interesse dieser Masterarbeit ist einen Einblick in den Lebensalltag von Menschen mit „Behinderung“ bzw. von Menschen die „behindert werden“ zu geben. Dabei soll ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, welche Erfahrungen Menschen mit „Behinderung“ hinsichtlich der Begegnungen mit anderen Personen machen und wie sich das Verhalten dieser Personen ihnen gegenüber gestaltet. Analysiert werden soll dabei nur das tatsächlich zu beobachtende Verhalten der Personen und nicht etwa welche Einstellungen sich hinter dem Verhalten verbergen. Dabei lehnen sich die vorliegenden Ausarbeitungen stark an Cloerkes (2007, S. 113) an, der davon ausgeht, dass die Einstellung einer Person nicht zwingend mit ihrem Verhalten übereinstimmen muss und damit diese beiden Ebenen getrennt behandelt werden müssen.

Des Weiteren soll in den Analysen berücksichtigt werden, welche Auswirkungen die Anwesenheit einer Persönlichen Assistenz auf das Verhalten gegenüber einer Person mit „Behinderung“ haben kann.

Die aus diesem Interesse resultierenden Forschungsfragen lauten wie folgt:

  • Wie gestaltet sich das Alltagsleben für Menschen mit „Behinderung“ im Bezug auf die Verhaltensweisen, die ihnen Personen bei einer Begegnung entgegenbringen und inwieweit lassen sich stigmatisierende Elemente in diesen Verhaltensweisen finden?

  • Welche Rolle spielt dabei die Anwesenheit einer Persönlichen Assistenz im Bezug auf die Selbstbestimmung einer Person mit „Behinderung“ bzw. inwieweit wird die Persönliche Assistenz zum Stellvertreter/ zur Stellvertreterin der Person mit „Behinderung“ und dadurch die Selbstbestimmung eingeschränkt?

Aus den dargestellten Fragestellungen heraus haben sich zwei Hypothesen entwickelt:

  • Das Verhalten von Personen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ weist stigmatisierende Elemente auf, wodurch Menschen mit „Behinderung“ Stigmatisierung, im Sinne von Abwertung und Diskriminierung, durch das Verhalten anderer Personen erfahren.

  • Die Persönliche Assistenz wird von Personen als Stellvertreter/ -in für eine Person mit „Behinderung“ wahrgenommen, wodurch die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ erschwert und eingeschränkt werden kann.

Das grundlegende Interesse ist demnach herauszufinden welche negativen Aspekte das Verhalten von Personen gegenüber Personen mit einer „Behinderung“ aufweist und wie sich diese Verhaltensweisen gestalten. Darüberhinaus soll die Anwesenheit einer Persönlichen Assistenz berücksichtigt werden, da ich selbst als Persönliche Assistenz im (Forschungs-)Feld involviert war und vor allem in der teilnehmenden Beobachtung eine möglicherweise einflussreiche Rolle übernommen habe. Die Hypothese bezüglich der Persönlichen Assistenz als wahrgenommene Stellvertretung für eine Person mit „Behinderung“ ergab sich aus eigenen Erfahrungen während der Arbeit und soll im Rahmen dieser Untersuchung geprüft werden.

Nach dieser Übersicht der Interessen und Ziele der vorliegenden Arbeit, sollen nun die herangezogenen Methoden näher beschrieben werden.

7.2 Die teilnehmende Beobachtung

Die Beobachtung im Allgemeinen zeichnet sich durch ihre besondere Nähe zu alltäglichen Techniken der Informationsgewinnung aus. Von einer wissenschaftlichen Beobachtung wird dann gesprochen, wenn das Beobachtungsverfahren kontrolliert und systematisiert wird und zu bestimmten Forschungszwecken durchgeführt wird. (vgl. Schnell et al. 2013, S. 380f)

Bei der teilnehmenden Beobachtung handelt es sich um eine qualitative Erhebungsmethode, die im Rahmen der Feldforschung angewandt wird. (vgl. Hug/ Poscheschnik 2010, S. 109) Das zentrale Element der Feldforschung ist, dass in der natürlichen Umgebung des jeweils zu Untersuchenden geforscht wird. Es handelt sich also nicht um eine künstlich hergestellte Laborsituation, sondern um natürliche Alltagskontexte. (vgl. Rosenthal 2014, S. 99)

So übernimmt der Forscher oder die Forscherin bei einer teilnehmenden Beobachtung selbst eine Rolle im zu untersuchenden Forschungsfeld. Der Forscher oder die Forscherin nehmen dabei teil am Alltag der Beforschten und sammeln dabei ihre Daten. Die teilnehmende Beobachtung charakterisiert sich des Weiteren dadurch, dass nicht nur verbale Inhalte von analytischem Interesse sind, sondern vor allem auch Verhaltensweisen und Handlungen von Personen zentrale Untersuchungselemente darstellen. (vgl. Hug/ Poscheschnik 2010, S. 108ff)

Die teilnehmende Beobachtung kann nun in ihrem Strukturierungsgrad variieren. Es wird grundlegend im Bereich der Beobachtungen zwischen einer strukturierten bzw. einer standardisierten und einer unstrukturierten oder auch nichtstandardisiert Beobachtung unterschieden. Bei einer strukturierten Beobachtung wird beispielsweise vor der Durchführung der Beobachtung schon entschieden, was genau wie beobachtet werden soll, oder auch die Zahl und die Art der Beobachtungseinheiten festgelegt. Die Beobachtung wird einfacher ausgedrückt von Beginn an sehr stark durchstrukturiert. Bei der unstrukturierten Beobachtung bestehen im Grunde keine Vorgaben zu der Durchführung der Beobachtung. Beobachtet wird an dieser Stelle nur in Anlehnung an die Forschungsfragen. Eine Beobachtung muss allerdings nicht vollkommen strukturiert oder unstrukturiert sein. Sie kann in ihrem Strukturierungsgrad variieren, wobei jede wissenschaftliche Beobachtung, egal ob strukturiert oder unstrukturiert, zielgerichtet durchgeführt werden muss. (vgl. Lamnek 2001, S. 267)

Im Rahmen dieser Masterarbeit war die teilnehmende Beobachtung dahingehend strukturiert, dass die Verhaltensweisen von Personen beobachtet wurden, die in eine Interaktion mit meinen Kundinnen getreten sind. Dabei waren vor allem jene Verhaltensweisen und Reaktionen von Bedeutung, die auch meine Kundinnen wahrgenommen haben, da das Forschungsinteresse sich darauf bezieht, wie sich der Lebensalltag von Menschen mit „Behinderung“ gestaltet – wie sie selbst also die Verhaltensweisen anderer Personen wahrnehmen und welche Erfahrungen sie machen. Nicht so sehr beachtet wurden deshalb Verhaltensweisen, die beispielsweise in weiterer Entfernung hinter meinen Kundinnen ausgeübt wurden, da meine Kundinnen von diesen Verhaltensweisen keine Kenntnis hatten.

Des Weiteren kann eine teilnehmende Beobachtung verdeckt oder offen stattfinden. Bei einer verdeckten Beobachtung wissen die zu beobachtenden Personen nicht, dass sie beobachtet werden. Bei der offenen Beobachtung sind die beobachteten Personen eingeweiht.

Bei der hier dargestellten Untersuchung wurde die Beobachtung im Grunde verdeckt und auch offen durchgeführt. Meine Kundinnen, die im Rahmen einer Analyse auf Interaktionsebene auch eine Rolle als Beobachtete spielten, wussten über meine Rolle als Beobachterin bescheid. Die Personen die hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber meinen Kundinnen beobachtet wurden, wussten nicht darüber bescheid. Für sie war ich nur als Persönliche Assistenz oder Begleitung meiner Kundinnen zu erkennen.

Eine Beobachtung kann als Eigenbeobachtung oder Fremdbeobachtung durchgeführt werden, wobei die Fremdbeobachtung in sozialwissenschaftlichen Forschungen die gängigere ist. Eigenbeobachtungen werden häufig in psychologischen Forschungen durchgeführt. Bei der Fremdbeobachtung geht es darum etwas „anderes“ zu beobachten und bei der Eigenbeobachtung beobachtet der Beobachter oder die Beobachterin sich selbst.

In der vorliegenden Arbeit wurde grundsächlich eine Fremdbeobachtung durchgeführt, wobei ich als Beobachterin in der Rolle der Assistenz bzw. mein Verhalten in der Rolle der Assistenz auch als ein sehr einflussreicher Faktor für die beobachteten Interaktionen einzuschätzen war. Ich sehe hier allerdings nicht die Notwendigkeit einer Eigenbeobachtung, sondern eher einer bewussten und intensiven Reflexion. Das zentrale Analyseelement war im Grunde nicht mein Verhalten sondern das Verhalten der anderen Personen. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass mein Verhalten Einfluss auf das Verhalten der anderen nehmen kann, weshalb eine reflexive Haltung sehr wichtig ist.

Ein weiteres wichtiges Kriterium einer teilnehmenden Beobachtung ist, ob im Rahmen der Beobachtung weitere Medien, wie etwa ein Tonband, verwendet werden. Man unterscheidet hier zwischen der vermittelten Beobachtung, bei der weitere Medien verwendet werden, und der unvermittelten Beobachtung. Der Vorteil des Einsatzes von Medien ist, dass Elemente einer Beobachtung noch einmal auf andere Weise gespeichert werden können. Ein Nachteil kann sich daraus ergeben, dass ein Medieneinsatz Veränderungen im sozialen Feld bewirken kann.

Aus diesem Grund wurde in der hier dargestellten Untersuchung auf ein Heranziehen von Speichergeräten, während der Beobachtung, verzichtet. (vgl. Lamnek 2001, S. 267ff)

Die „Speicherung“ der Daten geschieht bei der teilnehmenden Beobachtung durch Beobachtungsprotokolle, die nach den Beobachtungseinheiten erstellt werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Protokolle nicht als Abbild einer sozialen Wirklichkeit gesehen werden dürfen. Sie sind durch zweifache Weise selektiert worden. Zum einen durch die selektive Wahrnehmung des Beobachters oder der Beobachterin und zum anderen durch das Verschriftlichen des Wahrgenommenen. Diese Tatsache schafft einen Ausgangspunkt für negative Kritik an dem Vorgehen der teilnehmenden Beobachtung. Rosenthal (2014, S. 104) weist allerdings darauf hin, dass die Potentiale einer teilnehmenden Beobachtung, die sich durch ein sinnliches und ganzheitliches Erfassen des Beobachters oder der Beobachterin auszeichnet, häufig unterschätzt werden und im gleichen Augenblick die Potentiale von medialen Aufzeichnungen überschätzt werden, da diese genauso selektive Elemente beinhalten, da beispielsweise eine Kamera nur aus einem vorher bestimmten Winkel soziale Situationen betrachtet und aufnimmt. Ein sehr großer Vorteil der teilnehmenden Beobachtung ist nach Rosenthal (ebd.) „die Teilnahme am Alltagsleben, d. h. das Erleben dieses Alltags aus eigener Perspektive und die Möglichkeit, sich in Gesprächen auf das Erlebte zu beziehen“.

Um eine gute Qualität bei einer teilnehmenden Beobachtung zu erzielen, müssen jedoch die Beobachtungsprotokolle sorgfältig angefertigt werden. Rosenthal weist darauf hin, dass es wichtig ist, zwischen beobachteten Handlungsabläufen und eigenen Gedanken, Gefühlen und Interpretationen zu unterscheiden und diese subjektiven Eindrücke immer wieder zu reflektieren und zu überdenken, was sie ausgelöst haben könnte. Aus diesem Grund wurde das für diese Arbeit angefertigte Beobachtungsprotokoll auch in drei Dimensionen (objektive Beschreibung, subjektiver Eindruck, Interpretation (siehe Kapitel 8.1)) unterteilt und die Eindrücke in diesen drei Dimensionen wiedergegeben. Darüberhinaus ist es wichtig, dass die Protokolle Datum und Zeit angeben und ersichtlich ist, worauf sich das Beobachtungsprotokoll bezieht.

Da unseren Erinnerungskapazitäten klare Grenzen gesetzt sind, ist es nach Rosenthal wichtig, sich neben der Wahrnehmung des Gesamtgeschehens, während der Beobachtung auf einzelne Situationen zu konzentrieren und uns ihren Ablauf so genau wie möglich zu merken und bis zu ihrer Verschriftlichung bewusst zu wiederholen. (vgl. Rosenthal ebd., S. 108ff)

7.3 Das problemzentrierte Interview

Das problemzentrierte Interview erlaubt es dem Interviewer oder der Interviewerin sich während des Interviews auf eine bestimmte Thematik zu beziehen. Es wird mit einem groben Leitfaden gearbeitet, wobei sich die Fragen für den Leitfaden aus vorangegangener Beschäftigung mit der jeweiligen Thematik ergeben. So können die Inhalte des Leitfadens beispielsweise im Rahmen einer vorangegangenen Beschäftigung mit theoretischen Inhalten zu einem bestimmten Forschungsfeld erarbeitet worden sein.

Im Bezug auf die hier vorgestellten Untersuchungen ergab sich der Leitfaden größtenteils aus den Ergebnissen der teilnehmenden Beobachtung. Das problemzentrierte Interview diente dazu, meine eigenen Beobachtungen noch einmal zu hinterfragen und zu erörtern, ob die Erfahrungswelt meiner Kundinnen mit meinen Beobachtungen zusammenpasst, oder ob sich Unterschiede darin feststellen lassen.

Bei der Durchführung eines problemzentrierten Interviews wird den interviewten Personen aber auch viel Freiraum gegeben, um ihre eigenen Inhalte einzubringen. Der Leitfaden dient dazu die interviewten Personen auf ein bestimmtes Thema zu lenken, wozu sie aber dann offen erzählen können sollen.

Um ein problemzentriertes Interview zu beginnen werden am Anfang ganz allgemeine Fragen bzw. eine allgemeine Frage gestellt. Im Falle der hier vorgestellten Untersuchungen lautete diese Frage:

„Wie würden Sie grundlegend das Verhalten von anderen Personen ihnen gegenüber beschreiben?“

Vor dem Einstieg in das Interview mit Hilfe dieser allgemeingehaltenen Frage, kann der Interviewer oder die Interviewerin auch die soziodemographischen Daten der Interviewpartner/-innen erfragen. Diese Daten können aber auch durch einen kurzen Fragebogen erhoben werden.

Nach dem Interview verfasst der Interviewer oder die Interviewerin noch ein sogenanntes Postscriptum, in welchem alle wichtigen Eindrücke im Bezug auf die interviewte Person und die Interviewsituation festgehalten werden sollen. (vgl. Hug/ Poscheschnik 2010, S. 102)

7.4 Die qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring

Die qualitative Inhaltsanalyse dient zur inhaltlichen Analyse von Texten. Diese Texte können beispielsweise Interviewtranskriptionen oder auch Beobachtungsprotokolle sein. Das Ziel der qualitativen Inhaltsanalyse ist das Herausfiltern von einzelnen Kategorien, die den gesamten Inhalt eines Textes in verdichteter und kurzer Form bzw. die zentralen Kerne des Textes darstellen sollen. Dabei wird das Material zuerst in Sinn-Einheiten unterteilt und danach werden diese Einheiten abstrakteren Kategorien zugeteilt.

Die qualitative Inhaltsanalyse zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie sehr stark strukturiert und regelgeleitet ist, da die einzelnen Analyseschritte ziemlich genau definiert sind. (vgl. Hug/ Poscheschnik 2010, S. 150f)

Ein weiteres sehr bedeutsames Charakteristikum der qualitativen Inhaltsanalyse ist, dass ein Text immer im Rahmen seines Entstehungskontextes untersucht wird. Daraus ergeben sich nach Mayring (2010, S. 52ff) folgende erste regelorientierte Analyseschritte :

  • Festlegung des Materials

    In dieser Analyseeinheit geht es darum genau zu definieren, welches Material der Analyse zugrunde liegen soll.

    Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit wurden zwei transkribierte Interviews und zwei Beobachtungsprotokolle analysiert.

  • Analyse der Entstehungssituation

    Bei diesem Analyseschritt geht es darum festzuhalten, von wem und unter welchen Bedingungen das Material erarbeitet wurde.

    Im Rahmen dieser Arbeit wurde das Material durch zwei problemzentrierte Interviews und einer teilnehmenden Beobachtung von mir erarbeitet. Die problemzentrierten Interviews wurden mit meinen Kundinnen durchgeführt, wobei ihre Teilnahme an den Interviews freiwillig war. Die teilnehmende Beobachtung wurde während meiner Tätigkeit als Persönliche Assistenz durchgeführt, bei der ich meine Kundinnen auf ihren alltäglichen Wegen begleitet habe.

  • Formale Charakteristika des Materials

    Hier geht es darum zu beschreiben, in welcher Form das Material vorliegt.

    In der vorliegenden Arbeit handelt es sich dabei um zwei Transkriptionstexte die mithilfe einer Tonbandaufnahme der Interviews nachträglich verfasst worden sind. Des Weiteren wurde mit Beobachtungsprotokollen gearbeitet, die nach den jeweiligen Beobachtungseinheiten verfasst worden sind und sich in drei Dimensionen aufteilen (Objektive Beschreibung, Subjektiver Eindruck, Interpretation).

  • Richtung der Analyse

    An dieser Stelle muss vorab bestimmt werden, welches Ziel die Analyse verfolgt. Dabei kann beispielsweise überlegt werden, ob der im Text behandelte Gegenstand beschrieben werden soll, ob man etwas über den Verfasser des Textes in Erfahrung bringen will oder ob die Wirkung des Textes von Interesse ist.

    In der vorliegenden Arbeit ist vor allem der im Text behandelte Gegenstand von Interesse. Es geht darum herauszufinden, wie sich das Verhalten von Personen gegenüber meinen Kundinnen gestaltet und ob es stigmatisierende Elemente beinhaltet. Im Bezug auf die problemzentrierten Interviews und der Beobachtungsprotokolle ist also der behandelte Gegenstand – das Verhalten von Personen gegenüber Personen mit „Behinderung“ – von Interesse.

  • Theoretische Differenzierung der Fragestellung

    In dieser Analyseeinheit geht es darum die Fragestellung vor der qualitativen Inhaltsanalyse genau zu definieren, dabei bisherige Forschungsergebnisse und Theorien zu berücksichtigen und eventuell weitere Unterfragen zu differenzieren.

    Im Rahmen dieser Arbeit wurde in den theoretischen Ausarbeitungen schon ersichtlich, dass unter anderem Personen mit einer „Behinderung“ unterschiedlichen Stigmatisierungen ausgesetzt sind und mit stigmatisierenden Verhaltensweisen ihnen gegenüber konfrontiert werden.

Ziel der Untersuchung ist es nun herauszuarbeiten, ob sich diese in der Theorie bereits erwähnten Verhaltensmuster auch in der empirischen Untersuchung wiederfinden lassen, ob es möglicherweise weitere Verhaltensmuster gibt, die noch nicht festgestellt wurden, oder ob in der Theorie dargestellte Verhaltensmuster nicht beobachtet werden konnten.

Nachdem die eben dargestellten Analyseschritte erarbeitet wurden, kann der Forscher oder die Forscherin nun mit der eigentlichen Analyse des Textes beginnen.

Hier werden von Mayring (2010, S. 65) drei unterschiedliche Analysetechniken beschrieben.

Zum einen kann man mit der Zusammenfassung arbeiten. Bei dieser Analysetechnik ist es das Ziel, das Material auf wesentliche Inhalte zu reduzieren, die immer noch ein Bild vom Gesamtmaterial darbieten. Die Explikation ist eine andere Möglichkeit die Analyse am Text durchzuführen. Bei dieser Technik geht es darum einzelne Textteile herauszunehmen und diese, beispielsweise mit zusätzlichem Material, genauer zu untersuchen. Bei der dritten Variante, der Strukturierung, soll durch ein Herausfiltern bestimmter Aspekte aus dem Material, was durch vorher bestimmte Ordnungskriterien geschieht, ein Querschnitt durch das Material erarbeitet werden.

In der vorliegenden Arbeit wurde mit der Technik der Zusammenfassung gearbeitet, da es mit ihr möglich ist, einen ganzheitlichen Blick des Materials zu gewinnen.

Bei der zusammenfassenden Inhaltsanalyse geht es darum, das Datenmaterial immer abstrakter werden zu lassen. Dafür gibt Mayring (2010, S. 68) sieben Analyseschritte vor die durchlaufen werden müssen:

  1. Bestimmung der Analyseeinheiten

  2. Paraphrasierung der inhaltstragenden Textstellen

  3. Bestimmung des angestrebten Abstraktionsniveaus und Generalisierung der Paraphrasen unter diesem Abstraktionsniveau

  4. Erste Reduktion durch Selektion und Streichen bedeutungsgleicher Paraphrasen

  5. Zweite Reduktion durch Bündelung, Konstruktion und Integration von Paraphrasen auf dem angestrebten Abstraktionsniveau

  6. Zusammenstellung der neuen Aussagen als Kategoriensystem

  7. Rücküberprüfung des zusammenfassenden Kategoriensystems am Ausgangsmaterial

Ergebnis der Analyse sind nun die Kategorien, welche die zentralen Inhalte des Textes wiedergeben und ein komprimiertes Abbild von dem Material darstellen.

Die Kategorien, die in der vorliegenden Untersuchung herausgefunden wurden werden im Kapitel 9 dargestellt.

7.5 Begründung der Methodenwahl

Das Interesse an der in dieser Arbeit dargestellten Untersuchung zum Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ entstand im Grunde schon im „Feld“, in dem die teilnehmende Beobachtung durchgeführt wurde. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung konnte aufgrund meiner Tätigkeit als Persönliche Assistentin sehr gut angewendet werden, da ich bereits meinen Platz im Untersuchungsfeld hatte und es somit nicht mehr nötig war, mich „künstlich“ in ein Feld zu integrieren. Dieser große Vorteil war sicherlich einer der zentralen Gründe dafür, diese Chance zu nutzen und eine teilnehmende Beobachtung durchzuführen. Dabei wurde natürlich berücksichtigt, dass ich als integraler Bestandteil der Beobachtungssituationen besonders reflexiv vorgehen muss und meine eigenen Sichtweisen und Wahrnehmungen immer wieder in Frage stellen muss.

Ein weiterer Grund für die Durchführung der teilnehmenden Beobachtung war beispielsweise auch der Hinweis Cloerkes (2007, S. 112), dass es bisher nur relativ wenige Studien über das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ in natürlichen sozialen Situationen gibt und bisherige Forschungsuntersuchungen auch häufig auf experimentelle Laboruntersuchungen zurückgegriffen haben. Als Persönliche Assistenz hatte ich die Möglichkeit, das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ aus deren Perspektive kennenzulernen und im natürlichen Umfeld zu beobachten, welche Erfahrungen sie alltäglich mit dem Verhalten anderer Personen machen.

Natürlich wurde die Methode der teilnehmenden Beobachtung auch herangezogen, weil es mit ihr möglich war, eine Antwort auf meine Forschungsfragen zu erhalten und meine Hypothesen zu überprüfen. Anlehnend an die Forschungsfragen und Hypothesen sollte in dieser Arbeit untersucht bzw. herausgefunden werden, wie sich das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ gestaltet und ob es stigmatisierende Elemente beinhaltet. Zentral ist daher, wie es schon vorher beschrieben wurde, das beobachtbare Verhalten der Personen, weshalb sich eine Beobachtung als methodischer Zugang anbietet.

Da eine Beobachtung, auch wenn sie nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt wird, durch die Wahrnehmung einer einzelnen beobachtenden Person, sehr selektiv ist, wurde als weiteres Untersuchungsinstrument das problemzentrierte Interview herangezogen. Damit konnten die Erfahrungen weiterer Personen miteinbezogen werden und ein Vergleich der unterschiedlichen Betrachtungsweisen stattfinden. Durch das problemzentrierte Interview wurde es auch möglich, Expert/ -innen in ihrer eigenen Sache berichten zu lassen und sie in die Forschung zu involvieren.

Es wurde speziell das problemzentrierte Interview als Erhebungsmethode herangezogen, da es damit möglich war, sich auf gezielte Inhalte zu konzentrieren und dabei trotzdem den Interviewpartnerinnen einen relativ großen Freiraum für ihre Sichtweisen zu lassen.

Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring eignet sich gut für die Auswertung des Materials, da es mit ihr möglich ist einen wahrheitsgetreuen Überblick über das Gesamtmaterial zu geben und es in zusammengefasster Form darzustellen. So können die Kerninhalte der Interviewaussagen und der Beobachtungsprotokolle herausgefiltert werden um die Ergebnisse der Untersuchungen in Kategorien zu erhalten. Diese Kategorien können auch sehr gut in einen Vergleich mit den bisherigen Forschungsergebnissen gesetzt werden.

Die qualitative Inhaltsanalyse eignet sich zudem für beide in dieser Untersuchung angewandten Erhebungsmethoden.

Ein weiterer Grund für das Heranziehen dieser Auswertungsmethode ist ihre starke Strukturiertheit, da sie eine qualitativ hochwertige Auswertung möglich macht. Mit der qualitativen Inhaltsanalyse wird es möglich, eine regelgeleitete und gut strukturierte Auswertung durchzuführen und somit Fehlerquellen vorzubeugen. Gleichzeitig berücksichtigt und ermöglicht die Methode aber auch, dass die Strukturierung der Auswertung auf die jeweilige Forschungssituation angepasst werden kann. Dies wird beispielsweise durch die drei unterschiedlichen Analysetechniken gewährleistet, von denen die für die eigene Forschung passende ausgewählt werden kann.

8. Darstellung der Untersuchung

Im Rahmen dieses Kapitels soll beschrieben werden, wie die ausgewählten Forschungsmethoden durchgeführt wurden und ein Eindruck von der Forschungssituation im Allgemeinen vermittelt werden. Des Weiteren soll der Forschungsprozess reflektiert werden, um eventuell aufgetretene Schwächen bei folgenden Forschungsarbeiten verbessern zu können.

8.1 Durchführung der teilnehmenden Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung wurde im Rahmen meiner Tätigkeit als Persönliche Assistenz durchgeführt. In meiner Rolle als Persönliche Assistenz konnte ich den Alltag meiner Kundinnen miterleben und das Verhalten von Personen ihnen gegenüber auch aus ihrer Perspektive betrachten. Nachdem ich etwa eineinhalb Monate das Beobachtungsverfahren etwas getestet und ausprobiert hatte, wurde die eigentliche Beobachtung über zwei Monate (März und April 2014) durchgeführt. Daraus ergaben sich insgesamt 18 Beobachtungseinheiten und 63 beobachtete und analysierte Situationen.

Dadurch, dass die teilnehmende Beobachtung innerhalb meines Arbeitsfeldes stattgefunden hat, war ich mit der Rolle als Persönliche Assistenz automatisch in das (Untersuchungs-)Feld integriert und musste diesen Zugang zum Feld nicht mehr erarbeiten, wie es im Bereich der Feldforschung eigentlich üblich ist.

Die teilnehmende Beobachtung wurde vorher mit meinen Kundinnen besprochen und es wurde ihr Einverständnis geklärt.

Ursprünglich war methodisch geplant, dass meine Kundinnen auch direkt an der Beobachtung teilnehmen, d. h. als Forscherinnen in die Beobachtung integriert werden, also auch selbst als Beobachterinnen tätig sind. Aufgrund einiger Schwierigkeiten während eines Probedurchlaufs (z. B. konnten sich meine Kundinnen nicht auf ihre Erledigungen und die Beobachtungen konzentrieren) und auf Wunsch meiner Kundinnen wurde die teilnehmende Beobachtung schlussendlich doch von mir alleine durchgeführt. Wie im Rahmen dieser Arbeit schon beschrieben wurde, wurden die Erfahrungen und Sichtweisen meiner Kundinnen aber durch die problemzentrierten Interviews berücksichtigt und integriert.

Während der Beobachtungseinheiten, die von ca. einer Stunde bis zu fünf Stunden dauerten, konzentrierte ich mich anlehnend an Rosenthal (2014, S. 109) auf für mich besonders auffällige Interaktionssituationen, die ich bis zu ihrer Verschriftlichung nach der Beobachtung gedanklich kontinuierlich wiederholte. Nach Beendigung einer Beobachtungseinheit verfasste ich das Beobachtungsprotokoll, wobei ich versucht habe zwischen dem Handlungsablauf und subjektiven Eindrücken zu unterscheiden. Das Beobachtungsprotokoll wurde dabei in drei Dimensionen untergliedert. Zum Ersten wurde eine objektive Beschreibung des Handlungsablaufs verfasst. An dieser Stelle ist natürlich darauf hinzuweisen, dass eine solche Beschreibung niemals vollkommen objektiv sein kann, da die Inhalte schon während der Beobachtung durch den Beobachter oder die Beobachterin selektiert werden. Dennoch wurde versucht den Handlungsablauf so genau und neutral wie möglich wiederzugeben. Zum Zweiten wurde die Interaktionssituation noch einmal aus meiner persönlichen und subjektiven Perspektive wiedergegeben. Dabei wurde beschrieben, wie die jeweiligen Handlungsweisen bzw. Verhaltensweisen auf mich gewirkt haben. In einem dritten Schritt wurden die beobachteten Situationen interpretiert und zugleich in einen Zusammenhang mit den theoretischen Ausarbeitungen gebracht.

Durch meine für die Interaktionen sehr einflussreiche Rolle als Persönliche Assistenz, wurden auch meine eigenen Handlungen und die darauf folgenden Verhaltensweisen immer wieder reflektiert und die Gedanken dieser Reflexionen in die Protokolle niedergeschrieben. Neben der Tatsache, dass ich als Persönliche Assistenz mit meinem Verhalten die Interaktion zwischen einer Person und meinen Kundinnen sehr wahrscheinlich beeinflusse, spielt meine Rolle als Persönliche Assistenz auch als Analyseelement eine Rolle, wie es in den Forschungsfragen schon ersichtlich wurde. Auch aus diesem Grund war eine intensive Reflexion meiner eigenen Verhaltensweisen sehr wichtig.

8.2 Durchführung der Interviews

Die problemzentrierten Interviews wurden jeweils bei meinen Kundinnen zu Hause durchgeführt. Die Gesprächsinhalte wurden mittels eines Leitfadens (dieser ergab sich jeweils aus den Beobachtungen die gemacht wurden) gelenkt, wobei darauf geachtet wurde, dass die Interviewpartnerinnen nicht während eines Redeflusses unterbrochen werden. Es wurde ihnen bewusst viel Freiraum gelassen um von ihren Erfahrungen zu berichten, damit ihre Sichtweisen nicht zu stark beeinflusst werden.

Die Interviewpartnerinnen waren vermutlich auch schon etwas vorbereitet auf die Interviews, da sie durch die vorangegangene Beobachtung schon über das Thema Bescheid wussten.

Die Interviews wurden jeweils mit einer allgemeinen Frage (siehe Kapitel 7.3) eingeleitet um das Gespräch zu beginnen. Vor dem Interview wurden die soziodemographischen Daten der Interviewpartnerinnen verbal erfragt.

Das Interview wurde mit einem Diktiergerät aufgenommen und anschließend auf dem Computer transkribiert. Die Transkription wurde dabei mittels einiger weniger Regeln durchgeführt (siehe Anhang).

Das Interview mit Frau X dauerte etwa 35 Minuten und das Interview mit Frau Y dauerte ca. 25 Minuten. Das Ende des Interviews wurde jeweils von den Interviewpartnerinnen bestimmt.

Nach der Durchführung der Interviews wurde ein Postscriptum erstellt, in welchem meine persönlichen Eindrücke zu den Interviews festgehalten wurden. Diese Eindrücke werden im Rahmen des nächsten Kapitels erläutert.

8.3 Reflexion des Forschungsprozesses

Während der Durchführung der teilnehmenden Beobachtung wurde für mich die große Herausforderung eine reflexiven Haltung zu bewahren ersichtlich. Auch ausgewählte Szenen konzentriert und möglichst ganzheitlich zu beobachten gestaltete sich schwieriger als erwartet. Aus diesem Grund habe ich mich dafür entschieden eine „Testphase“ zu durchlaufen, in der ich mit der Tätigkeit als Beobachterin vertrauter werden kann und die Durchführung der Beobachtung trainieren kann. Meine eigentliche Beobachtung hat somit erst nach einer eineinhalb Monate langen Testphase begonnen. Nach dieser Testphase fühlte ich mich auch sicherer in meiner Rolle als Beobachterin.

Mir wurde auch bewusst, dass vor allem hinsichtlich der Bewahrung einer reflexiven Haltung das Verschriftlichen von Gedanken und Ideen und das Hinterfragen von eigenen Verhaltensweisen sehr zentrale Punkte im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung darstellen. Aus diesem Grund wurde zusätzlich zu den Beobachtungsprotokollen noch ein Feldtagebuch von mir geführt, in dem ich meine Gedanken speichern konnte und damit in den Analysen mitberücksichtigen konnte.

Es wurde auf Wunsch meiner Kundinnen darauf verzichtet, sie in die Beobachtungen als Forschende zu integrieren. Dennoch stellte ich ihnen hin und wieder während unserer alltäglichen Begegnungen mit Personen Fragen, wie sie das jeweilige Verhalten bewerten würden. Diesen Punkt hätte ich können noch mehr herausarbeiten bzw. noch mehr berücksichtigen und kontrollierter einsetzen. Damit wäre auch schon während der Beobachtung ein Bild davon entstanden, wie meine Kundinnen über die jeweiligen Beobachtungssituationen denken.

Die problemzentrierten Interviews wurden bewusst bei meinen Kundinnen zu Hause durchgeführt, da es ihnen ermöglichte in ihrem vertrauten Umfeld über den Sachverhalt zu sprechen. Des Weiteren konnten wir uns dort in Ruhe unterhalten.

Bei dem Interview mit Frau X gab es einige Schwierigkeiten zu Beginn des Interviews, da eine unerwartete Verspätung ihrer Hausfriseurin dazu führte, dass wir das Interview erst später durchführen konnte. Frau X ist sehr ordnungsbewusst und lässt sich durch derartige spontane Veränderungen leicht aus der Ruhe bringen, wodurch sie auch am Anfang des Interviews ein wenig gestresst wirkte. Nach einigen Minuten legte sich diese Anspannung jedoch wieder. Die Durchführung des Interviews war sehr erfolgreich, wobei zu erwähnen ist, dass es für mich ein großer Vorteil war, dass ich Frau X schon gut kenne, da ihre Sätze sehr häufig abgehakt und nicht vollständig sind. Ich habe damit gerechnet und konnte durch Rückfragen den Sinngehalt ihrer Aussagen feststellen. Zum Ende hin wurde Frau X etwas ungeduldig, da sie das Interview und die damit verbundene Konzentration auf ein Thema vermutlich anstrengte. Das Interview wurde durch Frau X zum Ende gebracht.

Beim Interview mit Frau Y waren wir leider zeitlich etwas eingeschränkt, da Frau Y nach dem Interview noch einen Termin wahrnehmen musste. Somit war die Dauer des Interviews auch durch diese Komponente bestimmt. Das Interview an sich ist erfolgreich verlaufen und Frau Y hatte einen guten Redefluss. Ich hatte auch den Eindruck, dass ich mit meinen wenigen und kurzen Zwischenfragen diesen Redefluss nicht beeinträchtigt habe.

Etwas schwierig bei beiden Interviews gestaltete sich das Lenken der Gespräche auf die geplanten Inhalte. Die Interviewpartnerinnen erzählten sehr häufig von ihrem Umgang mit dem negativen Verhalten von Personen und wie sie sich dabei fühlten. Natürlich ist auch diese Erfahrungswelt in der vorliegenden Arbeit von Bedeutung, aber noch zentraler sind hier die tatsächlichen Verhaltensweisen der Personen gegenüber meinen Kundinnen, also die Frage, wie sich die Personen verhalten. Es wurden auch Verhaltensweisen in den Interviews beschrieben und aufgegriffen, aber doch erzählten die Interviewpartnerinnen häufig von ihrem Umgang mit allgemein als negativ definierten Verhaltensweisen, wodurch an diesen Stellen nicht deutlich herauskam, um welche negativen Verhaltensweisen es sich dabei genau handelt. An dieser Stelle wäre bei der Durchführung folgender problemzentrierter Interviews noch einmal genau zu hinterfragen, welche Fragen in den Leitfaden aufgenommen werden und wie diese formuliert werden. Möglicherweise waren die Fragen des hier verwendeten Leitfadens zu offen gestaltet und hätten eine stärkere Präzision benötigt.

9. Darstellung der Ergebnisse

Im Rahmen dieses Kapitels sollen die Ergebnisse der empirischen Forschung dargestellt, diskutiert und mit den bisherigen Forschungsergebnissen verglichen werden. Darüberhinaus soll ein Eindruck von dem Kontext bzw. dem sozialen Feld in dem die Untersuchung stattgefunden hat vermittelt werden.

9.1 Das soziale Feld und die Interviewpartnerinnen

Am Beginn dieses Kapitels soll eine kurze Beschreibung von Frau X und Frau Y gegeben werden. Ich spreche von den beiden Frauen bewusst nicht von meinen Probandinnen, da sie im Rahmen meiner teilnehmenden Beobachtung nicht der zentrale Beobachtungsgegenstand waren. Wie schon darauf hingewiesen wurde, kann natürlich das Verhalten der beiden Assistenznehmerinnen sowie mein eigenes Verhalten nicht aus den Beobachtungen ausgeschlossen werden, da das Verhalten einer Person auch immer durch das Verhalten ihres Gegenübers beeinflusst und mitbestimmt wird. Dennoch ist der zentrale Analysegegenstand das Verhalten von anderen Personen gegenüber den beiden Assistenznehmerinnen. Des Weiteren betrachte ich die beiden Frauen als „Mitforschende“, die durch das problemzentrierte Interview ihre Sichtweisen und Erfahrungen einbringen konnten, wodurch es mir möglich war, meine Beobachtungen zu kontrollieren, zu hinterfragen und weitere Perspektiven bzw. die Perspektiven zweier Expertinnen zu gewinnen.

Wie schon ersichtlich wurde beanspruchen Frau X und Frau Y das Arbeitsmodell der Persönlichen Assistenz. Frau X ist 63 Jahre alt und kann von den Personen in ihrer Umgebung als „Rollstuhlfahrerin“ eingestuft werden. Frau Y ist 23 Jahre alt und kann als kleinwüchsige Frau wahrgenommen werden. Die diskreditierbaren Elemente sind demnach der Rollstuhl bei Frau X und die Kleinwüchsigkeit bei Frau Y. Anlehnend an Goffmans Stigmatheorie befinden wir uns damit vor allem im Bereich der diskreditierten Personen, da das Stigmamerkmal für andere Personen ersichtlich ist.

Das soziale Feld in dem die empirische Forschung durchgeführt wurde, lässt sich im Grunde als das alltägliche Leben von Frau X und Frau Y beschreiben. Ich begleitete die beiden Frauen im Rahmen meiner Tätigkeit als Persönliche Assistenz auf ihren alltäglichen Wegen und führte dabei eine für die zu untersuchenden Personen verdeckte teilnehmende Beobachtung durch. Wie schon geschildert wurde, wussten die beiden Assistenznehmerinnen über meine Rolle als Beobachterin bescheid.

Die Beschäftigungen, die während meiner Tätigkeit als Persönliche Assistenz und damit auch als teilnehmende Beobachterin durchgeführt wurden, bestanden hauptsächlich darin, in der Stadt diverse Erledigungen, wie etwa Einkäufe, zu machen.

Die häufigsten Beobachtungssituationen ergaben sich daher in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Straße, in Geschäften und anderen Dienstleistungseinrichtungen.

Beobachtet werden konnte somit das Verhalten vieler Personen in sehr unterschiedlichen Handlungssettings. Des Weiteren war es möglich, sowohl das Verhalten von den Assistenznehmerinnen völlig fremden Personen als auch das Verhalten von ihnen bekannten Personen zu analysieren und zu vergleichen.

9.2 Die durch die Analyse erarbeiteten Kategorien

Durch die Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring konnten anhand der beiden Interviewtranskriptionen und der Beobachtungsprotokolle 10 Kategorien (K) erarbeitet und als Ergebnis festgelegt werden:

  • K1: Das Andichten von (negativen) Eigenschaften aufgrund des Stigma-Merkmals

  • K2: Hilfestellungen ohne Rücksprache und aufgedrängte Hilfestellungen

  • K3: Ignorantes Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“

  • K4: Starrende Blicke und aufdringliches Interesse an der „Behinderung“

  • K5: Negative Äußerungen gegenüber Menschen mit „Behinderung“

  • K6: „Spendenaktionen“ und mitleidendes Verhalten

  • K7: Infantilisierung

  • K8: Das Absprechen von Fähigkeiten und das Verhindern der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“

  • K9: Interaktionseinfluss durch die Anwesenheit der Persönlichen Assistenz und die Persönliche Assistenz als wahrgenommene „Stellvertretung“

  • K10: Die Auswirkungen auf das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ durch Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“

Die eben genannten Kategorien sind das zusammengefasste Ergebnis aus allen drei Analysematerialien (2 Transkripte, 63 Beobachtungsprotokolle). Zu berücksichtigen ist, dass jeweils in den einzelnen Analysematerialien nicht alle 10 dargestellten Kategorien zu finden waren. Es lassen sich diesbezüglich kleine Unterschiede in den Materialien feststellen.

Folgend soll aufgezeigt werden, wie sich die Kategorien auf die jeweiligen Analysematerialien aufteilen:

  • Ergebnis Beobachtungsprotokolle Frau X:

K1, K2, K3, K6, K8, K9, K10 – nicht beobachtet wurden K4, K5, K7

  • Ergebnis Beobachtungsprotokolle Frau Y:

K2, K4, K6, K7, K9, K10 – nicht beobachtet wurden K1, K3, K5, K8

  • Ergebnis problemzentriertes Interview Frau X:

K1, K2, K3, K5, K8, K9, K10 – nicht aufgegriffen wurden K4, K6 und K7

  • Ergebnis problemzentriertes Interview Frau Y:

K2, K4, K5, K7, K9, K10 – nicht aufgegriffen wurden K1, K3, K6, K8

Die Unterschiede in den einzelnen Analysematerialien ergeben sich unter anderem aus den drei verschiedenen Erlebnisperspektiven von meinen beiden Kundinnen und mir. Dabei feststellen lässt sich allerdings, dass meine Beobachtungen und die Erzählungen der jeweiligen Kundin sehr ähnliche Ergebnisse erzielen konnten. Der größte Unterschied bezieht sich auf die Erlebniswelten der beiden Kundinnen. Ein wichtiger Einflussfaktor in diesem Zusammenhang ist sehr wahrscheinlich der Unterschied der jeweiligen Art der „Behinderung“ meiner Kundinnen. Während der Rollstuhl möglicherweise schon ein gewohnterer Anblick für Personen ist, ist eine kleine erwachsene Frau vielleicht noch ein etwas seltenerer, wodurch sich auch die Reaktionen der Personen anders gestalten können. Darüberhinaus können noch viele weitere Faktoren das Verhalten von Personen beeinflussen, wie etwa auch das unterschiedliche Lebensalter meiner Kundinnen oder ihre unterschiedliche Zugehensweise auf andere Personen.

Zusammengefasst lässt sich erkennen, dass Frau Y, passend zu der Annahme, dass ihre „Behinderung“ ein seltenerer Anblick für Personen sein könnte, sehr viele Erfahrungen mit dem „Angestarrt-werden“ und der Infantilisierung gemacht hat. Vergleichsweise hat Frau X, anlehnend an ihre Erzählungen und meine Beobachtungen, solche Erfahrungen kaum gemacht. Bei ihr waren eher Themen wie das Aberkennen der Selbstbestimmung, das Absprechen von Fähigkeiten und das Andichten von negativen Eigenschaften sehr im Vordergrund.

Neben den Unterschieden lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten in den Ergebnissen erkennen. Die Kategorien 2, 9 und 10 konnten im gesamten Analysematerial gefunden werden. Des Weiteren lässt sich anlehnend an die gesamten Ergebnisse feststellen, dass Menschen mit „Behinderung“ regelmäßig Situationen in ihrem Alltag erleben, in welchen sie stigmatisierenden Verhaltensweisen durch andere Personen ausgesetzt sind.

9.3 Interpretation der Kategorien

Im Rahmen dieses Kapitels sollen die einzelnen erarbeiteten Kategorien näher beschrieben werden und es wird aufgezeigt, welche Inhalte in den Analysematerialien zu den jeweiligen Kategorisierungen geführt haben.

Des Weiteren wird im Folgenden, wie es bereits im theoretischen Teil angekündigt wurde, mit Hilfe von empirischen Material aufgezeigt werden, wie die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ durch das Verhalten von Personen ihnen gegenüber eingeschränkt werden kann und welche Rolle dabei auch die Persönliche Assistenz spielt. Diese Thematik wird vor allem in den Kategorien 8 und 9 aufgegriffen werden.

Grundlegend lässt sich an den herausgearbeiteten Kategorien erkennen, dass die in dieser Arbeit erbrachten Ergebnisse die theoretischen Ausarbeitungen und Forschungsergebnisse, die im ersten Teil der Masterarbeit dargestellt wurden, bestärken.

Hinzugekommen sind Erkenntnisse über die Einschränkung der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“, zum Einen durch ein stigmatisierendes bzw. diskriminierendes Verhalten ihnen gegenüber und zum Anderen durch das Wahrnehmen der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung, wie es in den Kategorien 8 und 9 geschildert werden wird.

K1) Das Andichten von (negativen) Eigenschaften aufgrund des Stigma-Merkmals

Wie es im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit schon dargestellt wurde, weist beispielsweise Goffman (2012, S. 14) darauf hin, dass Personen dazu tendieren, „eine lange Kette von Unvollkommenheiten auf der Basis der ursprünglichen einen zu unterstellen“. Ebenso Cloerkes (2007, S. 170) und Maskos (2004) sprechen von dem Bestehen einer Generalisierungstendenz, durch welche einer Person weitere, meist negative Eigenschaften aufgrund eines vorhandenen Stimga-Merkmals zugesprochen werden.

Auch die empirischen Untersuchungen dieser Masterarbeit haben gezeigt, dass ein offensichtliches Stigma-Merkmal zu einem Andichten weiterer negativer Eigenschaften führen kann.

Beispielsweise hat Frau X von Erfahrungen berichtet, in denen Personen von ihrer „Gehbehinderung“ ebenso auf eine geistige Beeinträchtigung schlossen:

„[F]ür die Normalen... sein mir im Aussehen anders und dann meinen sie des andere stimmt auch nicht“ (33)

Frau X hat auch von ihrem Chef gesprochen, welcher der Ansicht war, dass „wenn man in die Füß wos hot [...] der Kopf a nit [stimmt]“(25)

Auch in meinen Beobachtungen konnte ich feststellen, dass Personen manchmal davon ausgingen, dass Frau X eine geistige „Behinderung“ oder „Beeinträchtigung“ hat. Es gab beispielsweise zwei Situationen, in denen eine Frau zu uns herübergelaufen kam, um mir mitzuteilen, dass der Fuß von Frau X von ihrem Fußbrett herunterhängt. Dabei haben die Frauen beide Male mich angesprochen und erklärt, dass sie nicht wüssten, ob es egal ist, wenn der Fuß herunterhängt, aber dass sie mir auf alle Fälle Bescheid sagen wollten, falls ich es nur nicht bemerkt hätte. (vgl. Beobachtungsprotokoll Frau X – Beobachtung 3, Anhang) Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Frauen davon ausgegangen sind, dass Frau X eine geistige „Behinderung“ hat und sie mir auch nicht mitteilen könnte, wenn ihr Fuß herunterhängen würde bzw. könnten die Frauen auch davon ausgegangen sein, dass es Frau X gar nicht bemerken würde, wenn ihr Fuß herunterhängt. Des Weiteren gab es eine Situation, in der sich eine Frau, im Beisein von Frau X, mit mir über die Haare von Frau X unterhielt. Die Frau war sehr erstaunt, als Frau X anstatt mir das Gespräch aufnahm und ihr antwortete.

Dieses Verhaltensmuster, aufgrund des wahrgenommenen Stigmas (Rollstuhl), Frau X weitere (negative) Eigenschaften anzudichten, konnte sowohl von mir als auch von Frau X beobachtet werden. Sehr oft wurde dabei von ihrer offensichtlichen „Behinderung“ auf eine geistige „Beeinträchtigung“ geschlossen.

Der stigmatisierende oder diskriminierende Gehalt dieser Verhaltensweise liegt unter anderem darin, dass eine Person häufig nicht mehr ganzheitlich betrachtet wird und ihr ihre Individualität abgesprochen wird, wie etwa Maskos (2004) schildert, für die darin sogar ein zentraler Faktor der Behindertenfeindlichkeit liegt. Die Person Frau X wird damit vereinfacht ausgedrückt ganz allgemein zu einer Person mit „Behinderung“, der man unterschiedliche Eigenschaften zuteilt. Zumindest im ersten Moment erhält Frau X damit nicht die Möglichkeit, ihre tatsächlich vorhandenen individuellen Eigenschaften darzustellen und zu präsentieren.

Des Weiteren lässt sich schon anhand der eben geschilderten Situationen erkennen, wie schnell die Persönliche Assistenz zu einer Stellvertretung werden kann und wie damit durch die Verhaltensweisen anderer eine Person mit „Behinderung“ zu einer außenstehenden Person wird, die in der Interaktion übergangen wird.

Interessant ist, dass diese Kategorie bzw. diese Verhaltenswiesen vor allem bei Frau X beobachtet werden konnten. Frau Y hat im Rahmen des problemzentrierten Interviews nicht von derartigen Erfahrungen gesprochen. Auch konnte ich dieses Verhalten im Alltag von Frau Y nicht sicher feststellen. Dennoch könnte hier ein kleiner Zusammenhang mit der Kategorie „Infantilisierung“ hergestellt werden, die bei Frau Y wiederum sehr gut zu beobachten war. Bei infantilisierenden Verhaltensweisen, auf welche später noch eingegangen wird, werden der Person zwar nicht direkt negative Eigenschaften angedichtet, trotzdem wird die Person dadurch möglicherweise nicht mehr ganzheitlich betrachtet, da sie als etwas Kindliches wahrgenommen wird, obwohl es sich um eine erwachsene Person handelt. Somit könnten auch durch dieses Verhalten einer Person Eigenschaften zugeschanzt werden, die nicht auf sie zutreffen.

K2) Hilfestellungen ohne Rücksprache und aufgedrängte Hilfestellungen

Auch aufgedrängte Hilfestellungen wurden schon von anderen Forscher/ -innen als mögliches Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ beschrieben. Etwa berichten Goffman (2012, S. 26f), Seywald (1977, S. 40f) und Cloerkes (2007, S. 106f) davon, dass Personen mit „Behinderung“ die Erfahrung machen, dass Ihnen Hilfe angeboten oder gar aufgezwängt wird, die diese gar nicht benötigen oder wollen. Seywald und Cloerkes unterscheiden dabei zwischen einer direkten, persönlichen Hilfestellung und einer indirekten Hilfestellung, wie sie etwa durch Spenden gegeben werden kann. In meinen empirischen Untersuchungen konnten dabei nur die Verhaltensweisen bezüglich der persönlichen und direkten Hilfe analysiert werden, da Verhaltensweisen von Personen in Interaktionssituationen mit meinen Kundinnen erforscht wurden.

Auch meine Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen mit „Behinderung“ Erfahrungen mit aufgedrängter Hilfe oder mit Hilfe ohne Rücksprache machen. Dieses Verhaltensmuster konnte in den Alltagen von beiden Kundinnen regelmäßig festgestellt werden.

Bei Frau X konnte ich vor allem Situationen beobachten, in denen Personen ihre Hilfe ohne Rücksprache geleistet haben. Beispielsweise kam es sehr häufig vor, dass Busfahrer/ -innen sie ohne Vorwarnung in ihrem Rollstuhl aus dem Bus geschoben haben, während ich dabei war, die Rampe auszuklappen. (vgl. Beobachtungsprotokoll Frau X – Beobachtung 7) Auch Frau X (31; 33) hat dieses Thema im Rahmen des Interviews aufgegriffen und die Situation im Bus folgend geschildert:

„[S]igsch ja selber oft der foat oder schiebt mi da einfach... i bekomm des oft gar nit mit, dass nit du des bisch was mi do schiebt... oba grot günstig oder fein isches nit [...] i hob schon a bissl a komisches Gefühl weil schon allein über die Rampe runter bin i ma nit sicher ob er weiß wie er zu tun hat“.

Auffällig an diesen Situationen war, dass die Busfahrer/ -innen Frau X sehr selten begrüßten oder nachfragten, ob sie ihr behilflich sein dürfen, wie es die Höflichkeitsregeln nahelegen würden. Für mich wirkte es häufig so, als ob sie einen Gegenstand aus dem Bus transferieren würden und nicht einer Person aufrichtig behilflich wären. Sehr interessant dabei ist auch, dass sie sich nach der erbrachten Hilfeleistung oftmals nur bei mir verabschiedeten. (vgl. Beobachtungsprotokoll ebd.) Dieses Verhalten vermittelte mir immer das Gefühl, dass sie mir in diesem Moment behilflich waren und nicht beispielsweise Frau X.

Im Alltag von Frau Y konnten auch Situationen beobachtet werden, in denen Personen ihre Hilfe regelrecht aufdrängten. Ein Beispiel das ich beobachtet habe und auch Frau Y in ihrem Interview aufgegriffen hat, fand ebenfalls in einem öffentlichen Verkehrsmittel statt. Frau Y und ich waren gerade auf dem Weg zu ihr nach Hause und stiegen in die Straßenbahn ein. Als die Straßenbahn zu fahren begann kam eine Dame auf Frau Y zu und zerrte sie an ihrem Arm Richtung Sitzbank. Frau Y gab der Dame daraufhin zu verstehen, dass sie nicht sitzen will, doch diese zerrte sie weiterhin an ihrem Arm, was Frau Y auch weh tat. Nach wiederholter Bitte von Frau Y, dass die Frau sie loslassen soll, beendete die Frau ihre Hilfestellung und ging. Frau Y (28) beschreibt die Situation wie folgt:

„Da wo mir de beim Einsteigen in der Straßenbahn helfen wollt.. wo sie mir fast den Arm ausgerissen hat und ich dann gesagt habe ‚des geht schon, lass es’“.

Bei der aufdringlichen Hilfeleistung handelt es sich im Grunde um ein negatives Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“, das aber grundsätzlich gesellschaftlich positiv bewertet wird. (vgl. z.B. Cloerkes 2007, S. 106f) Dennoch verbirgt auch diese Verhaltensweise stigmatisierende bzw. diskriminierende Elemente. Beispielsweise kann auch an dieser Stelle wieder auf die eingeschränkte Selbstbestimmung hingewiesen werden. Dadurch, dass etwa der Busfahrer oder die Busfahrerin ihre Hilfe nicht vor Ausführung der Hilfeleistung der betroffenen Person anbieten, entscheiden sie für diese Person, dass ihre Hilfe angenommen wird. Ebenso werden Personen mit „Behinderung“ dadurch nicht als Experten in eigenen Angelegenheiten herangezogen, wie es etwa nach Rothenberg (2012, S. 63) eine selbstbestimmte Lebensweise fordern würde. Während ihrer Hilfestellung hatten beispielsweise Personen, wie etwa auch die Busfahrer/ -innen häufig das Problem, das sie nicht wussten, wie sie in den jeweiligen Situationen ihre Hilfeleistung durchführen sollten – wie sie also z. B. den Rollstuhl über die Rampe schieben sollten. Dabei berücksichtigten sie häufig nicht die Anweisungen von Frau X oder Frau Y, was darauf schließen lässt, dass sie diesen Anweisungen nicht viel Bedeutung zukommen ließen. Auch das Beispiel von Frau Y (28) in der Straßenbahn zeigt, dass die Frau nicht auf Frau Y gehört hat und ihre Entscheidung zu stehen im ersten Moment nicht akzeptiert hat (wobei diese Entscheidung von Frau Y aus gutem Grund so getroffen wurde, da es aufgrund der hohen Sitzbänke für sie angenehmer ist zu stehen).

Durch derartige Verhaltensweisen entstand bei mir das Gefühl, dass die hilfeleistenden Personen davon ausgingen, dass sie es „besser wüssten“ als meine Kundinnen und ihnen nicht zutrauten, dass ihre Anweisungen hilfreich sein könnten.

K3) Ignorantes Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“

Auch das ignorante Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ wurde schon im Rahmen der Stigmatheorie von unterschiedlichen Autor/ -innen aufgegriffen und erläutert. Goffman (2012, S. 28ff), Seywald (1977, S. 39ff), Maskos (2004) und Cloerkes (2007, S. 107ff) berichten über dieses Verhaltensmuster. Dabei geht es vor allem darum, eine Art „Scheinnormalität“ zu wahren, wobei versucht wird, das Stigma-Merkmal höflich zu übersehen. Verhaltensweisen dieser Art führen dann häufig zu Spannungen in den Interaktionssituationen.

Auch in meiner empirischen Forschung konnte ich dieses ignorierende Verhalten feststellen. Sehr unangenehm und auch hinderlich war dieses Verhalten in Situationen im Bus, in denen Personen in den für Menschen mit „Behinderung“ vorgesehenen Bereich saßen, und ignorierten, wenn ich etwa versuchte mit Frau X den Rollstuhl in der von ihr gewünschten Position hinzustellen. Ein Beispiel dafür war unter anderem eine Frau, die in diesem Bereich saß und mir und Frau X dadurch das Hinstellen des Rollstuhls sehr erschwerte, da der vorhandene Platz durch das Sitzen einer Person in diesem Bereich sehr eingeschränkt wird. Die Frau schaute dabei starr aus dem Fenster und schenkte uns überhaupt keine Beachtung, obwohl wir ganz offensichtlich Schwierigkeiten hatten den Rollstuhl richtig zu platzieren. (vgl. Beobachtungsprotokoll Frau X – Beobachtung 2) Im Bus konnte ich dieses Verhalten mehrfach beobachten, wobei es den Anschein machte, dass die Personen versuchten, so „normal“ wie möglich mit Frau X umzugehen und daher auch nicht wegen ihr aufstehen oder sie ansehen wollten, was als Anstarren verstanden hätte werden können. Eine weitere mögliche Interpretation wäre, dass die Personen vielleicht befürchteten, ein plötzlicher Platzwechsel aufgrund einer Dame im Rollstuhl könnte so verstanden werden, dass man nicht gegenüber einer Person mit „Behinderung“ sitzen möchte oder sich in der Nähe der Person unbehaglich fühlen würde.

Ein offensichtlich ignorantes Verhalten von Personen konnte allerdingst nur in Situationen beobachtet werden, in welchen eigentlich eine Handlungsaufforderung, beispielsweise in Form eines Platzwechsels, bestanden hätte. In Situationen, in denen keine Reaktion in Form einer Handlung benötigt wird, kann allein durch eine Beobachtung nicht darauf geschlossen werden, dass es sich um ein ignorantes Verhalten handelt bzw. kann ein ignorantes Verhalten nicht eindeutig erkannt werden, ohne dass Handlungserwartungen an eine Person bestehen.

Diese Tatsache ist möglicherweise auch eine Begründung dafür, dass bei Frau Y, bei der Situationen mit Handlungsanforderungen an andere Personen seltener sind, diese Beobachtungen nicht gemacht werden konnten.

Seywald (1977, S. 43) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein ignorantes Verhalten gegenüber einer Person im Grunde schon beinhaltet, dass die dafür auslösende Eigenschaft negativ bewertet wird und dieses Verhalten damit auch nicht in einem Widerspruch zur offenen Diskriminierung steht. Sie erläutert diesen Gedanken wie folgt:

„Situationen sind nicht peinlich, weil irgendwelche Faktoren offiziell irrelevant sind, sondern Faktoren sind irrelevant, weil sie peinlich sind.“ (ebd.)

Das bedeutet, dass Personen sich möglicherweise ignorant verhalten, da ihnen das Stigma-Merkmal unangenehm ist und sie es als etwas Negatives bewerten, was zu einer Abwertung der Person mit „Behinderung“ führt.

K4) Starrende Blicke und aufdringliches Interesse an der „Behinderung“

Auch diese Verhaltensweisen wurden schon in den theoretischen Ausarbeitungen aufgegriffen. Unter anderem berichten wiederum Goffman (2012, S. 26f) und Cloerkes (2007, S. 106) von starrenden Blicken und der “Behinderung“ als zentrales Interesse als typische Reaktionsformen gegenüber Menschem mit „Behinderung“.

Die empirischen Untersuchungen der vorliegenden Arbeit haben ergeben, dass vor allem Frau Y häufig Erfahrungen mit diesen Verhaltensweisen macht. Besonders das „Angestarrt-werden“ war ein sehr zentrales Thema im Interview von Frau Y und konnte auch in meinen Beobachtungen sehr häufig wahrgenommen werden.

Frau Y spricht in ihrem Interview eine sehr interessante Feststellung an. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass es bezüglich dieses „Anstarrens“ einen Unterschied zwischen dem ländlichen Raum und der Stadt gibt. „[S]obald i jetzt nach Landeck fahr oder Imst und einkaufen gehe, woasch e dann wird gafft... aber des merkst du, in Innsbruck isches nit so arg“ (Frau Y, 4) Auf diesen Unterschied konnte in der hier durchgeführten Forschung nicht eingegangen werden, da die Beobachtungen ausschließlich in der Stadt durchgeführt wurden. Trotzdem spricht Frau Y damit einen sehr interessanten Punkt an, der eventuell in einer folgenden Untersuchung aufgegriffen werden könnte.

Des Weiteren konnte ich beispielsweise eine Beobachtung machen, in der ein Kind sehr intensiv Frau Y anstarrte und ihr folgte. Die Situation ereignete sich beim Einkaufen und das Kind folgte uns einige Zeit und starrte Frau Y dabei an (vgl. Beobachtungsprotokoll Frau Y – Beobachtung 5). Es starrten vor allem Kinder Frau Y häufig an, da diese vermutlich dieses Verhalten noch nicht als etwas Unhöfliches einstufen. Aber es konnten auch immer wieder Erwachsene beobachtet werden, welche Frau Y anstarrten oder ihr nachsahen, wie es auch das Beobachtungsbeispiel 6 in den Beobachtungsprotokollen von Frau Y verdeutlicht.

Der Grund dafür, dass Frau X solche Erfahrungen eher nicht macht, könnte, wie es schon beschrieben wurde, die unterschiedliche Art von „Behinderung“ sein. Ein Rollstuhl ist sehr wahrscheinlich schon ein bekannterer Anblick für Personen als eine kleine erwachsene Frau, weshalb Personen möglicherweise sehr häufig Frau Y anstarren.

Der stigmatisierende oder auch diskriminierende Gehalt in diesen Verhaltensweisen könnte darin gesehen werden, dass eine Person zu einem „Betrachtungsobjekt“ für andere Personen wird. Frau Y hat während meiner teilnehmenden Beobachtung sehr oft davon gesprochen, dass dieses Verhalten für sie sehr unangenehm ist.

Des Weiteren wird durch diese Verhaltensweise wiederum die „Behinderung“ einer Person ins Zentrum gerückt und ihr, durch die „unterschiedliche Behandlung“ (Fries 2005, S. 31) eine „Andersartigkeit“ zugesprochen. Die unterschiedliche Behandlung beschreibt Fries (ebd.) als eine Form von Diskriminierung.

Ebenso wird die Person wieder nicht ganzheitlich gesehen und das Stigma-Merkmal drängt sich in den Vordergrund der Wahrnehmung anderer Personen, die im Grunde, durch ihre starrenden Blicke, die Privatsphäre dieser Person in dem Moment nicht respektieren, wodurch auch eine Art von Abwertung stattfinden kann.

K5) Negative Äußerungen gegenüber Menschen mit „Behinderung“

Diese Kategorie bzw. Verhaltensweise wird auch von einigen Forscher/ -innen angesprochen, jedoch meist nicht näher beschrieben. Beispielsweise stellt Cloerkes (2007, S. 106) diskriminierende Äußerungen, Witze und Hänseleien als typische Reaktionsformen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ dar. Auch Goffman (2012, S. 14) weist kurz auf einige diskriminierende Termini, wie etwa Krüppel, Bastard oder Schwachsinniger hin, die gegenüber Menschen mit einem Stigma benützt werden, ohne an ihre ursprünglichen Bedeutungen zu denken.

Die herangezogenen Forscher/ -innen gehen allerdings nicht näher darauf ein, wie sich diese negativen Äußerungen genau gestalten und um welche Äußerungen es sich dabei handelt.

Interessant an den Untersuchungen bezüglich dieser Kategorie ist, dass im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung derartige Verhaltensweisen nicht festgestellt werden konnten. Während der Beobachtungseinheiten kam es nicht vor, dass negative Äußerungen gegenüber meinen Kundinnen gemacht wurden. Es könnte daher die Vermutung angestellt werden, dass dieses Verhalten aufgrund der Anwesenheit einer Persönlichen Assistenz seltener vorkam.

Meine beiden Kundinnen berichteten jedoch in ihren Interviews von Erfahrungen mit negativen Äußerungen.

Frau X (2) sprach beispielsweise am Rande davon, dass bei manchen Leuten „im Kopf nit viel drinnen [ist], weil sunscht frogata oda tat nit so... solche Äußerungen mochen“.

Dabei geht Frau X nicht näher darauf ein, welche Äußerungen sie damit gemeint hat. Man könnte allerdings vermuten, dass sie sich dabei auf unterschiedliche negative Äußerungen bezieht, die ihr gegenüber gemacht worden sind. Es könnte aber auch sein, dass sie sich nicht speziell auf negative Äußerungen im Sinne von Beleidigungen bezogen hat, sondern auf Äußerungen im Allgemeinen, die ihren Ansichten nach keinen sinnhaften Inhalt gehabt haben, wie etwa auch Äußerungen von Mitleid oder ähnliches. Es kann also nicht sicher davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um gezielte negative Äußerungen gegenüber Frau X handelt. An dieser Stelle möchte ich allerdings noch hinzufügen, dass Frau X mir in einem Gespräch schon einmal über eine Erfahrung berichtet hat, in der sie als Krüppel bezeichnet wurde.

Frau Y berichtet etwas genauer über Erfahrungen mit negativen Äußerungen und das Thema wurde von ihr auch zentraler angesprochen. Beispielsweise beschreibt Frau Y (4) eine Situation, in der sie von Kindern etwas gehänselt wurde:

„[D]a sein Nachbarskinder gewesen [...] die haben mich eine Weile nicht mehr weitergelassen und wollten wissen wie alt i bin, wie groß i bin und dann hab i des halt gesagt weil i mir gedacht hab sie geben dann Ruhe... und dann haben sie gesagt ja sehr groß bist du“.

Des Weiteren hat Frau Y (32) davon berichtet, dass sie als Liliputaner bezeichnet wurde. Einmal nannte sie eine Verkäuferin in einem Geschäft so und einmal wurde sie in ihrem Bekanntenkreis Liliputaner genannt.

Frau Y spricht auch über Witzeleien von Personen aus ihrem Bekanntenkreis, wobei sie diese nicht als sehr negativ empfindet. Sie erzählt beispielsweise von einem Kollegen, der gerne einmal Witze macht, es aber „nicht böse meint“. Sie weist allerdings darauf hin, dass sie es nicht mag, wenn er damit weitermacht, nachdem sie ihm gebeten hat damit aufzuhören:

„Oba wenn Kollegen Witze machen... also einer macht gern einmal, er meint es auch nit böse, oba er möchte halt versuchen mich irgendwie zum Lachen bringen und macht halt irgendeinen Schmäh und ich sag dann ’na es isch gnua’ und er macht no weiter, dann werd ich stinkig“ (Frau Y, 24)

Negative Äußerungen, wie etwa Schimpfnamen, Witze oder Hänseleien fasst Markefka (1995, S. 62 zit. nach Fries 2005, S. 33) unter dem Begriff „abwertende Urteilsäußerungen“ zusammen, was für ihn eine Form von Diskriminierung darstellt. Durch derartige Verhaltensweisen wird eine Person abgewertet und damit auch diskriminiert sowie stigmatisiert. Die negativen Äußerungen gegenüber einer Person werden aufgrund eines wahrgenommenen Merkmals häufig mit Bezug auf dieses Merkmal gemacht, wodurch die Person aufgrund ihres Merkmals herabgesetzt und herabgewürdigt wird. Damit befinden wir uns laut der Definitionen von Markefka (1995, S. 43 zit. nach Fries 2005, S. 31f), in der Diskriminierung als eine Handlung verstanden wird, in der eine Person, aufgrund eines negativ bewerteten Merkmals, abwertend behandelt wird, im Bereich der Diskriminierung und auch der Stigmatisierung (vgl. Kapitel 4).

K6) „Spendenaktionen“ und mitleidendes Verhalten

Es wurde bereits im theoretischen Teil schon dargestellt, dass Forscher/ -innen davon ausgehen, dass ein mitleidendes Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ und daraus resultierende Spenden (z.B. Geldspenden) immer noch zu den typischen Verhaltensmustern gegenüber Menschen mit „Behinderung“ gehört. Etwa weisen Cloerkes (2007, S. 106f) und Seywald (1977, S. 40f) auf derartige Reaktionen hin. Auch beispielsweise Schönwiese (2011a) beschreibt die mögliche Assoziation von einem Rollstuhl mit dem „Arm-Sein“ einer Person. Dabei wird der Rollstuhl nicht mehr als neutraler mobilisierender Alltagsgegenstand wahrgenommen, sondern als Hinweis auf die Armut einer Person gedeutet.

Darüberhinaus handelt es sich bei Spenden unterschiedlicher Art und Mitleid im Allgemeinen wiederum um Verhaltensweisen, die gesellschaftlich positiv beurteilt werden und deren stigmatisierender Gehalt verschleiert wird. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass durch derartige Reaktionen, vor allem in einem größeren Ausmaß, wie es etwa bei großen öffentlichen Spendenaktionen der Fall ist, das Bild des Menschen mit „Behinderung“ als armen Menschen ständig reproduziert wird. Schönwiese (2011a) schreibt in diesem Zusammenhang von einem Projektionsfeld für Schicksalskonstruktionen, das die Funktion haben soll, von wichtigen sozial-politischen Problemen abzulenken und wodurch „Behinderung“ als Schicksalsschlag präsentiert wird. Dabei kann, basierend auf falschen Tatsachen, Mitleid für Menschen mit „Behinderung“ entstehen.

Auch im Rahmen meiner empirischen Untersuchungen konnte dieses Verhalten festgestellt werden, wobei sich dabei wiederum ein Unterschied im Alltag von meinen beiden Kundinnen erkennen ließ. Vor allem zu beobachten war ein derartiges Verhalten bei Frau Y, die aber im Interview dieses Thema nicht aufgegriffen hat. Bei Frau X wurden derartige Verhaltensweisen nicht direkt beobachtet und sie sprach das Thema ebenfalls nicht an. Es wird jedoch im Folgenden auf eine Beobachtung eingegangen werden, die in den Alltagen beider Kundinnen gemacht werden konnte und in der sich eventuell auch ein mitleidendes Verhalten erkennen lässt.

Während meiner teilnehmenden Beobachtung bei Frau Y konnte ich unter anderem Situationen miterleben, in denen Frau Y eine kleine „Geldspende“ von einer ihr fremden Person erhielt. Das Beobachtungsbeispiel 7 in den Beobachtungsprotokollen von Frau Y (siehe Anhang) schildert eine derartige Situation. Während dieser Beobachtungseinheit stand Frau Y an der Brottheke und ein Mann kam zu ihr und gab ihr 2 Euro, damit sie sich „etwas gutes kaufen konnte“. Des Weiteren gab ein Mann Frau Y einmal 10 Euro, während wir auf den Bus warteten.

In den Alltagen beider Kundinnen konnte ebenso beobachtet werden, dass beispielsweise Mitgliederwerbende Personen bzw. Personen, die irgendein Produkt angeworben haben, wie etwa Green Peace, sich nur an mich wendeten und meine Kundinnen nicht berücksichtigten. Sie versuchten daher nur mir ihr Produkt zu verkaufen und ignorierten dabei meine Kundinnen als mögliche Abnehmer ihres Produktes. (vgl. Beobachtungsprotokoll Frau X – Beobachtung 6; Beobachtungsprotokoll Frau Y – Beobachtung 2)

Dieses Verhalten kann auf unterschiedliche Weisen gedeutet werden. Beispielsweise lässt sich auch darin wiederum etwas Infantilisierendes erkennen, da diese Werbeverkäufe meist nur erwachsenen Personen angeboten werden dürfen und mit einer derart offensichtlichen Ignoranz suggeriert wird, dass meine Kundinnen nicht fähig sind oder nicht reif genug sind selbst zu entscheiden, ob sie ein derartiges Angebot annehmen möchten oder nicht.

Ebenso könnte die Annahme gemacht werden, dass auch in solchen Situationen das Bild von dem „armen behinderten Menschen“ eine Rolle spielt, da einer armen Person aus moralischen Gründen ein derartiges Werbeangebot nicht gemacht werden sollte bzw. nicht davon auszugehen ist, dass es sich dabei um einen möglichen Abnehmer oder eine mögliche Abnehmerin des Produkts handeln könnte.

Der stigmatisierende oder diskriminierende Gehalt derartiger Verhaltensweisen wurde vorhin schon kurz beschrieben. Zum einen wird dadurch eine Person aufgrund einer wahrgenommenen „Behinderung“ herabgemindert und zu einer armen Person gemacht. Damit werden ihr beispielsweise wiederum (negative) Eigenschaften aufgrund des einen Stigma-Merkmals angedichtet und die Person wird nicht mehr ganzheitlich und individuell wahrgenommen. Zudem beinhalten derartige Verhaltensweisen auch häufig „den alltäglichen Wunsch oder die traurige Befriedigung, die davon ausgeht, dass es anderen schlechter geht als einem selbst“ (Schönwiese 2011a), wodurch auch eine Abwertung der Person stattfindet.

Zum anderen wird nach Schönwiese (2011a), vor allem durch größere öffentliche Spendenaktionen und Spendenaufrufe (z.B. Licht ins Dunkel), das Bild von einem Menschen mit „Behinderung“ als armen Menschen ständig reproduziert und damit ein stabiler Zusammenhang der beiden Faktoren „Behinderung“ und „Armut“ hergestellt. Schönwiese geht sogar noch einen Schritt weiter und deutet derartige Spendenaktionen, wodurch häufig Gelder für Einrichtungen für Menschen mit „Behinderung“ gesammelt werden, als indirekte Verwirklichung des Abwehrwunsches gegenüber Menschen mit „Behinderung“, da diese durch diese Einrichtungen vom gesellschaftlichen Leben ferngehalten werden.

K7) Infantilisierung

Die Infantilisierung von Menschen mit „Behinderung“ wird von den herangezogenen Forscher/ -innen nicht thematisiert. Auch in den zusammenfassenden Aufzählungen typischer Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“, wie sie etwa bei Cloerkes (2007, S. 106) oder Nickel (1999) zu finden sind, ist die Infantilisierung nicht angegeben.

Ebenso im Lebensalltag von Frau X konnten infantilisierende Verhaltensweisen nicht beobachtet werden und Frau X berichtete auch nicht von solchen Erfahrungen.

Das Thema der Infantilisierung wurde allerdings von Frau Y in ihrem Interview aufgegriffen und auch meine Beobachtungen haben ergeben, dass Frau Y mit Situationen in denen sie infantilisiert wurde konfrontiert war. Auch in diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass vor allem die Art der „Behinderung“ sehr entscheidend für derartige Verhaltenswiesen ist. Unter anderem könnten Personen vielleicht durch die Körpergröße von Frau Y die Assoziation zu einem Kind herstellen.

Frau Y (14) berichtet in ihrem Interview beispielsweise davon, dass sie schon häufiger die Erfahrung gemacht hat, dass ältere Leute sie behandeln wie ein kleines Mädchen und etwa „ein Opa [...] oder eine Oma [...] sagt: ‚muasch nit dahoam sein?’“. Frau Y hat des Weiteren beschrieben, dass sie manchmal berührt wird, was sie als infantilisierende Geste deutet. (Frau Y, 14)

Auch im Rahmen meiner Beobachtungen konnte ich infantilisierende Verhaltensweisen feststellen. Beispielsweise kam es vor, dass Frau Y von fremden Personen Komplimente bekam, wobei die Personen mit ihr redeten, wie mit einem kleinen Mädchen. Etwa im Beobachtungsbeispiel 3 (Beobachtungsprotokolle Frau Y) wird ersichtlich, wie sich eine derartige Situation gestalten kann. Während dieser Beobachtungseinheit saßen Frau Y und ich auf einer Bank und ein älterer Mann kam zu Frau Y herüber und versicherte ihr, dass sie ein sehr hübsches Mädchen sei. Dabei sprach er in einer sehr verniedlichten Stimme und benütze auch den Begriff Mädchen, der sich eher auf ein Kind bezieht als auf eine Frau.

Im Grunde lässt sich in einem infantilisierenden Verhalten eine Generalisierungstendenz erkennen, wie sie schon in der Kategorie 1 beschrieben wurde. Das Stigma-Merkmal bei Frau Y ist sehr wahrscheinlich ihre Körpergröße, da sie vermutlich als zu klein für eine erwachsene Frau von anderen Personen wahrgenommen wird. Dieses Merkmal könnte dann auf ihre gesamte Person angewendet werden, wodurch sich eventuell dieses infantilisierende Verhalten ergibt. Der diskriminierende und stigmatisierende Gehalt einer Generalisierung wurde bereits in den Ausarbeitungen zur Kategorie 1 geschildert, wobei das zentrale Problem darin liegt, dass die Person nicht mehr in ihrer Individualität wahrgenommen wird, sondern ihr Eigenschaften passend zu dem wahrgenommenen Stigma zugesprochen werden. (vgl. z. B. Maskos 2005)

K8) Das Absprechen von Fähigkeiten und das Verhindern der Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“

Es wurde schon im theoretischen Teil dieser Arbeit beschrieben, dass Menschen mit „Behinderung“ ein Recht auf Selbstbestimmung und in diesem Sinne ein Recht auf eine selbstbestimmte Lebensweise haben. Anlehnend an Rothenberg (2012, S. 63) zählt in dieser Hinsicht das Zugestehen von Fähigkeiten zu einem der wichtigsten Elemente. Ohne dieses Zugeständnis würde davon ausgegangen werden, dass Menschen mit „Behinderung“ nicht die Kompetenz besitzen, ihr Leben selbst zu organisieren, sich selbst in allen Belangen zu vertreten oder selbst als Experten in eigenen Angelegenheiten zu handeln, wodurch sie zu einem Objekt der Fürsorge werden würden.

In den theoretischen Ausarbeitungen wurde des Weiteren ersichtlich, dass der Faktor der Selbstbestimmung in den Stigmatheorien nicht sehr präsent ist. Im Rahmen dieser Arbeit wird jedoch ein Verhalten, dass einer Person Fähigkeiten abspricht und damit ihre Selbstbestimmung einschränkt, als stigmatisierendes Verhalten bewertet. Diese Verbindung eines stigmatisierenden Verhaltens mit dem Absprechen der Selbstbestimmung einer Person erfolge vor allem mit Hilfe der Definition von Diskriminierung nach Heiden (1996), wie es im Kapitel 4 nachzulesen ist. Zudem wird beispielsweise in der Stigmatheorie davon ausgegangen, dass einer Person aufgrund eines Stigmas negative Eigenschaften zugesprochen werden können, weshalb es sehr naheliegend erscheint, dass einer Person auch infolge eines negativ definierten Merkmales Fähigkeiten abgesprochen werden können. Darüberhinaus besteht zwischen diesen beiden Verhaltensmustern auch eine gewisse Ähnlichkeit, da das Andichten einer negativ definierten Eigenschaft, wie etwa einer geistigen „Behinderung“ aufgrund des Wahrnehmens eines Rollstuhls, auch zu einem Absprechen von bestimmten Fähigkeiten führen kann.

In meinen empirischen Untersuchungen stand diese Thematik sehr im Vordergrund. Ich konnte unter anderem sehr häufig beobachten, dass Personen sich in einem Gespräch zuerst an mich gewendet haben, bevor sie sich, nach meinem Hinweis, meinen Kundinnen zuwendeten. Beispielsweise veranschaulicht das Beobachtungsprotokoll „Frau X – Beobachtung 1“ (siehe Anhang) eine derartige Situation. Während eines Friseurbesuchs erkundigte sich die Friseurin B bei mir, ob Frau X an dem für sie vorbereiteten Platz sitzen kann. Dabei stand ich genau neben Frau X, die selbst am besten in der Lage ist zu beurteilen, ob sie an diesem Platz sitzen kann und will. Dennoch richtete die Friseurin B diese Frage an mich. Damit verhinderte die Friseurin B eine eigenständige Entscheidung durch Frau X und ging eventuell davon aus, dass Frau X nicht sprechen kann oder es nicht beurteilen kann, ob der Platz für sie passend ist. An dieser Stelle soll kurz darauf hingewiesen werden, dass diese Kategorie natürlich sehr viele Ähnlichkeiten mit der Kategorie 9 (Persönliche Assistenz als Stellvertretung) aufweist, da die Selbstbestimmung einer Person auch durch die Wahrnehmung der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung verhindert werden kann. Dennoch sollen die beiden Kategorien getrennt bearbeitet werden, um das Beisein einer Persönlichen Assistenz als eigenständigen Punkt und damit vertiefend bearbeiten zu können.

Grundlegend zeigt uns dieses Beispiel, dass durch das Absprechen von Fähigkeiten der Friseurin B gegenüber Frau X eine Situation entstanden ist, in der Frau X in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt wurde, da die entscheidenden Fragen nicht an sie gestellt worden sind. Anlehnend an Rothenberg (2012, S. 63) kann ein derartiges Verhalten demnach als ein für die Selbstbestimmung von Frau X hinderndes Verhalten gedeutet werden. Auch wichtig an dieser Stelle ist der Hinweis darauf, dass besonders in solchen Situationen das Verhalten der Persönlichen Assistenz sehr ausschlaggebend ist. Die Persönliche Assistenz kann beispielsweise die Frage an ihre Kunden weiterleiten und sich in der Interaktion dezent zurückhalten, um die Entscheidungsmacht in jedem Falle bei ihren Kund/ -innen zu belassen.

Auch Frau X berichtete in ihrem Interview über Erfahrungen, in denen sie bevormundet wurde und ihr eine selbstbestimmte Entscheidung abgesprochen wurde:

„De sogn von vornherein... des kann de unmöglich [...] ob i etwas kon oda ob i des... selber bewältig des muasch.. des miasn die Leute schon mir überlassen... weil i des am besten weiß“ (Frau X, 12)

Frau X spricht an diesem Punkt auch einen weiteren, sehr wichtigen Faktor an. Sie weist darauf hin, dass sie selbst am besten einschätzen kann, welche Aufgaben sie wie bewältigt und als Expertin in eigenen Angelegenheiten verstanden werden will. Nach Rothenberg (ebd.) gehört zu einer selbstbestimmten Lebensweise ebenso das Zugeständnis von anderen Personen, dass auch eine Person mit „Behinderung“ als Expert/ -in in ihren eigenen Angelegenheiten betrachtet wird. Das Absprechen von Fähigkeiten bzw. vor allem das Absprechen der Fähigkeit selbst über eigene Handlungsmöglichkeiten entscheiden zu können deutet darauf hin, dass einer Person keine Expertise in eigenen Angelegenheiten zugetraut wird. Die Leute haben nach Frau X (6) „eben das Gefühl [...] des kannsch nit und des darfsch nit und ein Behinderter brauch das nicht“.

Es lässt sich des Weiteren interpretieren, dass Frau X dieses Verhalten als Hindernis empfindet, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, da sie davon spricht, dass „da nur Prügel in Weg gleg [werden, weil sie oan zu gering einschätzen]“ (8)

Sie geht demnach davon aus, dass vor allem auch das „zu geringe Einschätzen“ ein zentrales Problem in ihrer Lebensgestaltung ist.

Grundlegend war das Thema Selbstbestimmung in dem problemzentrierten Interview mit Frau X ein sehr vorrangiges Thema, wobei vor allem das Absprechen von Fähigkeiten bzw. das Zugestehen von Kompetenzen für sie ein großes Problem darstellt. Sie spricht immer wieder davon, dass ihr gewisse Dinge nicht zugetraut werden und nicht akzeptiert wird, dass sie selbst am besten darüber entscheiden kann, wie sie ihren Lebensalltag gestalten möchte.

Wie schon angedeutet wurde, spielte der Faktor Selbstbestimmung, im Bezug auf das Absprechen von Fähigkeiten, in den Forschungsuntersuchungen bei Frau Y eine vergleichsweise kleine Rolle. Dennoch war die Selbstbestimmung bzw. das Verhindern von Selbstbestimmung im Hinblick auf die Assistenz als Stellvertretung auch bei Frau Y ein Thema. Im nächsten Kapitel soll daher nun auf diese Dimension eingegangen werden.

K9) Interaktionseinfluss durch die Anwesenheit der Persönlichen Assistenz und die Persönliche Assistenz als wahrgenommene „Stellvertretung“

Diese Kategorie wurde von den herangezogenen Forscher/ -innen in ihren theoretischen Ausarbeitungen und empirischen Untersuchungen noch nicht aufgegriffen und stellt für die vorliegende Masterarbeit damit eine völlig unabhängige Kategorie dar.

Es wurde im theoretischen Teil dieser Arbeit, sowie im Rahmen der Beschreibung der vorherigen Kategorie, schon auf das Recht von Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ eingegangen und geschildert, welche Elemente eine selbstbestimmte Lebensweise beinhalten muss. Es wurde auch beschrieben, wie dieses Recht auf Selbstbestimmung mit dem Konzept der Persönlichen Assistenz zusammenhängt und darauf hingewiesen, dass die Persönliche Assistenz als wahrgenommene Stellvertretung des Assistenznehmers oder der Assistenznehmerin die Selbstbestimmung einer Person beeinflussen und einschränken kann. Auch Rothenberg (2012, S. 63) versteht „Selbstvertretung statt Stellvertretung“ als ein zentrales Element in der Selbstbestimmung. Die Bearbeitung dieser Thematik ist deshalb auch vor allem für das Tätigkeitsfeld der Persönlichen Assistenz von großer Bedeutung und beinhaltet Hinweise darauf, worauf eine Person in ihrer Tätigkeit als Persönliche Assistenz achten sollte.

Meine empirischen Untersuchungen haben ergeben, dass in vielen Interaktionssituationen die Persönliche Assistenz als Stellvertretung für ihre Assistenznehmer/ -innen herangezogen wird, wie es auch das Beispiel in der vorangegangenen Kategorie schon gezeigt hat. Auch die Beobachtungsprotokolle „Frau X – Beobachtung 4“ und „Frau Y – Beobachtung 4“ schildern noch einmal ganz gezielt dieses Verhalten. In beiden Beobachtungen wird eine Einkaufssituation dargestellt, wo es einmal darum geht etwas zu bestellen und einmal darum die Einkäufe zu bezahlen. In beiden Fällen wendete sich die Verkäuferin an mich als Persönliche Assistentin meiner Kundinnen und berücksichtigte meine Kundinnen erst nach einem deutenden Blick meinerseits. Es wird ersichtlich, welch große Bedeutung daher das Verhalten der Persönlichen Assistenz in derartigen Situationen hat, damit eine selbstbestimmte Handlungsweise der Assistenznehmer/ -innen nicht beeinflusst oder übergangen wird und die Entscheidungen in jedem Fall bei den Assistenznehmer/ -innen bleiben. Zudem zeigen diese Situationen auf, dass die Anwesenheit einer Persönlichen Assistenz die Selbstbestimmung einer Person bzw. vor allem das Wahrnehmen dieser Person als selbstbestimmte Person beeinflussen kann.

Auch Frau X (4) spricht in ihrem Interview dieses Thema an und hat diese Erfahrung gemacht: „[O]ba du sigsch jo selber wenn mia zum Beispiel in der Stadt sein und so.. do redn die Leut mit dir und nicht mit mir“.

Frau Y (22) schildert diese Situation folgendermaßen: „[M]ir isch schon amal aufgefallen, dass sie zuerst dich anschauen, aber wenn sie dann merken ich bin mit dir auf dem Weg und ich bin diejenige die zahlt, dann tun sie schon anders... aber ich muss auch sagen, wenn ich mit dir auf dem Weg bin, da acht i jetzt nit so drauf, [...] weil du zahlst ja auch und dann pass i da nit so auf“

Frau Y wirkte im Bezug auf diese Thematik etwas unsicherer als Frau X. Dennoch hat auch Frau Y im Grunde diese Erfahrung gemacht, wie ihre Schilderung zeigt. Es ist anzunehmen, dass sie vielleicht tatsächlich nicht so sehr darauf achtet und es ihr deshalb auch nicht mehr so intensiv auffällt, wie etwa mir durch meine gezielte Beobachtung.

Im Rahmen der Darstellung der unterschiedlichen Kategorien ist schon ersichtlich geworden, dass die Wahrnehmung der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung ein sehr zentrales Thema war. Im Grunde spielte dieser Faktor in ganz unterschiedlichen Situationen eine Rolle und dieses Verhalten war im Rahmen meiner Beobachtungen eines der am häufigsten feststellbaren. Noch einmal aufzugreifen sind etwa das Beispiel mit der Frau, die sich wegen des herabhängenden Fußes an mich gewendet hat (Frau X – Beobachtung 3), die Situation im Friseursalon, in der die Friseurin B sich an mich wendete (Frau X – Beobachtung 1) oder die Beispiele mit den anwerbenden Personen, die ihre Produkte nur mir präsentiert haben. (Frau X – Beobachtung 6; Frau Y – Beobachtung 2).

Festzuhalten bleibt, dass es sich dabei natürlich immer nur um kleine Details in den alltäglichen Begegnungssituationen handelt, die durch ein vorteilhaftes Verhalten der Persönlichen Assistenz auch in die richtige Richtung gelenkt werden können. Dennoch sagen derartige Verhaltensweisen viel über die Akzeptanz eins Menschen mit „Behinderung“ als selbstbestimmten Menschen aus und sind immer noch als ein einflussnehmender Faktor im Bezug auf die Selbstbestimmung zu deuten.

Anlehnend an meine Beobachtungen und an die Erzählungen meiner Kundinnen ist jedoch festzustellen, dass diese, wie viele weitere Verhaltensweisen, bei bekannten Personen, Freunden und Familienmitgliedern nicht in einem derartigen Ausmaß vorkommen, wie etwa bei fremden Personen, wie es im Folgenden beschrieben wird.

K10) Die Auswirkungen auf das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ durch den Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“

Auch Goffman (2012, S. 40ff) nimmt Bezug darauf, dass sich das Verhalten bzw. die Einstellung gegenüber Menschen mit einem Stigma von Personen die Kontakt zu diesen Menschen haben, von dem Verhalten und den Einstellungen anderer Personen unterscheiden kann. Er spricht an dieser Stelle von den sogenannten Weisen. Dabei handelt es sich etwa um Personen, die durch ihre berufliche Tätigkeit Kontakt zu Menschen mit einem Stigma haben oder auch um Freunde oder Verwandte. Goffman (2012, S. 40) weist darauf hin, dass diese Personen häufig „intim vertraut und mitfühlend mit dem geheimen Leben der Stigmatisierten“ sind. Er geht des Weiteren davon aus, dass ein längerfristiger Kontakt bewirken kann, dass sich etwa ein sehr offensichtliches körperliches Merkmal, wie eine Entstellung im Gesicht, nicht mehr gleichermaßen auf eine Interaktion auswirkt, wie dies bei einer fremden Person der Fall wäre. Goffman beschreibt jedoch ebenfalls, dass genau diese Personen, die einen engeren Kontakt zu einer stigmatisierten Person pflegen, auch ein Problem für die stigmatisierte Person darstellen können, vor allem wenn es darum geht, ein nicht offensichtliches Stigma zu verbergen. Je mehr Kontakt zu einer Person besteht, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie das Stigma einmal entlarven wird. (vgl. Goffman S. 68ff)

Auch Cloerkes (2007, S. 145ff) schildert in seinen Ausarbeitungen, dass ein Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“ eine positive Wirkung auf die Einstellungen und das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ haben kann. Er weist allerdings genauso darauf hin, dass Forschungen ergeben haben, dass auch das Gegenteil eintreten kann und negative Einstellungen und Verhaltensweisen verstärkt werden können. Zudem gibt es Unterschiede je nach unterschiedlichen Kontaktarten- und Intensitäten. Somit geht Cloerkes (ebd.) nicht davon aus, dass ein Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“ eine positive Wirkung haben muss und ist der Ansicht, dass viele qualitative Faktoren eines Kontaktes für eine positive oder negative Wirkung ausschlaggebend sind. Er weist allerdings darauf hin, dass dem Faktor „Kontakt“ trotzdem Beachtung geschenkt werden sollte, da etwa durch die richtigen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise eine relative Statusgleichheit von zwei Personen oder gemeinsam verfolgte Ziele und Aufgaben, das Verhalten günstig beeinflussen können.

Während Cloerkes (ebd.) sich auf komplexe und tiefe Dimensionen eines Kontaktes bezieht, wo es nicht nur mehr darum geht, eine erste Distanz zu einem Menschen mit „Behinderung“ abzubauen, und der daher sehr schwierig empirisch zu erfassen ist, bezieht sich Goffman in dem oben genannten Beispiel eher auf „oberflächliche“ und beobachtbare Verhaltenselemente, wie sie auch in dieser Arbeit erforscht werden können.

An dieser Stelle soll deshalb darauf hingewiesen werden, dass im Rahmen dieser Arbeit natürlich keine Aussagen darüber gemacht werden können, welche längerfristigen und weitreichenden Auswirkungen ein Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“ auf das Verhalten einer Person haben kann. Es geht viel mehr darum, wie im Beispiel Goffmans, beobachtbare Verhaltensunterschiede zu beschreiben, die aber keine Auskunft über tiefere Dimensionen einer Beziehung geben können.

Im Rahmen meiner Untersuchungen war festzustellen, dass sich sowohl meinen Beobachtungen als auch den Interviewinhalten zufolge, ein Unterschied im Verhalten zwischen bekannten Personen meiner Kundinnen und Fremden erkennen lässt.

So antwortete Frau X (37) z. B. auf meine Frage nach ihrem Empfinden bezüglich der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung und der daraus resultierenden Zuwendung zu mir anstatt zu ihr: „[D]es kommt drauf an je nach Geschäft und ob sie mich in dem Geschäft kennen oder nicht“. Des Weiteren berichtet sie in ihren Erzählungen darüber, dass sie von ihren Arbeitskollegen so akzeptiert wurde, wie sie ist: „[D]ie Kollegen oder so mit denen hab i eigentlich mit keinem ein Problem gehabt, de haben mich so wie i war angenommen und de haben gewusst, dass i meine Arbeit mach“ (Frau X, 35).

Auch Frau Y (20) hat in ihrem Interview von dem Gefühl gesprochen, dass sie für ihre Kollegen „normal“ ist. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Frage während des Interviews mit Frau Y nicht richtig herausgearbeitet werden konnte, da wir an diesem Punkt Probleme hatten uns gegenseitig richtig zu verstehen, weshalb sie mir nicht mit direktem Bezug auf diese Thematik geantwortet hat. Sie erzählte allerdings von Erfahrung davon, dass ihre Kollegen beispielsweise es sehr unhöflich finden, wenn Personen sie (Frau Y) anstarren und auch wütend auf derartige Verhaltensweisen reagieren, „weil die sehen es nit ein, weil warum und wieso, weil für sie bin i halt normal“ (Frau Y, 20)

Auch in meinen Beobachtungen konnte ich feststellen, dass das Verhalten von Bekannten und Freunden gegenüber meinen Kundinnen entspannter war und sie sich vor allem immer, ohne Rücksichtnahme auf meine Anwesenheit, meinen Kundinnen zuwendeten. Ich würde dabei beiläufig begrüßt, aber nicht in die Interaktion miteingebunden. Ein Beispiel für eine derartige Begegnungssituation ist etwa die Beobachtung 5 in den Beobachtungsprotokollen von Frau X (siehe Anhang). Dabei haben wir einen ehemaligen Arbeitskollegen von Frau X getroffen, der sich sofort Frau X zuwendete und mich nach den Regeln der Höflichkeit beiläufig begrüßte. Während der gesamten Interaktion wendete er sich Frau X zu und ich wurde in diesen Situationen nicht als Frau X Stellvertretung wahrgenommen.

An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass durch das Kennen einer Person im Grunde automatisch einige (negative) Verhaltensweisen nicht mehr so offensichtlich ausgeführt werden, da eine bekannte Person z.B. nicht mehr davon ausgeht, dass Frau X eine geistige „Beeinträchtigung“ hat, wie es andere Beispiele gezeigt haben. Eine bekannte Person hat prinzipiell schon ein ganzheitlicheres Bild der Person mit „Behinderung“ und kennt ihre tatsächlichen Eigenschaften besser als eine fremde Person. Des Weiteren erscheint es natürlich auch sehr naheliegend, wie Goffman (2012, S. 40ff) schon beschrieben hat, dass das Stigma-Merkmal in Interaktionen nicht mehr gleichermaßen vorrangig ist, wenn eine Person schon mit dem Merkmal vertraut ist und sich daran gewöhnt hat.

Natürlich bleibt festzuhalten, dass in derartigen Beobachtungen und kurzen Erzählungen keine Aussagen über tiefreichendere Dimensionen in den Beziehungen gemacht werden können. Dennoch hat sich herausgestellt, dass Interaktionen von bekannten Personen und meinen Kundinnen entspannter und stabiler wirkten. Ihr prekärer Charakter war im Vergleich zu Begegnungen mit fremden Personen grundlegend schwächer.

Ein erstes Indiz dafür, dass aber auch der Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“ nicht grundlegend zu einem positiveren Verhalten gegenüber ihnen führen muss, lässt sich etwa in den Erzählungen von Frau X finden. Sie berichtet z.B. davon, dass ihre Mutter häufig ihre Fähigkeiten angezweifelt hat: „ [...] des woas i von da Mutti her.. de sog heut noch bei gewisse Sachen des kannsch du nit“ (Frau X, 12).

Ein erster Einblick in diese Thematik ergibt im Grunde das Ergebnis, dass vor allem sehr auffallende und auch gesellschaftlich negativ beurteilte Verhaltensweisen sehr wahrscheinlich bei Personen, die einen Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“ haben, seltener werden. Im Bezug auf komplexere und schwerer erfassbare Verhaltensmuster kann davon allerdings nicht ausgegangen werden. Anlehnend an Cloerkes (2007, S. 146) bin auch ich der Ansicht, dass es in diesem Bereich noch einen großen Bedarf an wissenschaftlichen Forschungen gibt.

9.4 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

Viele der in dieser Arbeit erzielten Ergebnisse bestärken die theoretischen Ausarbeitungen und empirischen Erkenntnisse bisheriger Forschungen im Bereich der Stigmatheorie. Die im theoretischen Teil angeführten typischen Reaktionsformen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ lassen sich auch in den hier dargestellten empirischen Ergebnissen finden.

Dabei handelt es sich um Verhaltensweisen wie die Generalisierung und das daraus resultierende Andichten von meist negativen Eigenschaften, das Aufdrängen von Hilfestellungen, das ignorante Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung, negative Äußerungen, Hänseleien und Spott sowie das Anstarren von Menschen mit „Behinderung“ und das aufdringliche Interesse an der „Behinderung.

Hinzugekommen ist etwa die Thematik der Infantilisierung von Menschen mit „Behinderung“, die im Rahmen der Stigmatheorien noch nicht ausreichend thematisiert wurde.

Von großer Bedeutung für diese Masterarbeit sind die Erkenntnisse bezüglich der eingeschränkten Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ durch diese stigmatisierenden Verhaltensweisen, sowie durch das Wahrnehmen der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung.

Diesbezüglich hat sich gezeigt, dass im Grunde alle festgestellten Verhaltensweisen dazu beitragen können, die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ einzuschränken und zu verhindern. Einen zentralen Faktor dabei spielt das Aberkennen von Fähigkeiten von Menschen mit „Behinderung“, wodurch ihnen nicht zugestanden wird ihr Leben eigenverantwortlich, als Expert/ -innen in eignen Angelegenheiten zu bewältigen.

Dieses Aberkennen von Fähigkeiten ist auch einer der möglichen Gründe für das Wahrnehmen der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung einer Person mit „Behinderung“. Es wurde ersichtlich, dass sich Personen in vielen Situationen in erster Linie an die Persönliche Assistenz richten und erst nach deutenden Blicken und Hinweisen, ihre Zuwendung den Assistenznehmer/ -innen schenken. Das Verhalten der Persönlichen Assistenz ist damit sehr entscheidend für die Gewährleistung der Selbstbestimmung ihrer Kund/ -innen. Die Persönliche Assistenz muss darauf achten, dass durch dieses Verhalten von Personen keine Entscheidungen der Assistenznehmer/ -innen übergangen werden und durch die Persönliche Assistenz getroffen werden. Es könnte versucht werden, durch ein sehr diskretes Verhalten während der Tätigkeit des Assistierens, die Aufmerksamkeit von Anfang an mehr auf die Assistenznehmer/ -innen zu lenken.

Grundlegend lässt sich aus den gesamten Ergebnissen des theoretischen und empirischen Teils dieser Masterarbeit feststellen, dass Menschen mit „Behinderung“ sehr wahrscheinlich stigmatisierenden Verhaltensweisen regelmäßig ausgesetzt sind. Diese stigmatisierenden Verhaltensweisen führen sehr häufig dazu, dass eine selbstbestimmte Lebensweise von Menschen mit „Behinderung“ eingeschränkt wird. Dabei zu berücksichtigen ist aber auch, wie es dargestellt wurde, dass die Persönliche Assistenz als „Werkzeug“ für eine selbstbestimmte Lebensweise auch deren Hindernis sein kann und daher das Verhalten des Persönlichen Assistenten oder der Persönlichen Assistentin gut reflektiert werden sollte.

Ein erster Blick auf das Verhalten von Personen, die einen Kontakt zu Menschen mit „Behinderung“ haben, wie etwa Freunde und Bekannte meiner Kundinnen, hat gezeigt, dass sich ihr Verhalten im Allgemeinen von dem Verhalten fremder Personen unterscheidet. Es lassen sich diesbezüglich weniger negative Verhaltensweisen erkennen, wobei es sich dabei um eine Beobachtung offensichtlicher Reaktionen in kurzen Begegnungen handelt. Die Interaktionen zwischen meinen Kundinnen und ihnen bekannten Personen wirkten grundsätzlich harmonischer und weniger angespannt. Es wurde allerdings schon darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine Feststellung handelt, die keinesfalls über tiefreichendere Dimensionen einer Beziehung bzw. Interaktionen zwischen diesen Personen Auskunft geben kann. Auch die empirischen Untersuchungen haben gezeigt, dass das Verhalten von bekannten Personen stigmatisierende Elemente beinhalten kann, vor allem wenn es beispielsweises um komplexere Verhaltensmuster und weniger offensichtlich negative Verhaltensweisen geht, wie etwa das Zugestehen von Fähigkeiten und Kompetenzen gegenüber einer Person mit „Behinderung“.

Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den Forschungsergebnissen dieser Masterarbeit um zwei Fallbeispiele handelt und die Ergebnisse sich damit speziell auf den Alltag meiner beiden Kundinnen beziehen. Durch diese zwei Beispiele konnte ein erster Eindruck davon gewonnen werden, mit welchen Verhaltensweisen Menschen mit „Behinderung“ konfrontiert werden können. Generalisierende Aussagen über das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ können anhand zweier Beispiele nicht gemacht werden. Auch kann damit noch nicht festgestellt werden, wie genau die jeweilige Art der „Behinderung“ das Verhalten beeinflussen kann oder welche Arten von „Behinderung“ welche Verhaltensweisen eher auslösen können. Die Ergebnisse dieser Arbeit weisen allerdings darauf hin, dass sehr wahrscheinlich ein unterschiedliches Verhalten je nach Art der „Behinderung“ stattfinden kann.

Es ist auch davon auszugehen, dass die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“, durch abgesprochene Fähigkeiten und das Wahrnehmen der Persönlichen Assistenz als Stellvertretung, ein grundlegendes Problem im Bezug auf die Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ darstellt, da diese Faktoren im gesamten Analysematerial sehr häufig gefunden wurden. Zudem konnten diese Elemente in fast allen Verhaltensweisen herausgefiltert werden, wodurch in diesem Bereich schon eher von einer generalisierenden Aussage über das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ gesprochen werden kann. Festzuhalten bleibt daher, dass unterschiedliche stigmatisierende Verhaltensweisen dazu führen, dass die Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ eingeschränkt wird und ihre Persönliche Assistenz als ihre Stellvertretung herangezogen wird.

10. Resümee

Die Ausarbeitungen und Forschungsergebnisse dieser Masterarbeit haben aufgezeigt, dass Menschen mit „Behinderung“ in ihrem alltäglichen Leben regelmäßig Erfahrungen mit stigmatisierenden und diskriminierenden Verhaltensweisen ihnen gegenüber machen können.

Dabei handelt es sich teilweise um sehr offensive negative Verhaltensweisen, wie etwa diskriminierende Äußerungen. Die meisten Verhaltensweisen charakterisieren sich jedoch dadurch, dass sie aus gesellschaftlicher Perspektive nicht negativ bewertet werden, aber für die Betroffenen trotzdem eine Abwertung und Diskriminierung ihrer Person bedeuten und ein Hindernis für eine selbstbestimmte Lebensweise und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe darstellen. Vor allem Verhaltensweisen, durch die einer Person mit „Behinderung“ die Fähigkeit abgesprochen wird, selbst Entscheidungen treffen zu können und selbst ihr Leben bewältigen und bestimmen zu können, sind häufig sehr verschleiert und werden nicht als diskriminierende Verhaltensweisen erkannt, obwohl sie für die Person eine enorme Abwertung darstellen.

In diesem Zusammenhang wurde aufgezeigt, wie wichtig daher eine reflexive Haltung der Persönlichen Assistentin oder des Persönlichen Assistenten ist. Die Persönliche Assistenz kann ein große Hilfe dabei sein, einer Person mit „Behinderung“ ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Sie kann allerdings auch ein Hindernis dafür sein, wenn sie sich zu sehr in die Rolle einer Stellvertretung für ihre Kund/ -innen drängen lässt und die Entscheidungsmacht nicht mehr bei den Assistenznehmer/ -innen liegt. Damit ist die Tätigkeit als Persönliche Assistenz mit einer großen Verantwortung verbunden, wodurch sich auch die Frage nach den geforderten Fähigkeiten einer Persönlichen Assistenz stellt.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse, die sich auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ und auch mögliche Unterschiede hinsichtlich der Art von „Behinderung“ beziehen, anhand zweier Beispiele noch nicht als generalisierbare Aussagen verstanden werden können. Generalisierbare Feststellungen konnten jedoch anhand der Ergebnisse bezüglich der eingeschränkten Selbstbestimmung von Menschen mit „Behinderung“ durch unterschiedliche stigmatisierende Verhaltensweisen gemacht werden. Daher ist davon auszugehen, dass Menschen mit „Behinderung“ durch ihnen entgegengebrachte stigmatisierende Verhaltensweisen in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werden.

Aufgrund der Ergebnisse dieser Masterarbeit, die darauf hinweisen, dass Menschen mit „Behinderung“ regelmäßig stigmatisierenden und diskriminierenden Verhaltensweisen ausgesetzt sind und sich dabei sehr wahrscheinlich auch Unterschiede hinsichtlich der Arten von „Behinderung“ ergeben, sollte es das Anliegen weiterer Forschungen sein, dieses Thema weitreichend zu untersuchen. Vor allem hat sich herausgestellt, dass Erkenntnisse über die Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ auch für die Gewährleistung einer selbstbestimmten Lebensweise von Menschen mit „Behinderung“ von großer Bedeutung sind. Das Verhalten, das Menschen mit „Behinderung“ entgegengebracht wird, hat somit sehr großen Einfluss auf ihr Leben und darauf, ihr Leben selbstbestimmt zu organisieren, weshalb es in jedem Fall von wissenschaftlichem Interesse sein sollte, diese Thematik weiter zu bearbeiten.

Cloerkes (2007, S. 136ff) weist darauf hin, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Möglichkeiten das Verhalten gegenüber Menschen mit „Behinderung“ positiv zu verändern noch sehr widersprüchlich und nur teilweise gesichert sind. Wie schon darauf hingewiesen wurde, wird beispielsweise Kontaktprogrammen Beachtung geschenkt, wenn im Rahmen dieser zahlreiche qualitative Faktoren berücksichtigt werden. Auch scheint ein heranziehen mehrerer Strategien, wie etwa den Kontaktprogrammen, Informationsprogrammen (z.B. durch die Medien) und Programmen zur Simulation von „Behindert-sein“ eine Wirkung zu haben. Bei allen herangezogenen Strategien hängt jedoch der Erfolg sehr stark von der Bereitschaft einer Person ab, ihre Haltung tatsächlich ändern zu wollen, wodurch wiederum nur Teile der Bevölkerung angesprochen werden. Auch haben Ergebnisse gezeigt, dass negative Haltungen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ durch diese Strategien sogar noch verschlechtert werden können.

Laut Cloerkes (2007, S. 157) gibt es noch keine Strategie, die positive Veränderungen bezüglich der Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit „Behinderung“ sicherstellen kann. Er ist zudem der Ansicht, dass es daher von wissenschaftlichem Interesse sein sollte, wie es bereits geschildert wurde, die Rahmenbedingungen von sozialen Reaktionen auf Menschen mit „Behinderung“ vermehrt zu analysieren und die Thematik verstärkt zu bearbeiten. Auch müssen nach Cloerkes (ebd.) in diesem Zusammenhang sozio-kulturelle Bedingungen und die Dynamik und Veränderbarkeit von den Wertestrukturen einer Gesellschaft mitberücksichtigt werden, um eine Lösung zu finden. Als beste Möglichkeit, um langfristig Veränderungen in diesem Bereich zu bewirken, sieht Cloerkes (ebd.) auch das Bemühen der sozialen Integration von Menschen mit „Behinderung“.

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12. Anhang

Transkription – Problemzentriertes Interview Frau X

Transkription – Problemzentriertes Interview Frau Y

Beispiele aus den Beobachtungsprotokollen Frau X

Beispiele aus den Beobachtungsprotokollen Frau Y

Transkriptionszeichen

  • Klammern ( ) – geben Auskunft über nonverbale Verhaltensweisen

  • Besonders betonte Wörter werden unterstrichen

  • Punkte stehen für Pausen, wobei ein Punkt etwa einer Sekunde entspricht

Transkription – Problemzentriertes Interview Frau X

  1. I: Wie würdest du grundlegend das Verhalten von Personen dir gegenüber beschreiben?

  2. B1: Es kommt drauf an mit wem jetzt grot beinond bisch, dass do wahnsinnig blöde Leit drunter sein, oba i denk ma do hin und wieder i gib do go koan Kommentar ob, oda nicht viel Kommentar, weil i ma denk do isch im Kopf nit viel drinnen, weil sunscht frogata oda tat nit so... solche Äußerungen mochen.. des denk holt i ma

  3. I: Mhm jo

  4. B1: Obs natürlich imma guat isch wenn man nix sog.. wobei i gmerkt hob es isch nicht immer gut, wenn du nix sogsch es isch oft schun bessa du sogsch wos.. weil dann wissen a die Leute wie sie dran sein...woasch.. oba du sigsch jo selber wenn mia zum Beispiel in der Stadt sein und so.. do redn die Leut mit dir und nicht mit mir (wird lauter) oba... des stört mi a nit weil i mia denk... jo... entweder sie wolln wirklich nit ding... oda sie verstehens nit besser... sie wellns nit wissn oda sich befassen mit diesen Dingen... Jo des isch eigentlich olls also i äußer mi do nit.. i denk ma holt mein Teil... weil sogn misasch eigentlich oft gonz wos ondas, dass die Leute mehr ärger kronk sein wie i selba (lacht).. oba des merken de jo goa nit... find i... dass derjenige oft gar nit merkt, dass er eigentlich blöd frog oda oda a blödes Kommentar obgib wos goa nit so passent isch...

  5. I: Kannst du dich noch an irgend ein Beispiel erinnern, an irgend eine blöde Situation oder so?

  6. B1: Jo.... Mia follt jetzt amol zum Beispiel nix ein.... nur i persönlich find eben i hab amal einen Spruch gelesen jetzt muss i nur nachdenken..wie der.. behindert.. behindert... gehindert und es wird verhindert.. wenn du behindert bisch... und der Spruch stimmt bis zu einem bestimmten Grad weil eben die Leute eben das Gefühl haben des kannsch nit und des darfsch nit und ein Behinderter brauch das nicht (wird lauter) woasch... also drum find i den Spruch goa nit so schlecht...

  7. I: Mhm isch ein interessanter Spruch

  8. B1: Weil weil es isch wirklich oft so.. es werden da nur Prügel in Weg gleg oda wenns irgendwie geht... dass jo nit.. und dabei war des oft goa nit nötig... oba sie schätzen oan eben zu gering ein.. weil sie es eben für mi jetzt nicht verstehen sog i.. ge

  9. I: Und würdest du sagen, dass sie dich einfach oft zu gering einschätzen.. also deine Fähigkeiten..

  10. B1: Also ich (spricht sehr laut)ich würde sagen wos jetzt mich selber anbelangt... i hob überhaupt immer die Meinung gehabt man kann sehr viel.. es du musch nur wollen und dass können aber die Leute nicht einschätzen... verstehst...

  11. I: Mhm...

  12. B1: De sogn von vornherein... des kann de unmöglich oda i sog jetzt amol des woas i von da Mutti her.. de sog heut noch bei gewisse Sachen des kannsch du nit.. verstehst.. ob i etwas kon oda ob i des... selber bewältig des muasch.. des miasn die Leute schon mir überlassen... weil i des am besten weiß... verstehst... und nit der Nächste... weil der kann das unmöglich, sondern des muasch du selba.. woasch des am besten... weil wenn i es nit kann, dann muss i es e lassen oder i muss sagen i brauch Hilfe... oba wissn tu i es am besten ob ich es kann oder nicht

  13. I: Mhm... des kann ich nachvollziehen

  14. B1: Weil i hob auch das Gefühl oft... äh... bei so verschiedenen anderen Behinderten.. de kanntn viel mehr oba de nutzen des holt unter Umständ aus, dass sie sagen jetzt hab i eh Hilfe und dann brauch i des.. der Meinung bin i aber nicht weil alles was ich selber machen kann isch besser wenn i es selber mach, weil wenn i es nimmer tu, dann konn i bold nix mehr... verstehst...weil don geht des Bissl wos i no kann a nimma (Handy läutet)

Wir machen eine Pause damit B1 an ihr Handy gehen kann

  1. B1: I woas jetzt nit wo i jetzt stecken blieben bin

  2. I: I glaub es isch darum gangen, dass dir manchmal Fähigkeiten abgesprochen werden, und dass du selber am besten weißt, was du kannst und was nit

  3. B1: Jo also des isch... der Meinung bin i so und so weil wenn i etwas wirklich nicht kann, dann muss i eh sagen es tut ma leid i brauch Hilfe weil des geht nit... und des tu i jo... nur wos i konn... und i glab a des verstehen manche falsch indem sie meinen i bin zu eingebildet oder holt... oba des ischs nit sondern i will des als Prinzip weil i sog, wenn i des wos i konn a nimma tua don geht hold des a irgendwonn nimma... und wenn i wos nit kun... nocha muas i eh sogn tut ma leid i brauch wem... und des kun man jo... konn ma jo sogen

  4. I: Mhm und des ist einfach unangenehm kann i mir vorstellen, wenn dir immer Fähigkeiten abgesprochen werden oder?

  5. B1: Jo na des isch so und so.. und des hob i a oft zur Mutti gsag „wieso kannsch du jetzt sagen des kann i nit“... weil des sag i zur Mutti schon... „du“ sog i „wieso sogsch du jetzt“... erstens kann i des am besten selber sagen, wenns nit geht muas i es e sagen... es geht nit...oba wenns schon von vornherhein gsag werd na des kann sie unmöglich... aber gut bei der Mutti nimm i des nit so ding... weil de hot des immer gehabt... Oamol hab i nur gsag mich wundert nur, dass du mich 8 Stunden im Büro allein lasch... weil... verstehst... des woa die einzig schöne Zeit wo i sie amol nit umakob hob und wo sie amol nix sogen hot kennen... verstehst... oba du es hot sich niemand aufgreg, i hab meine Arbeit getan, aber sie hot glei von vornherein gsag des kunsch nit... isch ja eigenlich nit gor aso... i hab oft gesagt du bisch für mich eigentlich nicht so aufbauend... Oba gut i hab schon gewusst dass die Mutti do... de woa einfoch immer so und i woas jo selba i muss sie nit unbedingt.... oba... (B1 wird von Fliege auf ihrer Schulter kurz abgelenkt)... jo auf alle Fälle sein des schon oft so Probleme... Oba mit da Zeit woasch dir schon zu helfen, wie du damit umgehst (längere Pause)

  6. I: Ja das kann ich mir denken

  7. B1: Und i sag eben wenn... mit dem Alter so wie ich heut... wenns do no nit weisch wie tun donn lernst do nie mehr etwas (lacht)... weil des musch schon vorher... weil sonst... sonst hilft da des nimma viel (lacht)... nana i kun soweit... nur wos i... i woa früher also i muss oft heut über mich selber staunen was ich mich heut getrau des hat i mi früher nie getraut.. weil i oamfoch gsog hob du kunsch da nit alles gfollen lossen und wenn immer ruhig bisch des isch a goa nit gut.... weil siehsch ja jetzt mit dem Rollstuhl... des huni ma gedacht jetzt ischs Maß voll für mi... es isch... und i hob a irgendwo Recht bekommen weil.... der hat eben a gesagt des isch... und sie haben gar nit des Recht des zu sagen...

  8. I: Mhm, kannst du das vielleicht noch einmal genauer ausführen was da genau passiert ist?

  9. B1: I hab ja zuerst den großen Rollstuhl gehabt und i hab denen gesagt i bin daheim nit amal bei der Tür reinkommen... so breit... bin i do nit mit dia auf der Krankenkasse gwesen... und donn hot die gesagt von der Ortopedia i soll an Klostuhl beantragen, dann brauch i mit dem Rollstuhl nit ins Klo eini... donn hob i gsag des isch jetzt keine Aussage für mi... des lass i mir jetzt nit gefallen....... weil der Techniker hat überhaupt gesagt sie nehmen den Stuhl nicht zurück, weil i gsagt hab der ist mir zu groß und dann hat er gesagt der ist extra für mich gemacht... des is ja...er hat ja nit amal was abgemessen und nix und dann hab i gesagt des werden wir sehen ob sie den zurücknehmen... und donn hob i eben dich gefragt, dass ma eben den Behindertenanwald raussuchst... und der hat gesagt so geht das nicht und dann hab i an andern Rollstuhl bekommen... oba i hob gsog i kann mir des jetzt nit wieder gfallen lassen.. des geht nit... drum sog i des isch nit immer gut wenn ruhig bist.. also du braust jetzt nit aufmüpfig werden wegen jeder Kleinigkeit, aber wenns ding nocha muss man sich wehren und des kann i heut sicher besser... des hat i mi früher nie getraut... weil man werd einfach härter... woasch... man sag einfach na des kannsch dir jetzt nit gfallen lassen... weil des kannsch ja wirklich nicht... de tun ja mit dir was sie mögen..... oba sonst.....(längere Pause)

  10. I: Mhm, wie kommt dir des eigentlich vor - Du hast einmal erzählt dass dein Chef immer von die Füße auf den Kopf geschlossen hat oder?

  11. B1: Jo der hat immer gsagt mir kann man nicht viel geben... wenn man in die Füß wos hot donn stimmt der Kopf a nit...

  12. I: Ok, ist dir das schon öfter bei jemandem passiert?

  13. B1: Na also... der Chef war der erste der das gesagt hat, des hat no nie jemand zu mir gesagt... oba der hat eben gsag, wenn man in die Füß was hat stimmt im Kopf a wos nit... wobei i sog, dass des oft miteinander nix zu tun hat.. oba des isch.. des isch oamfoch und des woa überhaupt... i will mi jetzt do nit äußern oba der...... oba i sog passieren konn da natürlich ollerhond... kommt da do unter wos nit so passend isch... oba wie gsog i hob mir immer gedacht die Leute meinen immer sie sein so gescheit und dabei sein sie kränker wie i selber... verstehst...(lacht) oba des darfsch ja jemanden nit sagen... isch oft besser du sagsch es nicht... weil denken kann i mir alles lei sagen isch nit immer gut... isch hin und wieder gut wenns für die behaltest... also... i sag immer es muss immer der Zeitpunkt passen, wenn du irgendeine Äußerung machst... weil oft einmal wenn so in Rase bist oder in ding dann ischs oft nit angebracht, wenn da so aufgebracht etwas sagst... donn denk i mir ist oft besser du bist oft ruhig... oba wie gsagt i lass mir heut... des weiß i... i loss ma heut nimmer alles gefallen... also i bin jetzt nit frech oder dass i sag... oba i weiß eins, dass i mir nit alles gefallen lass...

  14. I: Mhm ok... Was ich dich dann noch fragen wollte... Ich habe beobachtet, dass es oft passiert, dass die Busfahrer dich einfach nehmen mit dem Rollstuhl - wie ist das für dich wenn ich vor dir stehe und du fährst plötzlich?

  15. B1: Jo i i... jo wos du gesehen hast hoffe ich, dass ich dann schon immer wieder zurückschau... weil i nicht weiß bisch des jetzt du wos mi do schiebt oder ischs eben der Busfahrer... nit... donn schau i und donn denk im mir jo guat... oba grot guat... i hob schon a bissl a komisches Gefühl weil schon allein über die Rampe runter bin i ma nit sicher ob er weiß wie er zu tun hat...

  16. I: Bist du dir dann einfach unsicher in dem Moment oder?

  17. B1: Jo unischer (wird lauter) bin i ma, weil i woas eben nit ob er des woas wie man des eigentlich richtig angreift... ge... oba...

  18. I: Und wie ist das für dich - weil mir aufgefallen ist, dass sie dich oft gar nicht fragen: "Kann ich Ihnen helfen?", sondern dich einfach schieben...

  19. B1: Jo... na i kriag... sigsch ja selber oft der foat oder schiebt mi da einfach... i bekomm des oft gar nit mit, dass nit du des bisch was mi do schiebt... oba grot günstig oder fein isches nit.. wobei i sag mancher tut halt wieder gar nix... woasch nit... ge... monche stehn jo wieder goa nit auf oder fragen di... er fragt schon wo wollts aussteigen, aber sonst... jojo... oba mit dem werden mir müssen überhaupt leben, dass ma einfach mit gewisse Sachen....... und i denk ma oft.. äh.. eigentlich möcht i was sagen und dann denk ich mir na jetzt bisch gscheiter ruhig weil er versteht es gar nicht... die haben oft gar keine Ahnung...Oba mit dem missn mir sicher leben, dass mir eben bei manche Leute.. äh.... andere Leute sein... wenns a jetzt oft nicht stimmt... verstehst... mir sind jetzt sag i für die Normalen... sein mir im Aussehen anders und dann meinen sie des andere stimmt auch nicht, oba der Meinung bin i wiederum nit... weil noch dem kannsch nit gehen... verstehst...

  20. I: Mhm... und kommt dir vor, dass es einen Unterschied macht bei Freunden von dir und bei Fremden... Passiert dir des bei Freunden auch oder ist es da anders?

  21. B1: Na also des muss i sagen, bei die Freunde wos i so... i selber... des isch einfach bei mir a a bissl besser bei mir durch den Beruf... durch des, dass i im Beruf war und da muss i sagen im Büro selber... außer der Chef eben, aber guat mit dem hab i soweit... oba i sog verstehts... die Kollegen oder so mit denen hab i eigetnlich mit keinem ein Problem gehabt, de haben mich so wie i war angenommen und de haben gwusst, dass i meine Arbeit mach... und vom Chef red i jetzt nit weil mit den... do hab i mir gedacht der isch so und fertig und wie i sag i denk mir da immer do isch im Kopf nit mehr drinnen und er isch für mi ärmer wie ich... weil er es selber gar nit merkt... weil i kann mi nit mit solche Sachen a no fertig machen (lacht laut)... steht gar nit dafür... wos willschn von so an Drottl... oba i sog eben sowas konn da unterkommen...

  22. I: Mhm... kann ich verstehen... Dann wollte ich noch darauf eingehen ob du auch beobachten konntest, dass die Leute, z.B. die VerkäuferInnen häufig uns Assistentinnen zuerst ansehen oder zuerst mit uns sprechen bevor wir sie an dich weiterleiten.

  23. B1: Aso.. du meinsch beim Einkaufen.. jo.. des stört mi... jo des bin i auch schon gewöhnt weil... guat wie soll i jetzt sagen... des isch a wiederum nit in jeden Ort weil zum Beispiel jetzt in der Apotheke wenn i einigeh.. do sog sie guten Morgen Frau X... donn gib i ihr des Rezept... des kommt drauf an je nach Geschäft und ob sie mich in dem Geschäft kennen oder nicht...

  24. I: Also würdest du sagen, dass es einen Unterschied macht ob sie dich kennen oder nicht?

  25. B1: Jo... des isch schon so... also von mir kun i do jetzt reden... jetzt wie es anderen geht weiß i nit... oba i woas nur eins in die Geschäfte wo i immer einigeh oder öfter do kennen sie mich schon... oder du wirsch a gemerkt haben, dass sie fragen wo isch die Mama... oba verstehst sonst.... wenn sie mi nit kennen konnsch schon passieren, dass sie mit dir reden und nit mit mir oder... dass sie zerst di anschaun... verstehst... oba do denk i mir holt... jo... des isch so und sie wissns nit besser...(längere Pause)

  26. I: Ok... fällt dir noch irgendetwas ein, was du berichten möchtest?

  27. B1: Na... mir fällt nichts mehr ein.... mhm... jo etwas könnt i dir no... also i würd sagen so barrierefrei ist nicht alles wie sie tun... wie sie des heute anpreisen... da fehlts noch weit... weil du siehst es ja selber, wenn i in der Stadt aufs Klo muss welche Probleme do im Weg sein... dasses oamfoch oft nit so passt wie i es brauchen würd...(längere Pause) Jo i würd sogn des war so alles was mir jetzt so einfällt dazu... mehr... weiß i jetzt a nimmer (lacht)

  28. I: Ok Frau X, vielen Dank für das Interview!

Transkription – Problemzentriertes Interview Frau Y

  1. I: Wie würdest du das Verhalten von anderen Personen grundlegend beschreiben?

  2. B2: Äh, es kommt drauf an.. Gestern zum Beispiel kann ich was erzählen, da bin i im Zug gehockt.. da hab i so a Schnecke gehabt de hab i nit aufbekommen.. der hat ma glei geholfen.. aber momentan sind so Bettler rum und de lassen mi dann nit in Ruhe...

  3. I: Ok, wie schaut des dann genau aus?

  4. B2: Sie wolln Geld oder so mah, de sehen dann wieder irgendein Phänomen von mir und vor a paar Tagen war i eben in Schwaz und da sein Nachbarskinder gewesen bei einem Kolleg und die haben mich eine Weile nicht mehr weitergelassen und wollten wissen wie alt i bin, wie groß i bin und dann hab i des halt gesagt weil i mir gedacht hab sie geben dann Ruhe... und dann haben sie gesagt ja sehr groß bist du, pfiati... und de woan so 12 oder so... es ist immer verschieden aber i merk a den Unterschied ob ich auf dem Land bin oder in der Stadt... weil do wo i wohn, bei meinen Eltern.... de kennen mi jetzt oba wenn sobald i jetzt nach Landeck fahr oder Imst und einkaufen gehe, woasch e dann werd gafft...

  5. I: Dann schauen sie oder?

  6. B2: Jo dann schauen sie... aber des merkst du, in Innsbruck isches nit so arg, es sich nur wenn zum Beispiel a türkische Familie vorbei geht da isches ganz arg, weil do draht sich sogar die Mama um und de zieht ihre Kinder aber a nit zruck...

  7. I: Ok, und andere Personen machen das eher, dass sie die Kinder zurückziehen?

  8. B2: Jo de anderen sagen halt.. des tut man nit oder des isch halt so... manche erklärens volle nett manche erklärens volle lieb und manche nit so

  9. I: Und was ist dabei für dich nett erklärt?

  10. B2: Jo wenn sie sagen es gibt große Menschen und kleine Menschen woasch wenn du es dem Kind halt irgendwie beibringst.. und eine hat amal gsagt des isch a coole Frau de isch nur klein... woasch so... jo

  11. I: Ok, dann noch einmal eine kurze Frage zu den Bettlern. Würdest du es eher als ein mitleidiges Verhalten sehen?

  12. B2: Na nervig, wahrscheinlich möchten sie auch dafür Geld, aber das ist einfach nervig weil die dann einfach so äh (greift sich auf den Arm)

  13. I: Sie berühren dich oder?

  14. B2: Jo weil sie wahrscheinlich... entweder meinen sie i bin ein kleines Kind oder..... blöd (wird lauter) ischs wenn ältere Leut kommen, des isch teilweise gonz... teilweise ischs lustig teilweise nit oba wenn sie dann daherkommen.. aber da liegt viel drauf ob i gut drauf bin oder schlecht, wenn i schlecht drauf bin und es kommt so ein Opa daher oder eine Oma und sagt: "muasch nit dahoam sein?" (spricht in verniedlichter Stimme)... jo des hab i a schon oft gehabt...

  15. I: Ok, sie behandeln die also wie ein Kind?

  16. B2: Jo und donn sog i i bin 22, auf wiedersehen und wenns ma ganz zu hart wird hab ich auch schon zu Kinder gesagt, auch wenn man es nicht tut, wellts an Brief oder a Foto haben... wenns ma ganz ganz zu hart wird... oba woasch wenn i jetzt voll guat drauf bin donn krig i viel nit mit, do geh i oamfoch meinen Weg...

  17. I: Ignorierst es einfach?

  18. B2: Jo....

  19. I: Ok, ist dir irgendetwas aufgefallen, wenn ich mit dir unterwegs bin, dass sich die Leute anders verhalten. Also z.B. an der Theke wenn wir einkaufen gehen?

  20. B2: Na, do schau i nit so weil da bin i voll konzentriert dass i nix vergiss, da acht i nit drauf, da acht i eher mehr auf di und meistens erzähl i dir was, da bin i nit da weisch oba des hab i a bei andere Leut nit... da schau i nit was links und rechts is, da sagen dann oft die Kollegen "am liebsten möcht i jetzt zurückgehn und dem.. oane.. jo.." na mei beste Freundin regt sich immer volle auf, de muss i immer beruhigen, weil die würd am liebsten rübergehen und gleich schon...und oder meine Kollegen, ah weil de drehen da komplett durch, weil die sehen des nit ein, weil warum und wieso, weil für sie bin i halt normal und de.. wenn sie ganz arg schaun die Leut möchten die am liebsten zurückgehn und eine Erklärung haben was er für ein Problem hat...

  21. I: Ok, weil ich habe ja Beobachtungen gemacht und mir ist aufgefallen, dass z.B. an der Wursttheke oder bei der Kasse, dass sie immer nur mit dir reden, wie ist dir das vorgekommen?

  22. B2: Na, also da hab i jetzt nit so drauf geachtet, weil du zahlst ja auch und dann pass i da nit so auf... mir isch schon amal aufgefallen, dass sie zuerst dich anschauen, aber wenn sie dann merken ich bin mit dir auf dem Weg und ich bin diejenige die zahlt, dann tun sie schon anders... aber ich muss auch sagen, wenn ich mit dir auf dem Weg bin, da acht i jetzt nit so drauf (lacht)...

  23. I: Ok, dann möchte ich dich noch fragen, ein bisschen haben wir eh schon darüber gesprochen, ob es für dich einen Unterschied macht vom Verhalten her zwischen Freunden, also Personen die dich kennen und fremde Personen auf der Straße oder so

  24. B2: Also wenn von.... äh.... es kommt immer drauf an wie ich drauf bin, wenn ich gerade mit meinem Kollegen gestritten habe und dann gaffen die Leute dann werd i aggressiv teilweise, dann möchte i schon am liebsten auch rübergehen und sagen "was isch euer Problem", es kommt immer auf die Situation an... Wenn i jetzt guat drauf bin dann isch nix donn denk i mir was habs denn... Oba wenn Kollegen Witze machen... also einer macht gern einmal, er meint es auch nit böse, oba er möchte halt versuchen mich irgendwie zum lachen bringen und macht halt irgendeinen Schmäh und ich sag dann "na es isch gnua" und er macht no weiter, dann werd ich stinkig...

  25. I: Ok, und prinzipiell findest du das Verhalten von deine Kollegen dir gegenüber angenehm oder auch eher nicht?

  26. B2: Jo, sie tun halt ab und zu gerne Schmäh machen sowie "Letze"... und in der Arbeit isches a so aber da bin i immer die "Große"... isch volle nett... und oder irgendwas kommt immer daher, mei bester Kolleg sagt immer "Kleine" zu mir aber da find ich es irgendwie nett weil der isch echt, der isch a schon älter und do denk i mir immer... woasch... der derf des sagen weil er doch schon älter ist und ich einen großen Respekt vor ihm hab und des isch so ähnlich als würds ein Vater sagen... oder weich.....

  27. I: Ok, und hast du vielleicht schon einmal die Erfahrung gemacht dass dir Leute ihre Hilfe aufzwängen wo du sie vielleicht nicht brauchen würdest?

  28. B2: Jo, des hab ich im Heim gemacht, wo ich in der Schule war und auch schon einmal im Zug, da wollte mir unbedingt eine permanent helfen und oamol woasch du a dabei, do wo mir de beim Einsteigen in der Straßenbahn helfen wollt.. wo sie mir fast den Arm ausgerissen hat und ich dann gesagt habe "des geht schon, lass es", oder bei die Taxifahrer, des back i teilweise gar nicht, wenn sie mir die Tür aufmachen wollen und bei einem Kolleg hab ich das auch schon einmal erlebt, da hab i amal einen Pullover von ihm angezogen weil mir zu kalt war und dann wollt er ihn mir anziehen... Dann hab ich ihn dermaßen zammgschissen und er hast dann irgendwo nicht verstanden weil er wollt ma nur helfen... aber... ich hab mich gefühlt wie so ein Kind.. woasch.. und hob i a.. an Kolleg kannsch es erklären und sagen "lass es bitte", natürlich die Freunde sind dann wieder verletzt... aber müssns halt a einsehen und sie nehmens teilweise persönlich dann, weil sie sagen "ja mir wollten ja nur helfen" und i sag halt dann i schrei schon wenn i Hilfe brauch, a wenns no so scheiße ausschaut, weil i bin so erzogen geworden, mei Mama hat mi da oft so lang herumwürgen gelassen bis ich es geschafft habe, oder, des hat da zur Erziehung gehört weil sonst würde ich es heut oft nicht schaffen beim Socken anziehen und so... als Kind a wenn i a Stund gebraucht hab, früher, hast auch Fälle geben wo i a Stunde braucht hab für einen Socken... außer es hat schnell gehen müssen... da sag i auch nichts bei einem Kolleg wenn er mir schnell die Schuhe zubindet... es schaut zwar doof aus wenn mir ein Typ, wenn der sich auf den Boden kniet... des isch schon irgendwo auch wieder eine Grenze zwischen Demütigung a bissl... und irgendwo, ja es geht jetzt grat nit anders...

  29. I: Ok, aber dir ist es lieber wenn sie dich vorher fragen, ob sie dir Hilfe geben sollen?

  30. B2: Jo (laut), es ist zwar mir a bissl, es kommt drauf an... wenns a männlicher Kolleg ist ist es mir ein bisschen zu blöd, bei weiblichen nicht so... da denk i mir... da sag i einfach "bind mir die Schuhe zu" und bei männlichen da isch des einfach so, es wär was anderes wenns mei Bruder isch, aber bei männliche Kollegen da fang i dann schon an... so... mi ganz klein fühlen... woasch so... wie ein kleines Madl, aber es geht halt nit anders es muss halt schnell gehen... jo...

  31. I: Ok, was ich noch fragen wollte, weil ich es auch beobachtet habe, ob es dir auch passiert, dass Leute überfreundlich mit dir tun?

  32. B2: Na do denk i mir oamfoch magsch heut wieder reden oder... woasch des isch so... des merk, wenn sie überfreundlich tun des isch ein Unterschied... i habe a schon erlebt da haben sie ganz eine andere Stimme und tun "Haha" (probiert es in einer hohen Stimme nachzuahmen) und des ordere isch einfach Quatschtante... oba wos i hass des woa in der Arbeit und da hab i im Kiosk was gekauft und 10 Cent nit gehabt und dann hab i gesagt des kriegt sie nach der Mittagspause... donn komm i zurück und sag "ja i würd gern die 10 Cent no zahlen" und dann hat die andere, was mir des... äh... aufgeschrieben hat auf den Kassabon Liliputaner hingschrieben... und... dann hat die andere Verkäuferin, was mit ihr gewechselt hat, aus Versehen des vorgelesen.... "a bisch du die Liliputanerin?"... woasch de hot des nit glei kapiert und dann hab ich gesagt.. äh.. jo bin i und dann hab i des halt genommen und bin dann am nächsten Tag hinein und dann hab i zu der einen gesagt, also de was es aufgeschrieben hat, "Sie wissen schon dass das ein Schimpfwort ist?"... und dann hab i mi halt aufgeregt und erklärt sie kann hinschreiben Dame mit schwarzen Haaren oder kleine Dame oder... mog i eigentlich a nit kleine Dame, do werd i a schon grantig oba des dulde ich noch irgendwo, oba die Liliputanerin, donn hot sie sich holt entschuldigt und gesagt das hat sie nur für sich aufgeschrieben, dann hab ich ihr gesagt das brauch sie auch nicht für sich aufschreiben... und einmal da hat mein Kolleg einen riesen Streit gehabt mit dem Stiefvater... oder... weils da um seine Mama gegangen ist und da hat der Stiefvater zu ihm gesagt "hast e deine Liliputanerin, brauchst deine Mama eh nimmer"... da wollt i ihm schon das Handy aus der Hand reißen und sagen "pass auf", aber manche Leute wissen es eben nicht besser.. woasch....

  33. I: Ok, passiert dir das eigentlich öfter, dass dich jemand beschimpft oder ein Schimpfwort verwendet?

  34. B2: Mhm, na des isch eigentlich im Jahr einmal, zweimal, aber mit dem hab ich umgehen gelernt, weil des hat mir mein Papa immer gut eingetrichtert, dass man das früher eben so genannt hat und dass ich es ja nicht persönlich nehmen sollte... und einfach nicht hören... aber irgendwann reichts und dann sag i wieder was, aber des kommt immer auf meine Verfassung an... wenn i grat Stress in der Arbeit gehabt habe oder irgendwelche Streitereien, dann zuck i halt aus...

  35. I: Ok, würdest du gerne noch etwas hinzufügen oder erzählen?

  36. B2: Na, mir fällt nix mehr ein (lacht)

  37. I: Ok, dann Dankeschön für das Interview!

Beispielhafte Auszüge aus den Beobachtungsprotokollen – Frau X

Frau X Beobachtung 1, 3. März 2014, Vormittag - Friseurbesuch
Objketive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen

Friseurin A; Friseurin B, Frau X; Assistentin (Ich)Die Assistentin hat Frau X bei ihrem Friseurbesuch assistiert. Die Assistentin und Frau X kommen vor der Geschäftstüre des Friseursalons an. Zwischen Tür und Straße sind 5 Stufen. Friseurin A kommt aus der Tür heraus. Friseurin A richtet ihren Blick zu Frau X und begrüßt Frau X. Friseurin A nimmt den Rollstuhl von Frau X beim Fußteil in die Hände. Die Assistentin nimmt den Rollstuhl bei den Schiebehebeln in die Hände. Die Assistentin sagt zu Friseurin A, dass sie den Rollstuhl nicht anheben soll und über die Treppen schieben soll. Die Assistentin zieht den Rollstuhl gleichzeitig nach hinten über die Treppen. Friseurin A äußert während des Schiebens des Rollstuhles über die Treppen, dass sie Schmerzen im Rücken hat, wobei sie darauf verweist, dass sie prinzipiell ein Problem mit dem Rücken hat. Frau X sagt daraufhin zu Friseurin B bestätigend: „Ja du hast ja immer so Probleme mit deinem Rücken“. Die Assistentin und die Friseurin A ziehen und schieben den Rollstuhl weiter über die Treppen, bis zur Ankunft im Geschäft. Friseurin A verlässt den beobachtbaren Bereich des Friseursalons. Friseurin B richtet den Blick zu Frau X und begrüßt sie. Danach richtet sie den Blick zur Assistentin und begrüßt sie. Die Assistentin beginnt nach Bitte von Frau X mit dem Assistieren beim Ausziehen des Mantels von Frau X. Die Assistentin beginnt auf der rechten Seite mit dem Ausziehen des Ärmels, um sich dann nach links vorzuarbeiten. Friseurin B spricht währenddessen nichts, ihr Blick wendet sich zu Frau X und der Assistentin. Nach einigen Sekunden kommt sie zu Frau X und nimmt den Ärmel des Mantels auf der linken Seite. Die Assistentin und Friseurin B haben gleichzeitig beide Ärmel des Mantels in der Hand und ziehen daran, bis der Mantel ausgezogen ist. Frau X schüttelt währenddessen den Kopf. Die Assistentin bringt den Mantel zur Garderobe und geht dann wieder zu Frau X. Für Frau X ist ein Platz freigemacht worden – ein Stuhl weggestellt worden. Friseurin B richtet ihren Blick zur Assistentin und fragt, ob der freigemachte Platz passt („Glaubst du, dass das so geht?“) Die Assistentin antwortet mit „ja“. Die Assistentin legt die Tasche von Frau X, die sich in ihrer am Rollstuhl befestigten Tasche befindet, griffbereit auf den freigemachten Platz. Frau X befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht an dem freigemachten platz. Sie steht noch etwa 2m davon entfernt. Nachdem die Assistentin die Tasche von Frau X bereitgestellt hatte, teilt sie mit, dass sie nun den Friseursalon verlässt. Friseurin B richtet den Blick zur Assistentin und bittet sie, Frau X noch zu ihrem Platz zu bringen - dabei äußert sie, dass sie das nicht kann. Friseurin B verlässt den beobachtbaren Bereich des Raums. Frau X fragt daraufhin die Assistentin was Friseurin B gesagt hat. Die Assistentin wiederholt die Worte der Friseurin B. Frau X schüttelt den Kopf und fährt selbstständig auf ihren Platz. Die Assistentin verabschiedet sich von Frau X und verlässt den Salon.

Ich habe Frau X beim Gang zu einem Friseurbesuch assistiert. Beim Friseurgeschäft angekommen begrüßte Friseurin A Frau X mit Blick zu ihr, ich hatte das Gefühl, dass die Aufmerksamkeit in dem Moment wirklich bei Frau X war. Danach leistete uns die Friseurin A Hilfe, damit wir mit dem Rollstuhl über die Stufen kommen. Die Friseurin A schob dabei den Rollstuhl von unten an und ich zog ihn nach oben zurück. Friseurin A begann den Rollstuhl von unten zu schieben und verwies sogleich auf Schmerzen in ihrem Rücken, wobei sie erklärte, dass sie grundlegend ein Problem mit ihrem Rücken hätte. Sie leistete jedoch weiterhin Hilfe bis wir im Geschäft waren. Während der Beschwerde über ihren Rücken von der Friseurin A reagiert auch Frau X und gesteht ihr zu: „Ja du hast ja immer so Probleme mit deinem Rücken“. Auf mich wirkte es so, als ob Frau X sich dadurch dafür entschuldigen wollte, dass sie Hilfe benötigte und es ihr unangenehm war, dass Friseurin A wegen ihr nun Schmerzen hatte. Ich hatte des Weiteren den Eindruck, dass Friseurin A uns nicht gerne geholfen hat. Vielleicht weil sie sich gleich wegen ihrer Rückenschmerzen beschwert hat und angestrengt ausgeatmet hat. Im Geschäft angekommen begrüßt Friseurin B Frau X mit Blick zu Frau X – auch hier hatte ich wieder das Gefühl, dass die Aufmerksamkeit bei Frau X war. Danach assistierte ich Frau X dabei ihren Mantel auszuziehen. Ich leistete ihr Hilfe wie sie es mir beigebracht hat mit unseren routinierten Bewegungen. Als ich begann, ihr bei dem Ausziehen ihres Mantels zu assistieren, kam Friseurin B dazu und nahm den Mantel auf der anderen Seite – gegenüber von mir. Sie sagte dabei nichts. Darauf hin ergaben sich einige Schwierigkeiten beim Ausziehen, da die routinierten Bewegungen durch die nicht hinterfragte Mithilfe der Friseurin B nicht mehr möglich waren. Während des Ausziehens wurde nichts mehr gesprochen und es hat dann auch, mit einigen Schwierigkeiten, funktioniert. Ich bemerkte auch, dass Frau X nicht ganz zufrieden war mit der Hilfestellung, da sie den Kopf schüttelte. Im Friseursalon war ein Platz für Frau X freigemacht worden – also der Stuhl beiseite gestellt worden. Nachdem wir den Mantel ausgezogen hatten, erkundigte sich die Friseurin B bei mir, ob der freigemachte Platz Frau X den Friseurbesuch ermöglicht („glauben Sie, dass das so geht?“) – Dabei wurde direkt ich angesprochen und der Blick der Friseurin B war auf mich gerichtet. Frau X wurde in diesem Moment nicht miteinbezogen, obwohl sie selbst am besten weiß, ob es für sie so passt. Ich antwortete mit ja, was ich in diesem Moment nicht hätte tun sollen, da ich das Wort an Frau X hätte weitergeben sollen. Dabei habe auch ich selbst die Interaktion so beeinflusst, dass Frau X nicht miteinbezogen wurde. Nach dem Ausziehen ihres Mantels gab ich Frau X ihre benötigten Dinge von der Tasche am Rollstuhl auf den Tisch an dem für sie Freigeräumten Platz. Frau X befand sich in dem Moment noch nicht auf diesem Platz. Ich machte nun Anzeichen, dass ich gehen werde. Daraufhin wendete sich Friseurin B erneut mir zu und sprach mich darauf an, ob ich Frau X noch auf ihren Platz schieben kann. Dabei äußerte sie, dass sie das nicht kann und verlässt kurz den Bereich des Friseursalons. Ich hatte den Eindruck, dass sie etwas aufgeregt war und in Sorge war, dass sie nun Frau X behilflich sein muss. Frau X hatte akustisch nicht verstanden was Friseurin B gesagt hat und fragte daraufhin mich, was gesagt wurde. Ich wiederhole es für sie, sie schüttelte den Kopf und fuhr selbstständig zu ihrem Platz und ich verabschiedete mich.

Klage über Schmerzen im Rücken

Ausdruck der Unzufriedenheit, dass überhaupt eine Hilfestellung nötig war – Diese Unzufriedenheit könnte auch zu einer Kontaktvermeidung führen, wenn es denn die situationsbedingten Umstände zulassen würden – auf jeden Fall können solche Verhaltensweisen sehr wahrscheinlich zu unangenehmen Spannungen in der Interaktion führen

Es wurde der Eindruck vermittelt, dass die Tatsache des „nicht-Gehen-könnens“ von Frau X auf jeden Fall eine negative Eigenschaft darstellt und für andere Personen (Friseurin A) belastend ist – Es also eine unerwünschte Eigenschaft ist, die von der Norm abweicht

Dilemma-besetzte Situation: (siehe z.B. Kognitive Konsistenztheorie) Friseurin A weiß moralisch, dass sie Hilfe leisten muss, will es aber eigentlich nicht --- führte zu einer unangenehmen Spannung in dieser Situation

Unerwünschte Hilfeleistung:

Die Hilfe von Friseurin B beim Ausziehen des Mantels war auf alle Fälle nicht vorteilhalft bei der Tätigkeit des Assistierens. Der interessante Kern dieser Situation ist allerdings, dass Friseurin B Hilfe geleistet hat, ohne sie direkt Frau X anzubieten. Die übliche Floskel dafür ist z.B. „Darf ich ihnen behilflich sein“. Friseurin B hat aber ihre Hilfe in diesem Moment nicht angeboten, sondern aufgedrängt, was zu einigen Schwierigkeiten geführt hat. Sie hat es vermieden vorher einfach verbalen Kontakt zu Frau X herzustellen und sie zu fragen, ob sie denn gerne Hilfe hätte.

Kontaktvermeidung von Friseurin B:

Zugleich hat Friseurin B auch zweimal ganz deutlich den direkten Kontakt zu Frau X vermieden, indem sie sich mit der Platzfrage an mich gerichtet hat und als es darum ging, wie Frau X an ihren Platz gelangt sich an mich gerichtet hat. Sie hat sich dabei dafür entschieden sich an mich zu wenden anstatt direkt Frau X selbst zu fragen.

Absprechen von Eigenschaften:

Des Weiteren hat Friseurin B Frau X die Eigenschaft abgesprochen, selbstständig an ihren Platz fahren zu können. Sie ist davon ausgegangen, dass Frau X dabei Hilfe benötigt, obwohl dies gar nicht der Fall war. Auch hier hätte Friseurin B Frau X einfach fragen können, ob sie denn Hilfe benötigt.

Selbstkritik:

Ich hätte auf Frau X verweisen müssen, als Friseurin B mit mir gesprochen hat anstatt mit ihr. Das Verhalten der Assistenz hat auch Einfluss auf den Verlauf der Interaktion und ich hätte eventuell den Kontakt zwischen Frau X und Friseurin B mit Hilfe eines Verweises herstellen können bzw. verstärken können. Dadurch, dass ich mich an der Interaktion, mit dem Beantworten der Fragen im Namen von Frau X, direkt beteiligt habe, habe ich auch den Kontakt von Frau X und Friseurin B unterbunden.

Frau X Beobachtung 2 (noch 2 weitere ähnliche Beobachtungen wurden gemacht), 7. März 2014, Vormittag-Busfahrt
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A; Frau X; Assistentin (Ich)

Ortsbeschreibung:

Die Interaktionssituation findet in einem Stadtbus statt. In diesem Bus befindet sich direkt bei der Eingangstür ein von Sitzbänken freigelassener Bereich, der beispielsweise für Personen im Rollstuhl oder Kinderwagen gedacht ist. In diesem Bereich gibt es eine Sitzbank bzw. zwei Sitze, die ausgeklappt werden können. In ausgeklappten Zustand dieser Sitze verkleinert sich der freigelassene Bereich und man hat weniger Bewegungsfreiheit zur Verfügung. Verlauf der Interaktion:Frau X und die Assistentin stehen auf der Bushaltestelle auf dem erhöhten Gehsteig. Der Busfahrer fährt die Haltestelle an und stellt sich nahe an den Gehsteig, sodass keine Rampe benötigt wird, um in den Bus mit dem Rollstuhl einzusteigen. Die Assistentin schiebt Frau X in ihrem Rollstuhl geradeaus vom Gehsteig durch die Türe des Busses. In dem genannten freigeräumten Platz des Busses sitzt eine Person A auf dem vorderen (von der Tür aus) ausklappbaren Sitz. Die Assistentin versucht Frau X auf die von Frau X gewünschte Weise im Bus hinzustellen. Es ergeben sich, aufgrund des verkleinerten verfügbaren Bewegungsbereichs, durch das Sitzens der Person A auf dem Klappsessel, Schwierigkeiten beim Hinstellen von Frau X auf ihre gewünschte Weise. Die Assistentin schiebt Frau X in mehrfacher Wiederholung nach vorne und nach hinten, um sich so langsam der gewünschten Position zu nähern. Die Person A sitzt auf ihrem Sitz und ihr Blick richtet sich aus dem Fenster. Person A spricht nicht. Frau X steht nun in ihrer gewünschten Position. Der Blick von Person A richtet sich weiterhin aus dem Fenster und sie spricht nicht. Nach 4 Haltestellen steht die Person A auf, geht zur Tür des Busses und steigt aus. Der Blick richtet sich dabei nicht in die Richtung von Frau X. Person A schaut zuerst aus dem Fenster und richtet ihren Blick dann zur Tür

Frau X und ich waren auf den Weg in die Stadt und warteten am Gehsteig bei der Bushaltestelle auf den Bus. Der Bus fuhr auf die Haltestelle und stellte sich ziemlich nahe an den Gehsteig, sodass wir keine Rampe benötigten, um in den Bus zu gelangen. An dieser Stelle ist damit auch das Verhalten des Busfahrers zu berücksichtigen, der uns durch seine Fahrweise das Einsteigen in den Bus erleichtert hat. Wir konnten einfach geradeaus hineinfahren.

Eine Frau hat dann auf dem ersten dieser ausklappbaren Sitze gesessen. Wichtiger Hinweis: Frau X möchte sich grundlegend gerne auf eine bestimmte Art an diesem Platz hinstellen, da es durch diese Art nicht passieren kann, dass sie nach hinten umfällt. Als wir versuchten, uns auf diesem Platz wie gewohnt hinzustellen, blieb die genannte Frau einfach sitzen. Sie richtete ihren Blick starr aus dem Fenster und schaute uns beide nicht an – sagte auch nichts. Wir hatten daraufhin etwas Probleme an unseren Platz zu gelangen, da der Bereich einfach sehr eng wird, wenn dort jemand sitzt. Als wir es mit etwas Mühe geschafft hatten die gewünschte Position einzunehmen blieb die Frau weiterhin sitzen ohne Kontakt aufzunehmen (verbal oder non-verbal). Die Frau schaute weiterhin aus dem Fenster. Nach 4 Haltestellen stieg die Frau aus dem Bus, auch wiederum ohne Kontaktaufnahme zu Frau X oder mir. Ihr Blick bewegte sich direkt vom Fenster Richtung Tür.

Im Bezug auf diese Interaktionssituation sind die theoretischen Ausarbeitungen Goffmans und beispielsweise auch Cloerkes zur „Ignoranz“ oder in einem weiteren Schritt auch zur „Scheinnormalität“ sehr bedeutend.

Die Situation könnte so interpretiert werden, dass diese Frau verhindern wollte, dass es so wirkt, als brauche es nun eine besondere Handlungsweise ihrerseits, weil eine Dame im Rollstuhl in den Bus eingestiegen ist. Sie wollte möglicherweise eine „Normalität“ herstellen und der Situation nichts „Besonderes“ oder „Abnormales“ zuteilen.

Ein weiterer Grund für ein ignorantes Verhalten könnte möglicherweise auch die Absicht einer Kontaktvermeidung aufgrund von Ängsten sein, oder eine Überforderung mit der Situation bzw. könnte die Frau sich nicht sicher gewesen sein, wie sie nun reagieren soll.

Auf jeden Fall zeichnete sich auch diese Situation wiederum dadurch aus, dass sie Spannungen beinhaltete und ein unangenehmes Gefühl vermutlich auf beiden Seiten erzeugte.

Auch ich wusste beispielsweise in dem Moment nicht, ob ich etwas sagen soll oder ob es diese Person dann vielleicht in eine unangenehme Lage bringt. Auch Frau X hat nichts gesagt. Wobei ein anschließendes Gespräch mit Frau X ergab, dass Frau X über das Verhalten der Frau verärgert war.

Die Tatsache, dass viele weitere Plätze im Bus noch frei waren verringert des Weiteren die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau keinen anderen Sitzplatz hätte bekommen können.

Frau X, Beobachtung 3 (noch eine weitere gleichwertige Beobachtung wurde gemacht), 7. März 2014, Vormittag - Weg in der Stadt
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A;

Frau X;

Assistentin (Ich)

Die Assistentin schiebt Frau X in ihrem Rollstuhl auf dem Gehweg entlang. Die Assistentin hört eine Person A rufen: „Entschuldigen Sie!“. Die Assistentin bleibt stehen, Frau X macht keine ersichtliche Reaktion. Die Person A kommt auf die Assistentin zu. Der Blick der Person A richtet sich zur Assistentin. Frau X sieht die Person A nicht, da die Person A aus der Perspektive von Frau X von Hinten kommt. Die Person A weist die Assistentin darauf hin, dass der rechte Fuß von Frau X nicht auf ihrem Fußbrett ist und Richtung Boden hängt. Sie sagt des Weiteren, dass sie nicht wisse, ob das etwas ausmacht, aber dass sie auf alle Fälle nachfragen wollte, falls es der Assistentin nicht aufgefallen sein sollte. Die Assistentin antwortet darauf, dass Frau X sich melden kann, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Frau X nickte und antwortet mit: „ja“. Die Person A sagt: „ah, ok“ und verabschiedet sich mit Blick zur Assistentin – Die Person A und die Assistentin stehen hinter Frau X.

Ich machte mich mit Frau X auf den Weg vom einen zum anderen Geschäft und wir fuhren auf dem Gehsteig entlang. Plötzlich rief eine Frau uns von hinten zu „Entschuldigen Sie!“. Wir blieben daraufhin stehen. Die Frau wendete sich mir zu und fragte mich, ob ich wisse, dass der Fuß von Frau X von ihrem Fußbrett heruntergefallen ist und Richtung Boden hängt. Sie sagte des Weiteren, dass sie nicht wisse, ob das egal wäre oder ob ich es nur nicht gesehen hätte. Die Frau erklärte, dass sie auf alle Fälle nachfragen wollte, ob das so in Ordnung ist, oder ob es mir nur nicht aufgefallen ist. Ich antwortete daraufhin, dass Frau X mir es selbst sagen kann, wenn etwas nicht in Ordnung ist, woraufhin Frau X mir zustimmte. Die Frau wirkte etwas beschämt und entschuldigte sich bei mir, vermutlich da wir auch beide etwas verärgert und verwundert waren über ihre Reaktion. Die Frau sagte nach der Erklärung noch „ah ok“ und verabschiedete sich.

Zuschreibung von anderen negativen Eigenschaften aufgrund des Stigmas:

Die Frau muss davon ausgegangen sein, dass Frau X auch eine geistige Behinderung hat, da sie sich mit ihrer Feststellung an mich gewendet hat. Des Weiteren wird Sie davon ausgegangen sein, dass Frau X mir das selbst nicht mitteilen kann, wenn etwas nicht in Ordnung ist, in dem Fall, wenn ihr Fuß nicht auf dem Fußbrett ist.

Es wurden also Frau X weitere Eigenschafen aufgrund der offensichtlichen Tatsache, dass sie im Rollstuhl sitzt, zugeteilt bzw. in diesem Fall vermutlich weitere Behinderungen

Frau X, Beobachtung 4 (Noch 12 weitere ähnliche Beobachtungen wurden gemacht), 17. März, Vormittag - Geschäftslokal
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Verkäuferin);

Frau X;

Assistentin (Ich)

Frau X und die Assistentin stellen sich vor die Wursttheke. Frau X steht mit ihrem Rollstuhl dabei vor der Assistentin. Die Person A kommt und ihr Blick richtet sich zur Assistentin. Sie fragt: „Was hätten Sie gerne?“. Die Assistentin sagt nichts und schaut zu Frau X. Die Person A schaut darauf hin auch zu Frau X und Frau X gibt daraufhin ihre Bestellung ab. Die Person A geht mit der ausgewählten Wurst zur Schneidemaschine. Sie kommt danach noch einmal zu Frau X und der Assistentin und ihr Blick richtet sich zur Assistentin. Person A fragt ob es noch etwas sein darf. Die Assistentin schaut zu Frau X. Auch die Person A schaut daraufhin zu Frau X. Frau X sagt, dass ihre Bestellung vollständig ist. Die Person A reicht der Assistentin das Säckchen mit der Wurst und verabschiedet sich mit einem „Auf Wiedersehen“ und Blick zur Assistentin.

Frau X und ich standen vor der Wursttheke und als die Verkäuferin kam sah sie mich direkt an und fragte mich was ich bestellen möchte. Erst als ich meinen Blick zu Frau X richtete und der Verkäuferin so zu verstehen gab, dass sie die „zahlende Kundin“ ist richtete sie ihren Blick zu Frau X. Als die Verkäuferin beim zweiten Mal wiederkam fing das Spiel wieder von vorne an. Sie richtete zuerst ihren Blick auf mich, erst nach meinem Hinweis richtete sie den Blick wieder auf Frau X. Auch bei der Verabschiedung hat sie Frau X nicht mehr angesehen, sondern verabschiedete sich im Grunde bei mir, indem sie dabei nur mich ansah.

Diese Situation ist auf alle Fälle interessant im Zusammenhang mit dem Einfluss der Assistenz hinsichtlich der gleichwertigen Behandlung von Menschen mit Behinderung und der Ermöglichung von Selbstbestimmung. Im Grunde wäre die Situation vor der Wursttheke für Frau X sehr gut alleine und selbstbestimmt zu bewältigen. Aber in diesem Fall hat das Beisein der Assistentin die direkte Interaktion zwischen der Verkäuferin und Frau X beeinflusst und die Assistentin wurde zu einer „alternativen Ansprechpartnerin“ für die Verkäuferin.

Diese Situation veranschaulicht auch wie wichtig das Verhalten der Assistenz ist, damit zumindest die Assistenz auf das Recht auf Teilhabe der Assistenznehmerin achtet und ihr den „Vortritt“ verschafft.

Frau X, Beobachtung 5 (noch 3 weitere ähnliche Beobachtungen wurden gemacht), 24. März 2014, Vormittag - Zufälliges Treffen eines Arbeitskollegen
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Mann (Arbeitskollege);

Frau X;

Assistentin (Ich)

Frau X und die Assistentin gehen in einem Geschäftslokal entlang. Ein Mann kommt direkt auf sie zu und begrüßt Frau X mit einem lauten „Hallo“. Der Mann beugt sich zu Frau X hinunter, gibt ihr die Hand und einen Kuss links und rechts. Danach begrüßt er die Assistentin mit einem „Grüßgott“. Frau X und der Mann reden miteinander und richten dabei die Blicke aufeinander. Der Mann sieht die Assistentin währenddessen nicht mehr an. Nach dem Gespräch verabschiedet er sich mit einem Handschlag bei Frau X und sagt zur Assistentin „Auf Wiedersehen“.

Frau X und ich sind in einem Geschäft unterwegs als wir einen Arbeitskollegen von ihr treffen. Er begrüßt Frau X schon von Weitem mit einem lauten „Hallo“ und gibt ihr dann auch recht herzlich die Hand und den üblichen Links-Rechts-Kuss. Erst nachdem er sich bei der Begrüßung ausschließlich Frau X zugewendet hat begrüßt er auch mich ganz kurz und nüchtern. Während des Gespräches der beiden bleibe ich außen vor und er sieht mich auch nicht an. Bei der Verabschiedung wendet er sich wiederum zuerst Frau X zu und verabschiedet sich dann auch kurz bei mir

Diese Situation stützt im Grunde die theoriegeleitete Annahme, dass Kontakt zu einem Menschen mit Behinderung einen Einfluss (meist positiv) auf die zukünftige Interaktion hat. Die Interaktion ist weniger gespannt und insgesamt natürlicher.

Auch die Assistentin als „alternative Bezugsperson“ wird hier nicht in Anspruch genommen.

Frau X, Beobachtung 6 (Es wurde noch eine weitere ähnliche Beobachtung gemacht), 4. April 2014, Vormittag - in der Stadt
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Personengruppe A;

Frau X;

Assistentin (Ich)

Frau X und ihre Assistentin befinden sich in der Stadt auf einer Bushaltestelle. Etwa 2 Meter links von Frau X und der Assistentin befindet sich eine Personengruppe A – bestehend aus 5 Personen – die das gleiche T-Shirt tragen mit einer Aufschrift, die darauf verweist, dass es um ein bestimmtes politisches Interesse handelt. Es lässt sich erkennen, dass es sich bei der Personengruppe A um eine „Anwerbergruppe“ für neue Mitglieder handelt. Die Personen der Personengruppe A halten alle eine Mappe und einen Stift in der Hand. Sie gehen in die Richtung von Frau X und der Assistentin und reden dabei mit jeder Person die sich auf diesem Weg befindet. Sie gehen an Frau X und der Assistentin vorbei und schauen sie dabei nicht an und reden nicht mit ihnen. Als die Personengruppe A an der Assistentin und Frau X vorbeigegangen ist reden sie wieder alle Personen, die sich an diesem Platz befinden an.

Frau X und ich standen auf der Bushaltestelle und die Personengruppe A war gerade dabei, neue Mitglieder für ihre Interessen zu werben. Dabei redeten die Personen der Personengruppe A jede Person an, die sich in der Nähe von Frau X und mir befand. Nur Frau X und mich schauten sie nicht an und redeten uns auch nicht an. Diese Situation konnte ich im Verlauf meiner Beobachtungen öfter feststellen, was in anderen Beobachtungseinheiten noch ersichtlich werden wird.

Als theoretischen Hintergrund für diese Situationen finde ich den Hinweis von Volker Schönwiese (2011, S. 144ff) sehr interessant, dass beispielsweise ein Rollstuhl häufig mit „Arm-sein“ verbunden wird. Der Rollstuhl dient dabei als Projektionsfeld für bestimmte Eigenschaften, wie etwa auch das „Arm-sein“.

Solche Anwerber/-innen für Mitgliedschaften sind im Grunde bekannt dafür, dass sie mit Werbetechniken versuchen Leute zu gewinnen – natürlich auch meistens gegen eine Bezahlung. Die Projektion, dass Menschen mit „Behinderung“ arm sind und selbst (finanzielle) Unterstützung benötigen könnte der Grund dafür sein, dass Personen bei solchen Werbeaktionen beispielsweise Menschen mit „Behinderung“ nicht ansprechen, da man ja armen Personen nicht auch noch das Geld aus der Tasche ziehen kann.

Auch zu berücksichtigen ist, dass es sich im Grunde, aus der Perspektive einer Person mit Behinderung, wieder um ein ignorantes Verhalten handelt. Alle Personen werden angesprochen, nur man selbst nicht.

Frau X, Beobachtung 7 (noch 4 weitere ähnliche Beobachtungen), 14. April 2014, Vormittag - Busfahrt
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Busfahrer);

Frau X;

Assistentin (ich)

Frau X und die Assistentin stehen auf dem gewohnten Platz im Bus (siehe Beobachtung 2). Die Assistentin drückt den Stoppknopf, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Der Busfahrer bringt den Bus bei der Haltestelle zum stehen. Der Gehsteig ist zu weit entfernt vom Bus, um keine Rampe zu benötigen. (An dieser Haltestelle ist es allerdings sehr schwierig den Bus so hinzustellen, dass er nahe genug steht) Die Assistentin löst die Bremsen von Frau X Rollstuhl. Die Assistentin geht zur Rampe und hebt diese aus dem Boden. Währenddessen nimmt der Busfahrer Frau X Rollstuhl hinten mit seinen Händen und beginnt sie zu schieben. Der Busfahrer kommt dabei hinter Frau X zum Rollstuhl heran, so dass sie ihn nicht sehen kann. Der Busfahrer sagt dabei nichts. Nachdem sich der Rollstuhl bewegt, schaut Frau X nach links und nach rechts und dann der Assistentin ins Gesicht. Der Busfahrer schiebt Frau X über die Rampe aus dem Bus. Die Assistentin sagt währenddessen, dass sie es schon alleine schafft. Der Busfahrer lächelt die Assistentin an und sagt, dass es schon in Ordnung ist. Der Busfahrer sagt: „Auf Wiedersehen!“. Der Busfahrer steht dabei hinter Frau X und schaut dieser nicht ins Gesicht - er schaut dabei die Assistentin an.

Frau X und ich stehen im Bus auf unserem gewohnten Platz. Wir wollen aussteigen, weshalb ich den Stoppknopf betätige. Der Busfahrer bleibt an der nächsten Haltestelle stehen, bei der es sehr schwierig ist nahe an den Gehsteig zu fahren, weshalb wir die Rampe zum Aussteigen benötigen. Als der Bus steht öffne ich die Bremsen von Frau X und gehe schnell zur Rampe, um sie aufzumachen. In der Zwischenzeit nimmt der Busfahrer Frau X Rollstuhl, ohne dabei mit Frau X verbal zu kommunizieren. Er nähert sich von hinten, weshalb sie ihn auch nicht sehen kann. Er beginnt sie zu schieben, woraufhin sie nach links und rechts schaut und mich dann fragend und verwundert ansieht. Ihrem Kopfschütteln kann ich entnehmen, dass es ihr nicht passt, dass sie irgendwer anderer schiebt. Der Busfahrer schiebt Frau X aus der Tür und verabschiedet sich dann, wobei er hinter Frau X steht und diese nicht ansieht. Er sieht bei der Verabschiedung die Assistentin an.

Es lässt sich in dieser Situation erkennen, dass eine Hilfe ohne Rücksprache geleistet wurde. Frau X wurde auch nicht vom Busfahrer vorgewarnt, dass sich ihr Rollstuhl jetzt bewegen wird. Ihre Meinung bzw. ihr Einverständnis wurden einfach übergangen und es wurde auf einen verbalen Kontakt vollkommen verzichtet. Der Busfahrer hat sich während der gesamten Interaktion ausschließlich der Assistentin zugewendet und Frau X wie ein „Objekt“ aus dem Bus „geliefert“. In dieser Situation lassen sich demnach die Verhaltensweisen der „aufgedrängten Hilfe“ bzw. „einer Hilfe ohne Rücksprache“ – der Wahrnehmung der Assistenz als Stellvertreter/-in – und im Grunde auch der auf Distanz gehaltenen Interaktion (durch Verzicht auf verbalen Kontakt) erkennen. Des Weiteren spielt natürlich auch in dieser Situation, aufgrund der fehlenden Rücksprache mit Frau X, das Thema Selbstbestimmung eine große Rolle.

Beispielhafte Auszüge aus den Beobachtungsprotokollen – Frau Y

Frau Y, Beobachtung 1, 07. April 2014, Nachmittag - in der Straßenbahn
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A;

Frau Y;

Assistentin (ich)

Frau Y und ihre Assistentin stehen auf der Bushaltestelle. Die Straßenbahn fährt in die Bushaltestelle ein und bleibt stehen. Frau Y und die Assistentin gehen durch die Tür der Straßenbahn in die Straßenbahn hinein. Frau Y und die Assistentin bleiben im Eingangsbereich stehen. Eine Person A kommt von hinten auf Frau Y zu. Die Person A nimmt Frau Y am rechten Arm und zieht sie nach hinten. Die Person A sagt: „Kommen Sie, setzen sie sich hin!“. Frau Y erwidert darauf hin, dass die Person A sie bitte loslassen soll und sie gerne so stehen bleiben würde. Die Person A wiederholt ihr Anliegen und zieht Frau Y weiterhin am Arm. Frau Y sagt daraufhin noch einmal, sie möge sie bitte loslassen. Die Person A lässt Frau Y los und geht weg.

Frau Y und ich stehen auf der Bushaltestelle und steigen dann in die Straßenbahn ein. Wir bleiben im Eingangsbereich der Bahn stehen. Plötzlich kommt hinter Frau Y eine Person A auf sie zu. Die Person A wirkt etwas hektisch. Sie nimmt Frau Y an ihrem rechten Arm und zieht sie daran fest nach hinten. Die Person A sagt dabei, dass sich Frau Y hinsetzten soll. Frau Y tut das am Arm weh und sie bittet die Person A sie loszulassen und versucht ihr zu erklären, dass sie gerne so stehen bleiben würde. Die Person A wiederholt noch einmal, dass sich Frau Y hinsetzen soll und zieht sie immer noch am Arm. Frau Y wird nun etwas lauter, da ihr dieses Zerren am Arm auch weh tut, und versucht noch einmal der Person A zu erklären, dass sie den Arm bitte loslassen soll und dass sie sich nicht hinsetzten möchte. Die Person A lässt dann den Arm von Frau Y los und geht.

In dieser Situation hat die Person A versucht Frau Y zu helfen, wobei sie aber keine Rücksprache zu Frau Y gehalten hat und auch nicht auf die Bedürfnisse von Frau Y reagiert hat. Die Person A hat ihre Hilfe aufgezwungen und auch körperliche Grenzen ohne Rücksprache überschritten. Dabei hat sie Frau Y sogar Schmerzen hinzugefügt. Die Person A hat dabei auch die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung von Frau Y dadurch in Frage gestellt, dass sie Frau Y auf alle Fälle (sogar durch ein Zerren am Arm) zum Hinsetzen bewegen wollte. Sie muss auch davon ausgegangen sein, dass Frau Y Schwierigkeiten hat in der Straßenbahn stehen zu bleiben.

Frau Y, Beobachtung 2, 24.April 2014, Nachmittag - in der Stadt
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Promoterin) ;

Frau Y; Assistentin (ich)

Frau Y und ihre Assistentin gehen entlang eines Gehsteigs. Etwa 3 Meter vor ihnen steht eine Peron A. Die Person A hält eine Mappe mit Zetteln in der Hand und spricht zu diesem Zeitpunkt jede Person an und hält den vorbeigehenden Personen einen Zettel hin, um ihn den Personen mitzugeben. Es handelt sich dabei um eine Promoterin, die für eine Firma Werbeflyer verteilt) Als Frau Y und ihre Assistentin vorbeigehen, hält die Person A der Assistentin einen Zettel hin und spricht sie darauf an, diesen mitzunehmen. Die Assistentin verneint und Frau Y und die Assistentin gehen weiter. Die Person A schaut dabei Frau Y nicht an und macht ihr auch nicht dieses Angebot. Die Person A blickt Frau Y an, als diese bereits mit dem Rücken zu ihr steht und lächelt dabei.

Frau Y und ich sind in der Stadt unterwegs und gehen an einer Person A vorbei, die allen vorbeigehenden Personen durch Flyer etwas anwirbt. Als Frau Y und ich vorbeigehen wirbt sie ihr Produkt allerdings nur mir an und schaut dabei Frau Y gar nicht an. Die Person A lächelt Frau Y allerdings hinterher, als wir wieder am weggehen waren

Zum einen könnte man im Bezug auf diese Situation wieder interpretieren (vgl. Frau X, Beispiel 6), dass sich die Promoterin bei Frau Y zurückgehalten hat, da das Klischee besteht, dass Menschen mit „Behinderung“ arm sind und es sich daher etwa auch nicht gehören würde, ihnen Werbematerial aufzuschwatzen. Auf dieses Klischee bzw. die Verbindung der Assoziation „Arm-sein“ mit einer „Behinderung“ hat auch Volker Schönwiese (2011, S. 144ff) hingewiesen.

Des Weiteren hatte die Situation für mich auch etwas mit der Infantilisierung von Frau Y zu tun. Die Promoterin hat ihr das Angebot nicht gemacht, hat sie aber, als wir beim weggehen waren, sehr reizend angelächelt. Mich erinnerte dieses Lächeln an ein Lächeln wenn man gerade ein niedliches Kind anschaut.

Frau Y, Beobachtung3 (noch eine weitere ähnliche Beobachtung wurde gemacht)
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Mann);

Frau Y;

Assistentin (ich)

Frau Y und ihre Assistentin sitzen auf einer Bank am Gehweg in der Stadt. Eine Person A kommt auf Frau Y und ihre Assistentin zu. Die Person A spricht Frau Y an, dass sie ein sehr hübsches Mädchen ist. Die Person A wiederholt diese Aussage mehrmals und spricht dabei mit heller Stimme. Frau Y sagt darauf hin danke. Die Person A verabschiedet sich und geht.

Frau Y und ich sitzen auf einer Bank in der Stadt am Gehweg. Ein Mann kommt auf uns zu und beginnt mit Frau Y zu reden. Er sagt ihr in einer sehr hellen, verniedlichten Stimme, dass sie ein sehr hübsches Mädchen ist. Ich hatte dabei den Eindruck, dass er so auch mit einem Kind sprechen könnte. Frau Y bedankte sich und der Mann verabschiedete sich und ging weiter.

Die verniedlichte Stimme und die Art wie der Mann mit Frau Y gesprochen hat wirkte auf mich, als ob er mit einem Kind reden würde. Auch die Bezeichnung als „Mädchen“, lässt eher auf ein Kind als auf eine erwachsene Frau schließen.

Für mich hatte diese Situation etwas Infantilisierendes.

Frau Y, Beobachtung 4 (es wurden 9 weitere ähnliche Beobachtungen gemacht), 3. März 2014, in Geschäft an der Kassa
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Verkäuferin);

Frau Y;

Assistentin (ich)

Frau Y und ihre Assistentin stehen an der Kassa an, um die ausgewählten Dinge zu kaufen. Als Frau Y und die Assistentin an der Reihe sind, begrüßt die Person A die Assistentin mit begrüßungsworten und Blick zu ihr. Frau Y steht dabei auch an der Kassa. Die Assistentin packt die Sachen in eine Tasche ein. Die Person A erkundigt sich bei der Assistentin, ob sie eine Mitgliedskarte besitze. Die Assistentin verweist mit einem Blick zu Frau Y. Die Person A wendet daraufhin ihren Blick auch zu Frau Y. Frau Y antwortet nein. Frau Y sagt, dass sie gerne mit Bankomatkarte bezahlen möchte. Die Assistentin zahlt am Automaten mit Bankomatkarte. Die Verkäuferin verabschiedet sich und wendet dabei ihren Blick der Assistentin und Frau Y zu.

Frau Y und ich stehen an der Kassa. Als wir an der Reihe sind wendet sich die Verkäuferin vorerst nur mir zu. Sie begrüßt mich mit Blick zu mir und erkundigt sich dann bei mir, ob ich eine Mitgliedskarte besitze. Frau Y steht dabei aber auch in der Sichtweite der Verkäuferin, direkt neben mir. Erst als ich folgend auf diese Frage an mich mit einem Blick zu Frau Y auf Frau Y verweise, wendet sich die Verkäuferin auch Frau Y zu. Ab diesem Zeitpunkt bezieht sie sich auch auf Frau Y und verabschiedet sich bei uns beiden.

Im ersten Moment kommt es sehr häufig vor, dass Personen sich an die Assistentin wenden anstatt an die Person mit „Behinderung“ selbst. In meinen theoretischen Ausarbeitungen spreche ich an dieser Stelle von der Assistenz, die als „Stellvertretung“ für die Person mit „Behinderung“ wahrgenommen wird. (vgl. Kapitel 5.2)

Die Interaktion erfolgt erst nach einem Hinweis oder wenn sich die Person mit „Behinderung“ selbst zu Wort meldet direkt mit ihr. Es kommt auch häufig vor, dass Personen im Laufe der Interaktion sich trotzdem weiterhin nicht der Person mit „Behinderung“ zuwenden und bei weiteren Fragen etc. doch wieder den Blick auf die Assistenz richten.

Frau Y, Beobachtung 5 (es wurden 8 weitere ähnliche Beobachtungen gemacht), 07.April 2014, Nachmittag - in einem Geschäft
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Kind);

Frau Y;

Assistentin (ich)

Frau Y und ihre Assistentin befinden sich in einem Geschäft. Frau Y und die Assistentin gehen entlang eines Verkaufsregals. Von hinten nähert sich eine Person A. Die Person A richtet ihren Blick intensiv auf Frau Y. Die Person A kommt näher heran. Die Person A befindet sich dann etwa einen Meter hinter Frau Y und sieht diese an. Frau Y und ihre Assistentin gehen weiter entlang des Regals. Die Person A folgt Frau Y mit einem Abstand von etwa einem Meter und sieht sie an. Die Person A folgt Frau Y etwa ein bis zwei Minuten. Frau Y reagiert nicht auf die Person A. Nach diesen ein bis zwei Minuten dreht die Person A um und geht weg.

Frau Y und ich sind beim Einkaufen. Es nähert sich hinter uns ein Kind, dass sehr intensiv Frau Y ansieht. Das Kind nähert sich etwa bis zu einem Meter Frau Y und beobachtet diese ganz genau. Das Kind folgt Frau Y ca. ein bis zwei Minuten und starrt sie dabei an. Frau Y reagiert nicht auf dieses Verhalten und ignoriert es. Nach etwa ein bis zwei Minuten dreht sich das Kind um und geht weg.

In dieser Situation zeigte ein Kind ganz besonderes Interesse für Frau Y. Das Kind starrte sie sehr intensiv an und folge ihr sogar.

Die Situation, dass Kinder Frau Y anstarren kommt sehr häufig vor. Dass eine Frau etwas kleiner ist, ist demzufolge noch etwas sehr Neues für Kinder, da beispielsweise bei Frau X dieses Verhalten nie beobachtet werden konnte.

Frau Y, Beobachtung 6 (es wurden 7 weitere ähnliche Beobachtungen gemacht), 11. April 2014, Nachmittag - an der Brottheke
Objektive Beschreibung Subjektiver Eindruck Interpretation

Inkludierte Personen:

Person A (Mann);

Frau Y;

Assistentin (ich)

Frau Y und ihre Assistentin stehen vor der Brottheke. Eine Person A wendet sich Frau Y zu. Die Person A gibt Frau Y zwei Euro und sagt, dass sie sich davon etwas Gutes kaufen soll. Die Person A lächelt. Frau Y bedankt sich. Die Person A geht weg

Frau Y und ich stehen an der Brottheke und es kommt ein Mann zu Frau Y. Der Mann gibt Frau Y zwei Euro und sagt, sie solle sich etwas Gutes kaufen. Dabei hat er eine sehr verniedlichte Stimme und lächelt. Frau Y schaut etwas verwundert, bedankt sich aber dann und nimmt das Geld.

Diese Situation der „Geldspende“ hat auch Schönwiese (2011, S. 144) beschrieben. Es geht dabei unter anderem wiederum um eine Projektion, die „Behinderung“ als „Arm-sein“ oder als „Schicksalskonstruktion“ assoziiert.

Des Weiteren hatte diese Situation für mich wiederum etwas Infantilisierendes. Die Stimmlage in der der Mann, der schon ein etwas älterer Herr war, mit Frau Y gesprochen hat war sehr hoch und wirkte sehr verniedlicht. Es erinnerte mich an einen Großvater der seiner kleinen Enkelin ein Geld gibt, damit sie sich etwas Süßes kaufen kann.

Quelle

Lisa-Maria Schennach: Ein Einblick in den Lebensalltag von Menschen, die behindert werden. Eine Analyse des Verhaltens gegenüber Menschen mit (körperlicher) Behinderung in alltäglichen Begegnungen. Masterarbeit eingereicht bei Herrn Dr. Univ.-Ass. Sascha Plangger; Institut für Erziehungswissenschaften; Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzen-Universität; Innsbruck 2014

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 16.07.2015

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