Nationaler Empirischer Bericht ÖSTERREICH

Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen

Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Diese Publikation entstand 2014 im Rahmen des EU-Daphne-Projekts „Zugang von Frauen mit Behinderung zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“ (JUST/2011/DAP/AG/3293). Projektpartnerinnen in Österreich waren das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Ninil – Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderungen und queraum. kultur- und sozialforschung. Teile dieser Publikation basieren auf: Schachner, Anna /Sprenger, Claudia: “Access to Specialised Victim Support Services for Women with Disabilities who have experienced Violence. Internal Working Paper” (Resultate der Fokusgruppen mit Frauen mit Behinderungen, der Online-Befragung und Interviews mit Vertreterinnen von Opferschutzeinrichtungen). April 2014
Copyright: © Anna Schachner et al. 2014

Inhaltsverzeichnis

1. Kurzfassung

1.1 Die Sicht von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen

  • Definition von Gewalt

    Die befragten Frauen definieren Gewalt als sehr vielfältig und allgegenwärtig. Es gibt, laut einer Befragung von vielen Frauen, keinen Ort, an dem Gewalt an Frauen nicht ausgeübt werden könne. Neben physischer, sexualisierter Gewalt, psychischer Gewalt und Diskriminierung spielt vor allem auch die strukturelle/institutionelle Gewalt eine große Rolle im Leben der Frauen – „Gewalt beginnt für mich dort, wo ich von jemanden fremdbestimmt werde“.

  • Gewalt in der Kindheit, im frühen und späten Erwachsenenalter

    Zum Themenbereich „Gewalterfahrungen in den Lebensbiographien bzw. Unterstützungsstrukturen“ wurden 16 Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erlebt haben, befragt. Alle 16 interviewten Frauen berichteten von physischer, psychischer und struktureller Gewalt und Diskriminierungserfahrungen in unterschiedlichen Ausprägungen und Facetten. In der Kindheit wurde am häufigsten physische Gewalt durch den Vater (5 von 19 Nennungen), dann von der Mutter (2) und anderen Personen im nahen sozialen Umfeld (FreundIn, ErzieherIn, HeimmitarbeiterIn, Großvater, Großmutter und Stiefmutter) ausgeübt. Auch psychische Gewalt hat jede Frau entweder innerhalb der Familie, in der Schule, im Heim, oder in der Freizeit erlebt, wobei von zwei Frauen auch Mobbing in der Schule und im FreundInnenkreis erwähnt wurde. Ein wichtiges Thema ist sexualisierte Gewalt – elf von sechzehn Frauen berichten, dass sie in der Kindheit und/oder im frühen Erwachsenenalter sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Alle Täter sind im nahen sozialen Umfeld zu finden; vier von elf Nennungen entfallen auf die Väter, zwei auf Ex-Freunde und jeweils eine auf Onkel, Nachbar, Bekannter, Pfleger und Masseur. Das in der Gesellschaft noch immer vorherrschende Bild von Mädchen und Frauen mit Behinderungen als „asexuelle“ Wesen fördert und begünstigt das Überschreiten von Grenzen und Ausüben sexualisierter Gewalt. Dazu kommt außerdem fehlende sexuelle Aufklärung, was oft dazu führt, dass Mädchen/Frauen mit Behinderungen selbst häufig ihre eigenen Grenzen nicht kennen und schwer „Nein“ sagen können. Strukturelle und institutionelle Gewalt benachteiligt und diskriminiert Frauen mit Behinderungen in allen Lebensphasen und - bereichen. Die große Abhängigkeit von anderen Menschen (PflegerInnen, Familienangehörigen, BetreuerInnen, usw.) und Institutionen (Wohneinrichtungen, Behörden, Einrichtungen im Gesundheitsbereich, usw.) verursacht ein Machtungleichgewicht, das Gewalt und Diskriminierung fördert. Aufgrund dieser Abhängigkeit fällt es Frauen mit Behinderungen in Gewaltsituationen oft noch schwerer - als Frauen ohne Behinderungen - aus der Gewaltdynamik auszubrechen bzw. sich aktiv um Unterstützung zu bemühen. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und physischer sowie psychischer Gesundheit. Viele Frauen berichten über Traumata, Depressionen, chronische Schmerzen und Essstörungen sowie mangelndes Selbstwertgefühl und Vertrauen aufgrund ihrer Gewalterfahrungen.

  • Unterstützungsfaktoren

    Die Unterstützungs- und Hilfsangebote, die Frauen in Gewaltsituationen geholfen haben, sind auf unterschiedlichen Ebenen zu finden. Zum Großteil sind es einzelne Menschen (FreundInnen, LehrerInnen, Mütter, Väter, Pflegeeltern, Großmutter, Ehemann), die Frauen in verschiedenen Lebensphasen Halt und Unterstützung gegeben haben. Für sieben Frauen waren Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen[1] geeignete Anlaufstellen, von denen sie sich gut betreut fühlten. Frauen, die sich noch nicht an eine Einrichtung gewendet haben, gaben als Gründe zu wenig Wissen und Informationen über Hilfsangebote an, oder dass sie befürchten, diese seien nicht für sie zugänglich. Alle Frauen halten jedoch diese Einrichtungen und deren Angebote für wichtig und notwendig. Darüber hinaus werden weitere Unterstützungsangebote, wie z.B. Selbstverteidigungskurse, Selbsthilfegruppen, Peer-Beratung und Empowerment-Bewegungen genannt, die für die Frauen auf dem Weg aus der Gewaltdynamik sehr hilfreich waren. Letztlich sind es aber oft die eigene Stärke und Kraft, die Frauen dabei geholfen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

  • Barrieren

    Im Hinblick auf die Barrieren, mit denen Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen im Kontext von Gewalterfahrung und Unterstützungsstrukturen konfrontiert sind, wurden die Antworten der an den Fokusgruppen teilnehmenden Frauen und der interviewten Frauen auf folgenden Ebenen analysiert:

    • Barrieren auf der Bewusstseinsebene von Frauen mit Behinderungen (z.B. fehlendes Bewusstsein über Gewalt/Diskriminierung/Grenzüberschreitung)

    • Einstellungsbezogene Barrieren auf gesellschaftlicher Ebene (z.B. Frauen mit Behinderungen werden als geschlechtslos wahrgenommen, bei Gewalt wird ihnen oft nicht geglaubt)

    • Barrieren auf Wissens- und Informationsebene (z.B. in leichter Sprache, Gebärdensprache, Sprachausgabe, etc.)

    • Bauliche Barrieren (z.B. oft keine Lifte, Rampen, Leitsysteme, barrierefreie Zugänge, WCs, etc.)

    • Infrastrukturelle Barrieren (z.B. am Land weniger Angebote, kaum öffentlich erreichbar, etc.)

    • Finanzielle Barrieren (z.B. Abhängigkeit vom Täter/ Täterin, kein eigenes existenzsicherndes Einkommen, etc.)

  • Verbesserungsvorschläge

    Die vielen Vorschläge zur Verminderung und Bekämpfung von Gewalt sowie hinsichtlich der besseren Zugänglichkeit zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen, die von den an den Fokusgruppen teilnehmenden Frauen und interviewten Frauen gemacht wurden, wurden in diesen acht Teilbereichen zusammengefasst:

    • Ebene der Frauen mit Behinderungen (z.B. Selbstwertgefühl stärken, Selbsthilfegruppen fördern, etc.)

    • Ebene der Familien und Bezugspersonen (z.B. Kinder brauchen ein sicheres, gewaltfreies Zuhause)

    • Wissen- und Informationsebene (z.B. Präventionsmaßnahmen bereits in der Schule, etc.)

    • Ebene der Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen (z.B. Beratung, die ankommt – Peer-Beratung, umfassende Barrierefreiheit, flächendeckende Beratung, Vernetzung, gute Atmosphäre, Zeit, etc.)

    • Ebene der Institutionen und Einrichtungen von und für Menschen mit Behinderungen (z.B. Aufklärung, Sensibilisierung, Training, Ernennung einer Frauenbeauftragten, etc.)

    • Zugang zum Recht/Gesundheitssystem (z.B. Verbesserung der Prozessbegleitung für Frauen mit Behinderungen, mehr weibliches Personal, Training, Sensibilisierung, etc.)

    • Gesellschaftsebene (z.B. den Frauen Glauben schenken, Aufklärungsarbeit über die Medien, etc.)

    • Politische Ebene (z.B. weitere Bemühungen um die Barrierefreiheit umzusetzen)

1.2 Aus der Sicht der Organisationen und Einrichtungen

Den Online-Fragebogen füllten insgesamt 77 Einrichtungen und Organisationen (Gewaltschutzbereich/Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen) aus, und 15 Vertreterinnen aus den Einrichtungen wurden vertiefend mittels Leitfaden interviewt.

Nach den Zielgruppen gefragt, ergab die Analyse, dass über 60 % der Frauen, die sich laut der Einschätzung der Vertreterinnen aus den Einrichtungen an sie wenden, eine psychische Beeinträchtigung haben. Als zweite Gruppe mit fast 20 % wurden Frauen mit Lernschwierigkeiten genannt, der Anteil der Frauen mit chronischen und körperlichen Beeinträchtigungen lag unter 5 % , sowie der Anteil von Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen nur bei 1-2 % (gehörlose, blinde oder sehbeeinträchtigte Frauen).

Was die Barrierefreiheit und Zugänglichkeit zu den Einrichtungen betrifft, stehen besonders Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen Barrieren gegenüber – nur 2,7 % der Einrichtungen – und hier wurden Organisationen mit und für Menschen mit Behinderungen mitgezählt - sind für blinde und sehbeeinträchtigte Frauen uneingeschränkt barrierefrei, bei klassischen Opferschutzeinrichtungen liegt der Anteil bei 0 %. Bei der Gruppe der gehörlosen Frauen ergibt sich ein ähnliches Bild, auch hier liegt der Anteil der Einrichtungen, die uneingeschränkt zugänglich sind, unter 10 %. Nur eine Mitarbeiterin aller befragten Einrichtungen beherrscht die Österreichische Gebärdensprache. Auch melden nur 14,5 % der Einrichtungen rück, dass sie für Frauen in Institutionen (in voll- oder teilstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und/oder auf Pflege oder Assistenz angewiesen) gänzlich barrierefreie Angebote bereitstellen.

Bei Frauen mit Lernschwierigkeiten als Zielgruppe steigt der Anteil leicht, rund 20 % der Befragten gaben an, uneingeschränkt zugänglich zu sein, 60 % sind jedoch nur eingeschränkt zugänglich. Viele Mitarbeiterinnen betonen dabei, dass ihnen die Beratungen in „Leichter Sprache“ leichter fallen, da sie diese oftmals auch bei Klientinnen mit Migrationshintergrund verwenden. Frauen mit Geh- und Bewegungsbeeinträchtigungen und Rollstuhlfahrerinnen sowie Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen gehören zu der Gruppe (45-47 %), für die Zugangsmöglichkeiten und Barrierefreiheit am besten sind.

Der Großteil der Befragten (80 %) sieht das bestehende Unterstützungsangebot für Frauen mit Behinderungen auf regionaler wie auch nationaler Ebene als unzureichend an. Als Hürden bei der Umsetzung von Barrierefreiheit wurden fehlende finanzielle Mittel, zu wenig personelle Ressourcen, geringer Wissensstand über die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen, geringe Vernetzung und Kooperation mit anderen Organisationen, vor allem mit Einrichtungen von und für Menschen mit Behinderungen, genannt.

Zum Thema Öffentlichkeitsarbeit befragt, gaben die meisten Organisationen an, Frauen mit Behinderungen nicht gezielt und aktiv anzusprechen, weil es ihnen an Ressourcen fehle und sie das „Mehr“ an Beratungsleistungen unter den gegebenen Umständen nicht aufbringen können. Als die am schwersten erreichbare Gruppe werden Frauen mit schwersten und mehrfachen Beeinträchtigungen genannt. Die Erreichbarkeit der Zielgruppe der Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen wird ebenfalls als große Herausforderung gesehen. Darüber hinaus wurde auch seitens der Organisationen ein Stadt-Land-Gefälle festgestellt, und das geringe Angebot sowie die schwierige Erreichbarkeit (kaum öffentliche Transportmittel) für Frauen mit Behinderungen am Land werden als besondere Barrieren angesehen.

1.3 Zukunftsperspektiven und Verbesserungsvorschläge

Die von den Organisationen und Einrichtungen genannten Verbesserungsvorschläge decken sich zum Großteil mit den von den Frauen mit Behinderungen genannten.

Auch die Organisationen selbst fordern mehr finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen, um ihr Angebot für Frauen mit Behinderungen ausbauen und zielgruppenadäquater anpassen zu können. Vor allem appellieren sie an politisch Verantwortliche, die entsprechenden Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen. Barrierefreiheit ist aus ihrer Sicht aber auch in Arztpraxen, öffentlichen Ämtern, Polizei und Gerichten notwendig. Beinahe alle Vertreterinnen aus den Organisationen merken an, dass Weiterbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen zum Thema Gewalt an Frauen mit Behinderungen für Beratungs-, Betreuungs- und Assistenzpersonal sowie MitarbeiterInnen aus dem Gesundheitsbereich, Polizei und Justiz unabdingbar sind. Ein großes Augenmerk wird auch auf die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung und Kooperation vor allem mit Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen gelegt. Zudem wird von einigen Organisationen die Wichtigkeit von Peer-Beratung – Frauen mit Behinderungen als Mitarbeiterinnen in den Opferschutzeinrichtungen – hervorgehoben. In Zukunft, so die Vertreterinnen aus den Einrichtungen, sollte mehr öffentliche Bewusstseinsarbeit zum Thema Gewalt an Frauen mit Behinderungen stattfinden, denn es sei eine gesellschaftspolitische Aufgabe, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt in die Gesellschaft zu inkludieren und ihnen ein Leben ohne Diskriminierung und Gewalt zu garantieren. Schließlich sprechen die Organisationen auch die Notwendigkeit von Präventionsarbeit an. Es sollte bereits im Kleinst- und Kleinkindalter mit dem selbstverständlichen Aufbau von Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein von Kindern mit Behinderungen begonnen werden, um Fremdbestimmung und Diskriminierung entgegenzuwirken.



[1] Frauennotrufe, Frauenhaus, Frauenbüro der Stadt Salzburg (Rechtsabteilung), Beratungsstellen, Ninlil, Peer-Beratung

2. Einleitung

Die vorliegende empirische Studie ist Teil eines zweijährigen, von der EU finanzierten Projektes zum Thema „Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“. An der Durchführung dieses europäischen Projektes, bei dem das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte die Koordination inne hat, beteiligen sich die Universitäten Gießen (D), Island, Leeds und Glasgow (GB), sowie die österreichischen Partnerorganisationen queraum (Institut für Kultur- und Sozialforschung) und der Verein Ninlil (Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung).

Das Forschungsteam setzt sich aus WissenschafterInnen mit und ohne Behinderungen zusammen und alle in den Ländern eingesetzten Advisory Groups (Beratungsgremien) bestehen jeweils zur Hälfte aus Expertinnen aus dem Behindertenbereich mit Behinderungen und Expertinnen aus Opferschutzeinrichtungen.

Im Rahmen dieses EU-Projektes wurde in Österreich die vorliegende empirische Studie durchgeführt, die sich mit Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen und ihren Zugang zu Opferschutz-und Unterstützungseinrichtungen aus der Sicht der Frauen und Unterstutzungsstrukturen auseinandersetzt. Seit 1996 – und einer Studie von Aiha Zemp und Erika Pircher über sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen mit Behinderungen – ist dies nun die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen[2] in Österreich mit Fokus auf den Zugang zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen.

Bei dieser empirischen Studie handelt es sich nicht um eine repräsentative Untersuchung, sondern es wurde der Versuch unternommen, im Rahmen des Projektes Tendenzen und Hinweise hinsichtlich des Zusammenhanges von Lebensbiographien und Gewalterfahrungen bzw. Nutzung von Unterstützungsstrukturen vor allem aus der Sicht von betroffenen Frauen mit Behinderungen zu erfassen. Um dieses Bild zu komplementieren wurden Vertreterinnen aus den Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen befragt, um zu erfahren, mit welchen Hürden und Barrieren sie konfrontiert sind bzw. welche Verbesserungsvorschläge sie benennen. Somit fokussiert die Studie auf zwei Bereiche:

Zum einen sind Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, die Gewalt erlebt haben, zu ihrer Lebenssituation, ihren Gewalterfahrungen, Diskriminierungen in der Kindheit und im frühen bzw. späten Erwachsenenalter, sowie zu ihren Erfahrungen hinsichtlich Unterstützungsstrukturen, möglicher Barrieren und Verbesserungsvorschlägen befragt worden. Zum anderen kommen Vertreterinnen aus Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen sowie Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen zu Wort.

Die empirische Untersuchung wurde mittels quantitativen (Online-Fragebogen) und qualitativen Methoden (leitfadenorientierte Interviews, Tiefeninterviews und Fokusgruppen) durchgeführt[3]. Ziel war es, herauszufinden, wie sich Gewalt und Diskriminierung an Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen im Laufe ihres Lebens manifestieren, ob und welche Art von Unterstützung angenommen wurde, was die Frauen daran hinderte, solche Angebote anzunehmen (welche Barrieren und Hürden) bzw. was notwendig ist (Verbesserungsvorschläge), um besser vor Gewalt und Diskriminierung geschützt zu werden.

Zum anderen wurde erhoben, ob es Angebote für Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen gibt bzw. inwieweit sie genutzt werden und was die Einrichtungen benötigen, um die Bedürfnisse der Frauen adäquater in ihre Arbeit integrieren und entsprechende Serviceleistungen anbieten zu können.



[2] Zugang zur gesamten Studie unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/zemp-ausbeutung.html (6.6.2014)

[3] Der an die Einrichtungen und die Organisationen gerichtete Online-Fragebogen, der Leitfaden für die Interviews mit Vertreterinnen von Opferschutzeinrichtungen und Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen, der Leitfaden für die Fokusgruppendiskussionen sowie der Leitfaden für die biographischen Tiefeninterviews mit Frauen mit Behinderungen stehen auf der Projektwebsite mit dem Titel „Anhang österreichischer empirischer Bericht“ zur Verfügung: http://women-disabilities-violence.humanrights.at/de/publikationen

3. Empirisches Vorgehen und Datenüberblick

Die im Folgenden detailliert dargestellten Ergebnisse basieren auf intensiven Forschungstätigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen, welche mit Hilfe zielgruppenadäquater Methoden ihre Umsetzung erfuhren. Im Zuge der empirische Erhebungs- und Untersuchungsphase “Zugänglichkeit von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen” wurden zwei Zielgruppen fokussiert: einerseits Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, und andererseits Opferschutzeinrichtungen sowie Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Mit Hilfe unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden wurden von insgesamt 119 Teilnehmerinnen und Teilnehmern Informationen, Einschätzungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Zugänglichkeit von Opferschutzeinrichtungen, Organisationen und Beratungszentren für Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren mussten, erhoben.

Die folgende Grafik bietet einen ersten Überblick über die erreichten Zielgruppen, die verwendeten Methoden und den Zeitraum der Durchführung:

Abbildung 1: Überblick der erreichten Zielgruppen
Zielgruppe

Methoden

Zeitraum

Teilnehmerinnen

Frauen mit Behinderungen

Fokusgruppen-Diskussionen

15. 7. bis 16. 9. 2013

22

Biographische Tiefeninterviews

14. 11. bis 17. 2. 2013

16

Einrichtungen / Organisationen

Fragebogen-Erhebung

30. 4. bis 5. 6. 2013

77

Vertreterinnen der Einrichtungen / Organisationen

Leitfadenorientierte Interviews

13. 5. bis 10. 10. 2013

15

3.1 Ebene der Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben

Auf der Ebene der Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, wurden insgesamt fünf Fokusgruppen-Diskussionen mit 22 Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen aus den Bundesländern Tirol, Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich, Wien und Burgenland durchgeführt, um deren Sichtweise und Einschätzungen zur Barrierefreiheit in Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen zu ermitteln. Die Erhebung erstreckte sich von Juli bis September 2013. Die Fokusgruppen wiesen unterschiedliche Zusammensetzungen der Teilnehmerinnen hinsichtlich Alter, Berufsstand und Unterstützungsbedarf bzw. Art der Beeinträchtigung auf. Die Teilnehmerinnen der Fokusgruppen wurden mit Hilfe von MultiplikatorInnen im Behinderten- und Gewaltbereich sowie über Selbstbestimmt Leben Initiativen in unterschiedlichen Bundesländern rekrutiert. Der Leitfaden beinhaltet Fragen zum Verständnis und zur Definition von Gewalt, zu Orten der Gewalt, Barrieren in den Unterstützungsstrukturen, Verbesserungsvorschlägen und guten Praxisbeispielen sowie zum Wissen über die Rechte von Frauen mit Behinderungen. Der Fokus lag damit auf den Unterstützungsstrukturen und nicht auf der Schilderung von Gewalterfahrungen (wenngleich ein Großteil der Frauen darauf zu sprechen kam). Alle Fokusgruppen wurden von zwei Moderatorinnen durchgeführt, im Sinne eines partizipativen Ansatzes eine Frau mit Behinderungen und eine Projektmitarbeiterin ohne Behinderungen.

Die Fokusgruppen wurden mit einem Aufnahmegerät aufgenommen und durch eine Protokollantin, die auch während der Fokusgruppen anwesend war, verschriftlicht. Durchschnittlich dauerten die Fokusgruppen-Diskussionen zwei bis drei Stunden. Die Protokolle der Fokusgruppen wurden mit dem Computerprogramm AtlasTi inhaltsanalytisch ausgewertet. Folgende Abbildung gibt einen Überblick über die fünf Fokusgruppen und deren Zusammensetzung:

Abbildung 2: Überblick Fokusgruppen
Bundesland Datum Zusammensetzung

Salzburg

15.07.2013

Es nahmen insgesamt vier Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen teil, im Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Einige Teilnehmerinnen brachten aufgrund ihrer Arbeit zusätzliches Fachwissen in die Diskussion mit ein. Alle vier Frauen sprachen davon, selbst im Laufe ihres Lebens Gewalt und Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderungen erfahren zu haben.

Oberösterreich

27.08.2013

Von insgesamt fünf Teilnehmerinnen waren drei Frauen Rollstuhlfahrerinnen, eine Frau mit Lernschwierigkeiten und eine Frau mit psychischer Beeinträchtigung. Die Altersspannweite lag zwischen 20 und 60 Jahren. Alle Teilnehmerinnen waren sehr interessiert am Thema und erzählten überwiegend über eigene Gewalterfahrungen und ihre Sicht auf die vorhandenen Unterstützungsstrukturen.

Wien (in ÖGS)

29.08.2013

Zwei der drei hörbeeinträchtigten Teilnehmerinnen der Fokusgruppen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren waren Pensionistinnen. Da die Teilnehmerinnen betroffene, betroffene und reflektierte Personen sind, lag der Fokus auch auf individuellen Gewalterfahrungen.

Wien

04.09.2013

An der Fokusgruppe nahmen sechs Frauen mit Lernschwierigkeiten im Alter von 20 bis 60 Jahren teil. Die Fokusgruppe wurde in leicht verständlicher Sprache moderiert. Ein überwiegender Teil der Frauen lebte zum Zeitpunkt des Interviews zu Hause oder in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen.

Tirol

16.09.2013

In Tirol nahmen vier Frauen teil, welche unterschiedliche Beeinträchtigungen (körperliche Beeinträchtigung, Sprachbeeinträchtigung, Lernschwierigkeiten) aufwiesen. Eine Frau hatte keine Behinderungen, konnte aber von Erfahrungen mit Kundinnen zu der Thematik berichten. Das Gespräch lief auf eher sachlicher, distanzierter Ebene ab.

Vertiefend zu den Fokusgruppen wurden mit 16 Frauen qualitative biografische Interviews geführt, wobei der Schwerpunkt auf Gewalterfahrungen und Unterstützungsstrukturen, eingebettet in die Lebensbiographie der Frauen, gelegt wurde. Der Interviewleitfaden beinhaltete Fragen zum demografischen Hintergrund, zu Gewalt und Unterstützungserfahrungen in den Lebensphasen Kindheit (1-12 Jahre), junges und mittleres Erwachsenenalter sowie älteres Erwachsenenalter (50+), Fragen zum Wissen über Rechte für gewaltbetroffene Frauen mit Behinderungen und Verbesserungsvorschlägen.

In der Durchführung und Analyse der Interviews wurde besonders auf die Anonymisierung der Frauen geachtet. Die Erhebung erstreckte sich von November 2013 bis Februar 2014. Die Frauen wiesen unterschiedliche Beeinträchtigungen auf und konnten aus unterschiedlichen Lebensphasen über Formen der Gewalt berichten. Die Rekrutierung der Frauen erfolgte aus den Fokusgruppen sowie durch aktive Suche über die Newsletter von Organisationen von/für Menschen mit Behinderungen. Ein Großteil der Frauen wurde von Interviewerinnen mit Behinderungen und Gebärdensprachdolmetscherinnen interviewt, fünf Interviews erfolgten durch eine Projektmitarbeiterin. Den Frauen stand es frei, den Ort und die Uhrzeit ihres Interviews zu wählen. Die Dauer der Interviews variierte von einer halben Stunde bis etwas über drei Stunden.

Die qualitativen Daten (anonymisierte Interviewtranskripte) wurden inhaltsanalytisch mit Hilfe des Programms AtlasTi codiert und ausgewertet sowie einzelne Fallbeispiele (siehe Kapitel 3.4.) für zwei Frauen erstellt. Folgende Abbildung gibt einen Überblick über die durchgeführten Interviews.

Abbildung 3: Überblick zu den Tiefeninterviews Die Reihenfolge der Interviews entspricht nicht der Reihenfolge der Laufnummern in den Zitaten.
Bundesland

Datum

Zusammensetzung

Alter

Salzburg

Nov. 2013

Frau mit körperlicher Beeinträchtigung interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

50+

Oberösterreich

Nov. 2013

Frau mit körperlicher Beeinträchtigung interviewt von einer Projektmitarbeiterin

50+

Oberösterreich

Nov. 2013

Frau mit körperlicher Beeinträchtigung interviewt von einer Projektmitarbeiterin

50+

Oberösterreich

Nov. 2013

Frau mit Lernschwierigkeiten interviewt von einer Projektmitarbeiterin

20-30

Wien

Dez.2013

Frau mit Hörbeeinträchtigung interviewt und gedolmetscht von Gebärdensprachdolmetscherinnen

50+

Wien

Dez.2013

Frau mit Hörbeeinträchtigung interviewt und gedolmetscht von Gebärdensprachdolmetscherinnen

50+

Niederösterreich

Dez.2013

Frau mit körperlicher Beeinträchtigung interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

50+

Wien

Dez.2013

Frau mit Hörbeeinträchtigung interviewt und gedolmetscht von Gebärdensprachdolmetscherinnen

50+

Tirol

Dez.2013

Frau mit Lernschwierigkeiten interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

35-50

Wien

Jan. 2014

Frau mit Lernschwierigkeiten interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

20-35

Wien

Jan. 2014

Frau mit Lernschwierigkeiten interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

20-35

Wien

Jan. 2014

Frau mit Lernschwierigkeiten und psychischer Erkrankung interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

35-50

Salzburg

Jan. 2014

Frau mit körperlicher Beeinträchtigung interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

20-35

Tirol

Jan. 2014

Frau mit Lernschwierigkeiten interviewt von einer Frau mit körperlicher Beeinträchtigung

35-50

Wien

Feb. 2014

Blinde Frau interviewt von einer Projektmitarbeiterin

35-50

Oberösterreich

Feb. 2014

Frau mit Mehrfachbehinderungen: schriftliches Ausfüllen des Interviewleitfadens

20-35

3.2 Ebene der Opferschutzeinrichtungen und Organisationen von/für Menschen mit Behinderungen

Auf der Ebene der Opferschutzeinrichtungen und Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen wurden mittels einer umfassenden Online-Fragebogenerhebung, an der insgesamt 77 Einrichtungen bzw. Organisationen in ganz Österreich teilnahmen, quantitative Daten zum derzeitigen Ist-Stand der Unterstützungsstrukturen im Bereich Opferschutz- und Gewaltberatung sowie deren Zugänglichkeit für Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gesammelt. Zusätzlich konnten mit Hilfe offen strukturierter Fragen Verbesserungspotenziale und Zukunftsperspektiven der Einrichtungen und Organisationen erhoben werden.

Nach umfassenden Recherchen wurden insgesamt 141 Einrichtungen und Organisationen per E-Mail angeschrieben und gebeten, an der Online-Befragung teilzunehmen. Schließlich füllten 77 Einrichtungen und Organisationen den Online-Fragebogen aus. Damit wurde eine Rücklaufquote von insgesamt 54,61 Prozent erreicht. Die an der Online-Umfrage teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen gliederten sich wie folgt:

Abbildung 4: Einrichtungsart (Mehrfachantwortenset)
Einrichtungsart

Anzahl (N)

Anzahl %

% der Fälle

Frauenhaus

17

21 %

25,8 %

Frauenberatungsstelle

32

39,5 %

48,5 %

Frauennotruf

5

6,2 %

7,6 %

Interventionsstelle/Gewaltschutzzentrum

6

7,4 %

9,1 %

Anlaufstelle für Frauen mit Behinderungen und Gewalterfahrungen

3

3,7 %

4,5 %

Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen mit Behinderungen

3

3,7 %

4,5 %

Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen und Männer mit Behinderungen

5

6,2 %

7,6 %

Etwas anderes

10

12,3 %

15,2 %

Gesamt

81

100 %

122,7 %

Mit Abstand am häufigsten nahmen Frauenberatungsstellen an der Befragung teil (48,5 %). Etwa ein Viertel der teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen (25,8 %) definierte sich selbst als Frauenhaus. Auffallend wenig Prozent hingegen ordneten die eigene Organisation im Bereich der Behindertenhilfe ein (16,6 %). Vor allem spezifische Anlaufstellen für Frauen mit Behinderungen und Gewalterfahrungen sind kaum vertreten. Dies hat jedoch nicht mit einer geringen Bereitschaft der Einrichtungen zu tun, an der Umfrage teilzunehmen, sondern vor allem damit, dass in Österreich kaum Anlauf- und Beratungsstellen existieren, die sich vorwiegend auf die Zielgruppe der gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen spezialisieren.

An der Umfrage nahmen Organisationen und Einrichtungen aus allen Bundesländern teil, vor allem aus der Steiermark (11 Einrichtungen) sowie aus Niederösterreich (9). Ein Großteil der Einrichtungen und Organisationen ist im städtischen Bereich angesiedelt: 42 % befinden sich in einer Großstadt, 41 % in einer mittelgroßen bzw. Kleinstadt und nur 17 % im ländlichen Bereich (siehe Abbildung 5). Die Organisationen und Einrichtungen haben meist zwischen 5 und 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nur ein Unternehmen gab an, mehr als 250 Angestellte zu beschäftigen.

Abbildung 5: Stadt-Land-Vergleich
Wo befindet sich Ihre Einrichtung:

in einer Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern (42 %)

in einer mittelgroßen Stadt oder Kleinstadt (41 %)

im ländlichen Bereich (17 %)

Ergänzend zu der Online-Fragebogenerhebung wurden 15 qualitative Interviews mit Vertreterinnen der Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen durchgeführt, um die quantitativen Daten inhaltlich zu spezifizieren und zu vertiefen.

Die Interviewteilnehmerinnen meldeten sich über den Online-Fragebogen für die Interviews und arbeiten in acht Bundesländern. Nur aus Kärnten meldete sich keine Vertreterin für ein Interview. Die Organisationen, welche die interviewten Personen vertreten, befinden sich im städtischen wie auch im ländlichen Bereich. Die interviewten Personen sind in unterschiedlichen Funktionen, wie Leitung, Therapie, Rechts- und Sozialberatung, tätig und besitzen unterschiedlichste berufliche Qualifikationen, beispielsweise Diplompflege, Erwachsenenbildung, Lebens- und Sozialberatung, Mediation, Medizin, Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie, Rechtswissenschaften, Sexualberatung und Sozialarbeit.

Die Interviews wurden nach Absprache mit den Vertreterinnen und Klärung der Anonymität mit einem Diktiergerät aufgenommen und wortwörtlich transkribiert. Die Interviews wurden im Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte Oktober 2013 von zwei Projektmitarbeiterinnen durchgeführt. Die Interviewten vertraten folgende Einrichtungsarten:

Abbildung 6: Überblick Interviews mit Vertreterinnen von Einrichtungen bzw. Organisationen
Einrichtungsart

Anzahl (N)

Frauenhaus

2

Frauenberatungsstelle, Familienberatungsstelle

7

Frauennotwohnung

1

Interventionsstelle/Gewaltschutzzentrum

3

Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen mit Behinderungen

1

Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen und Männer mit Behinderungen

1

GESAMT

15

In den folgenden Kapiteln werden nun die empirischen Ergebnisse getrennt nach den beiden Ebenen der Frauen mit Behinderungen und Opferschutzeinrichtungen sowie Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen detailliert erläutert und zur Diskussion gestellt.

4. Frauen mit Behinderungen – Ergebnisse der Fokusgruppen und Tiefeninterviews

Gewalt an Frauen mit Behinderungen in Österreich ist, nach Meinung der interviewten und an den Fokusgruppen teilnehmenden Frauen, allgegenwärtig. Viele der befragten Frauen mit Behinderungen erlebten im Laufe ihres Lebens sehr häufig unterschiedlichste Formen der Gewalt und standen vielen Barrieren, aber auch hilfreichen Faktoren bei der Suche nach Unterstützung gegenüber.

Ziel dieses Kapitel ist es, aus dem Blickwinkel der Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, einen Einblick in ihre Sichtweisen, Erfahrungen und Lebenswelten in Österreich zu geben. Im Zuge der Interviews und Fokusgruppen mit insgesamt 27 Frauen[4] konnte ein sehr umfassendes Bild von Gewalterfahrungen in Hinblick auf unterschiedliche Lebensphasen und Unterstützungsstrukturen sowie Barrieren in Österreich gezeichnet werden. Zudem erarbeiteten die Frauen eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen auf unterschiedlichen Ebenen.

Diese Gewaltbeschreibungen und Verbesserungsvorschläge bilden die wichtigste Grundlage, um die Situation von Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, besser zu verstehen, öffentlich zu thematisieren und zu verbessern.

4.1 Definition und Formen der Gewalt

Was versteh ich unter Gewalt? Ich kann‘s einerseits definieren: es gibt körperliche, seelische Gewalt. Das ist die Definitionsgeschichte. Vom Gefühl her: es verletzt. Ich denke darüber länger nach. Das ist jetzt nichts, was nach 5 Minuten erledigt ist. Das ist ein Gefühl, das bleibt. Das bleibt gespeichert, wenn man sich ohnmächtig und unterlegen fühlt.“ (LNR11, S.2)

Sowohl die Teilnehmerinnen der Fokusgruppen als auch die interviewten Frauen definieren Gewalt als sehr vielfältig in der Ausprägung und Ausgestaltung. Gewalt ist für viele Frauen mit Behinderungen allgegenwärtig und hat substantiellen Charakter.

Gewalt ist es für mich dann, wenn ein Mensch die Situation ausnutzt, um über einen anderen Menschen in irgendeiner Form zu herrschen – auf körperlicher Ebene und psychischer Ebene – und um andere in irgendeiner Form zu unterdrücken und so einen Lustgewinn an Herrschaft zu haben. Also, ich glaube, das ist vor allem für mich ganz wichtig, wenn es eine psychische Geschichte ist. Also für mich ist z.B. das schon Gewalt: heute war ich in der Stadt mit dem Rollstuhl unterwegs und es gibt mir wer den Vortritt und greift mich an. Gewalt ist für mich eine absolute Grenzverletzung. Nur weil ich im Rollstuhl sitze, braucht er mich nicht angreifen. Ich bin sehr, sehr sensibel was Gewalt betrifft. Ja, Machtausübung ist es für mich vor allem.“ (LNR09, S.4)

Nach Meinung vieler der befragten Frauen gibt es keinen Ort, an welchem nicht Gewalt an Frauen mit Behinderungen ausgeübt wird. Zu Gewalterfahrungen kommt es häufig im eigenen Haushalt (durch Familienmitglieder und den Partner/die Partnerin), in der Schule oder in anderen Ausbildungsstätten (durch MitschülerInnen und AusbildnerInnen), am Arbeitsplatz (durch MitarbeiterInnen und Vorgesetzte), in Einrichtungen, Heimen und Institutionen der Behindertenhilfe (durch BetreuerInnen, SozialarbeiterInnen, andere Menschen mit Behinderungen), sowie im Gesundheitssystem (durch ÄrztInnen, PflegerInnen) oder auch im Alltag und in der Freizeit (durch Persönliche AssistentInnen, NachbarInnen, FreundInnen und fremde Personen).

In allen Fokusgruppen und Interviews wurden unterschiedliche Formen der Gewalt aufgezählt, welche von Diskriminierung im Alltag bis hin zu physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt reichten. Manche Frauen unterschieden explizit zwischen Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Beeinträchtigungen und Behinderungen, wobei oftmals die Nähe zu Gewalt betont wird bzw. auch als Form der Gewalt verstanden wird. Viele Frauen ziehen die Grenzen zwischen Gewaltformen nicht so genau. Trotzdem wird im folgenden Text der Versuch unternommen, die sicherlich ineinander verschränkten Formen der Gewalt getrennt darzustellen und zu erörtern, um die vielen Facetten und Ausgestaltungen von Gewalt verdeutlichen zu können.

  • Physische Gewalt

    Physische oder auch körperliche Gewalt ist von den meisten befragten Frauen die Form der Gewalt, welche sich für sie am klarsten definieren lässt. Die an den Fokusgruppen und Tiefeninterviews teilnehmenden Frauen erfuhren sehr häufig physische Gewalt an unterschiedlichsten Orten und in unterschiedlichsten Lebensphasen (siehe Kapitel 4.2.). Zu physischer Gewalt gehören für die befragten Frauen beispielsweise angespuckt zu werden, Schläge, Tritte, Vernachlässigung, unterlassene Hilfeleistung, Zwangssterilisation und erzwungene Abtreibung.

  • Sexualisierte Gewalt

    Sexualisierte Gewalt wird von einem Großteil der befragten Frauen als Form der Gewalt genannt, die sie auch selbst bereits im Laufe ihres Lebens erfahren mussten (siehe Kapitel 3.2.). Diese Form der Gewalt reicht für die Frauen von sexueller Belästigung (verbal und körperlich), sexuellen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigung. Sexualisierte Gewalt scheint jedoch je nach Frau und Beeinträchtigung unterschiedlich definiert bzw. wahrgenommen zu werden. Geschildert wird beispielsweise von einigen Frauen, dass sexualisierte Gewalt von manchen Frauen mit Lernschwierigkeiten nicht als Gewalt wahrgenommen wird, da keine körperliche Gewalt („er hat mich ja nicht geschlagen“) im Spiel war. Hier fehle häufig das Wissen und Bewusstsein für Gewalt und die Wahrnehmung von Grenzen sowie die Fähigkeit, „Nein“ sagen zu können.

    Einige der befragten Frauen definieren darüber hinaus Gewalt in Institutionen als eine Form der Gewalt, die sie ertragen mussten. Die TäterInnen gehörten unterschiedlichen Berufsgruppen an, darunter PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, PflegerInnen.

    In der Einrichtung war was mit einem Sozialarbeiter und was mit dem Pfleger. Wie ich in des N.N. (Einrichtung) gekommen bin, da haben sie alle gewitzelt: „des ist ein Puff für Invalide“. […] Und ich weiß, ein Pfleger ist oft einmal bei wem aus dem Zimmer gekommen, wo ich mir gedacht hab – waren ja viele Frauen mit geistiger Behinderung dort auch –, die haben ja gar keinen pflegerischen Bedarf. Was hat er denn da drin getan? Da hab ich mir damals aber nichts weiter gedacht dabei, da war ich auch noch so naiv, was das angeht. […] Und bei dem, der ist dann später mal drangekommen, der ist wegen einem Vorfall dann wirklich verurteilt worden. Der dürfte sich offensichtlich wirklich an den Frauen vergriffen haben. [...] Aber trotzdem natürlich hinterlässt das irgendwelche Spuren oder halt einfach ein großes Misstrauen, Einrichtungen gegenüber. Wenn sie glauben, du bist wehrlos, dass sie sich dann einfach irgendwie alles trauen können und der Meinung sind, dass ihnen eh nichts passiert. Dass sie mit dir tun können, was sie wollen. […] (LNR05, S.23-28)

  • Psychische Gewalt

    Für viele der interviewten und an den Fokusgruppen teilnehmenden Frauen gehört psychische Gewalt klar zum Gewaltbegriff. Frauen erwähnen unterschiedliche Formen von psychischer Gewalt, wie Geringschätzung und Missachtung der Privatsphäre, Drohungen, Freiheitsberaubung, Unterdrückung, unter Druck gesetzt werden (beispielsweise etwas tun müssen, was nicht gewollt wird), Erniedrigungen, Beschimpfungen, die sich u.a. ausdrücklich auf die Art der Beeinträchtigungen beziehen, und Beleidigungen (beispielsweise als „Hure oder Sozialschmarotzer“ diffamiert zu werden). In der Fokusgruppe der Frauen mit Lernschwierigkeiten wurden vorwiegend Mobbing und Zwang thematisiert. Zudem beschreibt eine befragte Frau, dass viele Frauen mit Lernschwierigkeiten nicht über ihr sexuelles Leben verfügen können und fremdbestimmt sind, was in ihren Augen eine Gewalterfahrung darstellt.

    […] „Gewalt ist so … wie ein Zustand, wo ich als Frau keine Möglichkeit habe, als Frau zu leben. Wo ich meiner geistigen und körperlichen Freiheit beraubt bin.“ (LNR16, S.2)

  • Strukturelle Gewalt

    Sehr häufig wurden Erfahrungen der Fremdbestimmung, Diskriminierung und Einschränkung der Teilhabe als Formen von Gewalt hervorgehoben oder sogar als Ausgangspunkt für Gewalt angesehen: „Gewalt beginnt für mich dort, wo ich von jemanden fremdbestimmt werde.“

    Viele der interviewten Frauen nennen auf die Frage nach ihrem Gewaltverständnis einerseits konkret strukturelle Gewalt als eine Form von Gewalt, der sie ausgesetzt waren und sind, und andererseits wird diese Form der Gewalt während anderer Fragen immer wieder angesprochen.

    […] „Und … ja, vieles, es gibt viele Arten von Gewalt, eben wie gesagt … und vieles ist halt auch strukturell bedingt, dass man halt irgendwie rein gepresst wird in Schemen, die, die nicht die eigenen sind, so wie Strukturen oder solche Sachen. Da geht es zum Teil um sehr, sehr gewaltsame Geschichten“ (LNR05, S.1)

    Und auch in den Fokusgruppen wurde strukturelle Gewalt häufig thematisiert. Eine Gruppe spricht über die Diskriminierung seitens der Gesellschaft und Politik, wenn es um die eigene Familienplanung und Adoption von Kindern geht. Eine andere Fokusgruppe betont die schwierige Arbeitsmarktsituation insbesondere von Frauen mit Behinderungen und deren erschwerten Zugang zu Beschäftigung. Thematisiert werden auch die vielen baulichen und einstellungsbezogenen Barrieren (z.B. Menschen mit Behinderungen werden als Zielgruppe bei Veranstaltungen nicht mitgedacht), welche eine umfassende und gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben verhindern.

  • Diskriminierung und Gewalt

    Bei einigen Interviews wurde die Grenzziehung zwischen Diskriminierung und Gewalt ausführlich erörtert. Nur wenige der befragten Frauen sehen einen klaren Unterschied zwischen den zwei Bereichen, manche Frauen empfinden Diskriminierung als Form von Gewalt bzw. als ineinander übergehend.

    Ich sag, oft geht es eh ineinander über. […] Das ist so eine Grenzziehung, die sicher nicht sehr messerscharf ist.. […] Das fließt einfach alles ineinander für mich. […] Und ich denk mir, das muss diejenige für sich selber definieren, die es betrifft. Weil die Grenzen werden bei jeder anders ausschauen. Es hat sicher mit allen möglichen Faktoren zu tun, wie man etwas sieht, erlebt oder empfindet.“ (LNR05, S.2-3)

    Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Diskriminierung von der Mehrheit der Frauen als ein Bereich von struktureller oder auch psychischer Gewalt angesehen wird. Diskriminierung erfahren Frauen mit Behinderungen vor allem durch soziale, bauliche und strukturelle Barrieren und Benachteiligungen in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen. Oft fehlt es an notwendiger öffentlicher Sensibilisierung hinsichtlich der Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Behinderungen, ihnen eine gleichberechtige und inklusive Teilhabe zu ermöglichen. Wenn von den befragten Frauen ein Unterschied zu Gewalterfahrung gesehen wird, so sind manchmal die Auswirkungen der Diskriminierung mit jenen einer Gewalterfahrung vergleichbar.

    […] „.Ja, ganz ein großer Unterschied. Diskriminierung hat meistens mit „nicht daran denken“ zu tun, dass jemand ausgeschlossen ist zum Beispiel, dass ich wo nicht rein komme, weil keine Rampe da ist. Da hat wer nicht dran gedacht. Also Diskriminierung hat viel mit nicht dran denken zu tun. […] Also das ist schon für mich eine Grenze der Gewalt. Wenn ich wo nicht reinkomme, weil keiner dran denkt, oder weil sie sagen: „Behinderte kommen eh nicht, das sind eh nur ein paar“. Das ist für mich…ich fühl mich ähnlich wie nach einer Gewalterfahrung, so ohnmächtig. Ich kann nichts tun. Ich kann einen Brief schreiben, Email, aber dann denk ich mir, es ist so viel verlorene Energie. Es ist schon für mich eine Form von Gewalt, einfach das nicht teilhaben können. Ja sicher eine Form von Gewalt, aber da ich 30 Kilo mehr hatte und dann beim Einkaufen, wo man Schlange gestanden ist und ich gefragt hab, ob ich vor darf, weil ich nicht so lange stehen kann. Dann haben halt so Leute gesagt: ‚die Blade soll abnehmen, dann ist sie nicht mehr behindert‘. Das und bei Behindertenparkplätzen wird genau geschaut, warum kann die aussteigen und sich in den Rollstuhl reinsetzen, also diese Blicke. Dieses Eingeschätzt-werden.“ (LNR09, S.4;7f)

    Inwieweit diese sehr unterschiedlichen Formen und Ausgestaltungen von Gewalt und Diskriminierungen in den einzelnen Lebensbiographien, unterteilt nach unterschiedlichen Lebensphasen, zum Ausdruck kommen, wird nun im Folgenden eingehender erörtert.

4.2 Gewalterfahrung im Lebenslauf

Gewalterfahrung kann nicht losgelöst vom individuellen Lebenslauf, der Lebenssituation und vom Alter betrachtet werden. Aus diesem Grund ist es das Ziel, die Gewalterfahrungen in Bezug auf die individuellen Biographien der Frauen zu erörtern. Die folgenden Ausführungen unterteilen sich dabei in die Lebensphasen Kindheit und Jugend sowie frühes und spätes Erwachsenenalter und basieren auf 16 biographischen Tiefeninterviews mit Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, die Gewalt erfahren mussten.

Gewalt manifestiert sich dabei in unterschiedlichsten Ausformungen, wie physische, sexualisierte, psychische, strukturelle Gewalt und Diskriminierung (siehe Kapitel 4.1.).

Alle interviewten Frauen erleben physische, psychische, strukturelle Gewalt und Diskriminierung. Das Spektrum der körperlichen Gewalt reicht von Ohrfeigen, Bespucken und Anrempeln bis hin zu sehr schweren Formen wie Verprügeln, Tritte, Würgen und Mordversuchen durch Ersticken. Am Häufigsten wird physische Gewalt vom Vater (5 von 19 Nennungen), dann vom Ehemann (3), Ex-Freund (2), Mutter (2) und anderen Personen - je eine Nennung – Freundin, ErzieherIn, Heimmitarbeiter, Großvater, Großmutter, Stiefmutter, Unbekannter ausgeübt. Jede Frau erlebt psychische Gewalt, z.B. durch Beschimpfungen, Drohungen, Abwerten, Stalking (z.B. durch Kursteilnehmer, Freundin), Liebesentzug und Erzeugung von Schuldgefühlen (Eltern, Partner, Ehemann), Mobbing (Schule, Lehre, Arbeit), und vieles mehr. Ein überwiegender Teil der Frauen – 11 von 16 – haben sexualisierte Gewalt in der Kindheit und/oder im früheren Erwachsenenalter erlebt. Die Schilderungen reichen von sexuellem Missbrauch, wie Berühren von Genitalien über sexuelle Belästigung im öffentlichen Bereich (U-Bahn, in einer Seitengasse) und in der Freizeit (Massage) bis hin zu schwerer sexualisierter Gewalt in Form von jahrelangen sexuellen Missbräuchen und Vergewaltigungen (Vater) verbunden mit Abtreibungen. Die Täter sind beinahe alle im nahen sozialen Umfeld der Frauen zu finden, vier von elf Nennungen sind Väter, zwei Ex-Freunde und jeweils ein Onkel, Nachbar, Bekannter, Pfleger und Masseur.

Strukturelle Gewalt und Diskriminierung bestimmen und beeinträchtigen das Leben von allen interviewten Frauen mit Behinderungen in allen Phasen ihres Lebens. Der überwiegende Teil der Frauen berichtet darüber, dass sie sich oft durch die Abhängigkeit von anderen Menschen/Institutionen eingeschränkt fühlen und dass die ungleichen Machtverhältnisse zu Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt führen. Sie werden oft ausgegrenzt, können nicht teilhaben bzw. mitbestimmen und haben keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu vielen Lebensbereichen, z.B. zu öffentlichen Veranstaltungen, die nicht barrierefrei sind oder zu Unterstützungsangeboten, weil diese für sie nicht zugänglich sind.

4.2.1 Gewalt in der Kindheit und Jugend

Bei den meisten der 16 interviewten Frauen mit Behinderungen beginnen die Gewalterfahrungen bereits in der frühen Kindheit. Etwa die Hälfte der Befragten erzählen, dass sie körperliche Gewalt seitens der Eltern und Großeltern sowie Stiefmutter erlitten haben. Viele berichten davon, dass sie „oft“, „immer“ und bei jeder Kleinigkeit geschlagen wurden. Eine Frau erzählt, dass ihr Kopf in kaltes Wasser gesteckt wurde, eine andere, dass die Prügel so heftig waren, dass sie stets mit blauen Flecken übersät war.

Also früher hat meine Mama oft zur Weihnachtszeit so Torten gemacht und Kekse gebacken und nur weil ich von der Speis eine Tafel Schokolade genommen hab, hat er (Vater) mich mit dem Regenschirm verdroschen, so dass er abgebrochen ist.“ (LNR06, S.8)

Auf der anderen Seite war ich natürlich Weltmeisterin im Vertuschen der körperlichen Züchtigung. Wir haben im Turnunterricht dicke Strumpfhosen anziehen müssen, von der Mutter aufgetragen, dass man die Striemen nicht sieht vom Ledergürtel. Weil man auch gemerkt hat, das ist nicht normal.“ (LNR09, S.14)

Auch Krankenhausaufenthalte und Arztbesuche waren oft die Folge von körperlicher Gewalt. Fast alle Frauen berichten, dass sie große Angst hatten, darüber zu reden, um nicht noch mehr der familiären Gewalt zu Hause ausgesetzt zu sein. Eine gehörlose Frau schildert über ihre Gewalterfahrung mit ihrem Großvater:

Der Großvater wollte das einzige Enkelkind fördern, ich sollte hören können. Ich hab damals ein Hörgerät um den Hals getragen, mit den Kabeln ins Ohr. Da hat er mir manchmal draufgeschlagen auf das Ohrstück und dann habe ich geblutet. Es war so furchtbar. Und der Keller mit den Hörtests! Ich hatte solche Angst. Es war so unheimlich für mich als kleines Kind. Und der Großvater hat mich dort hineingezerrt.“ (LNR15, S.2)

Neben dem Elternhaus war auch manchmal die Schule/ das Heim ein Ort, an dem Gewalt ausgeübt wurde. Eine Interviewte beschreibt, wie sie von MitschülerInnen geohrfeigt oder aus dem Rollstuhl geschmissen wurde.

Ja, in der Schule war es eine Zeitlang massiv. Da bin ich auch körperlich angegangen worden. Sprich, […] Ohrfeige ist schon mal gewesen oder mich mit dem Rollstuhl von hinten nehmen und rausschmeißen, ohne dass ich das vorher sehen konnte. Oder z.B. auch, des Öfteren bin ich angespuckt worden“ (LNR10, S.5f)

Anzumerken ist jedoch, dass von einigen Frauen die Schule auch als Zufluchtsort angesehen wurde.

Ich hab vor paar Jahren aus dieser Zeit des Internates eine Kollegin getroffen, die gesagt hat: `Mah, das war damals furchtbar´. Sie hat im Ärgsten davon geredet und ich hab gesagt: `Naja, ich hab es eigentlich als Himmel auf Erden erlebt´. In der Nacht nicht Angst haben zu müssen, dass er mich vergewaltigt, aus dem Bett zerrt und schlagt. Für mich war es schön.“ (LNR09, S.17)

Sexualisierte Gewalt in der Kindheit spielt bei fünf von 16 Frauen eine massive Rolle. Die Gewalterfahrungen reichen von sexuellen Berührungen „…er (Vater) zwang mich, mit seinem Penis zu spielen. Das war blöd…“ (LNR14, S.3) bis hin zu sexuellem Missbrauch durch den Nachbarn „...dann bin ich eben für 10 Minuten noch zum Nachbarn hinein, weil er hat mich halt mit so einem Riegel Schokolade gelockt und hat gesagt, dass ich ihm seinen Penis blasen soll“ (LNR06, S.5). Drei Frauen berichten, dass sie vom Vater sexuell missbraucht und vergewaltigt worden sind. Eine Frau war dieser massiven sexualisierten Gewalt jahrelang ausgesetzt, wurde öfter schwanger und erlebte mehrfache Abtreibungen durch die Mutter.

„…er hat mich einfach am Bett festgehalten. Ich hab einen Schuss von damals noch, ich glaub das ist mir geblieben. Achtarmige Tiere, Spinnen. Ich habe Furcht. Und mir ist einfach vorgekommen er hat acht Arme und hat mich niedergehalten und ich hab mich gewehrt und so und es ist mir nicht gelungen, weil er ebenso viele Hände gehabt hat. Und ist in mich eingedrungen. Und ich hab das, also echt schlimm, aber ich hab mich nicht schreien getraut, weil er mir den Mund zugehalten hat auch und außerdem, wenn ich kurz, wenn du was sagst dann, dann schlag ich dich. Ich hab mich nichts sagen getraut.“ (LNR07, S.6/7)

Ich hab vor meiner ersten Menstruation mein erstes Kind gekriegt. Ich war schwanger mit dem ersten Eisprung. Das war aber ganz weg aus meinem Gedächtnis, das ist erst als junge Erwachsene 23-jährige Frau, sind die ersten Erinnerungen gekommen. Gott sei Dank hatte ich einen sehr, sehr guten Therapeuten.“ (LNR09, S.15)

Alle Frauen haben Formen von psychischer Gewalt in ihrer Kindheit erlebt. Viele Frauen berichten über mangelnde Liebe und Zuneigung seitens der Eltern oder Bezugspersonen, Erzeugung von Schuldgefühlen, Drohungen, Demütigungen, Angstmachen, Abwerten, Vernachlässigung und Beschimpfungen im familiären, aber auch im schulischen Kontext beispielsweise durch Mobbing.

Eine Frau, die in einem Heim aufgewachsen ist, berichtet von gewaltsamen „erzieherischen Maßnahmen“, wie „zum Essen gezwungen werden“, „Sprechverbot“, alltägliche Ohrfeigen, etc., denen sie selbst und andere Kinder oft jahrelang ausgesetzt waren.

Und was auch noch arg war, war das Sprechverbot und zwar Sprechverbot nicht nur in der Gruppe, dass die ganze Gruppe nicht mit dir reden darf, sondern alle, in der Schule. Da dürfen sie dich nicht erwischen, dass irgendjemand mit dir redet. Die ganze Schule, niemand hat da mit dir reden dürfen. Eine Woche lang oder so. (…) Ja, das war wirklich arg … und da ist eine Freundin von mir neben mir gelegen, die hat so spastische – eine zerebrale Behinderung gehabt und sie hat sich wirklich total geplagt immer mit dem Bett und wir haben eh immer geschaut, dass wir, gleich wenn sie aufgestanden ist, geschwind das Bett für sie machen und da hab ich ihr halt immer geholfen den Lacken hineinzustecken. Und wenn sie das gesehen haben, dann ist das Bett noch einmal aufgerissen worden und hat sie es selber machen müssen.” (LNR05, S.7)

Einige Frauen sprechen darüber, dass sie während ihrer Kindheit das Gefühl hatten, nirgends dazuzugehören, auch innerhalb der Familie erhielten sie oft keine eindeutige Rolle zugeschrieben. Sie hatten keine Möglichkeit, sich als Mädchen zu fühlen, wurden sexuell nicht aufgeklärt und konnten die Erfahrungen ihrer Gleichaltrigen nicht teilen.

Und ich hab eindeutig, auch was die Erziehung angeht, ein Außenseiterrolle gehabt (…) aber früher wollte ich halt einfach zu den Mädels dazu gehören. Man hat halt einfach damals überhaupt nicht dran gedacht, dass das auch einmal erwachsene Männer und Frauen werden und dass die genauso wissen sollen und wollen, wie man tut und wie man eben, was man vielleicht nicht tun soll, wenn man eine Beziehung möchte oder so. Oder Familie war ja kein Thema, dass du einmal Familie hast, Themen wie Kinder, Sexualität und Empfängnisverhütung oder eben auch, wo deine Grenzen sind, dass du auch nein sagen darfst, wenn irgendwas nicht passt oder dir irgendwer zu nahe kommt. Ich meine, das wären Themen, über die wir genauso hätten aufgeklärt werden müssen. Nicht?“ (LNR05, S.18/19)

4.2.2 Gewalt im früheren und späteren Erwachsenenalter

Für viele Frauen setzen sich unterschiedliche Formen von Gewaltausübung im frühen und späten Erwachsenenalter (ab 13 Jahren bis 70 Jahre) unvermindert fort.

Auch in der Adoleszenz erleben einige Frauen nach wie vor physische Gewalt durch den Vater und in selteneren Fällen durch die Mutter, wohingegen sie nun auch der körperlichen Gewalt durch Partner, in einem Fall durch einen Unbekannten bzw. auch durch ältere Kinder und später durch Ehemänner ausgesetzt waren. Einige wenige Frauen jedoch erlebten eine großteils gewaltfreie Kindheit und litten erst in einer späteren Lebensphase unter massiver Gewalt. Eine Frau berichtet beispielsweise von einem Mordversuch durch ihren Ehemann:

Er ist zornig geworden und in seinem Gesicht habe ich gesehen, dass etwas komisch ist. Ich habe Angst bekommen, durfte das aber nicht zeigen. Also sagte ich, dass er sich beruhigen solle. Er hat dann begonnen mit der Faust auf die Tasten des Klaviers zu schlagen. Aber ich liebe das Klavier und habe ihn gebeten aufzuhören. Da hat er dann gesagt: „Jetzt töte ich dich!“ Sein Gesicht war dabei ganz verzerrt. Ich bin aufgesprungen und da war der Couchtisch und ich bin um den Tisch herumgelaufen, aber er war groß und hatte lange Arme. Ich bin dann ausgerutscht und auf das Sofa gefallen. Da hatte er mir seine Hände schon um den Hals gelegt und würgte mich. Ich konnte ihn nicht erreichen, weil seine Arme so lang waren. Ich hatte aber im Selbstverteidigungskurs gelernt, wie ich mich wehren konnte. Ich schlug ihm beide Hände von unten nach oben weg. Er war ganz überrascht und schrie: „Wo hast du das gelernt?“ (LNR16, S.8)

Viele Frauen beschreiben, dass ihre Abhängigkeit von anderen Menschen und auch Institutionen in vielen Fällen Diskriminierung und Gewalt förderte bzw. verstärkte:

Ich war immer wahnsinnig dankbar, dass er mich so unterstützt hat und alles gemacht hat und dann hat er massiv Gewalt ausgeübt. Da die Abhängigkeit für ihn ein Lustgewinn war, dass ich ihn brauche. Das hat er mir im Nachhinein gesagt, wie ich den Rollstuhl gekriegt hab. Dass es für ihn schwierig war, dass ich ihn nicht mehr brauche, um die Wohnung zu verlassen.“ (LNR09, S.5)

Über familiäre Gewalt hinaus erleben Frauen mit Behinderungen auch im öffentlichen Raum physische Gewalt. Eine blinde Frau schildert, wie sie auf einer öffentlichen Straße von älteren Kindern attackiert wurde:

Da haben mich größere Kinder, zwischen Kind und Jugendlichen, verfolgt, gerempelt, geschubst, beschimpft, am Heimweg. (…) Ja einmal beim Aussteigen aus der Straßenbahn, am Zebrastreifen, geschubst, gedrängelt, geschimpft, ekelhaft böse gelacht. Wirklich scheußlich.“ (LNR11, S.22)

Neben körperlicher Gewalt erleiden sieben Frauen im Erwachsenenalter sexualisierte Gewalt in all ihren Facetten. Unter den Tätern befinden sich nach wie vor Väter, hinzukommen Ex-Freunde, Bekannte, Pfleger, ein Masseur und ein Unbekannter. Eine Frau schildert, dass sie von ihrem Ex-Freund zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurde und eine andere, dass ein Bekannter sie sexuell missbraucht und mit Geschenken bestochen habe:

Das war Gewalt, der hat mich halt sexuell missbraucht im Stiegenhaus und hat gesagt ich kauf dir eine Tasche z.B. oder er hat mich mit Ohrringe gelockt und hat mich erpresst, sexuell missbraucht.“ (LNR04, S.7)

Eine andere Frau erzählt von einem sexuellen Missbrauch durch einen Pfleger in einer Ausbildungsstätte:

Und so schnell hab ich gar nicht schaun können, liegt er bei mir im Bett herinnen. War das der Pfleger. Und er hat‘s Piepserl mitgehabt und ja, er wollt halt eindeutig was von mir und dann sag ich, er soll sich schleichen und dann hat er halt immer meine Hand genommen…, „hast leicht noch nie ein Glied in der Hand gehabt, hast leicht überhaupt noch nichts mit einem Mann gehabt und willst das nicht einmal wissen“, also so irgendwie. Ich mein er ist noch nicht über mich hergefallen so richtig arg, aber ich möchte nicht wissen wie weit das noch geführt hätte, also es hat dann jemand geläutet und er ist dann auch tatsächlich gegangen.“ (LNR05, S.22)

Darüber hinaus schildert eine Frau, dass ein Masseur, der zweimal im Monat in die elterliche Wohnung kam, um sie zu massieren, sie sexuell belästigt habe. Die Eltern schenkten dem Masseur, der ein guter Freund der Familie war, mehr Glauben als ihr. (LNR13, S.4). Auch in der Öffentlichkeit besteht für Frauen die Gefahr, sexuell belästigt zu werden. Eine Frau wurde mit dem Vorwand, auf einen Kaffee gehen zu wollen, von einem Unbekannten in eine Seitengasse gelockt und sexuell berührt und ihr wurde von einem Unbekannten in der U-Bahn zwischen die Beine gefasst. (LNR02, S.7/8)

Alle Frauen im Erwachsenenalter können zudem über verschiedene Ausformungen psychischer Gewalt berichten. Eine Frau schildert, wie sie unter Beschimpfungen von Gleichaltrigen in der Adoleszenz gelitten hat:

Na, gut, es tut psychische und körperliche Gewalt weh, ja, also das ist kommt drauf an, wenn man sich im Wortschatz vergreift, und man schimpft einen Schlampe und du Hure oder sonst dergleichen, ich mein, das ist schon nimmermehr ok.” (LNR02, S.4)

Vier Frauen lebten in einer Ehe, in der sie jahrelang unter körperlicher aber auch psychischer Gewalt litten, bevor sie sich von ihren Ehemännern scheiden ließen bzw. sich trennten. Eine gehörlose Frau berichtet, dass sie von der Frau, mit der sie über 10 Jahre befreundet war, eine Morddrohung erhielt:

Vor einem halben Jahr habe ich dann die Panik bekommen, weil ich dann ein SMS weitergeleitet bekommen habe, in dem sie gedroht hatte, mich umzubringen, weil ich sie nicht hineinlasse. Da habe ich wirklich Angst bekommen. Das war für mich die schlimmste Bedrohung, die ich je erlebt habe. Ich bin dann in die Beratung gegangen, das hat mir geholfen, weil ich mich hilflos gefühlt habe.“ (LNR15, S.14)

Eine andere Frau mit Mobilitätseinschränkung erlebte ihre frühe Erwachsenenphase hinsichtlich ihrer sexuellen Entwicklung und ihres Wunsches nach einer Beziehung/ Partnerschaft als sehr schwierig und fühlte sich ausgegrenzt.

Sonst hab ich irgendwie als gewaltsam erlebt, dass ich durch meine Behinderungsform bei den Burschen irgendwie so wenige Chancen gehabt hab und dass sie mich dann oft auch hergestellt haben, wie wenn ich nicht ok wäre. Der Teil der Inkontinenz ist ein Teil meiner Behinderung und wie sagst du das? Ich war halt einfach auch völlig unbeholfen, wie sag ich das, wann sag ich was? Und ich hab mich ununterbrochen in irgendwen verliebt und dann hab ich halt doch einige schlechte Erfahrungen gemacht... ich hab‘s halt als sehr brutal empfunden irgendwie.“ (LNR05, S.16)

Mobbing war ebenfalls für einige Frauen ein großes Thema, im frühen sowie späten Erwachsenenalter. Eine Frau schildert ihre Erfahrungen während ihrer Lehre:

In der Lehrzeit bin ich runter gedrückt worden, dass ich das und das eh nicht schaff. Weil da wollt mich der Chef schon alleweil raushauen. Die Lehrerin, oder die Vorgesetzte, die für die Lehrlinge zuständig ist, hat deppert über mich dahergeredet.” (LNR06, S.8)

Eine gehörlose Frau berichtet auch sehr konkret darüber, dass ihr an ihrem Arbeitsplatz beinahe immer Aufgaben unter ihrer tatsächlichen Expertise und ihren Fähigkeiten zugeteilt werden. Sie fühlt sich unterfordert. Weiters werden Meetings, an welchen sie teilnimmt, meist so knapp angesetzt, dass es für sie unmöglich ist, eine DolmetscherIn zu organisieren.

Beim Arbeiten gibt es nie etwas Neues, es ist immer Routine. Ich fühle mich wie ein Esel dort. Ich erlebe immer wieder, dass man mir nichts zutraut und dass ich an Schranken stoße. […] Das ist das gleiche wie früher als Kind, da traute man mir auch nichts zu. Die Einstellung ist die gleiche wie damals. Da fehlt es an Aufklärung. Oft bekomme ich ganz einfache Arbeiten, die ich ganz leicht machen kann und die mich langweilen. […] Bei den wenigen Teamsitzungen habe ich keine Dolmetscher, da bekomme ich nur das Protokoll zum Lesen, aber dadurch verpasse ich viel. Leider werden die Teamsitzungen immer kurzfristig angesetzt, da ist kein Dolmetscher mehr zu bekommen.“ (LNR14, S.8 und S.12)

Zwei Frauen berichteten auch von Stalking-Vorfällen:

Einer, der was, was mich gestalkt hat, der da hab ich mich gottseidank dann beim Nachbarn verstecken können. Weil der, da waren wir bei der Meisterschaft und … der wollt mich dann nicht in Ruh lassen.” (LNR06, S.12.)

Neben den Erfahrungen, Ziel von verbalen Attacken zu werden, schildert eine Frau wie erniedrigend es für sie ist, wenn über sie und nicht mit ihr geredet wird:

Mit Gewalt, nein, in dem Sinn nicht, aber obwohl man kann das schon fast als Missbrauch nehmen. Und zwar meinen viele Leute immer noch, dass man wenn man körperlich behindert ist auch geistig behindert ist. Wenn ich mit meinem ... Lebensabschnittspartner spazieren geh oder so, dann redens mit ihm über mich. Dann sag ich, könnts aber mich auch fragen, oder? Ah, Sie können reden?“ (LNR07, S.19)

Schließlich empfindet eine blinde Frau mit Behinderungen die aggressive Stimmung in der Öffentlichkeit als sehr besorgniserregend und belastend:

Es ist momentan eine Aggression in der Bevölkerung drin. Die fängt in dem Alter an und das ist scheußlich. Es gibt auch urviele nette Leute. Aber das spürst richtig, wie aggressionsgeladen die Stimmung ist, wenn man unterwegs ist. Ich verstehs nicht wieso. Was hab ich davon, wenn ich jetzt einen Nachbar, der mir auf die Zehen steigt, gleich zur Sau mach. Oder einfach nur weil derjenige da ist. Ich verstehe es nicht. Wenns nicht ich bin, ists eine ältere Dame, oder eine Frau mit Kopftuch.” (LNR11, S.23)

Fast alle Frauen mit Behinderungen fühlen sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt, ausgeschlossen, nicht mitgedacht, übergangen und nicht ernst genommen. Strukturelle Gewalt steht bei vielen Frauen an der Tagesordnung. Eine Frau schildert es so: „…Wir werden behindert und wir sind nicht behindert, das stimmt einfach sehr oft.“ (LNR09, S. 20). Diskriminierungserfahrungen gibt es in unterschiedlichen Situationen, so auch im Gesundheitsbereich. Eine blinde Frau berichtet von ihrer Erfahrung in einer psychiatrischen Klinik: Abgesehen davon, dass bauliche Adaptierungen (wie Leitsysteme) fehlten wurde sie mit der Erklärung nach Hause geschickt, dass der erhöhte Aufwand für Assistenz nicht bewerkstelligt werden könne.

Ich hab vor 2 Jahren einen Rückfall gehabt. Mich haben sie ja tagelang überredet, dass ich mal in eine Klinik fahr. Ok, ja, ich hab mich dann wirklich überreden lassen, und dann haben sie mich dann in der Früh in die Klinik gefahren. Ins N.N., dort hat mir die Ärztin erzählt, ja Sie sind blind, wir können Sie nicht von Therapie zu Therapie führen, bleiben Sie in Ihrer gewohnten Umgebung und machen Sie dort Therapie weiter. […] Die hat definitiv gesagt, der erhöhte Pflegeaufwand, den können sie nicht leisten. Ja, sie hat mir eine Hand voll Medikamente gegeben und hat mich wieder heim geschickt.“ (LNR11, S.13)

Derselben Frau sagte ihr Hausarzt, dass sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung ihr Kind nicht erziehen könne.

Eine Frau empfindet beispielsweise die Abhängigkeit von medizinischen Gutachtern, die über finanzielle Zuschüsse bzw. die Berufsunfähigkeit entscheiden, als Form von Gewalt.

[…] „Ein Unfallchirurg und ein Neurologe. […] Ich bin quasi abhängig davon, dass diese zwei Männer anhand von meinen Befunden und das was ich ihnen sage über mich befinden. Das ist auch eine Form der Gewalt, finde ich. Es ist ein irrsinniges Abhängigkeitsverhältnis.“ (LNR09, S.6)

4.2.3 Auswirkungen von Gewalt

Wie wirkt sich diese Vielzahl an Gewalterfahrungen im Laufe des Lebens auf Frauen mit Behinderungen und ihr Umfeld aus? Alle Frauen berichten über Gefühle der Hilflosigkeit, Angst und Ohnmacht. Einige der Frauen empfanden oder empfinden teilweise noch sehr große Wut auf die TäterInnen und manchmal auch auf sich selbst, weil sie in der Gewaltspirale gefangen waren und lange nichts ändern konnten. Das Schweigen, das sich nicht „darüber“ reden trauen, sich allein und isoliert fühlen, ist für sehr viele Frauen ein sehr wichtiges Thema.

Niemandem habe ich davon erzählt, weil ich Angst hatte, dass er mich wieder schlägt, wenn er davon erfährt. Ich musste schweigen. Es war so grausam. (…) Ich glaube heute, dass ich es nicht gesagt habe, weil der Lehrer dann das Jugendamt verständigt hätte und die hätten einen Brief an die Eltern geschrieben, die hätten mich dann für den Verrat geschlagen. Dann hätte ich noch mehr gelitten. Aber wenn das Jugendamt es den Eltern nicht gesagt hätte, sondern uns sofort getrennt hätte, sodass ich die Eltern nie mehr sehe… das wäre besser gewesen.” (LNR14, S.3/7)

Bestimmende Elemente in der Gewaltdynamik sind Schuld und Schuldgefühle, die es Frauen fast verunmöglichen, darüber zu sprechen und Hilfe zu suchen.

Es ist durch die Eltern transportiert worden, sie müssen das machen, weil ich so schlimm bin, deshalb müssen sie mich schlagen. Das hab ich tausende Male gehört und gespürt. Das ist ja diese Schuldspirale, ich bin schuld das ich so bin, deswegen müssen die Eltern so sein, das wollen sie eigentlich gar nicht.“ (LNR09, S.14)

Viele Frauen sind durch ihre Gewalterfahrungen traumatisiert worden und es dauerte – in einigen Fällen viele Jahre - bis das Erlebte, meist mithilfe von therapeutischer Unterstützung in das Bewusstsein gelangte und bearbeitet werden konnte. Einige Frauen berichten, dass es heute teilweise noch schwer sei, mit diesen Traumatisierungen zu leben.

Also ich hab das erst sehr spät realisiert, dass das war. Nicht einmal bei der Geburt von meinem Sohn. Das hat so lang gedauert weil mein Muttermund nicht aufgegangen ist, dann haben sie gesagt der Muttermund ist komplett vernarbt. Nicht einmal da hab ich geschalten. Erst viel später mit vierzig Jahren hab ich erst gewusst, richtig gewusst, was passiert ist. Also mein Unterbewusstsein hat’s vorher noch nicht zugelassen.“ .“ (LNR07, S.7)

Ich hab nach wie vor Panikattacken. Dass diese Traumatisierung von damals eigentlich nie richtig weggegangen ist. Sie ist zwar wesentlich schwacher oder mal stärker, aber nie wirklich weggegangen, die ist nach wie vor präsent. Und ein bestimmter Teil meines Lebens. Traumatisierung hat definitiv stattgefunden und die bestimmt mein Leben.” (LNR10, S.8)

Einige Frauen erzählen von massiven psychischen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wie Depressionen, Essstörungen und Schmerzen, eine Frau berichtet von früheren Suizidgedanken.

Unsicherheit, mangelndes Selbstwertgefühl und fehlendes Vertrauen prägen das Leben vieler Frauen. Dadurch dass Frauen jahrelang – oft seit frühester Kindheit – physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren, sie gedemütigt, beschimpft, erniedrigt und geschlagen wurden, konnte sich schwer Selbstvertrauen bilden bzw. weiterentwickeln. Viele Frauen schildern davon, dass es ihnen schwer fällt, Beziehungen einzugehen und freudvolle Sexualität zu leben – mangels Vertrauen, fehlender sexueller Aufklärung und Angst, verletzt zu werden.

Wir haben durch das, weil ich eben nicht aufgeklärt worden bin, beim Geschlechtsverkehr hab ich zum Beispiel nicht gewusst, wie ich umgehen soll damit. (…) Und ja, durch das, weil ich ja einen Penis mit acht Jahren gesehen hab und Angst vorm Geschlechtsverkehr gehabt hab, die Männer, die halt einen Sex schon haben wollten, die haben das irgendwie nicht ganz verstanden.“ (LNR06, S.7/12)

Um die individuellen Erlebnisse von Gewalt und deren Auswirkungen verarbeiten und mit den Erfahrungen weiter leben zu können, schildern einige Frauen von unterstützenden Faktoren, die ihnen in ihren unterschiedlichen Lebensphasen geholfen haben. Folgendes Unterkapitel widmet sich nun diesen Unterstützungsfaktoren und beschreibt, wie die Frauen entweder aus eigener Kraft heraus und/oder durch formelle oder informelle Mechanismen, der Gewalterfahrung begegneten.

4.3 Unterstützungsfaktoren

Was Frauen in Gewaltsituationen geholfen hat - sie dabei unterstützt hat - aus der Gewaltspirale auszubrechen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ist sehr vielschichtig und oft waren es viele kleine Schritte, die es letztlich ermöglicht haben.

Die Unterstützungs- und Hilfsangebote, die Frauen in Gewaltsituationen geholfen haben, sind auf unterschiedlichen Ebenen zu finden.

Zum einen sind es vor allem einzelne Personen (Familie, Verwandte, FreundInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, mobile BetreuerInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen u.v.m.) und zum anderen Strukturen, wie Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen, wie z.B. Frauennotrufe, Frauenbüro, Beratungsstellen, Selbsthilfe- gruppen, Ninlil (Verein für Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung), Verbände im Behindertenbereich, Polizei und viele mehr. Darüber hinaus sind es oft die Frauen selbst, die aus eigener Kraft Wege gefunden haben, aus Gewaltsituationen auszubrechen und sich entsprechende Hilfe zu holen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Mehrheit der Frauen besonders die Unterstützung einzelner Menschen und deren Engagement hervorhebt. Sieben von 16 Frauen haben die Angebote von Einrichtungen genutzt, wobei sie alle damit sehr zufrieden waren. Die Frauen, die sich noch an keine Einrichtung gewendet haben, gaben als Gründe an, dass sie zu wenig Wissen und Informationen über Hilfsangebote haben oder dass sie befürchten, dass diese nicht für sie zugänglich seien. Alle Frauen halten jedoch Einrichtungen und deren Angebote für Frauen, die Gewalt erfahren haben, für sehr wichtig.

4.3.1 Unterstützung durch einzelne Personen

Viele Frauen empfinden die Unterstützung durch einzelne Personen als sehr wichtig. So sind vor allem FreundInnen für die interviewten Frauen (sieben Nennungen) wichtige UnterstützerInnen und Rettungsanker.

Ja, meine Freunde. Mit denen zusammen habe ich etwas unternommen, sie haben mich besucht oder ich sie. Sie haben sich immer bemüht, mich mit den Kindern abzuholen und haben mich wieder heimgebracht. Das waren alles meine Freunde, er nicht.“ (LNR15, S.11)

Auch sehr häufig (fünf Nennungen) werden LehrerInnen während der Kindheit und Jugend als unterstützend wahrgenommen, indem sie aufmerksam waren, hinsahen oder auch mit kreativen Einfällen den jungen Frauen bzw. Kindern eine Stimme verliehen.

In meiner Zeit in der Hauptschule hab ich ganz eine tolle Lehrerein gehabt. Mein Klassenvorstand, ich liebe sie, immer noch. Die hat das gespürt bei mir. Und sie hat genau richtig gehandelt, sie hat es nicht direkt angesprochen, aber sehr, wie soll ich sagen, sie hat mich nicht bevorzugt, aber sie hat mich, ja. Es war die erste Person, die Acht gegeben hat. Und das hab ich echt geschätzt. (…) Viele Lehrer haben mir sehr wohl geholfen, haben dann nicht weggeschaut und haben mich dementsprechend unterstützt.“ (LNR07, S.6, 9) „Mit fast 8 Jahren kam ich in eine Sonderschule und hatte viele Freunde und eine Lehrerin entwickelte eine Buchstabenzeigetafel und ich konnte mich das erste Mal richtig mitteilen, das war ein riesiger Fortschritt für mich!“ (LNR13, S.3)

Auch innerhalb der Familie waren einzelne Personen sehr unterstützend. Neben den Müttern (vier Nennungen), waren die Pflegeeltern, Kinder oder Großmütter unterstützende Personen in den Familien der Frauen.

Familiär hat es eigentlich einen Zusammenhalt zwischen mir und meiner Mutter gegeben und gibt es nach wie vor. Was meine Familie betrifft, gab es mich und meine Mutter. Es hat uns immer zu zweit gegeben, nie getrennt, wir waren immer zusammen. In der Konstellation hat es uns am meisten gegeben und gibt es nach wie vor.“ (LNR10, S.4)

Eine blinde Frau schildert auch von der großen Unterstützung durch ihren Ehemann, als sie mehrere Jahre unter Depressionen litt.

Der ist seit 13 Jahren bei mir und ist durch sämtliche Depressionen mit mir durch und immer dageblieben.” (LNR11, S.16)

Auch persönliche AssistentInnen, mobile BetreuerInnen, SozialarbeiterInnen und Ärzte/Ärztinnen zählen zu den Personen, die den Frauen in schwierigen Situationen halfen, indem sie sie berieten und stärkten.

„…tollen Arzt gefunden auf Weiterempfehlung, der hat mich damals wirklich zusammengeklopft. Ich war in seiner Praxis und bin dagesessen wie ein Häufchen Elend und der hat mich aufgeklopft und hat gesagt, hey, das machen wir jetzt, da kommen wir durch. Ich bin ein erfahrener Arzt und Sie sind eine starke Frau, da kommen wir durch.” (LNR11, S.16)

Nicht unerwähnt soll aber auch bleiben, dass neben einzelnen unterstützenden Personen und Bezugspersonen auch Tiere (fünf Nennungen) die Rolle übernehmen konnten, die Frauen zu motivieren und schlimme Erfahrungen zu verarbeiten.

Dann hat auch mein Pflegepferd eine große Rolle gespielt (…) damit ich alles leichter verarbeiten kann.“ (LNR10, S.8)

„Mein erster Hund hat mir geholfen. Weil da ging es nicht den ganzen Tag im Bett zu bleiben, nichts mehr zu tun und sich nicht mehr zu rühren.“ (LNR11, S.12)

Eine Frau schildert, dass sie Unterstützung und Stärke in einer religiösen Gemeinschaft erfahren hat.

4.3.2 Unterstützung durch informelle und formelle Mechanismen

Sieben von 16 Frauen berichten in den Interviews, dass sie Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen aufgesucht bzw. kontaktiert haben, beispielsweise ein Frauenhaus, Frauennotrufe, Beratungsstellen, das Frauenbüro (rechtliche Beratung), Ninlil (Verein für Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung) und andere Vereine wie Aktiva und Kinderhilfswerk. Diese wurden häufig über das Medium Internet gefunden. Mit der Beratung bzw. Unterstützung waren alle sehr zufrieden.

Eine Frau berichtet, dass sie nach einem tätlichen Übergriff eines Unbekannten im Stiegenhaus, eine Anzeige bei der Polizei erstattet habe und mit der Behandlung sehr zufrieden war. Daneben machten zwei Frauen positive Erfahrungen im Umgang mit Behörden.

Das Gericht und die Behörde haben mir zugehört und haben mich auch entsprechend ernst genommen. Es hat aber auch solche gegeben, die mich dann belächelt, abgewinkt und runtergetan haben.“ (LNR10, S.7)

Für manche Frauen wurden der (Extrem-)Sport oder die Schule bzw. Ausbildungseinrichtungen mit Internat Zufluchtsorte, um der Gewalt zu entkommen.

Ja. Und dann bin ich eben von der Schule geflüchtet in den Sport. Bin ich auch Extremsportlerin geworden. Also ich war eigentlich immer sportlich unterwegs. Fast nie daheim.“ (LNR07, S.11)

Eine Frau mit einer körperlichen Beeinträchtigung, die ihre Kindheit in einer Einrichtung verbracht hat, erzählt beispielsweise, dass sie ihre Teilnahme an der wöchentlichen Pfadfindergruppe als unterstützend erlebt hat:

Was vielleicht auch noch unterstützend war, was ich schon auch erwähnen möchte, da hat‘s so eine Pfadfindergruppe gegeben, (…) Das war auch so etwas, das ein Stück Normalität war, weil ich das Gefühl gehabt hab, die tun ganz normal mit uns und die fordern uns auch und die machen mit uns liebe Sachen. Lagerfeuer z.B., in dem wir Kartoffeln braten konnten, gesungen haben wir viel und man konnte verschiedene Abzeichen machen, wenn du irgendwas dafür gelernt oder gemacht hast, (lacht) so wie´s bei den Wichteln und Wölflingen so ist. Und da hab ich mich recht reingetigert, das war so ein bisserl etwas, wo ich mich angehalten hab.“ (LNR05, S.10f)

Von drei Frauen werden Selbsthilfegruppen auch als sehr positiv erwähnt:

Das was mir dazu einfällt ist die Selbsthilfegruppe für Frauen nach sexuellem Missbrauch, wo ich einige Jahre dabei war. Das war für mich ganz ganz wichtig darüber zu reden. Frauen zu kennen, die Ähnliches passiert ist, um zu wissen, die meistern auch ihr Leben. Also so ein Netzwerk an Frauen. Das tut einfach gut das zu wissen.“ (LNR09, S.18)

Neben Selbsthilfegruppen sind aber auch Empowerment- Bewegungen wichtige Unterstützungsfaktoren, wie beispielsweise hier eine Frau von der Selbstbestimmt-Leben- Bewegung berichtet:

Wo ich recht gut eingebunden war und bin, ist in der Selbstbestimmt-Leben Bewegung, wo ich damals erstmals viele Kollegen und Kolleginnen getroffen hab, mit denen ich mich austauschen hab können über viele Themen, auch über Gewalterfahrung zum Beispiel in Einrichtungen. Wir haben uns ja damals auch gegen diese Einrichtungen, gegen Heimstrukturen aufgelehnt und uns dagegen stark gemacht. Das war für mich auch recht hilfreich, zu spüren, dass ich mich jetzt wehren kann. Ich bin jetzt sozusagen groß und stark genug und hab Unterstützung und hab Leute, die mich verstehen und, ja, das war eine recht gute Zeit, die hab ich sehr hilfreich in Erinnerung. Eben vor allem dieses soziale Netz, das sich da plötzlich aufgetan hat.“ (LNR05, S.32)

Daneben sprachen auch zwei Frauen von Selbstverteidigungskursen, die ihnen halfen. Fast alle Frauen haben meist erst Jahre nach der Gewalterfahrung – in seltenen Fällen bereits in der Gewaltsituation – therapeutische Hilfe durch PsychotherapeutInnen und PsychologInnen in Anspruch genommen und bestätigen, dass sie es ohne diese Unterstützung nicht geschafft hätten.

Erstens, weil ich lernen musste, Hilfe anzunehmen in meiner Situation, das war schon der Beginn, und weil es Dinge gibt, über die man ja mit Familie nicht reden kann, ohne dass man sich und die Familie in die Zwickmühle bringt, dass sie ein schlechtes Gewissen haben und so…, es gibt viele Dinge. Und die Psychologen haben mir zugehört, beraten, einfach andere Gedankenmuster gezeigt, und neue Wege, und… war faszinierend.“ (LNR01, S.5)

Des Weiteren wurde von einer Frau erwähnt, dass sie von ihrer Dienstgeberin sehr unterstützt wurde:

Es gab nie eine Situation, auch wenn ich länger im Krankenstand war, auch bei der Krebsoperation, oder beim Burn-out oder sonst bei oftmaligen Schmerzattacken, hab ich ganz ganz viel Unterstützung gehabt. Es hat nie wer nachgefragt, na wann kommens denn endlich wieder, oder so.“ (LNR09, S.7)

4.3.3 Unterstützung aus eigener Kraft

Für viele Frauen war der Weg aus der Gewalt geprägt von Einsamkeit, Selbstzweifeln und Unsicherheit. Entscheidende Veränderungen jedoch haben die Frauen aus eigener Kraft bewirkt. Sie haben gelernt, an sich zu glauben und ihren Willen durchzusetzen.

Und wie mir das klar war, zu dem Zeitpunkt, bin ich nach außen gegangen. Gewusst haben es eh schon einige, aber ich hab’s nicht gesagt. Ich hab’s erst dann gesagt, wie ich gewusst hab: OK, ich muss mir selber helfen und kann nicht erwarten, dass mir wer hilft. (…) Ich wusste mich zu wehren und bin ausgezogen.“ (LNR01, S.6, 8)

„Ich hab mich selbst mit 15 am Schopf gepackt und mich herausgezogen indem ich die erste Möglichkeit das Elternhaus zu verlassen, wahrgenommen, indem ich einfach in die Krankenpflegeschule gegangen bin nach Wien und dort dann in einem Internat war. (…) aber wahrscheinlich bin ich auch gewohnt, wenn ich irgendwo nachfrage, dass ich nicht aufgebe, wenn es das erste Mal besetzt ist, dadurch das ich im medizinisch-pflegerischen Bereich immer wieder Unterstützung brauche oder mit Ämtern, schon seit vielen Jahren viel zu tun hab aufgrund der Behinderung. Aufgeben gibt‘s nicht, insofern bin ich sicher untypisch wie bei anderen, die einfach nach 5 Versuchen aufgeben, da ist eh keiner da, oder so.“ (LNR09, S.10, 11,17)

Man darf das, was man erlebt hat, nicht weitergeben und muss einen harten Willen entwickeln. Ich habe nach dieser schrecklichen Zeit Selbstbewusstsein entwickelt und war mir bewusst, dass ich es anders machen will. Ich behandle mein Kind ganz anders und käme nie auf die Idee es zu schlagen. Wenn ich mich erinnere, wie ich gelitten habe, ich könnte das meinem Kind nicht antun.“ (LNR14, S.6)

Was den Umgang mit der Gewaltsituation laut einigen Frauen erleichtert, ist die Möglichkeit, darüber zu reden, sich jemanden anzuvertrauen, ernst genommen und gehört zu werden. Dieser Austausch – sei es mit Verwandten, FreundInnen, einer Interviewerin, den Medien oder professionellen UnterstützerInnen – ist manchmal wichtiger Bestandteil eines umfassenden Prozesses, um das Geschehene besser realisieren und einordnen zu können bzw. zu anderen Perspektiven und Blickwinkeln zu gelangen.

Jo, lassen Sie’s nur eing‘schalten. Jetzt bin ich grad im Reden, das tut mir gut, wenn ich mit jemanden reden kann.“ (LNR02, S.18)

Ja. Wenn ich ängstlich war, viel g‘redet. Geheult, geweint. (…) Alles rausgeschrien. Schreien ist beste Medizin. (…) Es befreit deine Seele, Hirn und Herz. (…) Schreien hilft. Nicht in der Wohnung, auch raus in der Natur.“ (LNR03, S.17)

„Über dieses Thema zu reden, das es das überhaupt geben kann was ich erlebt hab, das war extrem wichtig, auch zu wissen ich hab zwei ORF TV-Auftritte gehabt. Als ich über mein Schicksal gesprochen hab, was dann auch gesendet worden ist. Das war wahnsinnig, wahnsinnig herausfordernd, aber sehr heilsam.“ (LNR09, S.18)

Um den Zusammenhang der unterschiedlichen Gewalterfahrungen im Lebenslauf, die individuellen Reaktionen darauf sowie unterstützende Faktoren eingebettet in die jeweilige Biografie nochmals zu verdeutlichen und den Blick von Einzelaspekten auf das Ganze zu lenken, werden folgend einzelne Fallbeispiele erörtert.

4.4 Arten von Barrieren

Frauen mit Behinderungen und Gewalterfahrungen stehen häufig vor Hürden, wenn sie Unterstützung suchen. Die Teilnehmerinnen der Fokusgruppen-Diskussionen und die 16 einzeln interviewten Frauen identifizierten unterschiedliche Arten und Formen von Barrieren:

4.4.1 Barrieren auf der Bewusstseinsebene der Frauen mit Behinderungen

Besonders stark wurde in den Fokusgruppen, aber auch häufig in den Interviews, die Problematik diskutiert, dass Frauen mit Behinderungen manchmal das Bewusstsein fehlt, was letztlich alles Gewalt ist. Vor allem die befragten Frauen mit Lernschwierigkeiten sind manchmal verunsichert, ab wann von Gewalt gesprochen werden kann. Dies hat häufig – so die befragten Frauen – damit zu tun, dass viele Frauen mit Behinderungen nicht gelernt haben, „Nein“ zu sagen. Aufgrund der Erfahrungen der Diskriminierung, Fremdbestimmung, Abhängigkeit von anderen Menschen und der geringen Wertschätzung von Seiten der Gesellschaft seien vielen Frauen mit Behinderungen nicht selbstbestimmt genug und können sich kaum selbst behaupten. Einige Frauen machten auch darauf aufmerksam, dass sie selten bis nie die Möglichkeit in der Familie aber auch in der Gesellschaft hatten, unterschiedliche Sozialisationserfahrungen mit Gleichaltringen, die nicht beeinträchtigt waren (z.B. Lernerfahrungen in der Schule, erste sexuelle Beziehungen in der Adoleszenz), zu teilen. Dies hatte nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung ihres Selbstwertgefühls und ihre Selbstständigkeit.

Na, das war natürlich Sonderschulniveau. […] Aber ich hab natürlich schon gesehen, dass ich wesentlich weniger kann wie meine Geschwister, weil ich bin ja in den großen Ferien dann auch daheim gewesen und ich hab natürlich das angeschaut, was meine Geschwister so gemacht haben und da hab ich schon mords ein Minderwertigkeitsgefühl aufgebaut, weil ich schon gesehen habe, mah ich, das kann ich alles nicht und ich hab zwar dann mit niemandem drüber geredet und so, weil ich auch das nicht wollt, dass die das wissen, wie ich blöd bin, aber irgendwie das hab ich halt wirklich sehr inhaliert, dass ich irgendwie nichts kann.“ (LNR05, S.12)

Zudem haben viele Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, bereits erlebt, dass ihnen nicht geglaubt wird: […] „Ich habe es ein halbes Jahr später meinen Eltern erzählt und sie führten ein Gespräch mit beiden Männern und die Männer wiesen die Schuld ab und ich wurde als Lügnerin dargestellt (Masseur) und mein Ex-Freund bekam sofort Hausverbot! […] Nein, ich habe keine Unterstützung von meinen Eltern bekommen. Meine Eltern glaubten dem Masseur, er war ein sehr guter Freund von ihnen. Ich musste mit beiden Situationen allein fertig werden.“ (LNR13, S.5)

Aus diesem Grund schweigen viele Frauen zu Gewalttaten, da sie das Vertrauen in Hilfeleistung und Unterstützung verloren haben. Einige Frauen mit Lernschwierigkeiten sprechen auch von der Angst, nicht akzeptiert zu werden, wodurch sie sexuellen Missbrauch über sich ergehen lassen. Auch hörbeeinträchtigte Frauen schildern, dass sie besonders häufig unsicher sind, ob ihnen zugehört und geglaubt wird, wodurch sie bei Gewalterfahrungen häufig schweigen.

Ich habe den Missbrauch nicht erzählt, weil ich gehörlos war, ich konnte es nicht sagen. Ich habe viele psychische Probleme gehabt und viel geschluckt, weil ich es nicht sagen konnte. Ohne Kommunikation geht das nicht. Und sie hätten auch nicht geglaubt, was ich erzähle, weil ich gehörlos war. Als hörendes Kind wäre es mir da sicher besser gegangen, ich hätte es sagen können.“ (LNR14 S.5)

Frauen in den Interviews sprechen beispielsweise auch von ihrem fehlenden Vertrauen in die Polizei oder in das Heimpersonal, das trotz ihrer Erzählungen von Gewalterfahrungen nichts unternommen hatte, und auch von dem Zweifel, als Frau mit Behinderungen in einer Opferschutzeinrichtung überhaupt aufgenommen zu werden.

4.4.2 Einstellungsbezogene Barrieren auf gesellschaftlicher Ebene – Barrieren in den Köpfen

Eine große Barriere stellt für die Befragten, neben dem häufig fehlenden Bewusstsein zu Gewalterfahrungen und der Angst, nicht gehört zu werden, die Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Frauen mit Behinderungen dar. So würden Menschen mit Behinderungen nach wie vor als geschlechtlos wahrgenommen. Eine Frau mit Behinderungen sei in erster Linie ein Mensch mit Beeinträchtigungen, erst dann werde sie auch als Frau wahrgenommen. Sexualität von Frauen mit Behinderungen werde seitens der Gesellschaft nach wie vor stark tabuisiert, wodurch auch sexuelle Missbrauchserfahrungen von Frauen mit Behinderungen nicht öffentlich gemacht werden.

Der Großteil der befragten Frauen mit Behinderungen macht darauf aufmerksam, dass viele Menschen wegsehen und weghören, wenn es zu Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen kommt, häufig auch aufgrund fehlenden Wissens, wie darauf reagiert und wie geholfen werden soll. Dieses Unwissen sei auch bei wichtigen Stellen und Organisationen, die im Falle einer Gewalterfahrung aufgesucht werden könnten, vorhanden. Viele PolizistInnen und BeraterInnen wissen häufig nicht, wie sie mit Menschen mit Behinderungen umgehen sollen, erklären die befragten Frauen in den Fokusgruppen. MitarbeiterInnen seien meistens ungeschult. Häufig verweisen sie dann an andere Stellen weiter, wodurch viele Frauen mit Behinderungen vor zusätzlichen administrativen und organisatorischen Barrieren sowie vor der Gefahr der Reviktimisierung und Wiederholung traumatischer Erfahrungen stehen. Eine gehörlose Frau erzählt vom Verbot als Kind in der Volksschule in Gebärdensprache zu kommunizieren– so konnte sie nicht über ihre Gewalterfahrung berichten. Eine andere gehörlose Frau beschreibt ihre Erfahrung als einzige gehörlose Schülerin nur hörende KlassenkameradInnen gehabt zu haben. Dies hinderte sie daran, neben anderen Gründen, den befreundeten MitschülerInnen ihre Gewalterlebnisse mitzuteilen und eventuell Hilfe zu suchen. Eine Interviewteilnehmerin veranschaulicht zudem, dass Frauen/Menschen mit Behinderungen sehr lange Zeit kein Thema in der Gesellschaft und Politik waren. Innerhalb der Frauenbewegung bedurfte es eines deutlichen Mehraufwandes, um inkludiert, gehört und respektiert zu werden. Die Auswirkungen dieser Exklusion sind bis heute zu spüren und stellen eine große Barriere in der Öffentlichkeitsarbeit dar.

Natürlich ist mir dann schon klar geworden, dass man irgendwo als Frau mit Behinderung nirgendwo Thema ist irgendwie. Frauenemanzipation hat‘s ja gegeben, aber als Frau mit Behinderung bist auch nicht vorgekommen zum Beispiel. Du hast halt überall einen extremen Beitrag leisten müssen, wenn dich was auch interessiert hat oder wennst auch gefunden hast, das ist jetzt für dich auch was Wichtiges. Und hast dich quasi auch schon anbiedern müssen bei den nicht-behinderten Frauen. Dass du halt da irgendwie auch für die gnädiger Weise dabei sein hast dürfen. Ich war damals auch bei den (Partei) ein bisschen engagiert und da ist es auch um die Regierungsprogramme gegangen dann, und wo darf wer was sagen und, also da weiß ich noch, da hab ich mich einmal bei den Frauen gemeldet, […] hab ich gesagt, gut mich interessiert noch die Frauen, das Frauenthema und da hab ich mich auch sowas von scheiß unwohl gefühlt in der Arbeitsgruppe, also wirklich, da hätt ich mich ständig beweisen müssen, so dass ich einmal angeschaut, als wenn ich vom Mond käme […] ja, also ganz unmöglich bis ich dann aufgegeben hab. Sie haben zwar dann irgendwo einen Passus geschrieben, es gilt für Frauen mit Behinderung dasselbe, irgend so einen Schmafu […] ja, dass halt irgendwie, ja, dass, dass halt sich auch wieder gut verkaufen können. Also auch so Feigenblatt ähnlich und das. Aber sonst... Eben und da hab ich eben auch gesehen, bei den ganzen Frauen war ja damals ja auch schon Gewalt und Frauen mit Behinderung. Es ist nirgendswo vorgekommen, dass einfach, ja die, wirklich die Frau, das auch, ja, in den Einrichtungen da sind’s eh gut aufgehoben, so auf die Art. Das war wirklich arg, dass Frauen so gedacht haben.“ (LNR05, S.39)

4.4.3. Barrieren auf der Wissens- und Informationsebene

Sucht eine Frau mit Behinderungen Unterstützung nach einer Gewalterfahrung, steht sie häufig vor der Barriere, über keine Information und über kein Wissen zu Unterstützungsangeboten zu verfügen. Viele Frauen haben keinen Internetzugang oder erhalten keine Information in leichter Sprache, in Gebärdensprache oder in Sprachausgabe. Auch wenn Informationen gut und verständlich aufbereitet sind, erreichen diese manche Frauen und Mädchen mit Behinderungen nicht. Hinzu kommt, dass für die befragten Frauen oft nicht ersichtlich ist, ob eine Opferschutzeinrichtung oder andere Organisation baulich barrierefrei ist und ob der Zugang zu Informationen und Angeboten für alle Frauen mit Behinderungen gewährleistet ist, wie z.B. das Vorhandensein einer GebärdensprachdolmetscherIn. Einige Frauen nutzen die Unterstützungsangebote erst gar nicht, aus Angst, ihre Bedürfnisse und ihr Unterstützungsbedarf aufgrund der Beeinträchtigungen und Behinderungen würden dort nicht berücksichtigt. Gelangt eine Frau zur Unterstützungsleistung zeigt sich eine weitere Hürde: Materialien zur Beratung, weitere Informationsbroschüren und die Beratung selbst sind häufig nicht auf die individuellen Bedürfnisse der Frau mit Behinderungen angepasst. Hinzu kommen oft bürokratische Hürden durch kompliziert aufbereitete Informationen und Formulare, die die Situation zusätzlich erschweren. Die Wichtigkeit von ausreichenden Informationen wird insbesondere von einer gehörlosen Frau hervorgehoben: „Ich helfe Frauen sehr gerne. Aber ich sage, es muss eine Stelle geben, wo gehörlose Frauen psychisch unterstützt werden mit Rat und Tat. Hörende bekommen schnell irgendwo Informationen. Sogar in der Straßenbahn, wenn jemand telefoniert oder mit jemandem anderen spricht. Man kommt leichter an gute Tipps. (…) Wir brauchen mehr Information.“ (LNR16, S.10)

4.4.4 Bauliche Barrieren

Bauliche Barrieren erschweren es vor allem Frauen mit körperlicher und sensorischer Beeinträchtigung eine Unterstützungsleistung oder medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft stellt die Anfahrt zu einer Organisation bereits eine Barriere dar. Manchen Frauen ist es nicht möglich, ohne Assistenzleistung eine Opferschutzeinrichtung, Therapie- oder Beratungsstelle zu erreichen. Zahlreiche Einrichtungen entsprechen nicht einer barrierefreien Bauweise und den Ö-Normen, wodurch viele Frauen mit Behinderungen bereits am Eingangsbereich scheitern. Beispielsweise wollte eine Frau aus den Fokusgruppen eine Traumatherapie besuchen, sie konnte jedoch kein einziges Angebot im gesamten Bundesland finden, das mit dem Rollstuhl befahrbar gewesen wäre. Eine andere Frau berichtet, dass es keine barrierefreie Frauenärztin in der Umgebung gebe, wodurch sie gezwungen ist, zu eiem männlichen Frauenarzt zu gehen und diesen aus eigener Tasche zahlen muss. Zudem sind oft öffentliche Einrichtungen wie beispielsweise Polizei und Gerichte für Frauen mit körperlichen und sensorischen Beeinträchtigungen nicht zugänglich.

4.4.5 Infrastrukturelle Barrieren

Zudem sprechen die befragten Frauen die Differenzen zwischen Stadt und Land an. Frauen mit Behinderungen, die am Land leben, finden häufig noch weniger barrierefreie Unterstützungsstrukturen vor. Es gibt kaum mobile Beratung am Land und sehr lange Wartezeiten. Viele Frauen schildern ihre Bedenken, dass sie im Falle von Gewalt nicht zur Polizei oder zu kirchlichen Unterstützungsangeboten in ihrer Gemeinde gehen könnten, da aufgrund der wenigen BewohnerInnen ihre Anonymität nicht gewährleistet wird. Eine Interviewteilnehmerin erwähnt die oftmals fehlenden bis geringen öffentlichen Transportmöglichkeiten, um Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen erreichen zu können. In ländlichen Gebieten gibt es, wenn überhaupt, wenige Opferschutzeinrichtungen; dazu kommt, dass diese vielfach schwer oder nicht barrierefrei zugänglich sind.

Nein, ich hätte auch nicht hinkommen können. Ich war ja auch überhaupt nicht mobil und da ist ja auch keine barrierefreie Straßenbahn gegangen und kein gar nichts. Frauen mit einer Behinderung oder auch mit kognitiven Einschränkungen, die kommen ja schon gar nirgends irgendwohin wo‘s dann was sagen können einmal.“ (LNR05, S.13)

4.4.6 Finanzielle Barrieren

Eine weitere Barriere, sich Unterstützung zu suchen oder zu erhalten, ist laut der Befragten, die bei vielen Frauen mit Behinderungen vorherrschende finanzielle Situation. Frauen mit Behinderungen sind oft einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt. Aufgrund des geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarktes in Österreich ist es für Frauen und insbesondere für Frauen mit Behinderungen schwer, einen Arbeitsplatz am ersten Arbeitsmarkt mit existenzsicherndem Einkommen zu finden. Menschen mit Behinderungen haben zudem hohe Kosten, um ihre Grundbedürfnisse und medizinische Versorgung zu decken, wodurch häufig nur wenig Geld zur Verfügung steht, um beispielsweise präventiv Selbstverteidigungskurse zu bezahlen oder die Anfahrt zu einer Unterstützungsorganisation oder GebärdendolmetscherInnen zu finanzieren.

Ich hab von dort dann eine gute Therapeutin gehabt, Dr. N.N., die hat so Verhaltenstherapie gemacht, und die hat mir leider immer 44,00 Euro kostet die Sitzung, und das hab ich mir dann nicht mehr leisten können.“ (LNR02, S.13)

Einige befragte Frauen sind ferner teilweise finanziell von dem Täter bzw. der Täterin abhängig (Ehemann, FreundIn oder Familie), wodurch Existenzängste sie daran hindern, diese bei der Polizei anzuzeigen oder eine Einrichtung für gewaltbetroffene Frauen aufzusuchen. Insbesondere diese ökonomische Abhängigkeit verunmöglicht es den Frauen, aus der Gewaltdynamik auszubrechen.

4.5 Wissen über die eigenen Rechte

Es erfordert eine gewisse Hartnäckigkeit und Überzeugungsarbeit, für seine Rechte einzustehen.“ (Teilnehmerin einer Fokusgruppe)

Die an den Fokusgruppen und Interviews teilnehmenden Frauen wissen über ihre eigenen Rechte größtenteils Bescheid, machen aber darauf aufmerksam, dass viele Frauen mit Behinderungen über kein Wissen über ihre eigenen Rechte verfügen. Zum einen fehlt es häufig an Informationen über die Rechte von Frauen mit Behinderungen und, wenn Informationen vorhanden sind, sind sie meist nicht barrierefrei zugänglich. Weiters fehlt es an Gesetzestexten in leichter Sprache, großer Schriftgröße, in Braille, etc.

Kennen Frauen ihre Rechte, mangelt es häufig jedoch an Detailwissen oder Wissen, wie und wo sie diese einfordern können. Die Interviewteilnehmerinnen sind etwa über das Bestehen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen informiert, wie die Umsetzung in Österreich erfolgt und was dies für sie bedeutet, ist manchen Frauen jedoch nicht erklärt worden. Hier fehle es an aktiver Aufklärung, so die befragten Frauen mit Behinderungen in den Fokusgruppen.

Zudem machen die Frauen manchmal auch die Erfahrung, dass bei Missachtung wichtiger Rechte keine oder nur geringe Konsequenzen drohen. Einige Frauen mussten zudem erleben, dass den TäterInnen, aber nicht ihnen Glauben geschenkt wurde. Manche Frauen ergriffen keine rechtlichen Schritte aus Angst davor, dass ihre Schilderungen angezweifelt und nicht geglaubt werden.

Nach Einschätzung einiger Frauen wird die Umsetzung bestehender Rechte seitens der Politik nicht genug in Angriff genommen und viele Strafen sind ihrer Meinung nach nicht strikt genug.

Die Realität hängt weit dahinter. Auf dem Papier gibt es eine Menge Rechte von Frauen mit Behinderung. Schöne Worte auf vielen Ebenen, auf den Staat bezogen, auf die EU bezogen, aber die Realität ist eine andere.“ (LNR09 S.17)

4.6 Verbesserungsvorschläge und Good Practice-Beispiele

Es geht nicht allein um einen Idealzustand, auch wenn dieser wünschenswert wäre, es geht vor allem um das Bemühen. Das ist das Wichtigste, auch wenn es nicht optimal ist.“ (Teilnehmerin einer Fokusgruppe)

Die an den Fokusgruppen und Interviews teilnehmenden Frauen diskutieren und erarbeiten viele Verbesserungsvorschläge hinsichtlich einer barrierefreien Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen mit Behinderungen.

Auf folgenden Ebenen wurde Verbesserungspotenzial ersichtlich:

4.6.1 Ebene der Frauen mit Behinderungen: Bewusstsein, Information und Selbstwert

  • Bewusstsein schaffen:

    Besonders wichtig, so heben die befragten Frauen hervor, sei es, das Bewusstsein der Frauen mit Behinderungen dafür zu stärken, was eigentlich Gewalt ist. Frauen sollen ausreichend Information bekommen dahingehend sensibilisiert werden, um etwa Fragen wie „Was muss ich nicht akzeptieren? Was ist mir unangenehm? Welche Grenzen darf ich zeigen?“ beantworten zu können.

  • Selbstwert stärken:

    Gezielte Empowerment-Angebote und Workshops sollen Frauen mit Behinderungen dabei stärken, Selbstwert (zurück) zu erhalten und ihr Recht auf Selbstbestimmung einzufordern.

  • Selbsthilfegruppen unterstützen:

    Eine wichtige Rolle spielen für die befragten Frauen das Besuchen von Selbsthilfegruppen. Es wäre wichtig, die Bildung von Selbsthilfegruppen von gewaltbetroffenen Frauen (mit oder ohne Behinderungen) zu unterstützen, damit diese sich besser vernetzen und sich gegenseitig stärken können.

4.6.2 Ebene der Familien und Bezugspersonen

  • Ein sicheres Zuhause:

    Für manche Interviewpartnerinnen (v.a. jene, die selbst in Einrichtungen aufwuchsen) ist es bedeutsam, dass Kinder mit Behinderungen zuhause bei ihren Eltern anstatt in Institutionen aufwachsen können, da sie der Meinung sind, dass dies ebenfalls Gewalt verhindern kann. Einige befragte Frauen betonen, dass sie sich ein sicheres Elternhaus ohne Gewaltanwendung gewünscht hätten.

    „Nicht so ein, so ein strenger Papa, den ich gehabt hab. Der hat mich ja geschlagen auch.“ (LNR06, S.8)

    Im Gegensatz dazu erwähnt eine Interviewpartnerin, dass es für sie besser gewesen wäre, wenn sie früher (als tatsächlich in der Kindheit erfolgt) zu einer Pflegefamilie gekommen wäre, um der Gewalt zu entkommen.

4.6.3 Wissens- und Informationsebene

  • Prävention beginnt bei den Mädchen:

    Bildung, Information und Aufklärung zum Thema Gewalt sollen bereits in der Schule stattfinden. Dabei soll „Behinderungen“ ein wichtiges Querschnittsthema sein. Zudem sollen Mädchen mit Behinderungen umfassende sexuelle Aufklärung erhalten, beispielsweise lernen, ihre Körperteile richtig zu benennen, sollen „Nein“ sagen lernen und ihnen soll Selbstbewusstsein und ein positives Selbstwertgefühl (auch Körpergefühl) vermittelt werden. Eine Interviewpartnerin erwähnt die Wichtigkeit, Mädchen mit Behinderungen im Aufbau ihres Selbstbewusstseins zu stärken.

    Das Bewusstsein der Mädchen stärken, nicht du hast eine Behinderung, du kannst nichts, das Gegenteil. Versuch das zu erreichen, was du erreichen willst. Gut, dass man als Blinder kein Tiefseetaucher wird, das ist klar, aber versuch das was du kannst zu erreichen. Wenn da einer blöd kommt, dann schau auch, dass du dich wehren kannst.“ (LNR11 S.29)

  • Information, die anspricht:

    Einige Frauen merken an, dass Materialien zur Gewalterfahrung bei Frauen mit Behinderungen meist nur bestimmte Zielgruppen ansprechen. Ihnen wäre es wichtig, dass auch Materialien entwickelt werden, die sowohl Frauen mit Behinderungen als auch Frauen ohne Behinderungen ansprechen. Eine Fokusgruppen-Teilnehmerin beschreibt es so: „Frauen mit Behinderungen sind zu aller erst Frauen“.

4.6.4 Ebene der Beratungsinstitutionen und Opferschutzeinrichtungen

  • Beratung, die ankommt - Notwenigkeit der Peerberatung:

    Beratung für gewaltbetroffene Frauen mit Behinderungen sollte zum einen barrierefrei gestaltet sein (in leicht verständlicher Sprache, zugänglich, etc.), zum anderen verdeutlichen die befragten Frauen besonders die Notwendigkeit des Peerberatungs-Angebots. In Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen müssen vermehrt auch Menschen mit Behinderungen als Beraterinnen und Unterstützerinnen fungieren. Die Fokusgruppe mit gehörlosen Frauen thematisiert dabei allerdings, dass ihnen wichtig wäre, in jeder Beratungsstelle zwischen einer hörenden und einer gehörlosen gebärdenkompetenten Beraterin wählen zu können. Viele gehörlose Beraterinnen sind selbst in der kleinen Gehörlosengemeinschaft eingebunden und so wäre Anonymität nicht immer vorhanden.

  • Umfassende Barrierefreiheit der Einrichtungen:

    Ein weiterer bedeutsamer und dringender Verbesserungsvorschlag zur Prävention und Unterstützung besteht für viele befragte Frauen in der barrierefreien Gestaltung von Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen.

    Viele der Frauen finden es dringend notwendig, dass der barrierefreie Zugang zu Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen gewährleistet ist. Hierbei wird etwa auf bauliche Maßnahmen wie Rampen, Lifte, Leitsysteme, Sprachausgaben etc. verwiesen. Aber auch der uneingeschränkte Zugang zu Information, wie Broschüren und Websites, wird als äußerst bedeutsam erachtet. So wird zum Beispiel vorgeschlagen, in Telefonbüchern oder auf Internetseiten darauf hinzuweisen, in welcher Form die Organisationen zugänglich sind.

    Eigentlich sollte selbstverständlich sein, dass die barrierefrei sind. Nicht nur vom Baulichen her, sondern Frauen mit Hörbeeinträchtigungen tun sich schwer mit dem Telefonieren, sprich sie müssen dort hingehen. Das muss ja der Megagau sein, dass man da irgendwie zu einer Information kommt. Auch ganz niederschwellig müssen alle BetreuerInnen für das Thema Gewalt sensibilisiert sein. Von vornherein gehört das in die Ausbildung rein. Frauen, die sich eh nicht wirklich wehren können, wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung, nicht Freiwild sind. Ich glaube da gäbe es viele, da gehört in die Ausbildung, was ist Gewalt.” (LNR09, S.19)

4.6.5 Familienmitglieder und Bezugspersonen miteinbeziehen:

Die befragten Frauen heben hervor, dass Information und Beratung nicht nur die von Gewalt betroffenen Frauen selbst erreichen sollten, sondern auch deren Familienmitglieder bzw. andere Bezugspersonen.

  • Flächendeckende Beratung und Unterstützung:

    Beratungsstellen und erste Anlaufstellen zur Unterstützung bei Gewalterfahrung für Frauen mit und ohne Behinderungen sollte es flächendeckend und barrierefrei in ganz Österreich geben. Auch Frauen am Land sollen möglichst schnell an Unterstützung gelangen können.

  • Vernetzung und zentrale Anlaufstellen:

    Gewaltbetroffene Frauen mit Behinderungen werden meist von einer Stelle zur nächsten geschickt. Viele Einrichtungen und Organisationen sind häufig überfordert und verweisen ziellos an andere Stellen.

    Es wäre daher wichtig, so die befragten Frauen, dass es eine transparente und strukturierte Vernetzung zwischen Stellen gibt. Zudem wünschen sich die Frauen eine zentrale Anlaufstelle und Drehscheibe, die Erstunterstützung anbietet und dann an spezialisierte Institutionen, Stellen und ProfessionalistInnen weiterverweist.

  • Langanhaltende Unterstützung, gute Atmosphäre und Zeit:

    Nicht zuletzt sollte die Beratungs- und Unterstützungssituation langanhaltend und umfassend sein, um eine Wiedereingliederung ins Leben ermöglichen zu können. Es ist allen Frauen wichtig, dass in der Beratung und Unterstützungssituation eine gute Atmosphäre herrscht und genügend Zeit vorhanden ist, um Vertrauen aufzubauen und sich öffnen zu können.

    Aufgrund von Beeinträchtigungen brauchen Frauen manchmal mehr Zeit und Raum, um über das Erlebte zu sprechen und die Unterstützung annehmen zu können. Eine Teilnehmerin merkt zudem an, dass es wichtig ist, dass Fotos von Beraterinnen zugänglich sind, da das bereits ein wichtiger Schritt ist, um Vertrauen aufzubauen.

  • Bildtelefon:

    Ein weiterer Vorschlag einer befragten Frau ist ein Bildtelefon – ein Pendant zu „Rat auf Draht“ für gehörlose Menschen, um rasch und unbürokratisch eine erste Hilfestellung bei Gewalterfahrungen zu bekommen.

  • Fachpersonal mit Gebärdensprachkenntnissen:

    Es wäre ein Bereitschaftsdienst von GebärdensprachdolmetscherInnen bzw. Fachpersonal mit Gebärdensprachkenntnissen sehr wünschenswert, da gehörlose Frauen oft längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.

4.6.6 Ebene der Institutionen und Einrichtungen der Behindertenhilfe

  • Aufklärung:

    Für die befragten Frauen ist eine flächendeckende Aufklärungsarbeit zu Gewalt und Sexualität in Vereinen (Gehörlosenverbund, Blindenverband, etc.), anderen Institutionen und Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Wohngemeinschaften relevant.

  • Wahlmöglichkeit:

    Um Selbstbestimmung umfangreich umsetzen zu können – so heben die befragten Frauen hervor – sei eine Wahlmöglichkeit bei Unterstützungspersonen (Persönliche Assistenz, SozialarbeiterInnen, BetreuerInnen, etc.) wichtig.

  • Sensibilisierung des Personals:

    Die Betreuungspersonen sollen vor allem im Hinblick auf Gewalt, Gewaltprävention und akute Unterstützung von gewaltbetroffenen Frauen trainiert und sensibilisiert werden.

  • Frauenbeauftragte:

    Laut einer Fokusgruppenteilnehmerin sollte es in jeder Einrichtung eine Frauenbeauftragte geben, die Anlaufstelle für Gewalt und genderspezifische Anliegen ist. „Eine Frauenbeauftragte oder Gewalthilfe sollte es in allen Einrichtungen geben und nicht erst, wenn es brennt.

    Ein Feuerlöscher ist ja auch schon da und wird nicht erst bei Feuer angeschafft beziehungsweise Brandschutzmaßnahmen gibt es auch, wenn es in einem Haus noch nicht gebrannt hat.“

4.6.7 Ebene des Zugangs zu Recht und zum Gesundheitssystem

Bei der Polizei sollten immer weibliche Polizistinnen zur Verfügung stehen, denn eine Teilnehmerin an einer Fokusgruppe berichtet, dass sie drei Stunden auf eine weibliche Beamtin warten musste.

  • Prozessbegleitung für Frauen mit Behinderungen:

    Eine unbürokratische, kostenlose und barrierefreie rechtliche und psychosoziale Prozessbegleitung sollte für alle gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen gewährleistet sein.

  • Kostenlose Gebärdensprachkurse und Blindenparcoure

    für PolizistInnen, RichterInnen und andere Personen in öffentlichen Ämtern und im medizinischen Bereich.

  • Gesetzesänderungen in den Bereichen Gleichstellung und Antidiskriminierung:

    Verbesserte Gesetze für Frauen mit Behinderungen und Gewalterfahrungen werden für wichtig erachtet. Aber auch die Gleichstellung von Frauen mit Behinderungen im Alltag (beispielsweise hinsichtlich Familie und Beruf) ist hierbei zu forcieren.

  • Informationen über Rechte:

    Es sollte mehr leicht zugängliche und barrierefreie Informationen über die Rechte von Frauen und Rechte von Frauen mit Behinderungen geben.

  • Vermehrt weibliches Personal:

    Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, stehen häufig vor dem Problem, nicht zwischen weiblichem und männlichem Personal wählen zu können. Viele Frauen finden es leichter, sich einer Frau anzuvertrauen, wenn es um die Schilderungen von (sexuellen) Gewalterfahrungen geht und sie z.B. eine Anzeige bei der Polizei machen wollen. Es ist wichtig, dass es in Einrichtungen, öffentlichen Ämtern sowie im medizinischen Bereich genügend weibliche Mitarbeiterinnen gibt. Beispielsweise schildert eine Frau, dass sie zu einer Frauenärztin gehen wollte, es aber keine barrierefreie Praxis gab. Aus diesem Grund war sie gezwungen, einen männlichen Frauenarzt aufzusuchen.

4.6.8 Gesellschaftsebene: Sensibilisierung, Öffentlichkeitsarbeit und Medien

  • Glauben schenken:

    Viele Frauen erwähnen, dass ihre Gewalterfahrungen von unzähligen Personen angezweifelt und nicht geglaubt wurden und werden bzw. dass sie aus Angst davor nicht über ihre Erlebnisse gesprochen haben. Daher appellieren einige der interviewten Frauen an die Gesellschaft, den Mädchen und Frauen mit Behinderungen Beachtung zu schenken und sie ernst zu nehmen, wenn sie über ihre Gewalterfahrungen berichten.

    Als erstes fällt mir ein, Menschen, Erwachsene, die den Kindern glauben, dass was sie erzählen, das was sie andeuten für wahr zu halten. Das ernst zu nehmen, was ein Kind sagt, was es auch körpersprachlich sagt. Ich hab damals erlebt, „das ist ja nur ein Kind, quasi, ist ja kein fertiger Mensch, Kinder haben viel Fantasie, mein Gott, was soll’s“. (LNR09, S.14)

  • Aufklärungsarbeit für Frauen mit Behinderungen durch die Medien:

    Einige der befragten Frauen heben insbesondere die Relevanz der Mediennutzung zur Gewaltprävention und Informationsverbreitung für Frauen mit Behinderungen hervor. Unterschiedliche Medien, wie Printmedien (Infoblätter, Plakate, Broschüren, etc.), Radio und Fernsehen sollen Informationen darüber weitergeben, welche Unterstützungs- und Handlungsmöglichkeiten es im Falle einer Gewalterfahrung gibt. Die Fokusgruppe in ÖGS (Österreichische Gebärdensprache) nennt folgende Beispiele: eine Sendung im bayrischen Fernsehen „Sehen statt hören“, diese hat ihrer Meinung nach zu einer starken Sensibilisierung geführt. Zum anderen erwähnt sie ein Informationsvideo, in welchem eine Gewaltsituation nachgestellt und mögliche Unterstützungsstrukturen erklärt werden. Zudem können Informations- videos auf Plattformen wie jene der „Gebärdenwelt“ gestellt werden, um die Zielgruppe der hörbeeinträchtigten und gehörlosen Frauen zu erreichen.

    Informationsmaterialien sollten im öffentlichen Raum aufliegen, am Bundessozialamt, in Arzt/Ärztinnenpraxen, in Bildungsstätten, wie Bibliotheken, bei der Polizei, in Gerichten und vor allem unterschiedlichen Beratungsstellen und Opferschutzeinrichtungen. Eine Teilnehmerin in den Fokusgruppen merkt an, dass sie es sinnvoll finden würde, wenn es eine Verpflichtung und staatliche Kontrolle gäbe, ob Informationsblätter zu Gewalt an Frauen (mit und ohne Behinderungen) aufliegen.

  • Schulungen und Sensibilisierung in der Arbeit mit Menschen ohne Behinderungen

    (bei der Polizei, bei Gericht, in der Beratung, bei Opferschutzstellen, in den Schulen, Gesundheitssystem, etc.) beispielsweise zu Wissen über unterschiedliche Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedürfnisse sowie zum Thema Gewalt an Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Die befragten Frauen finden es unverzichtbar, dass die Themen Gewalt generell sowie Gewalt an Frauen mit Behinderungen Bestandteil diverser Ausbildungen beispielsweise in den Bereichen Medizin, Sozialarbeit, Lehrberuf, etc. werden. Die befragten Frauen mit Lernschwierigkeiten heben zudem hervor, dass vor allem Sensibilisierung für Mobbing-Opfer wichtig wäre.

  • Öffentlichkeitsarbeit:

    Das Thema Gewalt an Frauen mit Behinderungen muss erst Thema in der Öffentlichkeit werden. Es soll der Öffentlichkeit deutlich werden, dass Gewalt auch in sozialen Einrichtungen, die eigentlich Menschen mit Behinderungen unterstützen sollten, vorkommen kann.

    […] „Einmal die Bevölkerung wachrütteln, dass es so etwas überhaupt gibt, weil ich glaub viele wollen das gar nicht wissen.“ (LNR07, S.12)

4.6.9 Politische Ebene

  • Finanzielle Unterstützung:

    Der Staat müsse, so die Meinung der befragten Frauen, den politischen Willen verstärken und ausreichend finanzielle Mittel für Therapie nach Gewalterfahrung, für Beratungsstellen und Opferschutzeinrichtungen bereitstellen, um ein umfassendes Unterstützungssystem zu ermöglichen. Eine Fokusgruppenteilnehmerin meint dazu: „Man will nicht Bittsteller sein, mehr Hilfestellung für das Opfer.“ Zudem sei es sehr wichtig, hier alle Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zu unterstützen. Beispielsweiseerhalten Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen häufig keine Vergünstigungen, weil sie keine sichtbaren Beeinträchtigungen aufweisen. Außerdem sollten Angebote, wie jene der Persönlichen Assistenz, welche die Selbstbestimmung unterstützen, besser finanziert werden.

4.7 Good Practice-Beispiele

Die befragten Frauen aus den Fokusgruppen und Interviews wurden zudem gebeten, Beispiele der guten Praxis im derzeitigen österreichischen Unterstützungssystem für gewaltbetroffene Frauen mit Behinderungen zu nennen. Insgesamt zeigte sich, dass die meisten Frauen kaum auf Good Practice-Beispiele verweisen konnten.

Zusammenfassend werden diese Good Practice-Beispiele genannt und kurz erläutert:

  1. „Ninlil [5] – Verein für Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung“: Beratungsstellen wie Ninlil sollte es laut vieler befragter Frauen in ganz Österreich (flächendeckend) geben, da diese unterschiedliche Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedürfnisse berücksichtigen.

  2. Behindertenhilfe Vorarlberg: es wurden veraltete pädagogische Leitlinien ihrer Arbeit überarbeitet und an Prinzipien der Inklusion und Partizipation angepasst.

  3. Sozialberatung Gehörlosenambulanz: Die Gehörlosenambulanz hat einen gehörlosen Sozialarbeiter eingestellt.

  4. Frauennotruf: Der Frauennotruf ging laut zweier Befragten auch auf die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen ein und vermittelte diese an geeignete Stellen weiter.

  5. Konferenzen: In den letzten Jahren finden immer mehr Konferenzen für Mädchen und Frauen mit und ohne Behinderungen zu Empowerment und Stärkung der Selbstständigkeit statt.

  6. Mehr Schulungen: Prinzipiell erkennen die befragten Frauen ein steigendes Angebot an Schulungen für das Personal von Einrichtungen

  7. Partizipative Öffentlichkeitsarbeit: Frauen mit Behinderungen wenden sich selbst vermehrt an die Öffentlichkeit. So ist beispielsweise eine Frau mit Gewalterfahrung im Radio aufgetreten und hat über ihre Erfahrungen berichtet.

  8. Peer-Beratung: Eine andere Interviewpartnerin empfindet die Anstellung einer Peer-Beraterin in einem Gewaltschutzzentrum in einem Bundesland in Österreich als gutes übertragbares Beispiel.

  9. Selbsthilfegruppe: Eine andere Frau berichtet von einer der ersten Selbsthilfegruppen, geleitet von einer Frau mit Behinderungen, für Frauen mit Behinderungen, die sexuellen Missbrauch überlebten, als sehr stärkende Erfahrung.

  10. Kostenlose Selbstverteidigungskurse: Einige der befragten Frauen haben bereits Selbstverteidigungskurse für Frauen mit Behinderungen absolviert (beispielsweise bei der Polizei Wien) und empfehlen diese als wichtige Gewalt-Präventionsmaßnahme für Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Einerseits stärken sie das Selbstvertrauen und Selbstbwusstsein der Teilnehmerinnen und andererseits die Möglichkeit, sich zu wehren.

  11. Pfadfindergruppe „Pfandfinder Trotz Allem“: Eine Interviewteilnehmerin schildert ihre positiven Erfahrungen in der Pfadfindergruppe, die inklusiv war und in der sie Gleichwertigkeit und Herausforderungen gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen erlebte und die sie als stärkend empfand.

4.8 Weitere Themen

In den geführten Interviews wurden auch immer wieder Themen von den Frauen angesprochen, die sich nicht notwendigerweise konkret auf die Inhalte des Interviews bezogen, ihnen aber dennoch sehr wichtig sind. Diese werden im Folgenden angeführt.

  • Wohnen

    Vor allem für jene Frauen, die in betreuten oder teilbetreuten Wohngemeinschaften leben, ist „Wohnen“ ein wichtiges Thema. Hier geht es einerseits darum, mit wem zusammengewohnt werden muss und wie sich das Zusammenleben gestaltet. Es wird auch immer wieder der Wunsch nach freier Entscheidungsmöglichkeit für den Wohnort und die MitbewohnerInnen geäußert, der auch manchmal von der Einrichtung respektiert wurde.

  • Arbeiten

    Immer wieder sprechen die Frauen auch das Thema Arbeit/ Arbeitsplatz an. Die Aspekte sind dabei unterschiedlich: Es geht teilweise generell darum, wie wichtig es als Frau mit Behinderungen ist, einen Arbeitsplatz zu haben, um ein Stück weit Unabhängigkeit leben zu können. Besonders bei Gewalterfahrungen kann diese finanzielle Unabhängigkeit unterstützend bei der Loslösung aus gewaltvollen Beziehungen sein. Teils handeln die Anmerkungen der Frauen von dem Bedauern und Ärger darüber, wie groß die Arbeitslosigkeit unter Frauen mit Behinderungen ist, und auch davon, wie wenige Berufswahlmöglichkeiten es für Menschen mit Behinderungen immer noch gibt. Weiteres erwähnen die Frauen auch Diskriminierung am Arbeitsplatz und Vorurteile von ArbeitgeberInnen und KollegInnen gegenüber Menschen mit Behinderungen.



[4] 11 der 22 Frauen, die auch an der Fokusgruppe teilnahmen, stellten sich für ein Tiefeninterview zur Verfügung

[5] Ninlil (www.ninlil.at) ist ein Verein für Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderungen, welcher in zwei Arbeitsgebiete aufgeteilt ist: KRAFTWERK bietet Beratung, Empowerment und Vernetzung gegen sexuelle Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten, persönliche AssistentInnen, Verwandte, PflegerInnen etc. Das Team ermöglicht telefonische Beratung, Seminare, Workshops, Selbstverteidigungskurse, Informationen zu Psychotherapie etc.

ZEITLUPE ist die erste Peer-Beratungsstelle von und für Frauen mit Behinderungen in Wien. Das Angebot umfasst Beratungen zu den Themen Leben mit persönlicher Assistenz, selbstbestimmtes Leben, selbstbestimmte Beziehungen, Sexualität etc.

5. ebene der Organisationen und Einrichtungen – Ergebnisse der Online-Befragung und Interviews mit Vertreterinnen von Organisationen und Unterstützungseinrichtungen

Dieses Kapitel erörtert und diskutiert die Erkenntnisse basierend auf den quantitativen und qualitativen Befragungen von Mitarbeiterinnen aus Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen sowie Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Hierbei werden die Ergebnisse der quantitativen Erhebung mittels Online-Fragebogen sowie der qualitativen Erhebung mittels leitfadenorientieren Mitarbeiterinnen-Interviews hinsichtlich der einzelnen Themenbereiche und unter Bezugnahme der Daten detailliert dargestellt.

Abbildung 7: Einrichtungsart
Einrichtungsart

Antworten (N)

Antworten (%)

% der Fälle

Frauenhaus

17

21 %

25,8 %

Frauenberatungsstelle

32

39,5 %

48,5 %

Frauennotruf

5

6,2 %

7,6 %

Interventionsstelle/Gewaltschutzzentrum

6

7,4 %

7,6 %

Anlaufstelle für Frauen mit Behinderungen und Gewalterfahrungen

3

3,7 %

4,5 %

Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen mit Behinderungen

3

3,7 %

4,5 %

Anlauf- und Beratungsstelle für Frauen und Männer mit Behinderungen

5

6,2 %

7,6 %

Etwas anderes

10

3,7 %

15,2 %

Gesamt

81

100 %

122,7 %

5.1 Einrichtungsformen

Die an der Online-Umfrage teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen gliederten sich wie folgt:

Mit Abstand am häufigsten nahmen Frauenberatungsstellen an der Befragung teil (48,5 %). Etwa ein Viertel der Fälle (25,8 %) definierte sich selbst als Frauenhaus. Auffallend wenige Teilnehmerinnen hingegen ordneten die eigene Organisation im Bereich der Behindertenhilfe ein (16,6 %). Vor allem spezifische Anlaufstellen für Frauen mit Behinderungen und Gewalterfahrungen sind kaum vertreten. Dies hat jedoch nicht mit einer geringen Bereitschaft der Einrichtungen zu tun, an der Umfrage teilzunehmen, sondern vor allem damit, dass in Österreich kaum Anlauf- und Beratungsstellen existieren, die sich vorwiegend auf die Zielgruppe der gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen spezialisieren.

An der Umfrage nahmen Organisationen und Einrichtungen aus allen Bundesländern teil, überwiegend vor allem aus der Steiermark (11 Einrichtungen) sowie aus Niederösterreich (9). Deutlich weniger Organisationen und Einrichtungen nahmen in Vorarlberg (2) teil.

Ein Großteil der Einrichtungen und Organisationen ist im städtischen Bereich angesiedelt: 42 % befinden sich in einer Großstadt, 41 % in einer mittelgroßen bzw. Kleinstadt und nur 17 % im ländlichen Bereich (siehe Abbildung 8).

Abbildung 8: Stadt-Land-Vergleich

Wo befindet sich Ihre Einrichtung:

in einer Großstadtmit mehr als 100.000Einwohnerinnen und Einwohnern

(42 %)

in einer mittelgroßen Stadtoder Kleinstadt

(41 %)

im ländlichen Bereich

(17 %)

Die Organisationen und Einrichtungen haben meist zwischen 5 und 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nur ein Unternehmen gab an, mehr als 250 Angestellte zu beschäftigen.

5.2 Zielgruppen der befragten Einrichtungen

Die befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Online- Umfrage wurden gebeten, eine prozentuelle Einschätzung vorzunehmen, wie viele Frauen, welche die Einrichtung aufsuchen, eine Beeinträchtigung aufweisen. Durchschnittlich, so die Selbsteinschätzung von 69 an dieser Frage teilnehmenden Einrichtungen, haben rund 36 % der Klientinnen eine Beeinträchtigung. Bei der Interpretation des Mittelwertes ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch Einrichtungen und Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen an der Umfrage teilnahmen, deren KundInnen vorwiegend Menschen mit Behinderungen sind.

Der Mittelwert der Angaben ausschließlich von Einrichtungen für Frauen (mit Gewalterfahrungen) liegt daher deutlich darunter, nämlich bei etwa 30 %. Frauen mit Behinderungen, welche die Organisationen und Einrichtungen besuchen, haben meist mehrfache Beeinträchtigungen. Besonders häufig weisen die Frauen eine psychische Beeinträchtigung – mehr als 60 % - auf (siehe Abb.4).

Welche Beeinträchtigungen kommen bei den Frauen in Ihrer Einrichtung am häufigsten vor:

Abbildung 9: Häufigkeit der Zielgruppe Fruen mit Behinderungen nach Beeinträchtigung

Frauen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind mit einem Anteil von etwas weniger als 20 % in Einrichtungen vertreten. Der Anteil an Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen und chronischer Erkrankung liegt nur bei etwas weniger als 10 %. Sehr wenige Frauen mit einer Sinnesbeeinträchtigung – 1-2 % - scheinen die Angebote von- Opferschutzeinrichtungen zu nutzen. Unklar ist, ob Frauen mit Sinnesbeeinträchtigung weniger häufig Gewalt erfahren, ob sie im Falle von Gewalterfahrung weniger auf Opferschutzeinrichtungen zurückgreifen oder ob ihnen bei der Nutzung der Angebote besonders viele Barrieren begegnen. Die Abbildung 9 zeigt nochmals im Überblick die Einschätzungen der teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen.

Der Großteil der interviewten Mitarbeiterinnen[6] aus Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen sowie Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen bestätigt die Ergebnisse des Online-Fragebogens. Laut Mitarbeiterinnen nutzen Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen am häufigsten ihre Angebote.

Ihrer Einschätzung nach sind Gewalterfahrungen selbst oft die Ursache von psychischen Beeinträchtigungen – zu einem geringeren Teil waren sie aber schon vor der Gewalterfahrung vorhanden.

Viele Mitarbeiterinnen sehen Frauen und Männer mit psychischen Beeinträchtigungen nicht als Teil der Gruppe von Menschen mit Behinderungen. Die breite Definition der Vereinten Nationen von Menschen mit Behinderungen[7] , auf die sich das Projekt stützt, löst bei einigen Mitarbeiterinnen Verwunderung und Unsicherheit aus.

Neben Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen zählen auch Frauen mit physischen/körperlichen Beeinträchtigungen und mit Lernschwierigkeiten zu ihren Klientinnen, jedoch in einem weit geringeren Ausmaß bzw. sind sie noch keine Schwerpunktzielgruppe. Davon ausgenommen sind Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Bislang kommen nur wenige gehörlose Frauen in die Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen, berichten Mitarbeiterinnen. Beratungen für gehörlose Frauen können dann stattfinden, wenn Dolmetscherinnen für Österreichische Gebärdensprache die Verständigung sicherstellen. Diese werden entweder von den gehörlosen Frauen mitgebracht oder von der Opferschutzeinrichtung organisiert. Wenn jedoch eine gehörlose Frau beispielsweise in einem Frauenhaus aufgenommen wird, kann es während des Aufenthaltes zu Verständigungsproblemen kommen, wenn keine Mitarbeiterin die Österreichische Gebärdensprache beherrscht. Dies ist zum überwiegenden Teil der Fall.

Blinde oder sehbeeinträchtigte Frauen kommen sehr selten in eine Beratungs- oder Opferschutzeinrichtung, melden Mitarbeiterinnen rück.

Es wird oft betont, dass Frauen mit Behinderungen nicht als spezifische Teilgruppe wahrgenommen werden, da die Frau mit ihrer Gewalterfahrung im Mittelpunkt steht. Erst dann wird die Diversität zu anderen Teilgruppen von Frauen genannt, erwähnen einige befragte Mitarbeiterinnen. Damit einhergehend wird auf die Flexibilität verwiesen, die aufgebracht wird, um die Frau gemäß ihrer individuellen Bedürfnisse bestmöglich zu beraten bzw. auch unterbringen zu können. Dazu zählt auch die Weitervermittlung an andere spezialisierte Organisationen und Berufsgruppen. Zudem werden Beratungen auch extern in Institutionen und bei Klientinnen zu Hause durchgeführt, wenn für die Frauen der Besuch in die Opferschutzeinrichtungen schwierig zu bewerkstelligen ist, bestätigte ein Fünftel der befragten Mitarbeiterinnen.

5.2.1 Zugänglichkeit nach Beeinträchtigungsform

Die teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen wurden bezüglich der Barrierefreiheit und Zugänglichkeit nach einzelnen Beeinträchtigungen befragt[8]. Folgende Grafik zeigt die Einschätzung der Befragten aufgegliedert nach sieben Zielgruppen.

  • Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen

    Die Grafik zeigt auf, dass Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen nach Angaben der Befragten besonders häufig Barrieren gegenüberstehen, wenn sie Angebote zum Opferschutz und zur Beratung nutzen wollen.

    Abbildung 10: Zugänglichkeit nach Beeinträchtigungen

    Vor allem blinde und sehbeeinträchtigte Frauen haben kaum Zugang: nur 2,7 % der Organisationen und Einrichtungen[9] sind für diese Zielgruppe uneingeschränkt zugänglich, 48,6 %[10] sind überhaupt nicht barrierefrei. Zudem geben nur 9,6 % der Organisationen und Einrichtungen[11] an, gehörlosen und hörbeeinträchtigen Frauen uneingeschränkt barrierefreien Zugang bieten zu können. 25 Organisationen und Einrichtungen[12] führen an, dass sie Angebote für blinde und sehbeeinträchtigte Frauen bereitstellen. So werden beispielsweise Texte und Raumbeschriftungen in Braille-Schrift angeboten, Zugang für Blindenhunde gewehrt, Assistenzleistungen sowie Fahrtendienste ermöglicht oder auch Audiodateien, ein blindengerechter Lift und/oder barrierefreie Homepages angeboten. Zudem werden Methoden, wie Aufklärung durch anatomische Puppen oder auch Geschlechtsteile aus Plüsch, vereinzelt angewendet. Deutlich mehr Maßnahmen werden für gehörlose und hörbeeinträchtigte Frauen getroffen. Hier verweisen bereits 42[13] Organisationen und Einrichtungen darauf, spezifische Angebote oder technische Ausstattungen für die Zielgruppe umzusetzen, wie beispielsweise Verfügbarkeit von Gebärdensprachdolmetscherinnen, schriftlichen Informationen per Mail und SMS oder in Gebärdensprache, barrierefreie Homepages oder Gebärdensprach-DVDs. Des Weiteren werden Selbstverteidigungskurse und Workshops angeboten oder es wird an spezialisierte Stellen weitervermittelt.

    Trotz einiger gesetzter Maßnahmen merkt ein Großteil der interviewten Mitarbeiterinnen an, dass in den Einrichtungen, die sie vertreten, kaum Leitsysteme für blinde und sehbeeinträchtigte Frauen sowie weder Sprachausgaben für Informationen noch Dokumente und Informationsmaterial in Braille vorhanden sind. Beschriftungen in Braille in Liftanlagen finden sich nur in manchen Organisationen. Blinde und sehbeeinträchtigte Frauen sind auch selten Zielgruppe von speziellen Projekten/Angeboten (bis auf eine befragte Organisation) und der Öffentlichkeitsarbeit.

    Für gehörlose oder hörbeeinträchtigte Frauen hingegen verweisen die befragten Mitarbeiterinnen auf vermehrte Unterstützungsmaßnahmen, die in ihrer Organisation angeboten werden. So geben die Mitarbeiterinnen an, dass Beratungen für gehörlose Frauen mit DolmetscherInnen für Österreichische Gebärdensprache gut funktionieren. Allerdings gibt es nur in einer der 15 Organisationen eine Mitarbeiterin, die Österreichische Gebärdensprache beherrscht.

    Die Kommunikation ist allerdings sehr eingeschränkt und herausfordernd, wenn keine Dolmetscherin zur Verfügung

    […] und ich selber hab einmal wo die Dolmetscherin nicht Zeit gehabt hat, hab ich sie begleitet zu Gericht und da hab ich gemerkt wo meine eigenen, also wie begrenzt ich bin, wir können miteinander nicht sprechen. Das war richtig schmerzlich auch für mich zu erfahren…“ (EXP04 S.5)

  • Frauen mit Lernschwierigkeiten

    Ein ähnliches Bild hinsichtlich der Zugänglichkeit zeigt sich bei der Zielgruppe der Frauen mit Lernschwierigkeiten. Ein Fünftel der Organisationen und Einrichtungen sagt, uneingeschränkt zugänglich für diese Zielgruppe zu sein, 60 %[14] sind eingeschränkt zugänglich. Jedoch werden in 50 Organisationen und Einrichtungen[15] spezifische Maßnahmen für diese Zielgruppe gesetzt. Vor allem handelt es sich dabei um das Angebot, Adressen bereitzustellen und an geeignete Stellen weiterzuvermitteln. Materialien und Beratung in „Leichter Sprache“ werden zudem von 20 Stellen angeboten.

    Das Angebot für Frauen mit Lernschwierigkeiten wird von den befragten Mitarbeiterinnen ebenfalls als sehr vielfältig und unterschiedlich beschrieben.

    Es reicht von spezialisierten Angeboten wie Beratungen, Informationen, Workshops und Weiterbildungen in „Leichter Sprache“ bis zu keinen spezifischen Maßnahmen für Frauen mit Lernschwierigkeiten.

    Viele Mitarbeiterinnen betonen dabei, dass ihnen die Beratungen in „Leichter Sprache“ leichter fallen, da sie diese oftmals auch in Beratungen für Frauen mit Migrationshintergrund verwenden. Als barrierefreies Informationsmaterial zum Thema Gewalt wird häufig jenes des Vereins Ninlil „Gegen Gewalt.[16] Informationen und Adressen für Frauen mit Lernschwierigkeiten“ angeboten.

    Informationsmaterialien der jeweiligen Organisationen liegen, laut der befragten Mitarbeiterinnen, nicht in „Leichter Sprache“ vor. Manche dieser Mitarbeiterinnen schätzen die Zugangsmöglichkeiten von Frauen mit Lernschwierigkeiten zu Informationen, die Gewaltschutz und Gewaltschutzgesetze betreffen, als sehr gering ein. Oft wird dabei angemerkt, dass es auch mit dem unzureichenden bzw. fehlenden Zugang zu Informationen und Aufklärung allgemein in den Themenbereichen Selbstbewusstsein, Entwicklung, Sexualität, Gewalt usw. im Kindes-und Jugendalter zu tun hat. Verstärkt wird diese Entwicklung oft durch die in der Gesellschaft vorherrschenden Vorurteile und Ängste gegenüber Menschen mit Behinderungen.

    Eine Mitarbeiterin erachtet den Zugang zu Informationen und in Folge zu Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen vornehmlich für Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in einer sozial benachteiligten Familie leben, als besonders eingeschränkt. Eine weitere interviewte Mitarbeiterin merkt an, dass die geschlechtsneutrale Sozialisation, die das Leben von Frauen mit Behinderungen (und im Speziellen Frauen mit Lernschwierigkeiten) stark prägt, eine zusätzliche Barriere darstellt.

    „[…] Frauen mit Behinderung einfach so oft nicht so sozialisiert werden als Frauen. Mit Sexualität und alle diese Sachen. Es kommt auch in diesen ganzen Frauensachen einfach nicht vor. Wir kommen einfach kaum vor.“ (Interview EXP10 S.18)

    Befragt nach der Aufnahme von Frauen mit Lernschwierigkeiten in Opferschutzeinrichtungen, weist eine Expertin darauf hin, dass Frauen mit Lernschwierigkeiten aufgenommen werden können, aber dabei die Vertragsfähigkeit der Frauen geklärt werden muss. Die Frauen müssen die Anonymität, Sicherheit und Schweigepflicht, die sie selbst gewährleistet bekommen, auch den anderen Frauen garantieren können. Dies ist ein sehr heikler Punkt vor allem im ländlichen Bereich. Hier wird die Kooperation mit Personen, die bereits mit der betroffenen Frau gearbeitet haben, als wichtig und hilfreich erachtet.

    Eine interviewte Mitarbeiterin verweist darauf, dass die Organisation, die sie vertritt, nicht niederschwellig [17] ist und dies an sich schon eine Barriere für gewaltbetroffene Frauen darstellt und eine noch größere für Frauen mit Lernschwierigkeiten.

  • Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen

    Etwas positiver ist die Einschätzung der Barrierefreiheit bei der Zielgruppe der Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Fast 50 Prozent der Organisationen und Einrichtungen gaben an, für Rollstuhlfahrerinnen und auch für Geh- und Bewegungsbeeinträchtigte uneingeschränkt zugänglich zu sein. Allerdings weist immer noch ein Viertel der Befragten darauf hin, nicht für Rollstuhlfahrerinnen zugänglich und ein Sechstel für Geh- und Bewegungsbeeinträchtigte nicht zugänglich zu sein. Insgesamt setzen jedoch 30[18] Organisationen und Einrichtungen spezifische Angebote für Rollstuhlfahrerinnen um oder installieren Vorrichtungen für einen barrierefreien Zugang. Die Maßnahmen betreffen überwiegend rollstuhlgerechte Eingangsbereiche und Gänge. Etwa 14 Befragte geben an, rollstuhlgerechte Sanitäranlagen zu haben. Nur 6 Organisationen und Einrichtungen sagen, komplett barrierefrei für Rollstuhlfahrerinnen zu sein. Des Weiteren werden manchmal ambulante Beratung oder Assistenz, Fahrten- und Abholdienste, mobile Rampen, Workshops und Kurse angeboten.

    Die Einschätzungen der befragten Mitarbeiterinnen hinsichtlich der Zugänglichkeit für Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind wiederum sehr unterschiedlich. Eine Mitarbeiterin beschreibt die Einrichtung, die sie vertritt, in welcher Frauen mit Gewalterfahrung aufgenommen werden, bis auf die Balkone als barrierefrei. Dort wurde bereits eine Frau mit Assistenz aufgenommen. Dies stellt eine Seltenheit in Organisationen dar, da häufig die Räumlichkeiten dafür fehlen oder eine eventuell schwierige Gruppendynamik mit den anderen Frauen als Hauptgrund genannt wird.

    Zwei Mitarbeiterinnen erzählen, dass bislang relativ wenige Frauen, die den Rollstuhl benützen, in die Beratungseinrichtung oder die Opferschutzeinrichtung mit Assistenzbedarf kamen. Es wird von manchen Mitarbeiterinnen angemerkt, dass bei unzureichender Barrierefreiheit schon eine gewisse Flexibilität besteht, Beratungen an anderen, zugänglichen Orten durchzuführen.

    Als besonders positiv wird die Mitarbeit von Sozialarbeiterinnen, die selbst einen Rollstuhl benützen, angemerkt. Damit wäre einerseits mehr Barrierefreiheit erforderlich und andererseits sei das Verständnis, das soziale Lernen unter den Kolleginnen ein Größeres und Barrieren im Kopf werden abgebaut.

  • Frauen mit psychischer Beeinträchtigung

    Die Zugänglichkeit für Frauen mit psychischer Beeinträchtigung scheint in den befragten Organisationen und Einrichtungen jedoch noch am stärksten gegeben. Nur 5,4%[19] (das entspricht vier Organisationen oder Einrichtungen) kreuzten an, gar nicht barrierefrei für diese Zielgruppe zu sein bzw. mit dieser Zielgruppe generell nicht zu arbeiten. Insgesamt 62 Organisationen und Einrichtungen[20] setzen auch spezifische Angebote für psychisch erkrankte Frauen: dazu zählen vor allem die Vernetzung, Kooperation und Weitervermittlung an ambulante Angebote und Unterstützungsstrukturen oder auch stationäre Einrichtungen, die Ermöglichung von Psychotherapie, psychologische Beratung oder sozialpädagogische Begleitung oder auch die Teilnahme an Seminaren, Kursen und Workshops.

    Viele interviewte Mitarbeiterinnen melden rück, dass für sie Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen nicht unmittelbar zur Teilgruppe Frauen mit Behinderungen zählen. Eine Mitarbeiterin erklärt, dass es für sie „einen Unterschied zwischen psychisch kranken Frauen und Frauen mit Behinderungen“ gibt (Interview EXP15 S. 2) und sie die Frauen nicht in der gleichen Gruppe sieht. Eine andere Mitarbeiterin erklärt, Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen nicht zu beraten bzw. an andere Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen zu verweisen, da die Beraterinnen fachlich dafür nicht qualifiziert sind. Die restlichen Mitarbeiterinnen betonen, dass sie mit Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen umfassende professionelle Erfahrung haben und das Beratungsangebot für sie zugänglich ist.

  • Frauen, die in voll- oder teilstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben und/oder auf Pflege und Assistenz angewiesen sind

    Darüber hinaus wurden die teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen gefragt, inwieweit diese auf Unterstützung von Frauen, die in voll- oder teilstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben und/oder auf Pflege und Assistenz angewiesen sind, eingestellt sind. Fast die Hälfte aller Organisationen und Einrichtungen machte die Angabe[21] , gar nicht auf diese Zielgruppe eingestellt zu sein und nur 15 %[22] schätzen sich vollkommen barrierefrei ein. Unterstützungsangebote für Frauen beinhalten vor allem ambulante und mobile Beratung, die Möglichkeit der telefonischen Kontaktaufnahme, aber auch die Weitervermittlung an geeignete Stellen.

  • Verschiedene zusätzliche Anmerkungen zu Barrieren

    Während der Mitarbeiterinneninterviews wurden zahlreiche zusätzliche Anmerkungen im Hinblick auf Barrieren gemacht. Immer wieder wird geäußert, dass der Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Informationen als schwierig erachtet wird.

    Dies ist insbesondere bei in ländlichen Gebieten lebenden Frauen der Fall. Zudem ist es im ländlichen Bereich aufgrund fehlender Infrastruktur und nicht vorhandener barrierefreier Verkehrsmittel um ein Vielfaches schwieriger, Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen zu erreichen. Eine Mitarbeiterin bemängelt auch die fehlenden finanziellen Mittel, um Psychotherapie und Kinderbetreuung zu finanzieren. Als weitere Barriere wird auch erlebt, dass es am Land kaum Kontakt zu Frauen mit Behinderungen gibt.

    Ich erlebe es bei uns am Land einfach auch ein bisschen als unsichtbar – Frauen mit Behinderungen. Es ist irgendwie… also ich kenne auch privat ganz wenige. Man sieht auch wenige auf der Straße im Vergleich zur Stadt… […] Also für mich stellt sich auch einfach die Frage nach dem Zugang, und das ist auch so eine Kernfrage. Wie erfahren Frauen mit Behinderungen überhaupt von uns und unseren Angeboten?“ (Interview, EXP05, S.4)

    Die föderalistischen Strukturen gerade im Hinblick auf den Gewaltschutzbereich in Österreich – unterschiedliche Bundes- und Länderkompetenzen bei Gesetzgebung, Verwaltung, Finanzierung, etc. – werden ebenso als Barriere insbesondere für Frauen mit und ohne Behinderungen erlebt, wobei eingeräumt wird, dass dies wahrscheinlich in höherem Maße Frauen mit Behinderungen betrifft.

    Also wenn ich eine Banane bin, dann kann ich leichter mich weltweit, na das ist ja arg, oder? Als Banane kann ich mich besser bewegen und habe weniger Barrieren zu überwinden, als wenn ich eine Frau bin, die geschlagen wird. Das ist ja unglaublich eigentlich. […] Ja, wie irre das ist. Freier Personenverkehr Ha Ha Ha, kann ich nur lachen darüber. Ich kann als Unternehmer eine Firma in Bangladesch gründen, damit ich Steuer spare, aber ich kann als Kärntnerin nicht nach Wien ins Frauenhaus gehen, weil ich keine Banane bin.“ (Interview EXP03, S.12)

    Darüber hinaus erschweren die geringe gezielte Öffentlichkeitsarbeit und die mangelnde Kooperation zwischen den Institutionen den barrierefreien Zugang für Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen.

5.2.2 Aktivitäten zur Förderung der Zugänglichkeit

In Abbildung 11 wurde die Umsetzung von Barrierefreiheit in den Organisationen und Einrichtungen nochmals gesammelt erhoben. Die Grafik gibt einen Überblick über die bereits etablierten und die geplanten Aktivitäten zur Förderung eines barrierefreien Zugangs.

Vor allem im Bereich der Beratung für unterschiedliche Zielgruppen setzen einige Organisationen und Einrichtungen Barrierefreiheit um. Besonders für die Zielgruppe – dies scheint aufgrund der bisherigen Aussagen wenig verwunderlich – der psychisch erkrankten Frauen werden Maßnahmen gesetzt, welche eine barrierefreie Unterstützung ermöglichen. Des Weiteren werden für MitarbeiterInnen von Organisationen und Einrichtungen unterschiedliche Fortbildungen und Sensibilisierungsmaßnahmen durchgeführt, welche zur Optimierung des Unterstützungsangebots auch für Frauen mit Behinderungen dienen. Zudem bestätigt sich wiederum die geringe Berücksichtigung der Zielgruppe der sehbeeinträchtigten und blinden Frauen bei der Umsetzung der Unterstützungsangebote, so existieren in den Organisationen und Einrichtungen kaum Leitsysteme oder Angebote in Braille. Dies scheint auch in nächster Zeit nicht geplant zu sein. Die befragten Organisationen und Einrichtungen setzten sich vor allem Maßnahmen als Ziel, welche eine Verbesserung der baulichen Barrierefreiheit beinhalten oder versuchen in nächster Zeit, die Internetseite und auch die Informationsmaterialien barrierefreier zu gestalten.

Unter Sonstiges wurde vor allem die schlechte Finanzierung zur Umsetzung von Maßnahmen zur barrierefreien Unterstützung genannt. Der Großteil der Mitarbeiterinnen gibt an, sich nicht gezielt an Frauen mit Behinderungen zu wenden. Es gibt aber dennoch einige bereits bestehende spezifische Angebote und Aktivitäten für Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.

Am meisten Angebote und Materialien gibt es, nach Auskunft der Mitarbeiterinnen, für Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen. Die Mitarbeiterinnen sind geschult und haben oftmals viel Erfahrung in der Beratung und psychosozialen Begleitung einschließlich Prozessbegleitung von Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen.

Beratungen oder Gesprächsrunden in „Leichter Sprache“ werden ebenfalls angeboten, aber in den seltensten Fällen öffentlich präsentiert und/oder beworben. Beispielsweise bietet eine Organisation wöchentliche Gesprächsrunden für Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in einer Einrichtung leben, an.

Ähnliches gilt hier für gehörlose Frauen. Beratungen gibt es, wenn eine Dolmetscherin für Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) dabei ist, hingegen sind Informationen auf den Webseiten in ÖGS sehr selten. Unterschiedliche Methoden, wie Fotobücher, anatomische Puppen und andere Materialien werden bei der Beratung, Therapie und Prozessbegleitung eingesetzt.

Sehr wenige Angebote werden von den Mitarbeiterinnen für blinde und sehbeeinträchtigte Frauen genannt. Bis auf das Gewaltschutzgesetz, gibt es kaum Informationen über die Organisationen und deren Angebote in Großdruck oder Braille und akustischer Textverarbeitung z.B. auf Webseiten.

Es werden keine Angebote für Frauen mit schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen, die auf umfassenden Unterstützungsbedarf angewiesen sind, erwähnt. Diese Zielgruppe wird auch als die am schwersten erreichbare beschrieben. Als Grund dafür werden sowohl fehlende professionelle Methoden, als auch fehlende Möglichkeiten des Zugangs zu den Frauen beschrieben.

Abbildung 11: Aktivitäten zur Förderung eines barrierefreien Zugangs. Grafik ausschließlich nach Frauenberatungsstellen, Frauenhäuser, Frauennotruf und interventionsstellen

Aktivitäten

EXISTIEREND

GEPLANT

N

%

% der Fälle

N

%

% der Fälle

Erreichbarkeit aller Räumlichkeiten inkl.Sanitäranlagen für Rollstuhlfahrerinnen und körperbehinderte Frauen

32

7,1 %

45,7%

21

12,9%

38,2%

Erreichbarkeit eines Teils der Räumlich-keiten für Rollstuhlfahrerinnen und körperbehinderte Frauen

21

4,7%

30,0%

10

6,1%

18,2%

Klingeln in Braille für blinde Frauen

2

0,4%

2,9%

8

4,9%

14,5%

Leitsysteme für blinde Frauen

3

0,7%

4,3%

3

1,8%

5,5%

Gebärdensprachliche Beratung für gehörlose Frauen

27

6%

38,6%

4

2,5%

7,3%

Email/Online-Beratung für gehörlose Frauen

47

10,4

67,1

7

4,3%

12,7%

Lichtklingeln für gehörlose Frauen

2

0,4%

2,9%

7

4,3%

12,7%

Beratung in leichter Sprache

49

10;9%

70,0%

6

3,7%

10,9%

Beratung und Angebotefür psychisch erkrankte Frauen

60

13,3%

85,7%

12

7,4%

21,8%

Beratung und Angebote für chronisch erkrankte Frauen

54

12,0%

77,1%

7

4,3%

12,7%

Unterstützung beim barrierefreien Zugang zu Polizei und Justiz

32

7,1%

45,7%

3

1,8%

5,5%

gezielte aufsuchende Angebote für Frauen mit Behinderungen

21

4,7%

30,0%

6

3,7%

10,9%

gezielte Ansprache behinderter und chronisch erkrankter Frauen in der Öffentlichkeitsarbeit

14

3,1%

20,0%

14

8,6%

25,5%

barrierefreie Internetseite/ Informations-materialien z.B. in leichter Sprache oder in ÖGS

28

6,2%

40,0%

21

12,9%

38,2%

Fortbildungen für Mitarbeiterinnen

44

9,8%

62,9%

23

14,1%

41,8%

spezifische Kursangebote für Frauen mit Behinderungen

14

3,1%

20,0%

6

3,7%

10,9%

Sonstiges

-

-

-

5

3,1%

9,1%

Gesamt

450

100%

642,9%

163

100%

296,4%

5.2.3 Informationsstand hinsichtlich der Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen

Jene Mitarbeiterinnen, die in Organisationen arbeiten, die sich ausschließlich auf Angebote für Frauen (und Männer) mit Behinderungen spezialisieren, berichten ausführlich über die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen mit und ohne Gewalterfahrung. die restlichen Mitarbeiterinnen aus Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen antworten alle, sich nicht ausreichend über die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen informiert zu fühlen. als Gründe werden genannt: geringe bzw. fehlende direkte Kontakte und Erfahrungen mit Frauen mit Behinderungen als Klientinnen, zu wenig Weiterbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich, zu geringe Kooperation mit Selbstvertretungseinrichtungen und Organisationen für Menschen mit Behinderungen sowie fehlende Ressourcen, um sich damit zu beschäftigen.

Also ich glaube ausreichend informiert werde ich nie sein, weil es immer wieder ein individuelles Erlebnis ist […] Also ich glaube, dass ich grundsätzlich meine Haltung brauche, mich auf den anderen, auf seine Welt und auf das Verstehen und Begreifen von dieser Welt einzulassen ...“ (interview, Exp05, s.16)

5.2.4 Annahme von Angeboten von Frauen mit Behinderungen

Am häufigsten werden, laut Mitarbeiterinnen, Angebote von Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen angenommen. Mit wenigen Ausnahmen erwähnen die Mitarbeiterinnen, dass Frauen mit anderen Beeinträchtigungen bis dato eher selten, in manchen Organisationen überhaupt nicht, in die Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen kämen. in einer Organisation wurden spezifische Angebote von Frauen mit Behinderungen nur sehr zögerlich angenommen. die Gründe dafür sind nicht eindeutig erklärbar.

Also erstens mal hat es lang gedauert bis wir als Einrichtung uns speziell und mehr damit befasst haben, das muss man auch so sagen. Und zweitens wird’s auch nicht leicht angenommen. Also es ist nicht leicht Kontakt aufzunehmen oder das so transparent und gut anzubieten, dass es sozusagen auch gerne angenommen wird. […] es ist schon zwei Mal passiert, dass wir versucht haben das zu organisieren und es dann ausfallen hat müssen, weil zu wenig Teilnehmerinnen waren. Also es scheint sehr schwer möglich zu sein. Und die Gründe dafür sind wahrscheinlich sehr vielschichtig. […] Also ich glaube, dass es zum einen große Berührungsängste gibt von Frauen mit Behinderungen auch diesen Schritt zu tun, was wiederum, glaub ich, mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängt; mit Stellenwert in der Gesellschaft, auch mit der Erfahrung, dass behinderten Frauen noch schwerer geglaubt wird, wie ohnehin schon. […] Und ich glaube auch, der Schritt, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, erfordert prinzipiell sehr viel Selbstvertrauen, Selbstwert, Mut, Stärke. Und ich glaube, dass das […] muss im Kleinkind- und Kindergartenalter anfangen, dass es so was gibt wie einen selbstverständlichen Aufbau vom Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, und Grenzen von behinderten Frauen anzuerkennen. Also das ist, denke ich, eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die wir nicht alleine erfüllen können. Aber ein wichtiger Schritt.“ (interview, Exp01, s 2f)

Weiters erwähnt eine Mitarbeiterin, dass Frauen mit Behinderungen vor allem im ländlichen Bereich die Angebote von Opferschutzeinrichtungen kaum nutzen. das lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass z.B. Ärztinnen Frauen kaum an Opferschutz- oder Beratungsstellen weitervermitteln, und dass Informationen über die Beratungsstellen sowie deren Arbeitsweisen und Angebote fehlen bzw. kaum vorhanden sind.

Darüber hinaus berichten Mitarbeiterinnen, dass insbesondere Frauen mit Behinderungen oft Angst davor haben, Einrichtungen zu kontaktieren, da sie im Laufe ihres Lebens häufig schlechte Erfahrungen innerhalb institutioneller Unterstützungsstrukturen gemacht haben. daneben sind Existenzängste und Verlust der betreuenden Person Gründe, warum Beratungs- und Opferschutzangebote wenig angenommen werden. Eine Mitarbeiterin erzählt, dass eine Gruppe von Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in einer Einrichtung lebt, regelmäßige Beratungen sehr gut angenommen hätten und die Frauen im Laufe der Zeit diese auch mit sehr viel Selbstbewusstsein einfordern und ihre Bedürfnisse kommunizieren. Zudem berichten Mitarbeiterinnen, dass das Angebot der peer-Beratung durch Mitarbeiterinnen mit Behinderungen sehr positiv aufgenommen würde.

„[…] hier in dieser Frauenberatungsstelle, in diesem Raum, weil wir Peer sind, also weil wir auch Frauen mit Behinderung sind, gibt es sozusagen einen Bonus. Im Grunde hat man am Anfang einen Bonus. Also dieses automatische: ah, das ist auch eine Frau mit Behinderung, ich kann von wo anders ausgehen. Ich muss mich nicht -- es sind nicht diese zwei Welten behindert und nicht behindert und hier bin ich in der Welt mit einer anderen Frau mit Behinderung. Das ist jetzt sehr plakativ beschrieben, aber ich glaube, im ersten Moment ist es schon so ein Gefühl von Freiheit.“ (Interview EXP10, S. 6)

5.3 Zugänglichkeit auf nationaler und regionaler Ebene

Das bestehende Unterstützungsangebot für Frauen mit Behinderungen auf regionaler und nationaler Ebene wird von 80 % aller befragten Organisationen sowie Einrichtungen als unzureichend angesehen und sollte erweitert beziehungsweise ergänzt werden. Nur 13 Organisationen und Einrichtungen empfinden das derzeitige Angebot in der Region als ausreichend.

Folgende Grafik zeigt die Ergebnisse der Befragung aller Organisationen und Einrichtungen sowie die Ergebnisse der Auswertung ausschließlich der Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Frauennotruf und Interventionsstellen für Frauen mit Gewalterfahrung (graue Spalten).

Interessant ist – und das spiegeln größtenteils alle Auswertungen getrennt nach Art der Einrichtung wider –,dass Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen die Zugänglichkeit von Frauen mit Behinderungen in der eigenen Organisation und auch auf regionaler Ebene gesamt etwas (wenn auch meist nur minimal) kritischer betrachten. So empfinden Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Frauennotrufe und Interventionsstellen, die mit ihren Angeboten zumeist nicht explizit Frauen mit Behinderungen adressieren, die Zugänglichkeit auf regionaler/ nationaler Ebene zu 1,5 % häufiger als ausreichend.

Abbildung 12: Einschätzung der Zugänglichkeit

N

%

Gültig %

N

%

Gültig

ist nicht ausreichend und sollte erweitert/ergänzt werden

53

68,8

80,3

41

78,8

ist ausreichend

13

16,9

19,7

11

21,2

Gesamt

66

85,7

100,0

52

100,0

Fehlend

System

11

14,3

Gesamt

77

100,0

5.4 Herausforderungen bei der Umsetzung von Barrierefreiheit

Besonders häufig merken die an der Online-Befragung teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen an, vor finanziellen Hürden hinsichtlich einer barrierefreien Gestaltung ihres Angebots zu stehen. Die Problematik der sehr geringen Finanzierungsmöglichkeiten für Maßnahmen zur Förderung der Barrierefreiheit wird an mehreren Stellen des Fragebogens erwähnt. Meist werden nur die Maßnahmen und Angebote verwirklicht, die finanzierbar erscheinen. Aufwändige bauliche Maßnahmen oder der Umzug in ein neues Gebäude wären jedoch meist notwendig, um den Zielgruppen uneingeschränkten Zugang zu ermöglichen.

Barrierefreiheit muss sinnvollerweise umgesetzt werden, aber die Frage der Finanzierung ist nicht geklärt. Es werden derzeit enorme Zeitressourcen in den einzelnen Einrichtungen damit verschwendet, bei den Fördergebern um finanzielle Mittel anzusuchen. Zur Barrierefreiheit muss es ein klares politisches Bekenntnis mit den nötigen finanziellen Ressourcen geben. Die derzeitige Praxis ist höchst ineffizient!“ (Offene Antwort Fragebogen)

Viele interviewte Mitarbeiterinnen erwähnen zudem die Anforderung, die bauliche Barrierefreiheit für alle öffentlichen Gebäude und für all jene, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind, bis Ende 2015[23] laut Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG), umzusetzen.

Diese Maßnahme wird grundsätzlich als wichtig und absolut notwendig erachtet, jedoch fühlen sich die Mitarbeiterinnen nicht ausreichend unterstützt und es fehlt an finanziellen Ressourcen, um diese Richtlinien auch tatsächlich umsetzen zu können. Dies könnte zur Schließung von Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen führen.

Das große Thema ist ja die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit, die jetzt umgesetzt wird und das sind die baulichen Veränderungen, das ist einmal der erste große Punkt, der von uns getragen wird, verstanden wird, für sehr gut befunden wird, wo wir uns nur finanziell total allein gelassen fühlen und nicht nur wir, sondern die sozialen Einrichtungen. Weil nicht geklärt ist, wie es finanziert werden soll, weil wir alles Einrichtungen sind, die keine Rücklagen bilden dürfen, aber jetzt welche haben müssen, damit wir eine EU-Richtlinie umsetzen können und daran werden noch Forderungen der Fördergeber verknüpft, was dazu führt, dass Standorte, zum Beispiel Kolleginnen müssen ihren Standort schließen, weil er nicht barrierefrei gemacht werden kann und das ist eine total absurde Situation […] Es ist eine Umsetzung, die politisch getroffen wurde, die absolut richtig ist, aber der politischen Entscheidung fließen keine finanziellen Mittel nach und das ist ein Spießrutenlauf und es ist eine absolute kafkaeske Situation. (Interview, EXP03, S.7-8)

Auch erwähnen die Organisationen und Einrichtungen, die am Online-Fragebogen teilgenommen haben, und die interviewten Mitarbeiterinnen, dass teilweise das Wissen der Mitarbeiterinnen über die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen fehlt. Demnach werden mehr Fortbildungen und Schulungen benötigt, welche jedoch schwer zusätzlich finanziert werden können. Zudem fehlen teilweise auch personelle Ressourcen wie beispielsweise DolmetscherInnen.

Eine weitere Herausforderung stellt die weitläufige Tabuisierung der Thematik „Gewalterfahrung von Frauen mit Behinderungen“ dar. Es erscheint daher besonders notwendig, gezielte Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu forcieren. Eine Mitarbeiterin erwähnt Aufklärungsarbeit zum Thema Sexualität und Menschen mit Behinderungen sowohl für die Personen aus dem Umfeld der Frauen als auch für die Frauen (und Männer) selbst als besonders wichtige Aufgabe.

Angesprochen wird auch die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung und Kooperation mit anderen Organisationen und auch Einrichtungen von und für Menschen mit Behinderungen. Häufig fehlt der Überblick über relevante Stellen.

Als schwierig empfinden einige befragte Organisationen und Einrichtungen auch, dem Postulat der Barrierefreiheit im umfassenden Sinn nachzukommen. Um vollkommene Barrierefreiheit umzusetzen, bedarf es einer Vielzahl an finanzieller, personeller und zeitlicher Ressourcen, die derzeit nicht mobilisiert werden können. Barrierefreiheit erscheint vielen als unerreichbares Ziel, wodurch die Motivation, etwas zu verändern, verringert wird.

Ich finde das immer ein bissl absurd, wenn bei solchen Sachen dann quasi Barrierefreiheit gewährleistet sein muss, nicht? Und auf der anderen Seite gibt es gar nicht genug Ressourcen, um die Personen alle zu beraten. Also das ist einfach so eine Diskrepanz. (...) Ich meine, das muss ja auch im Einklang stehen. Und deswegen muss ich sagen, halte ich auch nicht so viel davon, dass man hier diese hohen Ansprüche stellt und auf der anderen Seite diese Ansprüche überhaupt nicht erfüllen kann. (Interview, EXP15, S. 7)

5.5 Öffentlichkeitsarbeit und Informationsverbreitung – Erreichbarkeit der Zielgruppe

5.5.1 Öffentlichkeitsarbeit

Bis auf wenige Organisationen, die gezielt und aktiv Frauen mit Behinderungen ansprechen und Informationen barrierefrei gestalten, macht dies der Großteil der befragten Organisationen nicht. Bei manchen Organisationen ist es das fehlende Bewusstsein, bestehende Angebote zu bewerben, bei vielen sind es fehlende Ressourcen, um das „Mehr“ an Beratungsleistungen und Unterbringung zum Schutz vor Gewalt bewältigen zu können.

„[…] Und das ist auch ein Grund warum wir jetzt nicht hergehen und sagen, wir […] schreiben die ganzen Einrichtungen an, dass es diese Möglichkeit gibt, weil wir auch nicht die Kapazitäten haben. […] diese Öffentlichkeitsarbeit ist immer so ein Abwägen, dann kommen ganz viele und wir können ihnen keinen Termin anbieten, oder sie müssen dann fünf sechs Wochen warten, also das ist Ressourcenknappheit, ein ganz ein großes Hindernis“ (Interview, EXP03, S. 1)

Eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle gibt an, dass sie derzeit aufgrund mangelnder Ressourcen und Arbeitsüberforderung keine zusätzlichen Angebote für Frauen mit Behinderungen entwickeln kann, aber für eine Kooperation mit einer Organisation von und für Menschen mit Behinderungen offen wäre.

„[…] Ansonsten kommt es auch darauf an, wer da die Initiative ergreift. Also, wenn uns das jemand anbietet und sagt, wir glauben, wir können da etwas beitragen zu eurer Verbesserung, dann machen wir das. Da würden wir wahrscheinlich ja sagen. Aber ich meine, wir haben so viel Arbeit, dass wir uns nicht noch die Arbeit suchen, wenn es uns nicht brennend auf den Nägeln brennt. Und dadurch, dass es ja nicht so viele sind und auch nicht von der gleichen Art der Behinderung, ist das natürlich nicht so, dass uns das permanent -- also da sind viel größere Herausforderungen - Migrantinnen aus 80 verschiedenen Ländern mit 80 verschiedenen Sprachen und so. Das ist etwas, wo wir täglich was tun müssen, weil wir sonst nicht kommunizieren können. Da muss ich jetzt sagen, in dem Sinn ist es kein brennendes Problem, weil es einfach quasi auch täglich nicht so häufig vorkommt. Aber ich glaube schon, dass wir bereit wären und auch trotz der wenigen Ressourcen da sozusagen uns selbst noch mehr zu sensibilisieren, wenn jemand aktiv auf uns zugeht. Ja, es ist so, was soll ich sagen? Wir suchen uns die Arbeit nicht, weil wir haben schon genug. Wir können uns keine, dürfen uns gar keine suchen.“ (Interview, EXP15, S. 10)

5.5.2 Erreichbarkeit der Frauen mit Behinderungen

Frauen mit schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen mit umfassendem Unterstützungsbedarf wurden als die am schwersten erreichbare Gruppe beschrieben. Darüber hinaus mangelt es oft an speziellen professionellen Methoden, die es brauchen würde, um diese Frauen bestmöglich betreuen zu können.

Zwei Mitarbeiterinnen erwähnen allerdings, dass der Kontakt zu jenen Frauen mit Behinderungen besser gelingt, die in Einrichtungen untergebracht sind. Der Grund dafür ist eine gute Kooperation mit den Einrichtungen und mit manchen BetreuerInnen.

Die Erreichbarkeit der Zielgruppe der Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen (vor allem blinde Frauen) wird ebenfalls als große Herausforderung gesehen. Die Bedürfnisse jener Frauen werden in den Angeboten und Maßnahmen noch viel zu wenig berücksichtigt – häufig fehlt auch das Wissen, was die Zielgruppe braucht und wie sie umfassender einbezogen werden könnte.

Eine Mitarbeiterin berichtet, dass sie die Notwendigkeit sieht, sich als Organisation konkret an Frauen mit Behinderungen zu wenden:

„[…] wir müssen ihnen auch von den Themen her entgegen gehen, weil das Bewusstsein nicht so da ist, weil nur dort sitzen und zu warten bis jemand kommt und sagt ich habe Probleme, das passt uns irgendwie nicht. Wir machen halt gerne auch was Präventives, um aufzuklären oder zu sensibilisieren und ich denke mir das gleiche werden Frauen mit Behinderungen auch brauchen. Also sich zurückzulehnen und darauf warten, dass sie einfach kommen wird nicht passieren, man muss, denke ich mir, wirklich aktiv was machen, also Projekte, Öffentlichkeitsarbeit.“ (Interview EXP05, S. 13)

Weiters erwähnt eine Mitarbeiterin, dass vor allem im ländlichen Raum die Erreichbarkeit der Organisationen mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr schlecht ist. Es ist beinahe unmöglich für die Frauen, und im Besonderen für Frauen mit Behinderungen, die Organisation zu erreichen. Manche Mitarbeiterinnen schildern, dass die Beraterinnen der Organisationen selbst oftmals Frauen mit Behinderungen nicht erreichen. Sie versuchen aber mit dem Betreuungspersonal von Einrichtungen, in welchen die Frauen leben, den AssistentInnen und Angehörigen zu arbeiten, um dadurch indirekt etwas für die Frauen bewirken zu können. Einige Mitarbeiterinnen erwähnen, dass der Kontakt zu Frauen mit Behinderungen über das individuelle Engagement einzelner Bezugspersonen hergestellt wird.

Auf die Frage welche Vermutungen sie hätten bzw. welche Gründe sie vernehmen würden, warum viele Frauen mit Behinderungen den Beratungs- und Opferschutzeinrichtungen fernbleiben, fassen die Mitarbeiterinnen folgendes zusammen: neben allen Barrieren sind es oft die vielschichtigen Abhängigkeitsverhältnisse und Berührungsängste mit Organisationen, die Frauen daran hindern, sich an Einrichtungen zu wenden. Zusätzlich ist mangelnder Selbstwert als Folge des gesellschaftlichen Umgangs mit Frauen mit Behinderungen oft mit ein Grund, so die Meinung einiger Mitarbeiterinnen. Außerdem wird Frauen mit Gewalterfahrungen, die Beeinträchtigungen aufweisen, noch weniger geglaubt als Frauen mit Gewalterfahrungen ohne Behinderungen.

„[…] Zum Teil geht’s auch darum, dass die Abhängigkeitsverhältnisse ein Stück weit noch mal größer sind als bei Frauen ohne Behinderungen, dass die Frauen sich zum Teil, jetzt kommen wir aber schon einer psychodynamischen Ebene, auch weniger zutrauen, aufgrund von Selbstwertproblemen, die sie sozusagen nicht selber haben, sondern verursacht wurden durch das, wie die Gesellschaft jahrelang oder jahrzehntelang mit ihnen umgeht […] und ich glaube das zeigt auch die Statistik der Gewaltschutzzentren, dass es relativ wenig in Anspruch genommen wird von behinderten Frauen.

[…] große Berührungsängste gibt‘s von Frauen mit Behinderungen auch diesen Schritt zu tun, was wiederum, glaub ich, mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängt; mit Stellenwert in der Gesellschaft, auch mit der Erfahrung, dass behinderten Frauen noch schwerer geglaubt wird, wie ohnehin schon. Also Frauen in der Durchschnittsbevölkerung sozusagen, die berichten auch, dass es so schwierig ist, dass ihnen geglaubt wird und dass dieser Schritt so schwer ist. Und noch schwerer, und ohne dasjetzt werten zu wollen, ist es für Frauen mit Behinderungen. Und ich glaube auch, der Schritt sich Hilfe und Unterstützung zu holen erfordert prinzipiell sehr viel Selbstvertrauen, Selbstwert, Mut, Stärke.“ (Interview, EXP01, S. 1, 3)

5.6 Kooperation und Vernetzung

Die befragten Organisationen und Einrichtungen verweisen auf eine relativ starke und intensive Kooperation und Vernetzung zu unterschiedlichen Stellen, Personen oder auch Institutionen (siehe Abbildung 13). Zwischen 58,5 % bis 72,3 % der Fälle kooperieren mit Interessenvertretungen und Organisationen für Menschen mit Behinderungen, mit Wohn- und Arbeitsstätten für Menschen mit Behinderungen, mit Beratungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen und Frauen-/Gewaltberatungsstellen, die sich auch mit der Unterstützung von Frauen mit Behinderungen befassen. Vergleichsweise etwas geringer als zu anderen KooperationspartnerInnen lässt sich eine Vernetzung mit den Behindertenbeauftragten der jeweiligen Bundesländer feststellen. Knapp ein Drittel aller befragten Organisationen und Einrichtungen und weniger als ein Fünftel der Frauenhäuser, -beratungsstellen, -notruf und der Interventionsstellen (siehe graue Spalten) kooperieren mit Behindertenbeauftragten. Insgesamt 7,7 % geben an, (noch) nicht mit Institutionen, Stellen oder Personen, die sich (auch) für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzen, kooperiert zu haben. Dieser Wert ist bei den Einrichtungen für Frauen allgemein noch etwas höher (9,8 %). Abgesehen davon berichten alle Mitarbeiterinnen von Kooperationen und Vernetzungen mit anderen Organisationen in den Bereichen Beratung für Frauen, Beratung für Frauen bei Gewalterfahrungen, dem Gesundheitsbereich (Krankenhäuser, ÄrztInnen, TherapeutInnen etc.), der Polizei, RichterInnen und auch Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Die Intensität und das eingebrachte Engagement bezüglich einer Zusammenarbeit zum Thema Gewalt an Frauen mit Behinderungen variiert sehr stark. Manche Organisationen pflegen einen eher losen fallbezogenen Kontakt, andere nehmen an regelmäßigen Treffen, Workshops oder Weiterbildungen teil und erarbeiten gemeinsam barrierefreie Materialien zum Thema Gewalt. Als Herausforderungen hinsichtlich der Kooperation mit anderen Organisationen wird von einer Mitarbeiterin die Bereitschaft zur Offenheit, zur Selbstreflexion, zur Annahme von Kritik, aber auch zur Äußerung von konstruktiver Kritik genannt. Als weitere Herausforderung werden die limitierten Zeitressourcen für ebensolche Kooperation, Projekte und damit zusammenhängenden Treffen erwähnt.

Abbildung 13: KooperationspartnerInnen

Antworten N

Antworten %

% der Fälle

Antworten N

Antworten %

% der Fälle

Interessensvertretungen und Organisationen für Menschen mit Behinderungen (MmB)

39

19,0 %

60,0 %

26

18,1 %

51,0 %

Wohn-/Arbeitsstätten für MmB

38

18,5 %

58,5 %

25

17,4 %

49,0 %

Beratungseinrichtungen für MmB

45

22,0 %

69,2 %

33

22,9 %

64,7 %

Behindertenbeauftragte

18

8,8 %

27,7 %

9

6,3 %

17,6 %

Frauen-/Gewaltberatungsstellen, die sich auch mit der Unterstützung von Frauen mit Behinderungen befassen

47

22,9 %

72,3 %

37

25,7 %

72,5 %

Nein, bislang noch nicht

5

2,4 %

7,7 %

5

3,5 %

9,8 %

Sonstige Institutionen, Stellen oder Personen, die sich für die Belange von MmB einsetzen

13

6,3 %

20,0 %

9

6,3 %

17,6 %

Gesamt

205

100,0%

315,4%

144

100,0%

282,4%

5.7 Weitere relevante Themen

  • Arbeit mit Kindern von gewaltbetroffenen Frauen

    Interviewte Mitarbeiterinnen erwähnen, dass immer wieder Frauen mit Kindern mit Behinderungen in Opferschutzeinrichtungen kommen. Die Arbeit mit Kindern von gewaltbetroffenen Frauen ist ein wichtiger Aspekt der gesamten Tätigkeiten und muss mitgedacht und somit erwähnt werden. Wenn Kinder eine Beeinträchtigung haben, bedarf es seitens der Unterstützungseinrichtung auch entsprechender Angebote, die auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Auch die Art der Arbeit von Kinderbetreuerinnen ändert sich in diesem Fall.

  • Arbeit mit von Gewalt betroffenen Frauen mit Behinderungen und Migrationshintergrund

    Von befragten Mitarbeiterinnen wird auch auf die spezifische Situation und die Schwierigkeiten von Frauen mit Migrationshintergrund (mit keinen oder wenigen Deutschkenntnissen) mit Behinderungen und Gewalterfahrungen hingewiesen. Diese stehen zusätzlichen Barrieren gegenüber, wenn sie Unterstützung bei Gewalterfahrungen suchen.

  • Strukturelle Gewalt

    Als sehr wichtig erscheint zudem die Thematik der strukturellen Gewalt, von welcher laut einer befragten Mitarbeiterin, die selbst Peer-Beraterin ist, fast alle Frauen mit Behinderungen während ihrer gesamten Lebensgeschichte betroffen sind:

    “[…] Weil ja so eine Gewalterfahrung, gerade für Frauen mit Behinderung, sehr hoch ist. Und vor allem die körperliche Gewalt, aber vor allem auch die strukturelle Gewalt immer - die strukturelle Gewalt haben eigentlich ALLE erlebt. Das liegt sozusagen an der Gesellschaft. Also strukturelle Gewalt, also ALLE, das behaupte ich jetzt mal so, weil das ja nicht unser Schwerpunkt ist. Aber das ist so, wenn du eine Frau mit Behinderung bist. Wie wenn du eine Frau bist und du lebst in patriarchalen Machtstrukturen. Das hast du einfach erlebt und darüber hast du noch gar nicht reflektiert. Also oft wird strukturelle Gewalt in den Beratungsgesprächen nicht sofort als sowas empfunden, sondern das sagt man, das ist halt so. Und erst in der Auseinandersetzung oder im Vergleichen mit anderen Frauen, mit oder ohne Behinderung denkt man "Ah ja, das ist ja eigentlich nicht ok."

    Wenn du als Kind immer Bevormundung und strukturelle Gewalt erlebt hast, dann ist das ja für dich das Normale, das Übliche. Du hast vielleicht komische Gefühle und du denkst dir, das ist so, weil deine Mama hat das gesagt oder die ganze Umwelt lebt mir das vor. Also, ich glaub, deswegen ist es später dann so schwer für Frauen, das zu benennen, was dann das Unrecht war oder sie sagen dann oft, das war unangenehm oder ich weiß eh, das darf ich nicht sagen, aber...” (Interview EXP10, S.2)

5.8 Zukunftsperspektiven und Verbesserungsvorschläge

Die an der quantitativen und qualitativen Befragung teilnehmenden Organisationen und Einrichtungen und die interviewten Mitarbeiterinnen sehen hinsichtlich der Zugänglichkeit in folgenden Bereichen und Aspekten auf nationaler und regionaler Ebene Verbesserungsbedarf:

  • Quantitative Aufstockung:

    Zum einen sollte das Angebot an barrierefreien Opferschutz- und Beratungseinrichtungen und zum anderen die zeitlichen Ressourcen der Mitarbeiterinnen erhöht werden. Gleichzeitig wäre es aber auch wichtig, bereits bestehende barrierefreie Angebote besser sichtbar zu machen.

  • Weiterbildungen:

    Beinahe alle Mitarbeiterinnen merken an, dass der vorhandene Wissensstand über die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderungen zu gering und sehr ausbaufähig ist, um entsprechende Beratungen und Angebote entwickeln zu können. Schulungen zum Thema Gewalt für Betreuungs- und Assistenzpersonal sind notwendig, um diese entsprechend zu informieren und zu sensibilisieren, damit sie bei Gewaltvorfällen von Personen mit Behinderungen zielgerichtete Unterstützung anfordern können. Es sollten auch mehr Schulungen für Gesundheitspersonal zum Thema Gewalt an Frauen/Gewalt an Frauen mit Behinderungen geben. Die Selbstreflexion von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen hinsichtlich Gewalt müsste ausgebaut werden. Dazu bedarf es einen gewissen Maßes an Offenheit, weil insbesondere bei Gewaltvorfällen in stationären oder teilstationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen die Betroffenheit sehr groß ist und zeitgleich eine Tendenz vorherrscht, wenig nach außen dringen zu lassen. Es sollten zudem mehr Angebote zur Bewusstseinsbildung über die Rechte im Gewaltschutz etc. für Frauen mit Behinderungen geben. Es wären umfangreiche Schulungen und Aufklärungsarbeit von vielen Fachgruppen und anderen Bezugspersonen von Menschen mit Behinderungen zu den Themen „Menschen mit Behinderungen und Sexualität und Behinderungen“ notwendig. Es gilt Barrieren in den Köpfen vieler Personen abzubauen, um einen adäquateren Zugang zum Thema sexualisierte Gewalt an Menschen mit Behinderungen zu finden.

  • Öffentlichkeitsarbeit, Sensibilisierung und Empowerment:

    In Zukunft sollten mehr Auseinandersetzung und öffentliche Bewusstseinsarbeit zum Thema Gewalt an Frauen mit Behinderungen stattfinden. Die Umsetzung der gesellschaftspolitischen Aufgabe, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt in die Gesellschaft zu inkludieren und ihnen ein Leben ohne Gewalt und Diskriminierung zu garantieren, muss forciert werden. Weiters sollte bereits im Kleinst- und Kleinkindalter mit dem selbstverständlichen Aufbau von Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein von Kindern mit Behinderungen begonnen werden. Bei der Öffentlichkeitsarbeit sollten Frauen mit Behinderungen ebenfalls inkludiert sein, indem sie partizipativ daran teilnehmen, um die Gesellschaft zu sensibilisieren.

  • Politische Entscheidungsstrukturen und finanzielle Ressourcen:

    Es wäre ein noch stärkeres Bekenntnis der Politik bzw. der zuständigen Politikerinnen und Politiker notwendig, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen, und hier im Besonderen von Frauen mit Behinderungen. Daraus folgend müssten noch mehr Ressourcen (finanziell und personell) zur Verfügung gestellt werden, denn mit den bestehenden ist es herausfordernd, die Frauen adäquat zu beraten und umfassend zu unterstützen bzw. zu schützen.

  • Barrierefreiheit:

    Opferschutzeinrichtungen, Beratungsstellen, Arztpraxen oder öffentliche Ämter, wie Polizei und Gerichte sollten in Zukunft barrierefrei gestaltet werden, damit auch Frauen mit Behinderungen Zugang bekommen. Dies bedeutet einerseits bauliche Maßnahmen zu setzen, wie z.B. Lifte, Leitsysteme, Zwei-Personenzimmer, um Frauen mit Assistenz die Aufnahme zu ermöglichen, etc. und auch Informationen barrierefrei zugänglich zu machen.

    Zudem sollte in Zukunft vermehrt mobile Beratung möglich sein. Wünschenswert wäre auch eine zuständige Beratungseinrichtung, die bei der Umsetzung von Barrierefreiheit unterstützt und auch Entscheidungsbefugnisse über Finanzierungsmöglichkeiten hat.

    Mehr Barrierechecks durch Menschen mit Behinderungen für Einrichtungen würden bestehende Barrieren sichtbar machen und könnten zum besseren Verständnis über den Bedarf und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen beitragen.

  • Vernetzung und Kooperationen:

    Vernetzung und Kooperation mit Selbstvertretungsorganisationen und Organisationen für Menschen mit Behinderungen werden als sehr wichtig erachtet. Ein direkter Austausch mit Frauen mit Behinderungen wird ebenfalls gewünscht, um ein besseres Verständnis der Situation von Frauen mit Behinderungen zu erlangen und um von ihnen selbst zu erfahren, welcher Maßnahmen es bedarf, um adäquate Unterstützung und Beratung zu gewährleisten. Einige Mitarbeiterinnen würden sich weitere Projekte wünschen, in welchen Frauen mit Behinderungen, Vertreterinnen aus Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen gemeinsam am Thema „Gewalt an Frauen mit Behinderungen“ arbeiten.

  • Peer-Beratung:

    Es sollten mehr Frauen mit Behinderungen als Mitarbeiterinnen in Beratungseinrichtungen und Opferschutzeinrichtungen angestellt werden, um hier Peer-Beratung anbieten zu können, die wiederum einen Beitrag zum Abbau von Berührungsängsten und Barrieren leisten kann.



[6] Es wird darauf hingewiesen, dass im folgenden Text aufgrund verbesserter Lesbarkeit die Meinung der Expertinnen im Präsens wiedergegeben wird, dies aber nicht die Meinung der Autorinnen reflektiert.

[7] Laut der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2006.

[8] Die Auswertungsergebnisse beziehen Organisationen für Menschen mit Behinderungen ein. In den Fußnoten befinden sich die Ergebnisse ausschließlich der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen (Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Frauennotruf und Interventionsstellen für Frauen mit Gewalterfahrungen).

[9] 0% der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[10] 48,1% der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[11] 13,5 % der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen - eine mögliche Interpretation für den in diesem Fall höheren Prozentsatz könnte sein, dass sich möglicherweise Organisationen, welche sich weniger mit Barrierefreiheit für die Zielgruppe beschäftigen, auch weniger kritisch einschätzen.

[12] 19 Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[13] 31 Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[14] 67,3% der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[15] 36 Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[16] Ninlil, Verein für Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung, http://www.ninlil.at (11.6.2014)

[17] Die Bezeichnung „niederschwellig“ wird häufig im Bereich der Sozialen Arbeit verwendet und meint Angebote oder Dienstleistungen, die von den Nutzer Innen nur geringen Aufwand bedürfen, z.B. geringes Vorwissen oder leichte Erreichbarkeit.

[18] 29 Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[19] 1,9% der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[20] 46 Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[21] 51% der Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[22] 13,7% Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen

[23] Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) BGBl. I Nr. 82/2005.

6. Fallbeispiele

Lebensbeschreibung Frau A.

„Gewalt hat für mich sehr viele Formen, das kann schon bei der verbalen Gewalt anfangen, aber auch, dass man jemanden ignoriert, einfach nicht wertschätzt, bis hin zu körperlicher Gewalt natürlich, seelische Grausamkeiten, sexuelle Gewalt, also alles, die ganze Bandbreite.“

Frau A. ist eine sehr aktive und engagierte Frau, sowohl in ihrem Beruf als auch in der Freizeit. Sie hat einen Pflegesohn, eine große Familie sowie einen großen Bekanntenkreis. Da sie als Rollstuhlfahrerin häufig Barrieren im Alltag erleben muss, ist ihr wichtig, ihr Leben so autonom wie möglich zu führen und einer Fremdbestimmung entgegenzuwirken.

Gewalterfahrungen und Diskriminierung in der Kindheit

Ich habe als Einzige nicht in den Kindergarten gehen dürfen, Integration hat es damals noch nicht gegeben. Die haben mich halt nicht genommen wegen dem pflegerischen Aufwand.“

Die Kindheit verlief hürdenreich und schwierig und es kam bereits zu ersten Gewalterfahrungen, begonnen mit dem Kindergarteneintritt, welcher ihr verwehrt wurde. Zum Schuleintritt musste sie aufgrund des nicht vorhandenen Unterstützungssystems in ein Heim, welches weit weg von ihrer Familie lag. Die Zeit im Heim war geprägt von vielen Erniedrigungen und Strafen – psychischer und körperlicher Art.

Die haben mich halt einfach ständig gezwungen zum Essen. Wenn die anderen die Linsen nicht essen wollten, haben sie mir gleich wieder einen Schöpfer hingeklatscht.“

Während der Kindheit und dem jungen Erwachsenenalter berichtete Frau A. auch von sexuellen Übergriffen durch eine männliche Pflegekraft in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, welche nachts gegen ihren Willen in ihr Zimmer kam.

„Also, ich muss sagen, das ist wirklich ein Trauma, das mir wahrscheinlich auch immer bleiben wird. Also dieses Misstrauen, so was Einrichtungen angeht und so.“

Durch einen Verwandten musste sie ebenfalls sexuelle Übergriffe erleben, sie erzählt, dass er in der Familie als sonderbarer Mensch galt, der pädophile Neigungen hatte, jedoch schaute niemand genauer hin.

In der Schulzeit hätte sie einen Rollstuhl gebraucht, den sie damals aber nicht bekam und dadurch in ihrer Mobilität stark eingeschränkt wurde. Zudem machte Frau A. die Erfahrung, dass sie teilweise zur Hilflosigkeit erzogen wurde, indem ihr bestimmte Aufgaben abgenommen wurden. Durch weitere gesellschaftliche und bauliche Barrieren blieben ihr wichtige Erfahrungen und Möglichkeiten verwehrt, vor allem eine gute Bildung und bessere Berufsmöglichkeiten.

Unterstützende Faktoren und Verbesserungsvorschläge

Besonders unterstützend erlebte Frau A. ihr soziales Umfeld und persönliche Kontakte. Einige ihrer Freunde und Familienmitglieder konnten ihr in schwierigen Situationen zur Seite stehen und sie stärken. Darüber hinaus erhielt sie auch Unterstützung von Pflegekräften oder vereinzelt von BetreuerInnen in Einrichtungen. Ihre eigene mentale Kraft und Stärke half ihr sehr häufig dabei, mit den Erfahrungen umzugehen und ihr Leben selbstbestimmt zu führen und ihm eine Richtung zu geben.

„Also ich hätte mir gewünscht, dass ich daheim bleiben hätte können und Strukturen vorgefunden hätte, dass ichhalt irgendwie nicht weg muss und nicht so etwas ausgeliefert gewesen wäre.“

Bezüglich der Verbesserungsvorschläge zur Unterstützungssituation für Frauen mit Behinderungen bei Gewalterfahrungen nennt Frau A. vor allem das Vorhandensein einer inklusiven Gesellschaft und Möglichkeiten der Partizipation und Teilhabe. So war beispielsweise die Pfadfindergruppe im Kindesalter eine besonders positive Erfahrung, da diese „ein Stück Normalität“ in ihrem Leben herstellte.

Des Weiteren findet Frau A. sehr wichtig, dass Frauen mit Behinderungen nicht als geschlechtslose Menschen mit Behinderungen wahrgenommen werden, sondern vor allem auch als Frauen mit bestimmten Bedürfnissen:

Familie war ja kein Thema – dass du einmal Familie hast, Kinder – oder Sexualität und Empfängnisverhütung oder eben auch wo deine Grenzen sind. Dass du auch nein sagen darfst, wenn irgendwas nicht passt oder wenn dir irgendwer zu nahe kommt. Das wären Dinge gewesen, die wir genauso hätten lernen müssen.“

Als weiteren Kritikpunkt führt Frau A. an, dass sie damals in den Einrichtungen der Behindertenhilfe nicht die Wahl zwischen weiblichen und männlichen SozialarbeiterInnen oder Pflegekräften hatte.

Eine Wahlmöglichkeit sollte selbstverständlich sein. Zudem führt Frau A. an, dass es sehr wichtig sei, bei einer Gewalterfahrung auch von öffentlichen Stellen und der Polizei ernst genommen zu werden.

Einstellung zu Rechten

Im Sinne des Empowerment ist es Frau A. wichtig, dass Frauen mehr zu ihren Rechten stehen und lernen, sich zu wehren, anstatt sich Dinge gefallen zu lassen. Hier müsse noch Sensibilisierung und Bewusstseinsarbeit bei Frauen mit Behinderungen und der Gesellschaft stattfinden. Darüber hinaus kritisiert sie die damalige wie auch die heutige rechtliche Situation. Gesetze und Sanktionen für Gewaltdelikte an Frauen mit Behinderungen sollten verschärft werden.

„Die Situation von Frauen mit Behinderung soll genau angeschaut werden, ob es jetzt in der Rehabilitation ist oder sonst irgendwo. Es gibt halt einfach Unterschiede und da muss jetzt auch bei den Frauenthemen wesentlich mehr auch die Situation von Frauen mit Behinderungen drinnen sein.“

Schließlich sollte es mehr Beratungsstellen für Frauen mit Behinderungen, staatliche Gelder für Persönliche Assistenz und Angebote zur Prävention geben –beispielsweise durch Selbstverteidigungskurse, Bildung, Emanzipation, Stärkung der Selbstentfaltung und der Identität.

Lebensbeschreibung Frau E.

„Diskriminiert wird schon fast jeder heute. Der eine weil er eine Brille aufhat, der eine weil er einen Migrationshintergrund hat, der nächste wegen einer Behinderung.“

Frau E. ist verheiratet und lebt mit ihrem Sohn, ihrem Mann und ihren Hunden zusammen. Sie arbeitet am ersten Arbeitsmarkt. Ihr Unterstützungsbedarf wird durch Persönliche Assistenz gedeckt. Aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung braucht sie vor allem Hilfe bei Aktivitäten mit ihrem Sohn.

Gewalterfahrungen und Diskriminierung in der Kindheit und im Erwachsenenalter

Meine Mutter wurde in den 40er Jahren erzogen, was macht man da mit dem blinden Kind. Da ging es schon los: „du bist eh nichts, du kannst nichts.“

In ihrer Kindheit spürte Frau E., dass sie vor allem von der Mutter aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht erwünscht war. Auch das Verhältnis zu ihrer Oma war schwierig, diese schlug sie. Ihr Vater stellte damals einen Schutz für sie dar.

Ich kenne persönlich drei blinde Frauen. Die eine hat 1981 entbunden, die andere 1980 und die dritte war meine Mutter. Alle drei hätten sterilisiert werden sollen, eine hat sich gewehrt, aber die wollten sie dann schon entmündigen.“

Zu der damaligen Zeit waren Zwangssterilisationen noch legal, sodass ihre Mutter trotz fortschreitender Schwangerschaft erst sehr spät zu einem Arzt ging, da sie Angst hatte, man würde sie zur Abtreibung zwingen. Gleich nach der Geburt wurde die Mutter sterilisiert.

Die Schulzeit von Frau E. war eine schwierige Zeit, da sie Probleme hatte, mit den altersspezifischen Themen, mit denen sich Mädchen beschäftigten, mithalten zu können.

„Ich bin erst mit 14 ins Gymnasium gekommen. Das ist für ein Mädchen schwer, weil mit 14...was ist da interessant, Burschen, Gewand, Fortgehen. Das sind alles Dinge, wo du nicht mithalten kannst.

Das war eigentlich meine härteste Zeit im Sinne von Sozialkontakten, weil in der Schule hat das nicht funktioniert.“

Noch vor ihrer Volljährigkeit ist sie von zu Hause weg und zum Jugendamt gegangen, wurde dort aber nicht ernst genommen und sofort an ein Tageszentrum und weiter an einen Blindenverband verwiesen. Aufgrund ihrer Gewalterfahrungen und der Diskriminierung, die sie erfahren hat, erlitt sie eine Depression. Durch den Blindenverband wurden ihr ÄrztInnen und Psychotherapie empfohlen, die ihr weiter halfen. Sie beschreibt, dass sie immer wieder Diskriminierungen ausgesetzt war. Bei der Geburt ihres Sohnes wurde ihr von einer Sozialarbeiterin geraten, dass ihre Mutter bei ihr einziehen solle und dass regelmäßige Kontrollbesuche stattfinden würden. Ein anderes Mal wechselte sie ihren Arzt, da dieser ihr sagte, sie könne ihren Sohn aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht erziehen. Des Öfteren wurde sie in der Öffentlichkeit beschimpft, weil ihr Blindenführhund keinen Beißkorb tragen muss.

„Dass wildfremde Menschen auf mich losgehen, der trägt keinen Beißkorb und nur weil Sie blind sind, brauchen Sie sich nicht einbilden, Sie haben Sonderrecht und ja schon wieder ein blinder Sozialschmarotzer.“

Darüber hinaus wurde sie auch von Kindern auf offener Straße beschimpft und angerempelt.

Unterstützende Faktoren und Verbesserungsvorschläge

Als unterstützende Faktoren erlebte Frau E. ihre Eltern, Freunde und eine Tante. Der Blindenverband bot ihr ein gutes Netzwerk und eine helfende Gemeinschaft, wo sie auch viele Freunde finden konnte. Dieser Verband hat ihr auch viele ÄrztInnen und TherapeutInnen empfehlen können. Eine weitere Unterstützung war der Psychotherapeut. Auch ein Blindenhund sei eine Motivation und Hilfe, durch den sie sich immer wieder aufraffen musste, um hinauszugehen.

Lebensbeschreibung Frau Speranza

„Die Form der Gewalt war jeden Tag da, mit Prügeleien. Ich war nichts wert, ich war für sie für alles zu blöd. Der Papa hat gesagt, eine Frau darf nicht studieren, eine Frau gehört hinter den Herd.“

Frau Speranza bewerkstelligt einen Teilzeitjob und engagiert sich ehrenamtlich bei einem Verein für psychisch beeinträchtigte Menschen. Sie lebt seit einigen Jahren in einer Beziehung und hat eine erwachsene Tochter. Sie ist Rollstuhlfahrerin und steht dadurch unterschiedlichsten gesellschaftlichen Barrieren gegenüber.

Gewalterfahrungen und Diskriminierung in der Kindheit und im Erwachsenenalter

„Im Jugendalter bin ich so geprügelt worden, dass ich eine Gehirnerschütterung hatte. Das Selbstbewusstsein war natürlich unterm Teppich.“

Frau Speranza erzählt, dass sie im Alter zwischen fünf und sechs Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Des Weiteren schildert sie, dass er sie regel-mäßig schlug und verprügelte und sie ständig mit blauen Flecken in die Schule ging. Das ging so weit, dass sie einmal eine Gehirnerschütterung erlitt. Sie musste mitansehen, wie ihre Mutter von ihrem Vater vergewaltigt wurde und übernahm die Rolle, auf ihre Mutter aufzupassen. Sie spricht heute von einem „Helfersyndrom“, das ihr angeblich geblieben ist.

„Ich hab das gesehen als Kind, wie er auf dem Küchentisch meine Mutter vergewaltigt hat. Und ich hab immer gedacht, ich muss stark für die Mama sein.“

Auch als Erwachsene musste sie Gewalt durch ihren damaligen Ehemann erleben, dieser misshandelte sie auf psychischer Ebene, dies geschah vor allem durch verbale Erniedrigungen und emotionale sowie körperliche Distanz. Sie erfuhr darüber hinaus Diskriminierung durch andere Familienmitglieder, welche sie aufgrund ihrer Behinderungen als „Sozialschmarotzer“ diskreditierten. Eine weitere Missbrauchserfahrung ist für sie, wenn sie mit ihrem Lebensabschnittspartner öffentlich unterwegs ist und Menschen mit ihm über sie sprechen.

„…Dass über mich sprechen, ja genau, über mich hinweg. (…) Dann sag ich, könnts aber auch mich fragen, oder? Dann bekommt sie zur Antwort: „Ah, Sie können reden?“

Unterstützende Faktoren und Verbesserungsvorschläge

In der Zeit der Misshandlungen, die ihr als Kind widerfuhren, hätte sie sich gewünscht, dass jemand das Jugendamt gerufen hätte. Als unterstützenden Faktor erlebte Frau Speranza die Schule, welche einen Fluchtort darstellte, wenn Gefahr durch ihren Vater bestand. Sie empfand den Klassenvorstand auch als aufmerksam und unterstützend. In Bezug auf bauliche Barrieren sieht sie noch großen Veränderungsbedarf. Sie wünscht sich, dass Persönliche Assistenz und Psychotherapie umfassender gefördert werden und dass Beratungsstellen am Land ausgebaut werden. Wichtiger Unterstützungsfaktor war für sie die selbst ausgesuchte Psychotherapie. Zudem bestehe noch Bedarf in der Sensibilisierung der Politik und der Gesellschaft und auch betroffene Frauen sollten mehr für ihre Anliegen eintreten und sich stark machen. Frau Speranza findet es wichtig, dass es mehr Selbstverteidigungskurse für Rollstuhlfahrerinnen geben sollte.

„Die Frauen müssten selbstbewusster werden, und zwar von Kindheit schon, (...) also, jetzt sind sie eh Gott sei Dank schon weiter, aber früher war es ganz schlimm.“

Lebensbeschreibung Frau Hupfauf

„Gewalt ist halt, wenn jemand sagt, nein, ich darf das nicht tun und ich muss etwas tun, auch wenn ich gesagt hab ich will das nicht.“

Frau Hupfauf ist über 50 Jahre alt und arbeitet schon jahrelang, seit Absolvierung einer Lehre, am ersten Arbeitsmarkt. Gemeinsam mit zwei Mitbewohnern lebt sie in einer Wohngemeinschaft in einer ländlichen Gemeinde. Aufgrund der Zuschreibung kognitiver Beeinträchtigung erfuhr Frau Hupfauf eine sogenannte „Anstaltskarriere“ und lebte über 30 Jahre in einem Heim für Menschen mit Behinderungen.

Gewalterfahrungen und Diskriminierung in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter

„Nachher hab ich gesagt, du brauchst nicht immer die Tür zusperren. Dann hat sie gesagt, ja aber ich sperre zur Sicherheit zu. Damit ich nicht rauskomme. (...) Da war ich dreißig oder so.“

Während Frau Hupfauf ihre Kindheit und ihr junges Erwachsenenalter im Heim verbrachte, erfuhr sie unterschiedliche Formen der Gewalteinwirkung, beispielsweise durch starke Reglementierungen und Zwang durch die BetreuerInnen im Heim. So wurde sie alsjunge Frau beispielsweise ab zehn Uhr abends eingeschlossen, damit sie sich nicht frei im Gebäude bewegen konnte. Zudem wurde sie als Kind bei Nichtbefolgung der Hausregeln mit Essensentzug bestraft oder durch andere „Erziehungsmethoden“ erschreckt. So hatte sich der Hausmeister als Ermahnung beispielsweise als Krampus verkleidet, der Kinder nachts überraschte, ihre Spielsachen weggenommen und mit der Rute geschlagen hatte.

Unterstützende Faktoren, Verbesserungsvorschläge und eigene Rechte

„Dass Menschen mit Behinderung selbst bestimmen und tun können, was sie wollen.“

Aus eigener Kraft und aufgrund ihrer Arbeit konnte Frau Hupfauf schließlich aus dem Heim und in eine eigene gemietete Wohngemeinschaft ziehen sowie ihr eigenes Geld verdienen. Aufgrund der Erfahrungen im Heim ist es ihr heute besonders wichtig, selbstbestimmt zu sein und ihre Rechte als Frau mit Behinderungen einzufordern. Gleichberechtigung, wie sie in der UN-Konvention verlangt wird, ist ihr sehr wichtig.

„Überall gleich wie die anderen.“

Verbessert werden sollte, aus Sicht von Frau Hupfauf, vor allem die Präventionsarbeit. Mädchen mit Behinderungen sollen in einem inklusiven Umfeld aufwachsen können und in ihrer Selbstbestimmung bestärkt werden. Sie sollen die Möglichkeit haben, zu Hause leben zu können und in eine inklusive Schule zu gehen. Frau Hupfauf findet es wichtig, dass Mädchen bzw. Frauen mit Behinderungen selbst bestimmen dürfen, was sie tun wollen.

Lebensbeschreibung Frau C.

„Gewalt ist für mich dann, wenn ein Mensch über einen anderen Menschen die Situation ausnützt um über den zu herrschen in irgendeiner Form. Auf körperlicher Ebene, psychischer Ebene.“

Frau C. ist Rollstuhlfahrerin und braucht Unterstützung, beispielsweise beim Tragen von schweren Lasten, und wünscht sich mehr Barrierefreiheit in vielen Bereichen, z.B. dass bei Veranstaltungen ersichtlich ist, ob sie für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. Sie war jahrelang im sozialen Bereich tätig und hat nun einen Antrag auf Berufsunfähigkeitspension gestellt, weil sie durch ihre Schmerzen immer längere Erholungsphasen braucht.

Gewalterfahrungen und Diskriminierung in der Kindheit und im Erwachsenenalter

„Psychisch, physisch, sexuell, es waren alle Grausamkeiten, Graußlichkeiten, die man sich vorstellen kann, die ich erlebt habe.“

Während ihrer Kindheit wurde Frau C. immer wieder massiv geschlagen, erniedrigt und von ihrem Vater sexuell missbraucht und vergewaltigt. Als Kind musste sie im Sommer von vier Uhr morgens bis zehn Uhr abends am Bauernhof mitarbeiten. Nach einem Verkehrsunfall litt sie unter sehr starken Kopfschmerzen. Sie war anschließend längere Zeit zu Hause und den gewalttätigen Übergriffen ihres Vaters und ihrer Mutter noch mehr ausgesetzt. Frau C. erzählt, dass bei Verwandtschaftstreffen Massenvergewaltigungen stattfanden, wobei sexualisierte Gewalt von mehreren Generationen (Großvater – Vater– Söhne) ausgeübt wurde. Sie wurde oft von ihrem Vater schwanger, um dies zu vertuschen führte ihre Mutter Abtreibungen durch.

„Auf der anderen Seite war ich natürlich Weltmeisterin im Vertuschen der körperlichen Züchtigung. (…) Wir haben im Turnunterricht… der war nicht sonderlich geheizt, von der Mutter aufgetragen, dass man die Striemen nicht sieht vom Ledergürtel.“

„Hätte es damals, vor 40 Jahren Rat auf Draht gegeben, dann hätte ich mich sicher hingewandt.“

Im Erwachsenenalter begann nach einiger Zeit auch ihr Ehemann, der psychisch krank ist, sie zu unterdrücken. Er verbrachte längere Zeit in Einrichtungen für psychisch kranke Menschen während Frau C. ihr gemeinsames Haus fertig baute. Nachdem er wieder zurückkam, wollte er sich scheiden lassen.

„…dass die Abhängigkeit für ihn ein Lustgewinn war, das ich ihn brauche, das hat er mir im Nachhinein gesagt, wie ich den Rollstuhl gekriegt hab.“

Als diskriminierend erlebt sie immer wieder, dass die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen zu öffentlichen Orten (z.B. ÄrztInnen) oder bei Veranstaltungen selten mitgedacht wird. Sie fühlt sich in diesen Situationen ohnmächtig und ausgeschlossen.

Unterstützende Faktoren und Verbesserungsvorschläge

Als unterstützend erlebte Frau C. das sehr gute ÄrztInnen- Netzwerk. Einzelne Personen, wie ein Psychotherapeut, waren hilfreich, um das Erlebte zu verarbeiten. Aus eigener Kraft hat sie beschlossen, das Elternhaus zu verlassen und eine Ausbildung zu beginnen. Hilfreich war für sie auch, dass sie im Rahmen einer TV-Sendung öffentlich über ihre Lebensgeschichte und ihre Erfahrungen anonym berichtete. Als wichtige Beratungsstellen, die ihr geholfen haben, nennt Frau C. den Frauennotruf, das Frauenbüro und eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen. Als weitere hilfreiche Faktoren nennt sie vor allem ihre Freundinnen. Aus ihrer Kindheit berichtet sie, dass ein aufmerksamer Klassenvorstand seine Hilfe angeboten hat:

„Und die Mitschülerinnen haben es dem Klassenvorstand gesagt, der damals in der Ausbildung zum Psychotherapeuten war und der war der Erste, der auf mich zugegangen ist und dem ich es erzählt hab – nur von der körperlichen Gewalt. Und er war der erste, der gesagt hat, das ist nicht in Ordnung und wenn das nochmal ist, wird er mir seine Privatnummer geben.“

Frau C. wünscht sich, dass es eine Selbstverständlichkeit wird, dass alle Gebäude barrierefrei gebaut werden und, dass auch Behindertenparkplätze mitgedacht werden sollten. Zudem sollte es mehr Therapieplätze geben und ein “Mehr“ an Verständnis/Empathie zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen. Im Sinne des Empowerments sollten Frauen und Mädchen noch mehr sexuell aufgeklärt werden, sie brauchen Informationen und das Bewusstsein, zu sagen, was sie wollen und wo ihre persönlichen Grenzen sind.

„Worte zu haben, ist – glaube ich – ein ganz wichtiges Instrument; zu sagen, da hat mich wer in der Scheide berührt, das war grob, zum Beispiel. Das ist wichtig.“

Ihr ist wichtig, dass das Thema Gewalt in der Ausbildung, z.B. bei medizinischen, pflegerischen und sozialen Berufen, Berücksichtigung findet und somit zur Prävention beitragen kann.

„Naja jegliches Abhängigkeitsverhältnis. Das ist eine Schieflage, es ist jemand bedürftig und jemand bietet Hilfe an. Jeder der betreut, begleitet, muss eigentlich ausgebildet sein, eben wo übe ich selber, oder wo ist die Grenze zur Gewalt. (…) Es müsste in jeder Ausbildung, Altenpfleger, Sozialfachbetreuer, ganz klar sein, meine Position beinhaltet dass ich Gewalt ausüben kann. Die Selbstreflexion ist da ganz wichtig, Supervision, die da hinschaut auf das Thema.“

7. Reflexion

Die vorliegende Studie zur Gewalterfahrung von Frauen mit Behinderungen und ihrem Zugang zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen konnte aufzeigen, wie vielschichtig und multidimensional sich die Gewalt in den Lebensbiographien der Frauen mit Behinderungen auswirkt und welchen baulichen, technischen, informativen aber vor allem auch sozialen und einstellungsbezogenen Barrieren die Frauen bei ihrer Suche nach Unterstützung gegenüber stehen.

Der Schwerpunkt der Erörterungen lag auf der Sichtweise der Frauen mit Behinderungen selbst, welche mit Hilfe qualitativer Methoden (Fokusgruppen und Tiefeninterviews) nicht nur darauf aufmerksam machen konnten, woran es im derzeitigen Unterstützungssystem mangelt, sondern auch wo Verbesserungspotenzial liegen könnte. Um diese Sichtweisen inhaltlich zu ergänzen, wurden auch Opferschutzeinrichtungen, wie Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser sowie Beratungsstellen und Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen miteinbezogen. In einer quantitativen Befragung und einzelnen Interviews mit VertreterInnen der Organisationen und Institutionen konnte der Blick darauf gelenkt werden, inwieweit Frauen mit Behinderungen im Opferschutz mitgedacht werden (können), welchen Herausforderungen die Organisationen und Institutionen gegenüberstehen und welche Vorschläge zur Verbesserung der Situation ihrerseits von besonderer Relevanz wären.

Bevor nun diese beiden Sichtweisen, jene der Frauen mit Behinderungen und jene der Vertreterinnen von Organisationen und Einrichtungen, nochmals pointiert reflektiert und gegenüber gestellt werden, sollen zuerst einzelne Problemstellungen und methodische Herausforderungen der Studie diskutiert werden.

8. Problemstellung

Die vorliegende Studie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Es ging dem Forschungsteam nicht darum, die österreichische Situation repräsentativ nachzuzeichnen und darauf aufbauend allgemein gültige Aussagen zu treffen, sondern aufbauend auf vielfältigen Erhebungsmethoden ein Stück der Wirklichkeit darzustellen. Ziel war es, die Sichtweisen und Einschätzungen der gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen zu erfahren, Gewaltdynamiken zu erheben und gemeinsam mit ihnen und auch den Opferschutzeinrichtungen, Interventionsstellen, Frauenhäusern, Beratungsstellen und Organisationen von/für Menschen mit Behinderungen Barrieren in der Zugänglichkeit zu benennen und erste Wege zur Verbesserung der Situation zu erarbeiten.

Alle Ergebnisse der Studie sind somit ein Ausschnitt und Einblick in unsere Wirklichkeit, nicht jedoch das allgemein gültige und umfassende Abbild. Auf dieser Basis sollte beachtet werden, dass die Ergebnisse auch hinsichtlich der Zielgruppen keinen Querschnitt durch alle Bundesländer, Einrichtungsformen, Arten der Beeinträchtigungen oder auch anderen demographischen Daten erzielen konnte. Es wurde einerseits darauf geachtet, eine möglichst große und vielschichtige Bandbreite miteinzubeziehen, da es aber keinen Anspruch auf Repräsentativität gab, wurde andererseits der Fokus darauf gelegt – mit den möglichen und begrenzten Ressourcen im Zuge des Projekts – mit größtmöglicher Offenheit, zeitintensivem Vorgehen und selbstverständlicher Freiwilligkeit sehr interessierte Frauen und Organisationen sowie Institutionen zu befragen. Dementsprechend gilt es auch zu bedenken, dass die interviewten Frauen bereits sehr reflektiert über ihre individuellen Gewalterfahrungen und –dynamiken sprachen, und in allen Fällen auch schon formelle und informelle Unterstützung erhalten hatten.

Folglich könnte eine weiterführende Studie nicht nur auf den Zugang zu Unterstützungsleistungen fokussieren, sondern auch auf den Zugang der Frauen mit Behinderungen zum Recht (Polizei, Justiz, Entschädigungsleistungen, etc.). Darin bestünde ein spannender und vorallem auch notwendiger weiterer Anknüpfungspunkt für empirische Arbeiten. Reflektiert werden sollten die vorliegenden Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Befragungen auch hinsichtlich der Fokussierung auf die Kategorien „Beeinträchtigungen“ und „Geschlecht“. Das Hinzuziehen dieser Kategorien in diesem Bericht sollte einerseits die Lesbarkeit vereinfachen und andererseits Einteilungen der Gesellschaft und deren Organisationen widerspiegeln. Wichtig ist jedoch sich zu vergegenwärtigen, dass durch das Arbeiten mit diesen Kategorien wiederum Einschlüsse und Ausschlüsse reproduziert werden, was die Entwicklung hinsichtlich einer inklusiven Gesellschaft zum Teil konterkariert und erschwert.

Obwohl die Ergebnisse entlang der Kategorien „Geschlecht und Beeinträchtigung“ beschrieben werden, sollten zudem im Sinne einer intersektionellen Perspektive nicht andere Kategorien in Vergessenheit geraten: so sind die Lebenswirklichkeiten der Frauen geprägt durch unterschiedlichste „Achsen der Ungleichheit“ – Alter, sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund, familiärer und sozialer Hintergrund und vieles mehr haben ebenso starken Einfluss darauf, wie Frauen mit Behinderungen ihr Umfeld und das Unterstützungssystem wahrnehmen und erleben. Um dieser intersektionellen Sichtweise besser begegnen zu können, war es daher Ziel des Projekts, Tiefeninterviews mit Frauen mit Behinderungen zu führen und daraufhin Case Studies (Fallbeispiele) zu entwickeln. Darin wurden die Gewalterfahrungen und die Erfahrungen mit dem in den Lebensgeschichten der Frauen bestehenden Unterstützungssystem eingebettet, analysiert und veranschaulicht

9. Reflexion und Fazit

Die Reflexion über die Ergebnisse der Analysen fand innerhalb des österreichischen Forschungsteams und gemeinsam mit der Advisory Group des Projektes statt. Besonders hervorgehoben werden sollte die große Offenheit der Frauen mit Behinderungen und auch deren Bedürfnis, über ihre Gewalterfahrungen und Unterstützungsmechanismen zu sprechen. Fast alle Frauen, und vor allem gehörlose Frauen, verdeutlichten uns ihre Anerkennung für das Projekt sowie dafür, im Rahmen der Studie Gehör zu finden und einen Beitrag dazu zu leisten, die Öffentlichkeit auf die Situation von gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen aufmerksam zu machen.

Die befragten Frauen gaben einen ausführlichen und tiefen Einblick in ihre Lebensgeschichte und zeigten auf, wie umfassend und vielschichtig der Gewaltbegriff gedacht werden sollte, um die Situation aus allen Blickwinkel betrachten zu können. So waren auch Mobbing, Diskriminierung und vor allem strukturelle Gewaltdynamiken wichtige Bereiche des Gewaltbegriffs. Strukturelle Gewalt war die Form der Gewalt, welche alle befragten Frauen mit Behinderungen im Laufe ihres Lebens erfahren mussten. Für die befragten Frauen gehören strukturelle Gewalterfahrungen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen häufig zum Lebensalltag als Frau mit Behinderungen. Strukturelle Gewalt ist vielschichtig – sie fließt in unterschiedlichste Alltags- und Gesellschaftsebenen mit ein und kann durch Einzelpersonen aus dem sozialen Umfeld, durch Institutionen sowie durch strukturelle Verhältnisse hervorgerufen werden. Das macht strukturelle Gewalt zu einem sehr komplexen und gleichzeitig schwer zu erfassenden Problem. Besonders hervorstechend war auch die aus den Analysen gewonnene Erkenntnis, dass die befragten Frauen mit Behinderungen meist bereits in der Kindheit von Gewalt betroffen waren und sie die Gewalt danach auch im weiteren Leben begleitete.

Zudem machen Frauen darauf aufmerksam, dass häufig Gewalt durch Ausnutzung ihrer Beeinträchtigungen ausgeübt wird. Beispielsweise wird die Gehörlosigkeit oder auch eine Lernschwierigkeit dazu benutzt, den Frauen kein „Gehör“ zu schenken bzw. „ihnen nicht zu glauben“, oder auch die Mobilitätseinschränkung, da die Frauen nur schwer flüchten können. Hier wird ein klarer Unterschied zu Frauen ohne Beeinträchtigungen ersichtlich. Frauen mit Behinderungen werden weiters auch von vielen Menschen als „asexuelle Wesen“ wahrgenommen, berichten einige Frauen. Dieses Absprechen der Körperlichkeit und Sexualität kann nochmals dazu beitragen, dass Frauen sexueller Gewalt ausgesetzt werden, da dies von manchen TäterInnen nicht als Missbrauch angesehen wird.

Unter Betrachtung der vielschichtigen Barrieren, welchen Frauen mit Behinderungen bei der Suche nach Unterstützung gegenüber stehen, sollen folgende herausgegriffen werden, welche als besonders relevant diskutiert wurden: Barrieren in den Köpfen der Gesellschaft, politische Verantwortlichkeit und geringe finanzielle Ressourcen.

Viele Unterstützungsstrukturen scheitern – nach Meinung der befragten Frauen mit Behinderungen – vor allem an den immer noch in der Gesellschaft, aber auch bei den MitarbeiterInnen einer Einrichtung, vorherrschenden „Barrieren in den Köpfen“ und einer damit einhergehenden erschwerten Zugänglichkeit von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutzeinrichtungen. Nach wie vor ist das Thema der Gewalt an Frauen mit Behinderungen ein Tabuthema. Zudem findet teilweise keine ausreichende Sensibilisierung der MitarbeiterInnen statt und bei der Umsetzung der Maßnahmen werden Frauen mit Behinderungen häufig noch ausgegrenzt. Besonders relevant erachtet die Advisory Group hierbei die Sensibilisierung der Polizei, der Justiz, des Gesundheitswesens und des Bildungsbereichs.

Die Öffentlichkeitsarbeit zum Abbau von Barrieren in den Köpfen sollte laut der Advisory Group und einigen wenigen Befragten inklusiv sein. Das bedeutet, dass auch (gewaltbetroffene) Frauen mit Behinderungen selbst an einer umfassenden Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung beteiligt werden sollten.

Ein wichtiges Thema bei den Organisationen und Expertinnen hingegen waren die kaum vorhandenen und nicht ausreichenden finanziellen Ressourcen. Auch wenn die Organisationen bzw. Einrichtungen umfassende Barrierefreiheit gewährleisten und Frauen mit Behinderungen als Zielgruppe miteinbeziehen wollen, scheitern viele Bemühungen an mangelnden finanziellen Ressourcen für bauliche Maßnahmen, Informationsaufbereitung oder auch Schulungen.

Die Umsetzung der Barrierefreiheit ist daher nicht nur Aufgabe der jeweiligen Organisation bzw. Einrichtung, sondern fällt auch in die politische Verantwortlichkeit. Die Politik sollte nach Meinung der Advisory Group auch mehr Engagement hinsichtlich der Verbesserung der Unterstützungsstrukturen für gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen zeigen und die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen (in Österreich bereits 2008 ratifiziert) sowie des Nationalen Aktionsplans vorantreiben.

Zentrales Ergebnis der Studie war darüber hinaus, das seine Verbesserung der Situation von gewaltbetroffenen Frauen und ihres Zugangs zu Opferschutzeinrichtungen und anderen Unterstützungsmaßnahmen nur dann erfolgen kann, wenn auf unterschiedlichen Ebenen angesetzt wird. So gilt es, auf der Ebene des Abbaus von Barrieren in Beratungsinstitutionen und Opferschutzeinrichtungen nicht nur Maßnahmen zur Verbesserung umzusetzen und diese mit finanziellen Ressourcen auszustatten, und/oder auf (gesundheits-)politischer Ebene anzusetzen, sondern vor allem auch auf der Bewusstseinsebene der Frauen mit Behinderungen selbst, indem ihr Selbstwertgefühl gestärkt und gefördert wird sowie ausreichende und barrierefreie Informationen zur Prävention und Unterstützung aufbereitet werden.

Ein sehr wichtiger Schritt bei der Arbeit gegen Gewalt an Frauen (mit Behinderungen) ist die Präventionsarbeit. Gerade bei Mädchen mit Behinderungen ist es wichtig, diese bereits in den Schulen über das Thema Gewalt aufzuklären und Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten im Falle einer Gewalterfahrung bereit zu stellen. Prävention bei Mädchen mit Behinderungen bedeutet aber auch Stärkung sowie Steigerung des Selbstwertes und der Selbstbestimmung von Geburt an. Fremdbestimmung und geringer Selbstwert – so wurde in den qualitativen und quantitativen Befragungen sowie seitens der Advisory Group argumentiert – führen häufig dazu, dass sich Frauen mit Behinderungen bei Gewalterfahrungen nicht an Unterstützungseinrichtungen bzw. -organisationen wenden und sich nicht trauen, rechtliche Schritte gegen die TäterInnen zu setzen. Ein zentrales Anliegen, vor allem aus den Fokusgruppen der befragten Frauen, ist der Ausbau der Peer-Beratung in Opferschutzeinrichtungen und Organisationen. Um einerseits MitarbeiterInnen zu sensibilisieren und andererseits ein vertrauensvolles Beratungs- bzw. Unterstützungssetting aufbauen zu können, ist ein Einbezug von Menschen mit Behinderungen als Mitarbeiterinnen in den Einrichtungen, den Stellen und Institutionen besonders relevant und wichtig. Zentral ist allerdings bei der Umsetzung der Peer-Beratung, dass die Beraterinnen ausreichende Weiterbildungen und Schulungen besuchen können, um bestmögliche Unterstützung im Gewaltbereich gewähren zu können.

Einen wichtigen Schritt zur Verbesserung des Unterstützungssystems gewaltbetroffener Frauen sehen die Advisory Group und viele Vertreterinnen von Opferschutzeinrichtungen außerdem in einer umfassenden und vielschichtigen Vernetzung zwischen relevanten Stellen. Bisher gelingt eine Vernetzung zwischen Opferschutzeinrichtungen, wie Frauenhäusern, Gewaltschutzzentren, Frauennotrufen mit Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen nur bedingt. Darüber hinaus sollte das Netzwerk der Unterstützungsangebote auch transparenter gestaltet sein. Dies wünschen sich nicht zuletzt die Organisationen und Institutionen selbst.

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass die Prävention, die Verbesserung der Situation von gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen und des Zugangs zu Unterstützungsmaßnahmen nur dann gelingen kann, wenn zukünftig Frauen mit Behinderungen auf allen Ebenen Gleichstellung erfahren – im Berufsalltag, in der Öffentlichkeit und in der Familie. Ziel und Wunschvorstellung aller befragten Frauen ist es, in einer inklusiven Gesellschaft zu leben, in denen „Behinderungen“ oder „Frau sein“ keine Rolle spielt. Um dies zu gewährleisten sollte die Politik ihre Bemühungen fortsetzen, weitere Maßnahmen zur Einhaltung der Rechte von Frauen mit Behinderungen umzusetzen.

Und schließlich hat die Studie eines aufgezeigt:

Die befragten gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen sind nicht einfach nur (hilflose) Opfer oder in umfassenden Gewaltdynamiken Gefangene – sie sind Frauen von besonderer Stärke, die sich trotz Diskriminierung und oft jahrelangen Gewalterfahrungen im Laufe ihres Lebens aus eigener Kraft heraus - auch aus manchmal scheinbar ausweglosen Situationen - retten konnten. Genau hier sollten Maßnahmen anschließen: bei den Stärken der Frauen. Und schließlich sollte mit ihnen gemeinsam ein Unterstützungsnetzwerk errichtet werden, welches den Postulaten der „Gleichstellung“, „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ gerecht wird.

10. Literatur

Schachner, Anna / Sprenger Claudia: Access to Specialised Victim Support Services for Women with Disabilities who have experienced Violence.

Internal Working Paper (Resultate der Fokusgruppen mit Frauen mit Behinderungen, der Online-Befragung und Interviews mit Vertreterinnen von Opferschutzeinrichtungen). April 2014. (unveröffentlicht)

11. Anhang

Der Anhang findet sich auf der Projektwebsite unter http://women-disabilitiesviolence.humanrights.at/de/publikationen und enthält:

  • den Online-Fragebogen, der an die Einrichtungen und die Organisationen ergangen ist

  • den Leitfaden für die Interviews mit Vertreterinnen von Opferschutzeinrichtungen und Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen

  • den Leitfaden für die Fokusgruppendiskussionen mit den Frauen mit Behinderungen

  • den Leitfaden für die biographischen Tiefeninterviews mit Frauen mit Behinderungen.

Quelle

Anna Schachner, Claudia Sprenger, Sabine Mandl, Helena Mader: Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen. Nationaler Empirischer Bericht ÖSTERREICH, 2014. http://women-disabilities-violence.humanrights.at/de

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.08.2015

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