Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen

Veränderungen beginnen im Kopf

Autor:in - Teresa Santer
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Dieser Artikel entstand im Zuge des Projektes „bidok gegen Gewalt“.
Copyright: © Teresa Santer 2015

Vorwort:

Stigmatisierung wird oft verschwiegen, verdrängt oder nicht wahrgenommen, wird jedoch auf der Handlungsebene deutlich.

Das Dilemma der Stigmatisierung ist die zwanghafte Erfahrung, die jedenfalls prägend wirkt. Die Wirkung auf Betroffene ist zudem selbstprophezeihend in dem Sinne als dass die stigmatisierte Person die Kränkung übernimmt. Stigmatisierung lässt sich des Weiteren als Rollenzuschreibung definieren, die vom Individuum oft im Einzelnen nicht (mehr) wahrgenommen wird. Stigmatisierungserfahrungen können somit ausschließlich als Erfahrungen, die aufgenommen werden, erkannt und beschrieben werden. Es ist demnach als betroffener Mensch nicht möglich, Stigmatisierung konkret fest zu machen und zu überwinden. Es ist jedoch realisierbar, individuelle Mechanismen der Bewältigung und einen lebenslangen Umgang damit zu entwickeln. Vor dem fachlichen Hintergrund muss Stigmatisierung als Herausforderung in der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderungen verstanden werden.

Es soll außerdem verdeutlicht werden, dass es der Notwendigkeit des Zuganges im Professionellen bedarf, sich der Stigmatisierung mit fachlicher Verantwortung zu verschreiben. Es gilt, die Zuständigkeiten in der professionellen sozialen Praxis zu klären und der Komplexität des Stigmatisierungsphänomens mit ausreichendem „Wissen“, „Verhalten“, „Haltung“ und gezielten Interventionen zu begegnen.

Für die praktische Arbeit mit und für betroffene Menschen können Einwirkungsmechanismen und Bewältigungsstrategien, als auch praktische Handlungsempfehlungen abstrahiert werden.

Einleitung

Wenn ein zugeschriebenes Merkmal einer Person eine negative Bewertung durch die Gesellschaft erfährt und sich dies wiederum auf den Einzelnen negativ auswirkt spricht man von Stigmatisierung. Dieses Phänomen unterliegt Veränderungen und kann in unterschiedlichen Kontexten, Kulturen oder Zeiten andere Bedeutungen aufweisen.

Stigmatisierung definiert aber in jedem Fall ein „Zeichen“, welches ein Mensch „an sich trägt“ bzw. „mit sich herum trägt“. Stigmatisierungen knüpfen sozusagen an sichtbare, aber auch an unsichtbare Merkmale von Menschen, wie beispielsweise mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung, Erkrankung oder Beeinträchtigung an. Dieses kann man nicht verändern, man kann nur lernen, die eigene Haltung zu verändern und einen individuellen Umgang damit zu entwickeln.

Menschen mit Behinderungen werden per se stigmatisiert. Die betroffenen Menschen sind sich meist noch gar nicht darüber im Klaren, schon legt sich diese/r „Hülle“/„Schleier“ über sie, der sie das ganze Leben lang begleiten wird.

Man kann an dieser Stelle festhalten, dass Stigmatisierung wirkt, sobald eine Zuschreibung negativ konnotiert wird („Behinderte haben kein sexuelles Verlangen“) sobald weitere Eigenschaften über das Merkmal hinaus zusätzlich negativ bewertet werden („Behinderte können gar keinen Sex haben, deswegen muss man sie auch nicht aufklären, sie bekommen eh keine Kinder oder Ähnliches“) und wenn das Stigmatisierungsphänomen dazu führt, dass eine Übertragung von diesem Merkmal auf die Gesamtperson stattfindet („Du bist behindert, also hast du auch kein sexuelles Empfinden und Verlangen und musst deshalb auch nicht informiert werden.“). Dies führt dann auch dazu, dass die betroffene Person die Kränkung verinnerlicht und sich selbst stigmatisiert. („Ich habe eine Behinderung und weiß eh, dass ich keine Partnerin, keinen Partner bekommen werde, ich bin nicht attraktiv…“)

„Besonders wichtig ist es, zu beachten, daß Fremdstigmatisierung im Laufe der Entwicklung zunehmend in die eigene Persönlichkeit übernommen werden und zu einer Verstärkung der negativen Identität des betreffenden Menschen beitragen können.“ (Rauchfleisch 1999, S.23.)

Auch wenn dieser Teufelskreis in dem Sinne schwer überwunden werden kann, können persönliche Bewältigungsstrategien im alltäglichen Leben entwickelt werden.

Wenn man die Folgen der Stigmatisierung beleuchtet wird rasch bewusst, dass sich diese auf mehreren Ebenen deutlich und massiv abzeichnen. Betroffene werden aus vielen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen, haben demnach wenig bis gar keinen Kontakt zu Gruppen oder Menschen, die von Stigmatisierung nicht oder nicht in diesem Ausmaß und in dieser Intensität betroffen sind und verändern in weiterer Folge ihre Person, da sie die Stigmatisierung integrieren und dies meist nicht bewusst wahrnehmen.

Ebenfalls nennen Autorinnen und Autoren beispielsweise Reaktionen, die auftreten können, wie etwa die Geheimhaltung und/oder sozialer Rückzug. In Bezug auf seine oder ihre jeweilige(n) Stigmatisierung(en) versuchen Betroffene ihren Kontakt auf Personen mit gleicher Erfahrung zu beschränken bzw. auf Menschen, die diese Form kennen und auf Grund dessen akzeptieren. Vermeidungsverhalten ist in diesem Kontext der Unsicherheit oder der Angst zurückgewiesen oder ausgegrenzt zu werden sehr zentral und steht somit der dritten Reaktion, aktiv darüber zu sprechen und damit angreifbar zu sein, gegenüber.

Soziale Arbeit kann und muss die betroffenen Menschen dabei unterstützen, die Bewältigung von Stigmatisierung durch die bewusste und aktive Auseinandersetzung zu erleichtern. Außerdem kann das Wissen um die Stigmatisierung auf beiden Seiten möglicherweise genutzt werden.

1. Stigmatisierung und Macht

Grundsätzlich benötigen wir Zuschreibungen, um uns als Menschen Orientierung zu geben, uns zugehörig zu fühlen oder um uns und andere von einer Mehrheit bzw. Minderheit abzugrenzen und oder auszuschließen. Nach Hohmeier werden durch Stigmata auch Normen und Normvorstellungen von „Nicht-Stigmatisierten“ gestärkt.

„Also für mich hat X. schon sehr viele Kompetenzen, die er nicht nutzen kann, weil ihn seine Familie hinten und vorne auch blockt und auch hinunter macht. Ich habe manchmal wirklich das Gefühl, die drücken ihn einfach hinunter….“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Durch die Abwertung der Anderen passiert immer eine Aufwertung der eigenen Gruppe. Auch Hohmeier geht wie Goffman davon aus, dass bei Stigmatisierung Personen oder Gruppen negative Merkmale zugeschrieben werden, betont jedoch, dass es für die Durchsetzung von Stigmatisierung Folgendes benötigt. Ein Stigma muss immer generalisierend und einfach sein, damit jede und jeder es versteht und umzusetzen vermag. Außerdem muss ein „Normverstoß“, um Normen geht es in dieser Diskussion laufend („du bist nicht weiß“, „du bist keine Österreicherin“, „du bist homosexuell“, „du bist behindert“, „du bist geistesgestört“, „du bist kriminell“, etc.) vorliegen, der sanktioniert werden muss. Nicht zuletzt betont Hohmeier den Begriff der Macht, denn Menschen oder Gruppen mit wenig Einfluss auf allen gesellschaftlichen Ebenen sind immer leichter zu stigmatisieren.

Gesellschaftlich vordefinierte Abweichungen vom „Normalzustand“, sind immer kontextgebunden und allenfalls durch Ordnungsstrukturen und Mechanismen von Macht und Kontrolle abgesteckt. Dieser Vorgang der „Abkehrung von der Gesellschaft“ ist immer durch eben diese paradoxerweise bereits in gleichem Maße wieder vorgegeben und zugeschrieben.

Auch dem Phänomen der Selbststigmatisierung, der erwarteten Ablehnung und Ausgrenzung muss in diesem Diskurs Beachtung geschenkt werden – besonders wenn es darum geht, dass Selbstverständnisse verändert und infolgedessen verinnerlicht und stagniert werden. Hier kommt es zu Aufhebungen, Projektionen und Umwandlungen von menschlichem Verhalten, welche ein „Verschulden“ produzieren – wenngleich sich in diesem Zusammenhang die Frage aufdrängt, ob Selbststigmatisierung implizit auch einen „Zweck“ haben kann. Wann beginnen Menschen sich selbst zu stigmatisieren oder fordern dies vielleicht bewusst heraus? Nimmt Selbststigmatisierung die Konsequenzen vorweg?

„…Kontakte außerhalb der WG hat er nur in der Beschäftigungsinitiative. Mit seinen Jugendfreunden hat er den Kontakt abgebrochen, er hat mir erzählt dass es ihm zu peinlich wäre, wenn jemand was von ihm wüsste z.B dass er in einer WG wohnt.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass existierende „Ausschließungsprozesse“ in Bezug zu einem gesellschaftlichen Moment immer als eine sich gegenseitig beeinflussende Komponente verstanden und reflektiert werden muss.

„Ein Ansatzpunkt zur Veränderung und Aufhebung von Ausgliederungsprozessen wäre es, zu versuchen, solche Randgruppen aus ihrer inneren Logik heraus zu begreifen und ihr Handeln vor dem Hintergrund seiner Situationsgebundenheit zu sehen.“ (Lipp in: Hohemeier et.al. 1975, S.73.)

Differenzkategorien schaffen aus soziologischer Betrachtungsweise heraus gedacht Orientierung und die Stigmatisierung ist das durch Macht auferlegte und produzierte Ergebnis von Ungleichheits- und Ausschlussverhältnissen sowie gesamtgesellschaftlich produzierten Prozessen, welche das „Normale“ zur distanzierten Abgrenzung verwenden, um eigene Unsicherheiten überwinden bzw. zu verschleiern versuchen. Aufgabe der sozialen Arbeit ist es nun, diese ungleichheitsgenerierenden Konstruktionen theoretisch und professionell und vor allem praktisch zu realisieren.

Außerdem ist zu betonen, dass sich der Blick von einer naturgegebenen Auffassung von Differenz entfernen muss, welcher die Konstruktion begreift und diese sowohl als soziale Problematik als auch als subjektive und individuelle Wahlmöglichkeit versteht.

2. Die Rolle des Fachpersonals

„Denn wenn statt von ‚abzuschaffender Ungleichheit‘ von ‚anerkennenswerter Differenz‘ die Rede ist, wird damit weniger strukturelle Benachteiligung sondern per se wertvoll erscheinende gruppenspezifische und individuelle Andersheit diskutiert.“ (Heite in Kessel/Plößer 2010, S.188.)

Wenn man davon ausgeht, dass Stigmatisierung nicht überwunden werden kann, weder von den Betroffenen, noch von den Angehörigen, ProfessionistInnen oder der Gesellschaft selbst und lediglich ein Umgang mit diesem Phänomen gefunden werden muss und kann, scheint es klar, dass die soziale Arbeit sich mit dieser konstruierten, sozial hergestellten Ungleichheit fachlich beschäftigen muss. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen an sich fordert bereits ein Wissen um den Umgang und die Reflexion dessen.

„Und da passieren meines Erachtens nach mehr im professionellen Bereich als im öffentlichen Bereich die Stigmatisierungen und die Vorurteile gegenüber von psychisch kranken Menschen.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Auch ProfessionistInnen müssen sich reflektieren, weil auch sie selbst durch diskriminierende und vorurteilende oder stereotype Äußerungen zu Stigmatisierung ihrer Klientel beitragen. Das soll weniger als Vorwurf, mehr als Anknüpfungspunkt interpretiert werden.

„Nein, über Stigmatisierung reden wir eigentlich nicht, wenn mein Klient sich zum Beispiel nicht wäscht und wir einen Café trinken gehen und er komisch angeschaut wird, merkt er das gar nicht, da sage ich ihm dann, dass es angebracht wäre sich zu waschen. Mir ist es wichtig, dass die Betreuung stattfindet, über die Blicke sehe auch ich hinweg.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Die eigenen Ängste und Unsicherheiten werden individuell, wie auch gesamtgesellschaftlich auf die Betroffenen übertragen und führen zu Minderwertigkeit und Entmutigung.

3. Das Stigma der Behinderung

„Fragende Blicke, abweisende Blicke, lange Wartezeiten – sprich Hausärzte oder generell medizinisches Personal, wo ich mich einmal für einen Klienten angemeldet habe und dann hat sich der Warteraum zweimal gefüllt und geleert bis mir der Kragen geplatzt ist. Wobei sie nur den Namen gehabt haben und ich den Klienten gar nicht mitgehabt habe, weil ich ihm ein Rezept geholt habe, weil er krank war zu Hause und nicht zum Arzt gehen wollte. Also ich habe wirklich, was das anbelangt, viel gesehen und war da eigentlich auch relativ geschockt von der Stigmatisierung.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Die Entwicklung der Stigmatisierung und der Prozess, können bei Menschen unterschiedliche Dimensionen einnehmen. Wenn auch sich die Erfahrungen und das Leiden an sich ähnlich äußern können.

Die Tatsache ob und inwiefern Menschen in eine stigmatisierungsfördernde, stigmatisierungsverstärkende oder eine stigmatisierungshemmende Situation hineingeboren werden oder ob jemand erst im Laufe seiner oder ihrer Biographie an einer stigmatisierenden Konstruktion erkrankt oder leidet beeinflusst den weiteren Verlauf. Gründe dafür können mitunter religiös, national, zeitlich, örtlich oder ethnisch bedingt sein.

Ob nun körperliches, also sichtbares oder soziales, unsichtbares Brandmal, Behinderungen sind nach wie vor an Konstruktionen der Gesamtgesellschaft geknüpft und haben schwerwiegende Folgen für die Betroffenen, die sich durch alle Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens ziehen. So geht man also nach wie vor davon aus, dass Menschen mit Behinderungen beispielsweise nicht arbeitsfähig sind und daher auch ihre Interessen nicht vertreten können, nicht als „vollwertige“ und „leistungsfähige“ Menschen gesehen werden. Man erwähne in diesem Zusammenhang das Stigma des Invaliditäts-Pensions-Bezug oder einen lückenhaften Sozialversicherungsauszug, der dadurch entsteht, dass Menschen auf Grund ihrer Erkrankung oder Beeinträchtigung nicht (in vollem Ausmaß) am 1. Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

Dieses ausschließende und ausgrenzende Denken führt auch zu einem Gefühl von persönlichem Versagen der Betroffenen und wird von den Menschen so empfunden und erlebt.

„Ich habe das Gefühl, die Familie traut ihm einfach auch nicht mehr und traut ihm auch nichts zu.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Man gelangt zu dem Schluss, dass die auferlegte Zuschreibung und verallgemeinernde Konstruktion, also das was man einem Menschen „anheftet“, beispielsweise die PartnerInnenwahl und Aufrechterhaltung der Beziehung als auch auf den Kinderwunsch und/oder das Sorgerecht von betroffenen Menschen beeinflusst, erschwert wenn nicht sogar verwehrt. Das auferlegte Stigma wirkt sich somit massiv auch auf diesen Lebensbereich aus. In diesem Zusammenhang muss man bedenken, dass Betreuungs-, oder Bezugspersonen und das nahe Umfeld oft die einzigen Bezugspersonen der Betroffenen sind und dieser Verantwortung müssen sie sich auch bewusst sein.

4. Verstärkung der Stigmatisierung durch Kommunikationskanäle

„Da gibt es schon immer wieder Stigmatisierung in alle Richtungen, auch psychiatrisch. Wenn wieder in der Zeitung drinnen steht: „Schizophrener hat - dies und jenes getan“ - nicht der Schizophrene hat das getan, der Mensch hat das getan. Ob der jetzt schizophren ist oder nicht schizophren ist, das ist zweitrangig. Und da denke ich, ist Handlungsbedarf meines Erachtens wirklich massiv auf die Presse zuzugehen und solche Pressemeldungen dementsprechend umzuschreiben.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

„Und auch eben wenn du draußen mit den Leuten redest – „Ma zach, das ist ja so gefährlich!“ Und da gibt es ja den Film „Einer flog übers Kuckucksnest“. Ja… seit dem meinen sie halt alle du hast ganz schwer gestörte Leute.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Begriffe der Zuschreibung sind schon längst in die Medien eingegangen und man kann bekannterweise davon ausgehen, dass die in den Medien produzierten und hergestellten Bilder, die Vorstellungen der Allgemeinbevölkerung über psychisch erkrankte Menschen oder behinderte Menschen spiegeln.

Die Darstellung von Erkrankungen oder Institutionen in den jeweiligen Medien entsprechen nicht ihrer tatsächlichen Repräsentation und tragen deshalb schwerwiegend dazu bei, dass Stereotypen und verfälschte Vorstellungen dieser „Realität“ verbreitet und verinnerlicht werden. Diese „Bilder“ prägen sich dann ein und führen dazu, dass nicht mehr von Individuen und ihren Erfahrungen gesprochen wird als viel mehr von kategorisierten Zuschreibungen. Das bedeutet, dass Menschen einfach mit anderen Menschen in eine „Schublade“ gesteckt werden. (z.B „Behinderte sind doch alle gleich“)

5. Stigmatisierung und Gewalt

“Ich merke es, wenn ich mit den Klienten etwas trinken gehe oder wenn ich mit den Klienten essen gehe manchmal an den Blicken oder an Reaktionen von anderen Menschen.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Gewalt gegen stigmatisierte Menschen ist vielfältig: besonders soziale und psychische Gewalt durch Stigmatisierung und Kriminalisierung, Politik sowie diskriminierende gesetzliche Regelungen. Auch wenn in der Literatur meist von Gewalt von Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen gegen andere Menschen wie Angehörige oder gegen Fachpersonal gesprochen wird:

Zumeist kann von einer Erhöhung der möglichen Handlungen mit aggressiven Tendenzen gesprochen werden, stehen diese jedoch meist in einem bestimmten Zusammenhang. Man geht also davon aus, dass Menschen, die aus ihrer momentanen Situation keinen anderen Ausweg mehr sehen, gewalttätig werden können. Die Betroffenen fühlen sich in ihrem Sein eingeschränkt oder gar bedroht, wie es bei Symptomen der Schizophrenie beispielsweise der Fall sein kann. (vgl. Link 2000 In: Finzen 2013, S89.)

Das bedeutet, dass bereits geringfügige Belastungen zu Impulskontrollverlust führen können. Für die betroffenen Menschen ist mitunter kennzeichnend, dass ihre/seine Fähigkeiten der Strukturierung nicht ausreichen, um sowohl den eigenen als auch den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden. An dieser Stelle ist noch zu erwähnen, dass Gewalt immer durch Gewalt produziert und reproduziert wird.

Wenn man als Mensch nicht in das vorgegebene System passt, also nicht den Normen einer Gesellschaft entspricht (z.B weiß, körperlich unversehrt, leistungsorientiert) ist die Wahrscheinlichkeit größer, von Gewalt betroffen zu sein.

Manche Menschen benötigen Unterstützung oder Assistenz in Teilbereichen des Lebens und befinden sich somit in einer unauflösbaren Abhängigkeit von und zu anderen Menschen, die sie sich meist nicht aussuchen, geschweige denn beeinflussen können. Aus dieser Abhängigkeit heraus kann es dazu führen, dass die betroffenen Menschen Gewalt in unterschiedlichen Dimensionen erfahren, sich nicht wehren können oder niemandem haben, dem sie diese Erfahrungen anvertrauen könnten weil genau diese Bezugspersonen die einzigen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner sind.

Grundsätzlich beginnt Gewalt bereits beim Denken: Das bedeutet, was meinen Vorstellungen von Behinderung entspricht und welches Konstrukt aus meinen Erfahrungen mit Behinderung sich ergibt, beeinflusst mich. Es macht also bereits einen Unterschied, ob und in welcher Form ich Menschen „mitdenke“, die andere Fähigkeiten und Voraussetzungen mitbringen. Es wäre ein Trugschluss anzunehmen, es würde Behinderung nicht geben. Wesentlich ist es, welchen gleichwertigen Umgang ich als Mensch mit der Vielfalt pflegen kann.

Menschen mit Behinderungen leiden darunter, dass sie ständig auf Hilfe angewiesen sind, meist in ihrer Herkunftsfamilie oder in isolierten Institutionen gefangen sind und nicht über ihr Leben bestimmen dürfen und demnach auch nicht ernst genommen werden. Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, dass betroffene Menschen die Unterstützungsangebote auf Grund dessen oft nicht nutzen und erreichen können beziehungsweise auch nicht wissen, wohin sie sich wenden können.

Menschen erfahren also bereits Gewalt durch die Tatsache, wie sie leben müssen, welche Regeln für sie gelten und welche Voraussetzungen vorhanden oder nicht vorhanden sind. Diese defizitäre Vorstellung von Behinderung wird laufend in die Alltagssprache übersetzt und wird somit zu einer Form von psychischer Gewalt.

Das äußert sich unter Anderem so, dass die Menschen zu vorgegebenen Zeiten „essen müssen“ oder als Erwachsene ein Verbot auferlegt bekommen, nach 17 Uhr noch fern zu sehen. Solche herabwürdigenden Verbote und Kontrollen können unter seelische Gewalt zusammengefasst werden, man wird also von Anderen gedemütigt oder entmündigt.

Eine weitere offensichtliche Form von Gewalt liegt vor, wenn man von Bezugspersonen grob behandelt oder angegriffen werden würde, vielleicht sogar getreten oder gewürgt würde fiele das unter körperliche Gewalt, die ebenso von einer beträchtlichen Zahl Betroffener erlebt wird. Die Abhängigkeit wird hier ausgenutzt und andere Menschen damit verletzt.

Jeder Mensch hat persönliche Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Wenn man zu sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen wird passiert genau eben dies. Auch das Vorenthalten von Informationen, also wenn man mit Menschen nicht über Sexualität, Verhütung, oder Missbrauch spricht ist sexuelle Gewalt. Wenn man über Sexualität nichts weiß, kann man auch nicht sagen, was man will und was man nicht will weil man sich gar nicht auskennt.

6. Antistigma-Kompetenz (Wissen, Verhalten, Haltungen)

„Weil man sieht die Person…Versucht man… ob es dann tatsächlich so ist, weiß ich nicht. Aber man versucht eben das nicht so… die Stigmatisierung bei einem selber nicht aufkommen zu lassen quasi. Aber ich denke man unterschätzt, oder ich unterschätze das sicher, wie das im Außen für die Personen auch ist. Das ist sicher für die Betroffenen selber doch immer wieder präsent. Also das… das denke ich mir schon. Selber versucht man das natürlich nicht… eine Person zu stigmatisieren natürlich. Aber es wird auch wenig so – bei mir jetzt – wenig thematisiert von Seiten der Klienten.“ (Fachpersonal Interviewauszug)

Gerade in der Betreuung von Menschen ist es wichtig, sich laufend mit den eigenen Haltungen, seinem Verhalten und seinem Wissen auseinanderzusetzen. Um Antistigmakompetenz zu erlernen oder zu erlangen stellt man sich zu Beginn mögliche Fragen:

  • Wie viel weiß ich über das Stigma der Behinderung?

  • Wie kann ich mich bewusst verhalten, um andere nicht zu stigmatisieren?

  • Wie kann ich stigmatisierenden Aussagen entgegentreten?

Die Lebenschancen und Möglichkeiten betroffener Menschen sind im Allgemeinen durch sozial strukturelle, institutionelle als auch gesamtgesellschaftliche Bedingungen massiv eingeengt. Dadurch übernehmen Betroffene die zugeschriebenen Stigmatisierungen in ihr Selbstverständnis. Ein Stück weit liegt es in der Arbeit mit Menschen an der professionellen Verantwortung und einem ausgereiften Fachverständnis der MitarbeiterInnen, auf diese beschriebenen Verinnerlichungen einzuwirken.

Antistigma-Kompetenz kann damit zusammengefasst werden, Handlungskompetenzen für die tägliche Arbeit zu entwickeln als auch sich ein spezifisches, also konkretes Wissen anzueignen und diese Komponenten in die eigenen Haltungen zu inkludieren. Mit dieser wesentlichen Kompetenz trägt man dazu bei, die Lebensqualität betroffener Menschen mitzugestalten und zu verbessern. (Freimüller 2012)

Literatur

agile – Behinderung und Politik 2-07, Schwerpunkt: Das Stigma der Behinderung http://archiv.agile.ch/fileadmin/Zeitschrift/agile_2_07_d.pdf, Stand: 01.07.2015

Freimüller, L. und Wölwer, W. (2012): Antistigma-Kompetenz in der psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychosozialen Praxis. Das Trainingsmanual. Schattauer, Stuttgart.

Goffman, E. (1975): Stigma. Über Techniken und Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp: Frankfurt am Main.

Hinterhuber H., Meller H., Meise U., Schmid R.: „Alles besser als ein Geisteskranker...“ - vom Stigma und seinen Folgen. In: Jahresbericht 1999 der Gesellschaft für Psychische Gesundheit in Tirol. http://www.gpg-tirol.at/fileadmin/media/Veroeffentlichungen/StigmaBeitrag99.pdf, Stand:07.07.2015

Hohmeier, J.(1975): Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozess. In: Brusten, M. / Hohmeier J. (Hrsg.): Stigmatisierung 1, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen. Luchterhand-Verlag: Darmstadt. http://bidok.uibk.ac.at/library/hohmeier-stigmatisierung.html

Kessl, F. und Plößer, M. (2010): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.

Rauchfleisch, U. (1999): Außenseiter der Gesellschaft. Psychodynamik und Mög-lichkeiten zur Psychotherapie Straffälliger. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen.

Santer, T. (2014): Stigmatisierung forensisch-psychiatrischer KlientInnen. Handlungsempfehlungen für die praktische klinische soziale Arbeit. Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts, Fachhochschule Vorarlberg, Studiengang Soziale Arbeit.

Quelle

Teresa Santer: Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen - Veränderungen beginnen im Kopf, 2015.

bidok - Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 30.09.2015

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