"Schläft ein Lied in allen Dingen ...".

Musikwahrnehmung und Spiellieder bei Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit.

Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © Ulrike Stelzhammer-Reichhardt, Shirley Salmon 2008

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorInnen: Ulrike Stelzhammer-Reichhardt, Shirley Salmon

Titel: "Schläft ein Lied in allen Dingen ...". Musikwahrnehmung und Spiellieder bei Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit.

Infos: Reichert Verlag, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-89500-609-8,www.reichert-verlag.de

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Hans Hermann Wickel

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Der Doktorarbeit von Ulrike Stelzhammer-Reichhardt zum Aspekt "Ultraschallhören bei Gehörlosigkeit" sowie der Magisterarbeit zur "Bedeutung von Spielliedern für Kinder mit Hörbeeinträchtigung" von Shirley Salmon. Beide Arbeiten stellen vielleicht gerade wegen der völlig unterschiedlichen Zugangsweisen eine gelungene und für das bislang immer noch vernachlässigte Thema "Musik und Hörbeeinträchtigung" eine sich in Theorie und Praxis hervorragend ergänzende aussagenstarke Publikation dar.

Komplizierte Messverfahren mit Laborcharakter schrecken den Musikpädagogen und Musiker ab, verlässt er sich doch lieber auf seine Erfahrungen und sein Gespür. Die Untersuchung von Ulrike Stelzhammer-Reichhardt zeigt aber, dass auch naturwissenschaftlich basierte Studien durchaus eine Bedeutung für die Praxis musikpädagogischer, musiktherapeutischer und heilpädagogischer Arbeit haben können. Zunächst weist die Untersuchung nach, dass Ultraschallsignale bei 28 KHz, also einer Frequenz, die über der Hörschwelle des Menschen liegt, verarbeitet werden können. Die Rezeption geschieht über die Knochenresonanz, die jedoch über die Luftleitung angeregt wird. Nachgewiesen wird dieses Phänomen durch signifikante Veränderungen im EEG, speziell im Alphawellenbereich. Bei Gehörlosen wurde dabei eine deutlich höhere Sensibilität als bei Normalhörenden festgestellt, aufgrund der Beeinträchtigung haben offenbar andere Schaltkreise Funktionen des Hörens übernommen. Somit scheinen durch den Ausfall des Hörorgans andere Wahrnehmungskanäle verstärkt aktiviert und genutzt zu werden, wie man es in ähnlicher Weise von der deutlich verbesserten Tastfähigkeit bei blinden Menschen kennt. Diese Substituierung von Sinnesfähigkeiten wird durch die Leistungen gehörloser Musiker bestätigt, die über eine deutlich erhöhte Sensibilität für Vibrationen verfügen. Eine Zuordnung zu genauen Hirnarealen, in denen sich diese Prozesse abspielen, konnte nicht ermittelt werden.

Diese zunächst sehr trocken wirkenden Erkenntnisse haben aber durchaus eine hohe Bedeutung für die Musikpädagogik in der Praxis mit Menschen mit Hörbeeinträchtigungen:

Diese bevorzugen eindeutig akustische Instrumente, die über ein reicheres Klangspektrum verfügen. Dieses Spektrum wird von ultraschallreichen Klängen in seiner Fülle und Qualität maßgeblich mitgeprägt. Dadurch ergibt sich z. B. eine Bevorzugung von Becken, Gongs und anderen hoch klingenden Instrumenten. Auch konnte eine Vorliebe für dissonante Klänge und Reibeklänge ausgemacht werden. Ultraschallreiche Geräusche und Klänge treten in der Natur und Kultur bevorzugt z. B. im Regenwald auf, bei den Gamelan Instrumenten oder bei Tönen, die durch Reibung erzeugt werden wie bei den Streichinstrumenten. Die weit verbreitete Annahme, dass grundsätzlich bei massiven Hörbeeinträchtigungen tiefe Instrumente bevorzugt werden und musikpädagogisch sinnvoll sind, scheint damit in dieser Generalisierung hinfällig. Maßgeblich für die Wahrnehmung sind vielmehr die Qualität und Intensität eines Klanges sowie der Reichtum seines Frequenzspektrums. Dadurch ergibt sich ein Problem bei modernen Tonträgern, die durch die Unterdrückung hoher Frequenzen einen eingeschränkten Dynamikbereich besitzen. Live-Musik wird daher auch ganz klar von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen bevorzugt.

In der Arbeit von Ulrike Stelzhammer-Reichhardt wird wieder einmal ganz deutlich, wie selbstverständlich auch hörbeeinträchtigte Menschen Musik lieben und brauchen, und zwar insbesondere zur Stimmungsregulation (Mood-Management) genauso wie Normalhörende. Über die Arbeit mit Schwerhörigen hinaus macht die Studie deutlich, dass Menschen eine Sensibilität für Schallereignisse aufweisen, die außerhalb des Hörfeldes liegen. Zudem ergibt sich die klare Forderung, sich stets die multisensorischen Wahrnehmungsvorgänge für musikalisches Erleben und Lernen bewusst zu machen. Und die musikalische Wahrnehmung stellt eindeutig einen solchen multisensorischen Prozess dar.

Abschließend muss noch ergänzt werden, dass nicht bei allen Probanden der Studie Reaktionen auf die Ultraschallsignale gefunden wurden. Auch stellt eine einzeln dargebotene Frequenz von 28 kHz nur einen extrem begrenzten Ausschnitt akustischer und vor allem musikalischer Wirklichkeit dar, zumal die Rhythmisierung als einziger musikalischer Parameter unter Laborbedingungen eingesetzt wurde. Weitere Forschung ist also dringend geboten und wird durch diese Studie maßgeblich angeregt und vorbereitet.

Ein weiteres großes Plus dieser Arbeit: Die Beschreibung der Hörvorgänge erfolgt auf eine sehr verständliche Weise, die gut für den Unterricht aufbereitet werden kann!

Die Arbeit von Shirley Salmon zielt auf die Praxis ab und beleuchtet die Facetten des Spielliedes, die Hintergründe zur pädagogischen Arbeit mit hörbeeinträchtigten Kindern und die Bedeutung des Spielliedes in diesem Kontext.

Salmon zeigt den Regelkreis auf, der zwischen Wahrnehmung, Bewegung und Hörbeeinträchtigung besteht und geht bei ihren Überlegungen von der Prämisse aus, dass auch Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung selbstverständlich ein Recht auf ihre eigenen Erlebnisse, Erfahrungen, Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten mit Musik und Bewegung haben. Die Methodik muss allerdings gezielt die Bedürfnisse und Fähigkeiten der hörbeeinträchtigten Kinder im Blick haben und darf nicht nur einfach die Inhalte und Verfahren kopieren, die hörenden Kindern angeboten werden. Die Gestaltungen der anregenden Spiellieder bindet Salmon in einen multisensorischen Ansatz ein, der gerade bei Menschen besonders wichtig ist, denen bestimmte Wahrnehmungskanäle nicht im vollen Maße zugänglich sind.

Shirley Salmon arbeitet die besondere Rolle und Bedeutung des Vibrationssinns heraus, der hochgradig schwerhörigen oder gehörlosen Menschen ermöglicht, ein feines Gespür für Schwingungen aller Art zu entwickeln und den es besonders zu schulen gilt. Der gesamte Körper wird damit zu einer Art Vibrationszentrum.

Salmon zeigt die wichtigsten Ansätze von bewegungs- und musikpädagogischer Arbeit mit hörbeeinträchtigten Kindern auf, um dann ihren eigenen Ansatz ausführlich vorzustellen, der durchaus Schnittmengen mit anderen Konzepten aufweist, sich aber in der zentralen Betonung der multisensorischen Wahrnehmung, im Einsatz von Bewegung, in der Betonung von Dialog und Beziehung und in den breiten Zielbereichen, die nicht alleine Sprache in den Mittelpunkt stellen, dann doch deutlich absetzt.

Es geht ihr dabei nicht nur um funktionelle Verbesserungen wie das Trainieren und Üben von Sprechen und Hören, sondern um das Wecken von Interesse und das Vermitteln von Freude an Musik und Bewegung. Einerseits wird Musik funktionalisiert und dient als Medium für außermusikalische Ziele, andererseits soll aber auch ein autonomer Weg zu Musik und Tanz aufgezeigt und ermöglicht werden!

Die Arbeit stellt ein eindrucksvolles und einfühlsames Plädoyer für das "ganz normale Musizieren" mit hörbeeinträchtigten Kindern dar, weg von Vorurteilen wie: die können das nicht, was dabei herauskommt, ist doch keine Musik etc.! Hörbeeinträchtigte Menschen hören mit dem Bauch, mit der Haut, mit den Füßen und vielem mehr, die Ohren sind nur ein Teil des Körpers, der am Hören beteiligt ist, das müssen wir Hörende endlich begreifen! Und die Arbeit in diesem Feld verlangt auch nach vernünftigen äußeren Bedingungen. Dazu gehören z. B. die Verbesserung der Akustik in den Räumen, vor allem in Turnhallen, das Schaffen von Platz für Bewegungen in Klassenzimmern und die Installation von Schwingböden.

Das Literaturverzeichnis des Buches bildet eine Fundgrube aktueller Literatur zum Thema Musik und Hörbeeinträchtigung, in dem abgedruckten Interview wird auf anschauliche Weise der Aspekt aus der Perspektive der gehörlosen Musikerin Evelyn Glennie dargeboten, die sich stark für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen engagiert, die Musik machen wollen. Es lohnt sich!

Hans Hermann Wickel

Quelle:

Rezensiert von Hans Hermann Wickel

Entnommen aus: Orff-Schulwerk Informationen Nr. 80, 2008; Herausgegeben von Universität Mozarteum Salzburg; Abteilung für Musik und Tanzpädagogik - Orff-Institut

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 26.01.2009

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