"Zwischen Freiraum und Ritual" - Ausdrucksmöglichkeiten mit Musik und Bewegung für Menschen mit Behinderung

"Between Freedom and Ritual" - Means of expression with music and movement for people with disabilities

Themenbereiche: Rezension
Schlagwörter: Therapie, Kultur, Tanz, Musik, Film
Textsorte: Rezension
Releaseinfo: Erschienen in: Orff-Schulwerk Informationen Nr. 83, Sommer 2010. Herausgegeben von: Universität Mozarteum, Carl-Orff-Institut für Elementare Musik- und Tanzpädagogik www.orffinstitut.at und Orff-Schulwerk Forum Salzburg www.orff-schulwerk-forum.salzburg.org
Copyright: © Shirley Salmon, Coloman Kallós 2010

Informationen:

AutorIn/Hrsg.: Shirley Salmon, Coloman Kallós

Titel: "Zwischen Freiraum und Ritual" - Ausdrucksmöglichkeiten mit Musik und Bewegung für Menschen mit Behinderung

Infos: Eine DVD-Produktion der Universität Mozarteum Salzburg, Abteilung für Musik- und Tanzpädagogik - Orff-Institut, Salzburg 2010, ISBN: 978-3-9502713-1-7

Kurzbeschreibung:

Besprechung von Anna Maria Kalcher

In ihrer DVD geben Shirley Salmon und Coloman Kallós zahlreiche Einblicke in die musik- und bewegungspädagogische Arbeit im Sinne des Orff-Schulwerks mit Menschen mit Behinderung. Nach Shirley Salmon soll die DVD "diesen spezifischen Ansatz dokumentieren aber auch wesentlichen Fragen über Strukturen und Freiräume, über Instrumente und Vorgangsweisen nachgehen. Sie soll aber auch Anregungen und Impulse geben, um eigene Ideen mit unterschiedlichen Gruppen weiterzuentwickeln."

Der von Shirley Salmon entwickelte und gelehrte sozial-integrative Ansatz wird in dieser Dokumentation transparent. In den gezeigten Unterrichtssequenzen und durch das Gesamtkonzept wird die große Wertschätzung, die Salmon einzelnen Gruppenmitgliedern sowie Studierenden und KollegInnen entgegenbringt, sichtbar. Die DVD bietet damit allen Interessierten die Möglichkeit, Leitideen und wichtige Impulse für diese Tätigkeitsfelder aufzugreifen und ermutigt, die hier vorgestellte künstlerisch-pädagogische Arbeit fortzuführen.

Die Professionalität dieser DVD wird bereits durch die Möglichkeit, Auswahlfelder zu animieren und damit einzelne Teile herauszugreifen, deutlich. Dies scheint aufgrund der Dichte und Länge (126 Minuten) des Filmmaterials sinnvoll und notwendig. Die Dokumentation kann zudem in deutscher oder englischer Sprache vorgeführt werden. Das Layout ist ansprechend, übersichtlich und bietet eine gute Handhabung.

Neben Unterrichtsbeispielen am Orff-Institut wird ein Überblick über die Praxis der Elementaren Musik- und Tanzpädagogik mit Menschen mit Behinderung geboten, zudem werden künstlerische Projekte an der Schnittfläche zwischen Pädagogik und Therapie vorgestellt. Coloman Kallós macht diese spezifische Arbeit sichtbar und interpretiert sie mit seinem "Instrument", dem Medium Film. Mit technischem Geschick und viel Einfühlungsvermögen gelingt es ihm, jene Momente einzufangen, in denen sich schöpferische Tätigkeiten ereignen. Dadurch wird die Teilhabe an bewegenden Augenblicken möglich.

Die DVD besteht aus drei Kapiteln. Teil 1 (40') gibt einen Überblick über die "Geschichte und Entwicklung" der elementaren musik- und tanzpädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderung am Orff-Institut. Teil 2 (66') "Einblicke in die Praxis" dokumentiert Unterrichtsbeispiele einer Lehrpraxisgruppe sowie didaktische Überlegungen zur Planung, Durchführung und Analyse. In Teil 3, "Hintergrund und Reflexion" (20') werden Ausschnitte aus einer Gesprächsrunde mit Shirley Salmon, Studierenden und Leitern der Lebenshilfe-Werkstätten und Studierenden sowie Ausschnitte aus einem Interview mit der Musiktherapeutin Karin Schumacher gezeigt.

Das Kapitel "Einblicke in die Praxis" ist zu Recht das umfangreichste. Es wird in vier Teile aufgefächert. Die Beispiele wurden aus insgesamt 6 gefilmten Stunden innerhalb eines Studienjahres zusammengestellt, wobei die Suche nach besonderen Momenten die Materialauswahl bestimmte. Exemplarisch wird gezeigt, wie einzelne Themen multisensorisch mit Musik, Bewegung, Sprache, Material und Bild angeboten werden können. Vielfältige Möglichkeiten zur Wahrnehmung, des Explorierens und Improvisierens werden vorgestellt. Für den Stundenaufbau wird folgende Struktur vorgeschlagen: Freies Spielen, Begrüßung, Aufwärmung, Themenzentriertes Arbeiten, Abschluss. Diese Phasen gilt es zu gestalten, "so dass Freiräume für individuellen Ausdruck entstehen und entwickelt werden können". In der freien Spielphase können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedene Instrumente ausprobieren, mit anderen in Kontakt kommen und eventuell musikalische Dialoge führen. Salmon bezeichnet diese Phase als besonders wichtigen Teil der Stunde. Anhand der Beispielstunden zu den Themen "Herbst", "Sonne und Wolken", "Blumen", "Hände" und "Frühling" werden multi-sensorielle Zugänge und Möglichkeiten des Ausdrucks und der Gestaltung aufgezeigt. Als Lehrende sind neben Shirley Salmon auch Studierende der Lehrpraxisgruppe zu sehen. Besonders faszinierend sind hier die große Konzentration, mit der die TeilnehmerInnen den musik- und bewegungsbezogenen Aktivitäten folgen sowie die dadurch hervorgerufene Freude. Kallós gelingt es wunderbar, diese Facetten zu zeigen.

Wie sehr die Lehrenden bemüht sind, den Teilnehmenden optimale Erkundungs- und Spielmöglichkeiten anzubieten und dabei ihre Fähigkeiten zu berücksichtigen, wird unter anderem dadurch offenkundig, dass in einem Projekt spezielle Instrumente für einzelne Teilnehmende entworfen und gebaut wurden. Besonders originell sind die Klanghüte, Hüte, an welche Schellen und anderes Klangmaterial angebracht wurden. Das Instrument kann z. B. mittels Kopfbewegung zum Klingen gebracht werden.

In diesem Kapitel wird immer wieder deutlich, dass in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung ein breites Instrumentarium und Materialangebot notwendig sind, um den individuellen Möglichkeiten und Interessen der Teilnehmenden entgegenzukommen.

Eine besondere Herausforderung stellt in diesem Arbeitsfeld die Beziehungs- und Gruppenfähigkeit dar. Das von Schumacher und Calvet entwickelte EBQ - Beobachtungs-Instrument zur Einschätzung der Beziehungsqualität wird in der Dokumentation anschaulich vorgestellt und anhand ausgewählter Beispiele illustriert. Das EBQ basiert auf entwicklungspsychologischen Erkenntnissen und wurde zur Evaluierung der Musiktherapie mit Kindern mit Autismus entwickelt. Dieses Beobachtungs- und Einschätzungsinstrument ermöglicht, die Gruppenfähigkeit festzustellen und zeigt, inwieweit das pädagogische Vorgehen der Beziehungsfähigkeit einzelner GruppenteilnehmerInnen entspricht.

Folgende 7 Beziehungsqualitäten (Modi) werden unterschieden:

Modus 0: Kontaktlosigkeit / Kontaktabwehr

Modus 1: Kontakt - Reaktion

Modus 2: Funktionalisierender Kontakt

Modus 3: Kontakt zu sich / Selbsterleben

Modus 4: Kontakt zum Anderen / Intersubjektivität

Modus 5: Beziehung zum Anderen / Interaktivität

Modus 6: Begegnung / Interaffektivität

Mithilfe dieses Instrumentes wird eine Einschätzung des Entwicklungsstandes der einzelnen TeilnehmerInnen möglich. Daraus können wichtige Hinweise für das methodische Vorgehen abgeleitet werden. In der DVD wird die Beziehungsfähigkeit einzelner TeilnehmerInnen anhand des Umgangs mit Instrumenten eingeschätzt. Durch diese exemplarische Analyse wird gut sichtbar, dass neben der Kompetenz der Lehrkraft vor allem die Gruppengröße einen entscheidenden Faktor zum Erreichen einer ausgeprägten Beziehungsfähigkeit darstellt.

Darauf weist Karin Schumacher im Gespräch mit Shirley Salmon hin und schlägt vor, die Gruppen auf 7 - 8 Personen zu beschränken, um zu gewährleisten, mit jedem Menschen Beziehung aufnehmen zu können und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen. Die Gruppe, die in der Dokumentation porträtiert wird, ist sowohl aufgrund der Größe von etwa 10 Personen sowie der Heterogenität, die sich durch unterschiedliche Behinderungsgrade und den 3 - 5 beteiligten Studierenden ergibt, besonders herausfordernd.

Wie bedeutsam und gleichermaßen schwierig es ist, die einzelnen Beziehungsmöglichkeiten wahrzunehmen, richtig einzuschätzen und adäquat darauf zu reagieren, ist offensichtlich. Als Pädagogin auszuhalten, dass einzelne Menschen aufgrund ihrer Behinderung die gesetzten Angebote nicht aufgreifen können, sich davon aber nicht irritieren zu lassen, sondern rasch nach Alternativen zu suchen, um die Person mit anderen Angeboten und Materialien zu erreichen, dafür braucht es Übung. Diese könnte, so Schumacher, zunächst in der Arbeit mit einem/einer Teilnehmenden in Supervision erfolgen. Auf diese Weise könnten Studierende lernen, sich zu beziehen statt sich von den zuvor festgelegten pädagogischen Ideen leiten zu lassen.

Die dokumentierten Gesprächsausschnitte - mit Karin Schuhmacher einerseits sowie andererseits mit Studierenden und Leitern der Lebenshilfe-Werkstätten, aus welchen die TeilnehmerInnen der Lehrpraxisgruppe am Orff-Institut stammen - zeigen allesamt, wie transparent Shirley Salmon arbeitet. Indem sie nicht nur verschiedene Blickwinkel und Erfahrungen sondern auch kritische Stellungnahmen einbindet, macht sie deutlich, dass sie trotz ihrer langen Erfahrung bemüht ist, ihre Arbeit ständig zu evaluieren und zu optimieren.

Neben diesen praxisbezogenen Bild- und Tondokumenten wird in Teil 1 die Geschichte und Entwicklung der sozial-integrativen Arbeit am Orff-Institut aufgerollt. Wilhelm Keller, der in der Umsetzung des Orff-Schulwerks mit Menschen mit Behinderung Pionierarbeit leistete, berichtet von den Anfängen dieser Arbeit. Dem Grundsatz folgend, "jedem das Seine, niemanden unter- noch überfordern", entwickelte er das Elementare Musiktheater, in der alle Menschen eine entsprechende Rolle bekamen. Die Musik komponierte er so, dass sie den Fähigkeiten der Beteiligten entsprach. Keller wird hier als Pädagoge, Künstler, Vortragender gezeigt. Neben den Ursprüngen der integrativen Arbeit wird der Weg bis in die Jetztzeit abgebildet und über Möglichkeiten zur Vertiefung dieser Arbeit in Studium oder in Form von Sommerkursen informiert. Unterschiedliche Praxisfelder, etwa die Arbeit im Jugendzentrum, im SeniorInnenheim, im Sonderpädagogischen Zentrum werden dargestellt, Lehrende und AbsolventInnen berichten von ihrer spezifischen Tätigkeit.

Darüber hinaus wird auf integrative Projekte hingewiesen, die nicht unmittelbar mit dem Orff-Institut verbunden sind. Ein großer Teil ist dem integrativen Projekt "Spiel-Raum-Musik" gewidmet. Seit 1996 wird dieses inklusive und interdisziplinäre Projekt im Schloss Goldegg durchgeführt. Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Musik, Tanz und Bildende Kunst sollen einander begegnen. Die künstlerische Improvisation ist die leitende Gestaltungsidee dieses Projektes, das sich im Schnittfeld von Kunst, Pädagogik und Therapie verortet wissen will. Am Ende der Projektwoche steht eine Performance, in der alle TeilnehmerInnen, ungeachtet ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten musikalisch und tänzerisch in den Dialog treten. Die durch die Inklusion erlebte Vielfalt wird als Bereicherung und Chance für alle Beteiligten wie auch Zuschauenden betrachtet.

Der erste Teil gibt insgesamt einen wunderbaren Überblick über die Entwicklung und unterschiedliche Ausprägungen der sozial-integrativen Arbeit am Orff-Institut und darüber hinaus. Carl Orffs Leitidee, jeder Mensch sei fähig, elementare Musik und Bewegung zu gestalten, wird damit auf vielfältige Weise sicht- und hörbar. In besonderem Maße fasziniert die Komposition dieses Abschnitts. Zum einen wird in Teil 1 die Vielfalt an Szenen, Orten und Zeiten sinnvoll und gekonnt in eine Ordnung gebracht, zum anderen erstaunt die gute Qualität der älteren Dokumente. Dass Carl Orff selbst zu Wort kommt und seine Gedanken selbst zum Ausdruck bringt, ist ein zusätzlicher Gewinn. Seine Aussagen werden gemeinsam mit jenen von Wilhem Keller und Shirley Salmon und mit unzähligen Musik- und Tanzsequenzen einzelner Gruppenmitglieder, Studierender und Lehrender in einen Reigen gefügt. Die dabei wahrgenommene Gleichwertigkeit trotz der breiten Vielfalt unterschiedlicher Zeiten, Hintergründe, Fähigkeiten und Begabungen kann als konsequente Umsetzung des Inklusionsgedanken interpretiert werden.

Der DVD ist ein ausführliches Booklet beigelegt, das neben einer von Shirley Salmon verfassten Einleitung eine Einführung von Regina Pauls, ein Literaturverzeichnis sowie einen Text zur Bedeutung der Video-Dokumentation im künstlerisch-pädagogischen Prozess enthält. Coloman Kallós erläutert darin die Herausforderungen mit der Kamera aussagekräftige Unterrichtssituationen einzufangen, und "die Verwandlungen im künstlerischen Prozess" sichtbar zu machen, "das, was sich in den Gesichtern und im körperlichen Ausdruck der Menschen (...) abspielt, wenn sie ganz beteiligt sind und in der schöpferischen Handlung aufgehen. Das Filmen in solchen Unterrichtssituationen stellt hohe Ansprüche an die Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe des Kameramanns", ist sich Kallós bewusst. Dass ihm das bestens gelungen ist, zeigen unzählige Augenblicke, in denen Sequenzen sowie einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer unmittelbar greif- und fühlbar werden. Die Bilder überzeugen und an manchen Stellen fragt man sich, wie es dem Filmenden möglich war, außergewöhnliche Perspektiven aufzuzeichnen, ohne dabei unbequeme bis unmögliche Körperhaltungen einzunehmen bzw. über Hebebühnen oder unterstützende Kameramänner und -frauen zu verfügen. Seine Kompetenz beweist er auch darin, bedeutsame Spuren zu verfolgen und dabei den Gruppenprozess nicht zu stören, sondern vielmehr als Teil der Gruppe zu agieren, als Kamera, die mitschwingt und mittanzt, die künstlerische Momente auffängt. Nicht nur hier zeigt Kallós große Sensibilität, auch in der Auswahl der Bilder und Einstellungen gelingt es ihm, die beteiligten Personen stets authentisch und zugleich respektvoll darzustellen. Er unterstreicht Vorzüge und Besonderheiten der Menschen und spielt gekonnt mit dem Wechsel von Nahaufnahmen und Ferneinstellungen. Seinem künstlerischen und ästhetischen Anspruch wird er damit gerecht.

Die gefilmten Ausschnitte geben Zeugnis darüber, welch kommunikativ-emotionale Kräfte Musik und Tanz innewohnen bzw. sich den Beteiligten in der künstlerischen Tätigkeit eröffnen.

Die gelungene Dokumentation vermittelt nicht nur inspirierende Anregungen für die Unterrichtsgestaltung integrativer Gruppen, die auf Salmons Kompetenz basieren, sie macht darüber hinaus unterschiedliche Praxisfelder sichtbar. Die Leistung, die Salmon und Kallós erbracht haben verdient große Anerkennung: Eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten ist eingefangen, dramaturgisch verbunden, unzählige Eindrücke werden geordnet, aufgefädelt dem Betrachter, der Betrachterin als schillernde "Perlen" gereicht.

Mögen die in der DVD vorgestellten Impulse aufgegriffen und ins Spiel gebracht werden.

Anna Maria Kalcher

Quelle:

Rezensiert von Anna Maria Kalcher

Erschienen in: Orff-Schulwerk Informationen, Nr. 83, Sommer 2010

bidok- Rezensionshinweise

Stand: 01..06.2010

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