Verstehen und Kreativität in der Begleitung als Herausforderung. Langzeitperspektiven in der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen

Textsorte: Rezension
Releaseinfo: Rezension des Buches: Niedecken, D., Lauschmann, I. und Pötzl, Marlies (2003). Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis. Innere und äußere Integration von Menschen mit Behinderung. Weinheim: Beltz Verlag.
Copyright: © Irene Sailer-Lauschmann, Hannes Kosz, Volker Schönwiese 2019

Einleitung

Dietmut Niedecken, Irene Sailer-Lauschmann und Marlies Pötzl haben im Jahr 2003 das Buch „Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis. Innere und äußere Integration von Menschen mit Behinderung“ veröffentlicht[1]. Entstanden ist das Buch aus der Begleitung eines Ausgliederungsprojektes aus der Psychiatrie in Hall i. Tirol/Österreich. Ab den 1990er-Jahren durften in Österreich nach einer Reform des Unterbringungsgesetzes keine Personen mit 'geistiger Behinderung' mehr langzeithospitalisiert werden, sie mussten in die Behindertenhilfe ausgegliedert werden. Der damit verbundene Paradigmenwechsel in Richtung Sozialpsychiatrie, psychosoziale Arbeit und inklusive Pädagogik war und bleibt für alle Beteiligten mit großen Herausforderungen verbunden. Das genannte Buch ist für die Verbindung psychoanalytischer Zugänge mit Theorie und Praxis pädagogischer Begleitarbeit mit Menschen mit Behinderungen ein wohl zu wenig beachteter Meilenstein. Es dokumentiert die Herausforderungen mit denen eine verstehende pädagogische Begleitung dort konfrontiert ist, wo die traditionelle Verwahr-Psychiatrie mit ihren Grundprinzipien Isolierung, Ordnung und Unterwerfung unter Autorität (vgl. Pinel nach Egger, 1999) gescheitert ist. Es stellt sich die Frage, wie weit die Psychiatrie sich heute der historischen und aktuellen Verantwortung entzieht und jenseits aller sozialpsychiatrischer Fortschritte in Allianz mit der Pharmaindustrie extensiv diagnostiziert/ medikalisiert (Frances, 2013) oder mit Forensik und Maßnahmenvollzug antwortet (Unabhängiger Monitoringausschuss 2015). Das Buch von 2003 ermöglicht es uns, aus einer Langzeitperspektive neuerlich zu berichten, eine eher seltene Gelegenheit zur Berichterstattung über praktische Perspektiven des Verstehens über zwei Jahrzehnte, die wir nutzen wollen. Anhand von drei exemplarischen Darstellungen – Gudrun, Mark und Karin – versuchen wir aus heutiger Sicht Reflexionen, Ergänzungen, Aktualisierungen und weiterführende Gedanken aufzuzeichnen. Sie sind in Interviews mit Irene Sailer Lauschmann entstanden, die in den Begleitprozessen seit dem Beginn der 1990er-Jahre eingebunden war, diskutiert und ergänzt aus der Perspektive von Begleitarbeit durch Hannes Kosz und mit einem Blick von außen durch Volker Schönwiese.



[1] Dieses Buch ist in der Reihe „Beiträge zur Integration“ im Beltz-Verlag 2003 erschienen, inzwischen vergriffen und seit September 2019 in der digitalen bibliothek bidok (http://bidok.uibk.ac.at/) im Volltext zugänglich.

Gudrun – das Phantom nebenbei

Die Geschichte von Gudrun (vgl. Niedecken et al. 2003, S. 32ff) begann sehr durchschnittlich mit einer problemlosen Geburt in eine als normal erlebte Mehrkindfamilie. Als Folge einer schweren Virusinfektion im Kleinkindalter – Gudrun hatte sich bei der Mutter angesteckt – entwickelte sich eine bleibende Schädigung des Gehirns mit einer massiven Entwicklungsbeeinträchtigung. Gudrun wurde zu einem Problemkind, als von der Norm abweichend gekennzeichnet zu einem behinderten Kind. Bedingt durch Gudruns Wesen mit den klassischen autistischen Zügen wie Unnahbarkeit und Vermeidung des Augenkontakts und fehlenden Unterstützungsmaßnahmen kam es innerhalb der Familie zu einer dramatischen Überforderungssituation, die im Suizid der Mutter gipfelte. Gudrun wurde in der Folge zum Phantom, zum Unaussprechlichen, zum Tabu – abgeschoben zunächst in eine Einrichtung für Kinder, in weiterer Folge in die Psychiatrie. Sie zeigte autoaggressives Verhalten in heftigster Ausprägung, gerichtet gegen das eigene Gesicht, nicht gegen Hände oder Füße, sondern auf das Wesentliche des Selbst, des eigenen Seins: Der zerbrochene Spiegel als Fixierung auf Destruktion und nicht nachfühlbares Grauen, auf stereotype Autoaggression als Zerstörung spiegelnden Augenkontaktes. Der Kontakt zur Familie brach vollständig ab, beschränkte sich auf reine Verwaltungsangelegenheiten aufgrund der Vormundschaftsfunktion der Schwester, das Persönliche und das Emotionale hatten keinen Platz. Gudrun wurde nicht mehr erwähnt. Sie hatte keine soziale Existenz mehr. Mit Beginn der Unterbringung in der Einrichtung, in der sie bis jetzt lebt, konnten wieder vorsichtige Verbindungen zur Familie – Gudruns Schwester – geknüpft werden. Über die Familiengeschichte zu sprechen, fällt der Schwester nach wie vor äußerst schwer, es war und ist für sie emotional kaum auszuhalten. Und doch baute sich langsam ein Kontakt auf, der bis heute besteht – manifestiert in Besuchen ein- bis zweimal pro Jahr. Gudrun wohnt jetzt in einem Wohnhaus und zeigt weiterhin ihre autoaggressiven Verhaltensweisen, eine Änderung ist nicht feststellbar. Die Abstände haben sich vergrößert, jedoch nicht die Vehemenz. In all‘ der langen Zeit der Begleitung konnte kein Weg gefunden werden, keine Intervention, um ihr andere Möglichkeiten des Ausdrucks zu vermitteln. Was sie quält (die Schuld, das Trauma der Familie) bleibt weiterhin ungeklärt und im Verborgenen des „kindsmörderischen Introjekts“ (Niedecken et al. 2003, S. 31). Sie bleibt weiter das Phantom, welches nicht zu fassen ist und sich entzieht. Sie reagiert auf Kontaktaufnahme hochsensibel und mit größter Vorsicht. Bei direkten Kontaktversuchen entzieht sie sich schnell. Abstand zwischen ihr und anderen bleibt überlebensnotwendig, bleibt ihr Schicksal. Soziales Miteinander passiert im Nebenbei und die Frage drängt sich auf, ob sie ein Leben als Abstand oder Nichtexistenz lebt. Eine Annäherung an das Erlebte, an die Lebensgeschichte, ist nicht gelungen, das Trauma hat sich verfestigt. Nichtsdestotrotz lebt sie vordergründig gesehen ein 'gutes Leben', mit auf sie abgestimmter Unterstützung, mit wohlwollendem Eingehen auf ihre Bedürfnisse. Und sie wird gemocht. Das ist ihr Kapital, ihre Fähigkeit: Das aggressive Verhalten zielt nur auf sie selbst ab, es sind keinerlei Fremdaggressionen feststellbar. Fehlen Fremdaggressionen, so erzeugt dies ein anderes Miteinander, ein anderes Zugehen, eine andere Begleitung, ein anderes Gefühl in den Menschen als bei einer Wendung nach außen. Distanz-Reaktionen sind bei Autoaggressionen in der Begleitung schwerer möglich als bei fremdaggressiven Tendenzen. Autoaggressive Verhaltensweisen zwingen zum Hinschauen. Gudrun teilt sich mit, das Phantom zeigt sich in ihren autoaggressiven Verhaltensweisen und hinterlässt eine visuelle Herausforderung. Gudrun bleibt Thema, sie hinterlässt Fragen: 'Was können wir tun? Warum macht sie das?' Die Auseinandersetzung bleibt, gepaart mit Toleranz: 'Das war doch schon immer so, das kennen wir gut! Was sollen wir schon großartig tun?' Gudrun ist anwesend, aber ja nicht zu viel. Sie kann nur in diesem Nebenbei teilnehmen, wo zu viel Emotionen oder zu viel Beziehung entsteht – dort entzieht sie sich. Der Abstand zwischen ihr und den anderen Menschen wird größer und weiter, Gudrun ist anwesend, aber eben nur irgendwie. Und doch zeigt sich hier auch ihre Stärke und Kraft, da dieses Abstand-Einhalten auch eine Reaktion auf die Situation selbst darstellt, eine Einschätzung der gegenwärtigen Umgebung. Sie nimmt wahr, was dort ist, sie trifft eine autonome Entscheidung. Gudrun entzieht sich und bleibt doch. Sie dosiert den Abstand, Gudruns Stabilität ist es, den Abstand zu wahren. Dass ihr Sehvermögen sehr eingeschränkt ist, wird erst spät erkannt und wird als zusätzliche Erklärung für ihre Unsicherheit herangezogen. Die gewohnte Umgebung gibt ihr Schutz und Sicherheit, neue Umwelten, vor allem die Welt jenseits der eigenen vier Wände, erzeugen Unsicherheit und das Verlangen, an der Hand genommen und geführt zu werden. Sie will, dass man ihr die Hand reicht, lässt dabei aber keine zwischenmenschliche Nähe zu, mit der sie nicht umgehen kann. Das Wissen um all dieses ist in der Einrichtung über lange Zeit entstanden und vorhanden. Die Akzeptanz, dies so sein zu lassen, musste sich erst langsam entwickeln.

Begleitung heißt auch, mit Scheitern leben zu können, zumindest damit umzugehen: ein Lernprozess. Das Nicht-Wissen um Gudrun zu akzeptieren, ist schwierig. Vieles ist in der Begleitung versucht worden, Gudrun zu erreichen, und trotzdem dominiert der Eindruck, sie nicht wirklich zu erreichen, oder ihr so viel Sicherheit geben zu können, dass sie vielleicht ein Stückchen von einem bestimmten Muster loslassen kann. Möglicherweise ist es ein 'kreatives Lassen/Loslassen', das Stimmigkeit erzeugen kann. Gudrun ist und bleibt im Blick. Die Tendenz der Gleichgültigkeit kommt nicht auf. Gudrun wird nicht aufgegeben, sie ist nicht egal, sie wird in ihrem Sein aber belassen. Die Kreativität in der Überzeugung, dass noch Änderungen möglich sind, ist wichtig und Kern der Unterstützung, sie trägt die Begleiterinnen und Begleiter. Aber Änderung wird nicht herausgefordert, sie muss nicht sein, nichts muss erreicht werden, aber es kann. Es gilt, die Wachheit in der Beobachtung zu halten und dadurch Beziehung entstehen zu lassen, daraus Kreativität entstehen zu lassen. Die kreative Beobachtung ist der Schlüssel zu Gudrun, so ist sie immer präsent und im Blick. Damit ist nicht die Präsenz im Tun gemeint, weil Gudrun etwas Besonderes macht oder gestaltet. Es bleibt alles gleich und Veränderung existiert nicht. Durch die Änderung des Zusehens bleibt aber Aufmerksamkeit und Kreativität erhalten. „Man muss den Blick verändern, mit dem man es betrachtet, nicht das Werk“, notierte der französische Künstler Jean Dubuffet um 1980 (zit. nach Mürner/Schönwiese 2006, S. 19). Die unterschiedlichsten Bilder (Gudruns Spiel mit Wasser, ihre Autoaggressionen, die aktive Gestaltung zwischenmenschlicher Abstände, der Kontakt zur Familie) zeigen, dass mit dem sich in der Begleitung veränderten Blick mehr geschieht, als Gudrun nur sein zu lassen. Gudrun wird nicht verschwiegen, ihre Existenz nicht geleugnet, sie ist ein Teil von etwas. Sie wird nicht einfach abgelegt und weggelegt, sondern lebt Beziehung genau in der Weise, wie es für sie möglich ist. Vielleicht ist das ein Stück der Kreativität Gudruns. Gerade durch ihre Verhaltensweisen hat sie überlebt, sie hat Stärke und Widerstand, sie hat überlebt, indem sie immer diesen Abstand, diese Sicherheitszone eingehalten hat.

Gudrun entstammt einer Generation von Menschen mit Behinderungen, die noch sehr stark mit institutioneller Gewalttätigkeit und Hospitalisierung konfrontiert waren. Auch wenn heute sehr oft äußerst schwierige Verhältnisse bei Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf existieren, so liegen doch Welten zwischen der jetzigen Generation von Menschen mit Behinderungen und der Gudruns. Die Grenzen des Verstehens und Nichtverstehens haben sich verschoben. Gudrun hat überlebt und ihre Überlebenskraft bewiesen, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer hochtraumatischen Geschichte. Menschen mit Äußerungsformen wie Gudruns sind seltener geworden, es zeigt sich deutlich eine Veränderung. Menschen, die sich heute an Einrichtungen für Hilfe und Unterstützung wenden, sind anders als Gudrun, ihr Auftreten ist anders, die Forderungen andere. Die Schuldkonstruktionen scheinen nicht mehr so häufig und nicht mehr in dieser Massivität im Fokus zu stehen. Die Geschichte Gudruns würde sich heute wahrscheinlich nicht mehr so wiederholen. Die Familienkatastrophe würde sich wahrscheinlich nicht so traumatisch fixieren. Die sehr früh beginnende Institutionalisierung, die Gudrun erfahren hat, käme heute in diesem Ausmaß und dieser Form kaum noch zustande, die Unterstützungssysteme sind heute andere, der Anspruch an lernende Organisationen hat sich erhöht, Anpassungsmuster haben sich verändert. Es sind eindeutig Verbesserungen feststellbar, auch wenn die Tradition personaler, symbolischer und struktureller Gewalt nicht gebrochen ist (bidok gegen Gewalt). Die Verhältnisse und Entwicklungen sind vielfältiger bis dissoziativer geworden im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen.

Mark – die falsche Zuschreibung und der Heilungsstress

Mark lebt in einem Wohnhaus in ländlicher Umgebung, in einer Gruppe von acht Menschen. Die Veränderung gegenüber der Zeit seiner Ausgliederung aus der Psychiatrie ist mehr als augenscheinlich. Die Wahl dieses Zuhauses war mit vielen Vorbehalten belastet. Es war gar nicht sicher, ob es passend für Mark sein würde oder ob die Veränderung in einer großen Katastrophe enden würde. Die Lage des Hauses, die fehlende Barrierefreiheit und die anfängliche Reserviertheit der Bevölkerung lösten zahlreiche Überlegungen aus, ob es denn überhaupt einen Sinn ergeben würde, einen Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, angewiesen auf einen Rollstuhl, hier gewissermaßen anzusiedeln. Schnell zeigte sich jedoch: Die Wahl des Hauses, die Umgebung, die Menschen, mit denen er zusammenlebt, waren und sind ideal. Marks Kontaktaufnahme hat sich sehr entwickelt, er nimmt Kontakt zu anderen Menschen auf, tritt in Interaktion mit diesen, aber in seiner eigenen Geschwindigkeit und Ausgestaltung. Nichts von ihm zu verlangen, sich auf ihn einzulassen und ihn so sein zu lassen, wie er ist, haben sich als die Schlüssel zur Lebensgestaltung erwiesen. Mark steigt nicht unbedingt auf Sprache oder Aktivitätsangebote ein, aber auf Menschen, die in seinen Eigenheiten kein Problem sehen und zu denen er sich zugehörig fühlt: Menschen mit einer ähnlichen Geschichte und Vergangenheit. Kontakt aufnehmen heißt für ihn, jemanden an der Hand zu nehmen oder sich auch mit seinen ganz eigenen Geräuschen zu äußern, aber auch Abwehr und Widerwillen zu zeigen, wenn ihm zu viel abverlangt wird. Protest und Unwohlsein sind in diesen Momenten nicht zu übersehen. Das Hauptelement in der Wohngruppe ist Zeit, welche ihm auch zur Verfügung gestellt wird, um gemeinsam den Alltag zu gestalten. Rituale dienen der Rahmengestaltung und des Erspürens von Leben. Mark badet gern, hat es zum Ritual ausgebaut mit Zeit für Musik, Zeit für Düfte und Zeit, all dies auf- und wahrzunehmen. Mark fordert diese Dinge in einer sehr positiven Weise ein, und die Begleitung setzt sich aus diesem Wechselspiel zwischen eigentätigem Fordern und gemeinsamer Ausgestaltung zusammen. Es ist kein Fordern seitens des Unterstützungsrahmens im Sinne eines Leistungsgedankens, sondern eine große Akzeptanz seinem Wesen gegenüber und der Möglichkeit, sich im Dialog zu begegnen.

Der Abschied von der Pädagogischen Allmacht (Niedecken et al. 2003, S. 116ff) ist gelungen, Heil- und Heilungsvorstellungen haben sich in den Auftrag, Wohlbefinden herzustellen, verwandelt. Nichts muss sich verbessern, nichts muss sein, außer die Akzeptanz von Marks Persönlichkeit.

Die Entlastung, nichts tun zu müssen, führte zu Ruhe und Gelassenheit. Mark erlebt Situationen viel entspannter und der Anspruch aus alten Zeiten – machen, tun, entwickeln – löste sich auf. Diese Veränderungen zeigten sich in alltäglichen Handlungen, beim Essen, bei Aktivitäten. In solchen Situationen wurde die Veränderung spürbar. Marks Zimmer wurde zur persönlichen Höhle, zu seinem ganz persönlichen Besitz mit der Möglichkeit des Rückzugs und damit auch dem fehlenden Anspruch, Teil einer Gruppe sein zu müssen. Akzeptanz heißt auch einzusehen, dass er das Außen nicht sucht. Mark ist gern im Haus und mag und will einfach dort sein. Mark wird nicht zwangsbeglückt mit Unternehmungen, solange er sich in seinen vier Wänden wohlfühlt und dies vermittelt. Das Draußen ist ihm oft zu viel und überfordert ihn. Mark ist für sein fortgeschrittenes Alter noch sehr fit und die Befürchtung von Folgeerkrankungen ist nicht eingetroffen, hat sich nicht bewahrheitet. Der anfängliche Anspruch auch nach körperlicher Heilung wurde aufgegeben und wich einer Form von Gelassenheit. Die Zuschreibung einer der schwierigsten Klienten und eigentlich kaum begleitbar zu sein, hat sich nicht bewahrheitet. Aus dem extrem lauten, fordernd schreienden, jemanden auch mit Gewalt irgendwohin zerrenden Mark wurde nichts anderes als ein Mensch. Zeiterfahrungen und -wahrnehmungen änderten sich. Was früher als Unmöglichkeit erschien, entspricht nun der Normalität und ist lebbar geworden. Seine Wohnumgebung erlebt Mark ohne Stress und ohne bestimmte Zeit- und Leistungsansprüche. Nichts muss wieder 'gut' gemacht werden, was nicht wieder gutzumachen ist – seine Familiengeschichte und seine Hospitalisierungsgeschichte müssen nicht ungeschehen gemacht oder verleugnet werden. Vom Stress, irgendwelche Dinge heilen zu müssen, wurde in einer stillen Übereinkunft abgewichen. Marks Familie ist nicht existent, Versuche Kontakt aufzubauen, führten nicht weit und die Familie wurde fremd. Aber es wurde mit der Zeit verstanden: Auch hier muss nichts hergestellt werden, was nicht hergestellt werden kann. Mark lebt Beziehung innerhalb seiner Lebenswelt, nimmt körperlich Kontakt auf, er zeigt, er nimmt wahr, dass da Menschen sind, die mit ihm wohnen. Sie verlangen aber nichts von ihm und haben keine Erwartungen, können aber gut mit seinen Eigenheiten leben. Versuche, eine tiefer gehende Gemeinschaft aufzubauen, haben nicht funktioniert und sie würden auch nicht funktionieren, würde der Versuch unternommen, sie zu initiieren. „Jeder lebt für sich und doch gemeinsam“ scheint ein gangbarer Weg. Die Vorstellung, mit einer anderen Umgebung, einer anderen Begleitung einen neuen Menschen zu erschaffen, hat sich nicht erfüllt. Es benötigte eine lange Phase des Umdenkens für alle Unterstützerinnen und Unterstützer, sich von zu vielen Ansprüchen zu verabschieden. Trauerarbeit musste geleistet werden. Mark fühlt sich entlastet und wohl, zeigt dies durch seine Laute, die beinahe wie Hintergrundmusik klingen, und eine fühlbare Entspanntheit. Der Erwartung, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ist der Erwartung nach alltäglicher Kreativität gewichen und die Vorstellungen für Marks Leben sind geprägt von der Idee, Inklusion durch eine kreative Aufmerksamkeit entstehen zu lassen, und nicht durch Erwartungshaltungen. Mark lebt Inklusion nicht durch vielerlei Tun, nicht durch unzählige Aktivitäten und Austausch mit einer Vielzahl an Menschen, sondern durch die Akzeptanz seiner Entscheidungen, in diesem Rahmen leben zu wollen, mit seinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern leben zu wollen. Er lebt Teilhabe im Kleinen und Stillen, in seinen Ritualen und seiner Wahrnehmung und Kontaktaufnahme. Inwieweit er sich in das Leben anderer Menschen einbringt, am Geschehen im Ort teilhaben und teilnehmen möchte, entscheidet Mark selbst und teilt seine Entscheidung klar mit. Es ist nicht Aufgabe der Unterstützung, für ein 'Mehr' zu sorgen, für Aufbau zu sorgen. Akzeptanz lässt die Begleitung gelingen. Akzeptanz gepaart mit Kreativität hilft, Entscheidungen zu treffen und die Wahrnehmung auf vorhandene Bedürfnisse zu schärfen.

Mark genießt die Sonne im Garten und mag den Sommer lieber als den Winter. Er ist erwachsen geworden und wird als solcher unterstützt. Früher war er der Schwierige, der Zerstörerische, ein hilfsbedürftiger, therapiebedürftiger Mensch, der Rehabilitation mehr als alles andere brauchte. Die Versorgung der Grundbedürfnisse ist auch heute noch Aufgabe der Begleitung, es ist ein bestimmtes Maß an Pflege notwendig, auch die medizinische Versorgung ist wichtig. Der Paradigmenwechsel hat aber stattgefunden: Nicht Heilung ist das Ziel, sondern Wohlbefinden und Lebensqualität. Respekt ist spürbar.

Karin – Nähe und Distanz und der Traum einer heilen Welt

Karin gehört zu den Menschen mit Behinderungen, die aufgrund ihrer prekären Kindheits- und Lebensgeschichte, einer massiven Unterversorgung in ihrer Kindheit, sehr früh in verschiedenen Kinderheimen und letztendlich in der Psychiatrie untergebracht wurden. In ihrer Geschichte geht es weniger um eine 'klassische' Hospitalismusgeschichte wie bei Gudrun und Mark, sondern vielmehr um eine äußerst schwierige Entwicklung in einem desolaten und dysfunktionalen Familiensystem. Vermutlich würde sie heute mit ihrer Lernbehinderung, die einiges an Unterstützungsbedarf im Bereich Schule und Ausbildung erfordern würde, kaum auffallen, und allein deshalb käme es zu keiner institutionellen Unterbringung. Die gravierende Unterversorgung der primären Bedürfnisse in ihrer Kindheit, eine massive Bindungsproblematik und ein ablehnendes und ihre Identität gefährdendes Umfeld unterstützten und bedingten die Entwicklung sozialer Auffälligkeiten und Verhaltensweisen. Diese wurden im Lauf der Zeit zu einem immer manifesteren Bestandteil ihres Lebens. Ein unstillbarer Hunger und Wunsch nach Familie, Beziehung, einer heilen und intakten Welt, bestimmen ihr weiteres Handeln und zwingen sie in immer wiederkehrende Inszenierungen negativer Erfahrungen.

Karin führt mittlerweile ein einigermaßen eigenständiges und ruhiges Leben in einem Wohnhaus in einer Gruppe mit sechs anderen Menschen. Sie ist in der Gruppe beliebt, nimmt hin und wieder tagesstrukturierende Angebote wahr, schätzt den begleiteten, stabilen Rahmen der Wohngruppe und ist in der Lage, ihre zwischenmenschlichen Kontakte 'gesund' und ohne nennenswerte Störungen in ihrer sehr eigenen Art und Weise zu gestalten: Eine zufriedene Lebenssituation, die noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar erschien.

Karin kam zunächst aus der damals noch geschlossenen Psychiatrie in die Wohngruppe einer kirchlich orientierten Einrichtung. Dort ging es darum, einen sehr engen, familiären Kontext mit entsprechenden Regeln herzustellen.

Schnell scheitert Karin an diesem Konzept, vor allem die Konstellation des Zusammenlebens von Begleitpersonen und Klientinnen und Klienten überfordert sie. Im Versuch, alles für sich zu vereinnahmen, kommt es zu Gewalttätigkeiten, und sie muss schlussendlich zurück in die Psychiatrie. Unbedingt will sie wieder in diese Einrichtung zurück, der Traum einer heilen Welt war kurz zur Wirklichkeit – wenn auch zur unaushaltbaren – geworden. Sie führt regelrecht einen Kampf, um wieder zurückkehren zu können. Alle Kontakte dorthin müssen abgebrochen werden, ein Besuchsverbot wird ausgesprochen, nur eine Mitarbeiterin aus dem Vorstand sieht sich in der Lage, den Kontakt zu Karin zu halten. Sie ist mittlerweile auch ihre Erwachsenenvertreterin.

Aus einer bestimmten Nähe und Distanz im Sinne eines regulierten und strukturierten Kontaktes, war es den beiden mit viel Einsatz möglich, etwas dauerhaft 'Heiles' zu entwickeln. Dies verdeutlicht auch Karins Möglichkeit, bei aller Störung, Menschen für sich gewinnen und Beziehung leben zu können. Bis heute ist es in ihrer Begleitung wesentlich, gemeinsam ein gutes Gefühl, eine Art Ausgewogenheit für Nähe und Distanz zu finden, damit Beziehungen nicht in diese Unersättlichkeit kippen, und dieser für alle Beteiligten unerträgliche Kreislauf des Forderns und der Ablehnung von vorne beginnt.

Ein weiteres Element in dieser Konstellation ist ihr regressiver Wunsch, ein Baby zu sein, das nicht essen kann, das gepflegt werden muss und auf vollkommene Versorgung angewiesen ist. Ihrer vermeintlichen Begeisterung für Kinder mit dem Angebot der Mitarbeit in einer Krabbelstube zu begegnen, scheiterte schnell an der Einsicht, dass es ja nicht um Interesse an den Kindern ging, sondern um sie, um ihren Hunger, um ihre Bedürftigkeit. Mit entsprechend erlebten Höhen und Tiefen mussten die Begleiterinnen und Begleiter lernen, dass es nicht darum geht, Wünsche zu erfüllen oder vermeintliche Inklusion in einer Wohngemeinschaft zu leben, sondern dass letztendlich immer wieder die Reinszenierung von negativen Erfahrungen im Mittelpunkt steht. Es kommt immer wieder zu vollkommenen Ablehnungserfahrungen, weil Karins Vereinnahmungsversuche für niemanden erträglich waren und sind. Es ging und geht ja um keinen realen Kontakt, um keine reale Auseinandersetzung, sondern immer um einen Traum.

Im Verstehensprozess in der Tagesgruppe der Einrichtung, in der sie jetzt noch lebt, ging es zunächst darum, ihre Aufteilung in 'gute' und 'böse' Begleiterinnen und Begleiter aufzunehmen, sich der Rollen aber ständig bewusst zu sein, keine Spaltung zuzulassen, dieses Spiel aber als Inszenierung zu verwenden und halten zu können. Der Umgang mit anderen Inszenierungen, die schlussendlich in der Inszenierung ihres eigenen Selbstmordes gipfelten, fiel deutlich schwerer, auch unter dem Druck anderer Institutionen, wie z. B. der Psychiatrie, die vor allem auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit pädagogischem Hintergrund Druck insofern ausübten, als dass sie strenge Grenzen und die Übernahme von Verantwortung massiv einforderten. Dieses Spannungsfeld wusste Karin gut zu nutzen, schon alleine aus ihrer langen Institutionserfahrung heraus und den entsprechenden Überlebensstrategien.

Durch die psychoanalytische Supervision Dietmut Niedeckens war es möglich, diese Inszenierungen unter anderem als ein erpresserisches Mittel zu verstehen, das Karin aus ihrer Geschichte heraus wohlmeinenden Begleitpersonen gegenüber nutzt. Es ging im Weiteren darum, Distanz und Entspannung zu gewinnen, sich in diesem fatalen Spiel nicht mehr benutzen zu lassen. Der wichtigste Schritt war, aus den Inszenierungen auszusteigen, ohne deswegen Beziehung abbrechen zu müssen, und Karin gleichzeitig zu vermitteln, dass irgendwann die Arbeit mit ihr unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich sein wird. Tatsächlich war es in der Folge möglich, mit ihr die Gratwanderung zu gehen: 'Wie weit kann ich den Rahmen attackieren, wie weit kann ich dieses Spiel treiben und wann muss ich auch noch für etwas anderes zugänglich sein, weil ich mir sonst alles nehme'. Mit ihrer Inszenierung von Vergewaltigung wäre es fast zu einem Abbruch der Arbeit mit ihr gekommen, sie hat bewusst Geschichten von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung erfunden, um bestimmten 'bösen' Personen in ihrem Umfeld zu schaden. Dies war eine unglaubliche Herausforderung an das damalige Team, zumal dies in eine Zeit der ersten Sensibilisierung und öffentlichen Kenntnisnahme von sexuellem Missbrauch und Übergriffen gegenüber Frauen mit Behinderungen in Institutionen fiel. Entsprechende Handlungskompetenzen waren erst in Entwicklung. Karin zwang ihr Umfeld in die Auseinandersetzung mit der klassischen Unterstellung, dass Frauen mit Behinderungen Übergriffe und Vergewaltigungen erfinden. Sie hatte das tatsächlich gemacht, eine unglaubliche Umkehr institutioneller Mechanismen.[2]

Karin zeigt sich auch weiterhin als eine schwankende Persönlichkeit, die in Extremen lebt, und die Möglichkeit, mit ihr in einen Ausnahmezustand zu geraten, ist immer gegeben. In Erinnerung bleibt eine Urlaubssituation mit ihr, die denkbar günstig begonnen hat. Gleich zwei 'Lieblingsbegleiter' fahren mit, gemeinsame Urlaubsplanung findet statt, große Vorfreude bei allen, Campingplatz und Bungalow sind ausgewählt, also eine klassisch schöne Situation. Karin wird nach kurzer Zeit zunehmend schwieriger, sprengt den Rahmen, wo es nur geht. Der Gedanke an ihre familiären Inszenierungen kommt auf: Campingplatz, Bungalow, alle wohnen zusammen, Urlaub, genau das, was Familien eben machen. Die Situation wird immer schwieriger. Auf der Heimreise kommt es zur endgültigen Eskalation, als Karin verweigert, sich im Auto anzuschnallen, und dann mitteilt, dass sie heimlich ihre Medikamente nicht mehr genommen hat, um den Begleitpersonen etwas anzutun. Es entsteht ein ungeheurer Stress und Druck, eine lange Heimfahrt steht bevor, von Karins Seite gibt es keinerlei Bereitschaft zur Kooperation. Erst als ihr klar gemacht wird, dass die Heimfahrt auf jeden Fall stattfindet, egal ob sie sich anschnallt oder nicht, und dann niemand an ihren möglichen Verletzungen bei einem Unfall schuld ist, ist es möglich, ohne weitere Vorkommnisse nach Hause zu fahren. Die Schwierigkeit oder die Gratwanderung war es, den richtigen Zeitpunkt in der Konfrontation zu finden, sodass wieder ein Möglichkeitsraum entstehen konnte. Karins Spaltung zwischen 'guter' und 'böser' Begleitperson konnte in einem bereits lang erarbeiteten Verstehensprozess zum richtigen Zeitpunkt für eine Intervention genutzt werden. Es geht darum, die Struktur eines kreativen Raums entstehen zu lassen, in dem sich wieder Möglichkeiten öffnen. Mittlerweile kann mit Karin über Situationen aus der Zeit von vor ca. 20 Jahren gelacht werden, auch ihr Humor und ihre Möglichkeit zur Reflexion treten also jetzt zu Tage. Eine der Geschichten, die sie noch heute gerne mit einer ihrer damaligen Begleitpersonen teilt, soll hier als Beispiel genannt sein: Sie hat sich damals in der Tagesgruppe immer wieder plötzlich 'wie ein Brett' nach hinten fallen lassen und ist regungslos liegen geblieben. Erst nach einiger Zeit ist sie plötzlich wieder lachend aufgestanden. Für ihre Umgebung und alle Anwesenden war dies jedes Mal ein Schock, immer ein kurzer Moment: 'Jetzt ist sie tot!' Das war für alle schrecklich und kann nur als massiver Psychoterror bezeichnet werden. Derartige Situationen kann Karin inzwischen in anderen Kontexten reflektieren: Einerseits belustigt, dass alle darauf hereingefallen sind, aber auch mit den Worten, 'Was habe ich euch da angetan, da habt ihr Schlimmes mitgemacht mit mir, aber ihr habt mich nicht im Stich gelassen, ihr habt das mit mir bewältigt'.

Vieles konnte von dem damaligen Team mit der unterstützenden Supervision und psychoanalytischen Reflexion mit Dietmut Niedecken bearbeitet werden. Seit vielen Jahren arbeitet ein Team mit Karin, dem dieser psychoanalytisch verstehende Ansatz und diese Art der unterstützenden Begleitung nicht zur Verfügung stehen. Trotzdem war es möglich, sich in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen von einer manipulativen Erziehungsvorstellung mit mehr oder weniger verhaltenstherapeutischen Ansätzen und entsprechend familiärer Konnotation hin zu einer verstehenden Haltung mit der Fähigkeit des Entschlüsselns von Inszenierungen zu entwickeln. Dabei ist eine Grundakzeptanz der Eigenarten und des Eigensinns von Menschen vorhanden als Voraussetzung für den Abschied vom Wunsch, jemanden unbedingt verändern oder heilen zu müssen. Es geht nach allen Erfahrungen in erster Linie darum, Angebote oder Möglichkeiten zu entwickeln, über deren Annahme Menschen selbst entscheiden können. Es geht darum, dass Menschen über ihre individuellen Lebensformen und Lebensorte entscheiden können und diese Entscheidungen ohne Vorbehalte respektiert werden. Es sind dies die Grundkonzepte von Inklusion und Selbstbestimmung. Die Möglichkeiten mit Sanktionen, Regeln, Einschränkungen unterschiedlichster Art Druck auszuüben, sind weniger geworden, und es geht mit zunehmender Erfahrung deutlich in die Richtung kreativer Aushandlungsprozesse in der professionellen Begleitung. Das ist ein gänzlich anderes Konzept als weit entfernt von der Lebensrealität erwachsener Menschen eine Ersatzfamilie zu gestalten oder mit Erziehungsmethoden auf der Basis von Reiz und Reaktion zu arbeiten.

In der Einrichtung, in der Karin lebt, geht es derzeit in den meisten Reflexionen schwieriger Situationen darum, versuchen zu verstehen, warum Menschen den Rahmen sprengen müssen. Es ist ein Paradigmenwechsel im Gang, in dem die Arbeit an den auffälligen Verhaltensweisen dieser Menschen nicht mehr wesentlicher Bestandteil ist, sondern vielmehr die Auseinandersetzung und Reflexion über die Veränderung eines Begleitkonzeptes, eines Angebotes, eines Lebensortes, also weg von der Anpassung der Menschen an die Bedürfnisse der Institution. Karins Geschichte kann dafür als ein gelungenes Beispiel gelten, für eine positive Entwicklung aus einer fast chancenlosen Lebenssituation heraus doch einen eigenen Weg zu finden.



[2] Interessanterweise ist diese Thematik in heutigen Einrichtungen mit Frauen mit Behinderungen mit einer gänzlich anderen Biographie als Karins nach wie vor aktuell. Die Konfrontation mit der Problematik erfundener Übergriffe und Vergewaltigungen um anderen bewusst zu schaden, ist eine absolut notwendige Auseinandersetzung im aktuellen Begleitsetting.

Nachwort

Die drei Darstellungen zeigen, dass alle Fragen der Praxis und pädagogischen Entwicklung sich immer wieder aufs Neue stellen. Die Dynamik und wechselseitige Verbindung von Verstehen und Handeln sind entscheidend für das Gelingen einer qualitativ hochwertigen Begleitung.

Die Beiträge zeigen, wie durch den Einsatz von Kreativität im Sinne eines Loslassens von bekannten Denkmustern und dem Schaffen individueller Zugänge das Gefühl einer 'verzweifelten Ohnmacht' vermieden werden kann. Die Institution muss als Rahmen, in dem Entwicklung möglich ist, gestaltet werden. Erstarren in Routine steht jeder Entwicklung entgegen. Zeit muss als entscheidende Dimension in der Beschäftigung mit den genannten Themen erfahrbar gemacht werden, in Rekonstruktion, Rhythmus, Zukunft und Identität.

Ein Thema bei der Interpretation unserer drei Darstellungen tauchte immer wieder auf: Wie kann die 'Kreativität' im Dialog (vgl. Milani 1996) aufrechterhalten werden. Und wie kann sie unabhängig von 'Fortschritt' werden. Die Annahme einer Dialog-Spirale als Gegensatz zu statischen Reiz-Reaktion-Mustern erweckt die Hoffnung auf Fortschritt, aber wenn der nicht erfüllt wird, ist der Boden für 'Resignation' bereitet. Die Konzentration auf Kreativität als Aufmerksamkeitsspannung im Jetzt ist bei 'Stagnation' und 'Rückschritt' vermutlich die Reaktion, auf die sich Begleitung im Alltag konzentrieren muss, sonst ist die Gefahr groß, in Stummheit und Resignation zu verfallen – typisch für viele Institutionen, z. B. für viele Alten- und Pflegeeinrichtungen (Koch-Straube 1997). Kreativität heißt, wach und verstehend im Dialog zu bleiben, Sinn in tabuisierten und 'undenkbaren' Bereichen anzunehmen, von potentiell erzählbarer Geschichte auszugehen. So wie 'Stereotypien' nicht ohne Sinn sind, wie sie helfen 'Gleichgewicht' und Identität herzustellen, als „prozessual-dynamische, situative und transsituative Integrations- und Balanceleistung“ (Markowetz 2000), wie es unter Verwendung wissenschaftlicher Distanz zum Abschluss zusammengefasst werden kann.

Literatur:

Egger, G. (1999). Irren-Geschichte - irre Geschichten. Innsbruck: Diplomarbeit. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/egger-irre.html

Frances, A. (2013). Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: Dumont Buchverlag.

bidok gegen Gewalt. Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/projekte/bidok-gegen-gewalt/index.html

Koch-Straube, U. (1997): Fremde Welt Pflegeheim. Berichte aus einer ethnologischen Studie. In: PfleGe 2. Jg.1997, H.1, S. 7-10

Markowetz, R. (2000). Identität, soziale Integration und Entstigmatisierung. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/gl3-00-identitaet.html

Milani Comparetti, A. (1996): Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit“. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/comparetti-milani_medizin.html

Mürner, C. & Schönwiese, V. (2006) (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Ausstellungskatalog und Wörterbuch. Neu Ulm: AG Spak.

Niedecken, D. & Lauschmann, I. & Pötzl, Marlies (2003). Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis. Innere und äußere Integration von Menschen mit Behinderung. Weinheim: Beltz Verlag.

Unabhängiger Monitoringausschuss (2015). Maßnahmenvollzug. Stellungnahme zur Ist-Situation und Prävention. Im Internet: https://www.monitoringausschuss.at/download/stellungnahmen/massnahmenvollzug/MA_SN_MassnVollz_2015_01_19.pdf

Quelle

Irene Sailer-Lauschmann, Hannes Kosz, Volker Schönwiese: Verstehen und Kreativität in der Begleitung als Herausforderung. Langzeitperspektiven in der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen; Rezension des Buches: Niedecken, D., Lauschmann, I. und Pötzl, Marlies (2003). Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis. Innere und äußere Integration von Menschen mit Behinderung. Weinheim: Beltz Verlag.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.09.2019

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