"Wie gut, daß ich nicht so aussehe!" - Behinderte Sexualität

Autor:in - Barbara Rohr
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: LOS Nr. 15, 5. Jahrgang, Juli 1987, Linz
Copyright: © Barbara Rohr 1987

Eine Auseinandersetzung mit unseren Schönheitsnormen aus der Sichtweise einer nichtbehinderten Behindertenpädagogin.

Als Nichtbehinderte werde ich auf dieser Tagung "Sexualität und Behinderung", Tagung organisiert von Ernst Bornemann, Wien, März, 1982, nicht über Behindertensexualität reden, noch möchte ich stellvertretend für Behinderte sprechen, sondern ich werde über mich selber sprechen. Ich werde versuchen, meine eigenen sexuellen Normen zu hinterfragen, Normen nach denen ich selber als nichtbehinderte Frau gelebt habe und die ich als Lehrerin zum Maßstab meiner sexualerzieherischen Praxis in der Schule für Lernbehinderte gemacht habe.

Dabei gehe ich aus von den unüberhörbaren Herausforderungen behinderter Frauen und Männer an uns "Fachleute" für Behindertenpädagogik. Sie stellen unser bisher ungebrochenes Selbstverständnis als Sexualerzieher und Sexualerzieherinnen behinderter Kinder und Jugendlicher in Frage. Sie zwingen uns über das Stellvertreterproblem nachzudenken. Sie gaben uns zu erkennen, daß wir ihre sexuellen Probleme nicht oder kaum am eigenen Leibe erfahren haben, und daß wir somit subjektive Erlebnis- und Erkenntnisschranken haben. Sie empören sich zu Recht darüber, daß wir Nichtbehinderte ihre Sexualität zu unserem "Forschungsgegenstand" machen und unser eigenes sexuelles Leben nicht mit einbeziehen.

Durch ihre Anstöße begreife ich, daß wir als Nichtbehinderte sexuelle Normen repräsentieren, die sie nicht in jedem Fall erfüllen können: Normen der Schönheit, der körperlichen Intaktheit und Leistung, der Heterosexualität, der Genitalität. Damit können wir eine Art "Diktatur der sexuellen Normalität" ausüben und zu "Behinderern" ihrer Persönlichkeitsentwicklung werden: Mit einer dieser Normen möchte ich mich im folgenden auseinandersetzen - mit der Norm der Schönheit, mit dem gesellschaftlichen Schönheitsideal.

Es ist eine tief verwurzelte Erfahrung unseres Lebens, daß zwischen unserem Äußeren und unserem Verhältnis zu anderen Menschen und zu uns selber entscheidende Zusammenhänge bestehen - Zusammenhänge zwischen Ästhetik und Kommunikation, wobei ich Sexualität als eine besondere Form von Kommunikation verstehe. Menschliche Ästhetik ist - in umfassendem Sinne - eine Einheit aus vielfältigen Sinneswahrnehmungen: aus Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen eines Menschen, wobei der optische Bereich überwiegt. Unser erstes ästhetisches Urteil über einen Menschen kommt dadurch zustande, daß wir diese Sinneseindrücke in Beziehung setzen zu unseren, im Laufe unseres Lebens angeeigneten und tief verinnerlichten Maßstäben für das, was in unserer Gesellschaft als "schön" gilt:

  • Wir haben im Laufe unseres Lebens erfahren, daß zwischen unserem eigenen Äußeren und unseren kommunikativen und sexuellen Möglichkeiten wesentliche Zusammenhänge bestehen: Wenn wir "schön" sind und uns "schön" fühlen, fällt es uns leicht, Kontakte zu knüpfen und aufrechtzuerhalten und sexuell begehrt zu werden. Ist unser Äußeres dagegen beeinträchtigt, dann fühlen wir uns unsicher, versuchen zu kompensieren und zu kaschieren und unsere Kontaktmöglichkeiten und -fähigkeiten sind beeinträchtigt.

  • Gleichzeitig haben wir erfahren, daß wir selber auf Menschen, die aus unseren Schönheitsnormen herausfallen, auf besondere Weise reagieren, mit Zurückhaltung, Verlegenheit, Mitleid, Abwehr, Angst oder auch mit Ekel. Wir haben jedoch auch erlebt, daß unser ästhetisches Urteil über einen Menschen in positiver oder negativer Weise verändert werden kann - je nachdem, in welche Richtung sich unser Verhältnis zu ihm gestaltet hat. Auf jeden Fall haben wir erfahren, daß die ästhetische Dimension für Kommunikation eine wichtige Rolle spielt und daß eine Verletzung oder Beeinträchtigung ästhetischer Normen zu Einsamkeit, Isolation und auch zum Verzicht auf sexuelle Begegnungen führen kann. Aus diesem Grunde ist es für mich als nichtbehinderte Behindertenpädagogin notwendig, mich mit dem gesellschaftlichen Schönheitsideal auseinanderzusetzen und meine eigenen ästhetischen Normen zu hinterfragen:

Ich möchte mich mit folgenden Fragen auseinandersetzen:

Wie ist bei mir selber als nichtbehinderte Frau der Prozeß der Verinnerlichung und Verfestigung gesellschaftlicher Schönheitsideale verlaufen? Inwieweit bin ich dabei nicht nur passives Opfer dieses gesellschaftlichen Zwanges, schön sein zu müssen, sondern auch aktive Täterin? Wie ist es bei mir zum ansatzweisen Aufbruch von Schönheitsnormen gekommen?

Anhand meiner eigenen Lebensgeschichte versuche ich, einige Monate dieses vielschichtigen Prozesses aufzuzeigen, soweit er mir bisher bewußt ist.

Dabei wechsle ich in meiner Darstellungsform zwischen dem Erzählen biographischer Einzelheiten und der Reflexion darüber. In diesen eingeschobenen Reflexionen versuche ich, im individuell Einmaligen das gesellschaftliche Allgemeine zu erkennen.

1. Kindheit

Inhaltsverzeichnis

Ich bin 1932 geboren und z. Zeit des Faschismus in einem evangelischen Pfarrhaus in Pommern herangewachsen. Ort, Zeit, soziale Schicht und Geschlecht bestimmten in entscheidendem Maße die Maßstäbe für das, was für mich als heranwachsendes Mädchen "schön" und "häßlich" wurde:

- Meine Eltern waren ein "schönes Paar" groß, schlank, blauäuig, blond, sportlich. Wir verkehrten mit den "Besseren", mit Angehörigen des pommerschen Landadels, mit schneidigen Offizieren und ihren Frauen, die ich als blonde, nordische Schönheiten in Erinnerung habe. Die erste Frau, für die ich schwärmte, war meine Lehrerin im 3./4. Schuljahr. Sie war Mitglied der BDM-Gruppe "Glaube und Schönheit". Beeindruckt war ich auch von den "Arbeitsdienstmaiden", die unsere Jung-Mädel-Schar im Rahmen der Hitlerjugend leiteten. Diese jungen Frauen waren tatkräftig; gesund, durchsetzungsfähig. Die ersten Männer, die ich bewunderte, waren mein Vater - ein Inbegriff des nordischen Menschen - und die vielen Soldaten, die vor und während des Krieges häufig auf unserem Pfarrhof zur Einquartierung waren. Oft habe ich zugeschaut, wie sie sich mit freien Oberkörpern unter unserer Pumpe im sonnigen Hof wuschen. Ihre kräftigen, starken, abgehärteten und braungebrannten Körper schaute ich gerne an. Die Männer und Frauen, zu denen ich als Kind aufsah, verkörperten Gesundheit, Kraft, Bewegung und Durchhaltevermögen. Ich fand sie schön, weil sie Lebenskraft ausstrahlten.

Heute erkenne ich, daß Schönheitsnormen Bestandteil des allgemeinen gesellschaftlichen Normensystems sind und daß wir sie im Laufe unseres Lebens durch Kommunikation und Identifikation mit den Menschen, welche unsere Erziehung bestimmen, erwerben. Ich erkenne auch, daß Schönheitsideale systemabhängig sind. Sie waren in einem menschenverachtenden System wie dem deutschen Faschismus rassistisch beeinflußt und deshalb besonders eng definiert, so daß Menschen, die aus dem Idealbild des "Herrenmenschen" herausfielen, im Extremfall als "Untermenschen" vernichtet wurden. Schönheit war gebunden an Zweckmäßigkeit, an Menschen, die rassisch, erbgesundheitlich und gesundheitlich in Ordnung waren". (1) Schön war - in einer gefährlichen Überspitzung antiken Erbes - wer in optimaler Weise seinen Zweck erfüllte. Spuren dieses Schönheitsideals trage ich noch heute in mir.

- Paralell zur Beeinflussung durch ein faschistisches Schönheitsideal wurde ich geprägt durch das Schönheitsbild des Christentums. Mein Vater war durch seine umfassende humanistische Bildung ein Verehrer und Kenner der abendländischen Kunstgeschichte. Schon als kleines Mädchen betrachtete ich mit ihm Bilder aus dem Leben Jesu, insbesondere die Darstellungen Marias aus unterschiedlichen Epochen der europäischen Malerei. Ich erinnere mich an die Madonnen Albrecht Dürers, die sich mit inniger Gebärde und lieblichem Lächeln auf dem sanften Gesicht dem Kinde zuneigen. Ich erinnere mich auch an die sinnesfroheren Madonnen von Peter Paul Rubens, oder an die strahlende Gestalt des auferstandenen Christus aus dem Isenheimer Altar von Mathias Grünewald. Die Begeisterung meines Vaters für Ebenmaß, Harmonie, Ausgewogenheit und Erhabenheit übertrug sich auf mich und prägte meine Vorstellung von Schönheit. Ich erinnere mich an Bilder, auf denen selbst das Leiden Christi schön und erhaben anzusehen war. Dagegeben verabscheute ich beispielsweise die häßlichen Fratzen der Höllengeister bei der Versuchung des Heiligen Antonius (Isenheimer Altar).

Heute erkenne ich zweierlei

  1. Ästhetische Wertungen sind nicht absolut und zeitlos gültig, sondern sie unterliegen historischem Wandel. Besonders anschauliche Beispiele für die Relativität ästhetischer Normen liefert uns die Völkerkunde. Trotzdem scheint es in allen Kulturen und zu allen Zeiten die beiden Wertpole "schön" und "häßlich" zu geben. Was jedoch konkret als schön und häßlich gilt, verändert sich je nach Zeit, Ort, Kultur und Sozialschicht. Jeder Mensch verinnerlicht zunächst unbewußt die Schönheitsnormen der Gesellschaftsschicht, der er angehört.

  2. Nach den Maßstäben abendländischer Kunst ist Schönheit nicht nur gebunden an Dingqualitäten, sondern sie ist Ausdruck des Sittlichen, des Guten, Ausdruck geistiger Werte. Schönheit ist sinnliche Vergegenständlichung eines Ideals, etwa der Mütterlichkeit, der Opferbereitschaft, der Demut. Schönheit ist Widerschein des Göttlichen im Menschen. Häßlichkeit dagegen ist Vergegenständlichung des Bösen, körperliche Einstellung das Symbol für das Dämonische. Inwieweit solche ästhetischen Maßstäbe den Weg dafür bereitet haben, das "Böse" durch Behinderte, z.B. Krüppel oder Einäugige, zu symbolisieren, müßte untersucht werden. (2) Auch Spuren dieses christlich orientierten dualistischen Schönheitsideals, in welches antikes und mittelalterliches Erbe eingeht, trage ich in mir. (3)

Die meisten meiner Kinderfotos zeigen mich in Situationen, die für Mädchen typisch sind: als "Braut", als "Puppenmutter", als "Beschützerin" der jüngeren Schwester, als "Verwahrerin" kleiner Kinder. Es sind die Lieblingsfotos meiner Kindheit. Auf ihnen "gefiel" ich mir. Ich fand mich schön - nicht zuletzt deshalb, weil mich die Erwachsenen über diese "weiblichen" Tätigkeiten und Verhaltensweisen bestätigen und anerkannten. Auf diesen Fotos fand sie mich "niedlich", "süß", "rührend", "lieb".

Ich erkenne, daß die von anderen anerkannten "weiblichen" Tätigkeiten und Verhaltensweisen unser Selbstbild als Mädchen beeinflussen und uns die Richtung weisen, wie ein Mädchen auszusehen hat.

2. Jungmädchenjahre

Nachdem mein Vater gefallen war, zogen wir nach Kriegsende nach Bethel, in die "Stadt der Kranken". Täglich sah ich nun Menschen mit verkrüppelten Gliedmaßen, mit entstellten Gesichtern und schleppenden Gang. Schwäche und Leiden wurden zu einem vertrauten Anblick. Die heiseren Schreie der Menschen während ihrer epileptischen Anfälle habe ich noch heute in, den Ohren. Dieses Heer der "Mühseligen und Beladenen" vergrößerte sich nach Kriegsende noch durch die unzähligen. Heimatlosen, Kriegsheimkehrer, Verwundeten, Hungernden und Zerlumpten, die alle in Bethel Trost und Zuflucht suchten. Das Bild vom "schönen Menschen", das ich in mir trug, vom Menschen, als dem Maß aller Dinge, bekam Risse. Jedoch führten die täglichen Erfahrungen mit dem Elend bei mir keineswegs zum Aufbruch meines bisherigen Schönheitsideals - sondern ganz im Gegenteil - in mir wuchs eine übermäßige Sehnsucht heran, mich von dem Elend abzugrenzen, die Sehnsucht nach Gesundheit und Vollkommnenheit, nach Schönheit. Da ich es als Pastorentochter jedoch nicht gelernt hatte, nach den Ursachen der Unterschiede zwischen Menschen zu fragen, sondern gelernt hatte, diese Unterschiede durch Freundlichkeit auszugleichen, begegnete ich den Behinderten freundlich - innerlich jedoch war ich voller Abwehr.

Ich erinnere mich an zwei behinderte Frauen, die in unserer Wohnung aus- und eingingen: Die eine gab meiner Mutter Stenographie- und Schreibmaschinenunterricht. Sie hatte einen entstellten Kopf, ihre Augen traten weit aus den Höhlen heraus und sie trug eine Brille, die wie Scheuklappen aussah. Jedesmal wenn ich sie sah, erschauerte ich vor ihrer Häßlichkeit. Die andere Frau war Epileptikerin. Sie lernte bei meiner Mutter Klavier spielen. Sie hatte durch Medikamente ein pickeliges Gesicht. Wenn sie am Klavier saß, tropfte aus ihrem geöffneten Mund häufig der Speichel auf die Tasten und meine Mutter wischte ihn mit dem Taschentuch fort. Ich ekelte mich vor ihr und dachte: "Wie gut, daß ich nicht so aussehe."

Ich geriet in Widerspruch mit meinem bisherigen Menschenbild: Einerseits hatte ich gelernt, daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen sei und ich trug als Bild Gottes die grandiose Schöpfungsdarstellung von Michelangelo in mir, "die Erschaffung des Adam". Gleichzeitig jedoch lernte ich in Bethel, daß auch der schwächste und häßlichste Mensch Gottes Ebenbild sei. Diesen Widerspruch konnte ich als heranwachsendes Mädchen nicht auflösen und ich beschloß - wenn ich schon Lehrerin werden wollte - dann niemals Lehrerin behinderter Kinder.

Ich erkenne heute: Das bloße Zusammenleben mit Behinderten genügt nicht, damit wir Nichtbehinderte uns von unseren verinnerlichten Vorurteilen und Schönheitsnormen lösen und uns behinderten Menschen gleichberechtigt zuwenden - besonders dann nicht, wenn solche Normen von der Ungleichheit der Menschen ausgehen. Parallel mit der alltäglichen Gewöhnung müßten Bewußtmachung und pädagogische Beeinflussung einhergehen - um Schönheitsnormen zu relativieren und Abwehr, Abscheu, Ekel und Angst zu überwinden.

- In diesen Betheljahren wurde mir erstmals mein eigenes Äußeres als heranwachsendes Mädchen bewußt - jedoch zunächst eher negativ. Mein Aussehen als etwa 15 - 17-jähriges Mädchen entsprach weder meinem eigenen Idealbild von Schönheit noch dem der Jungen und Frauen meiner Umgebung: Da ich im Sommer gern in die Sonne ging, hatte ich im Gesicht und auf dem ganzen Körper unzählige Sommersprossen. Meine Großmutter sagte oft mißbilligend zu mir: "Wie Du wieder aussiehst" Ein Mädchen muß weiße Haut haben. Geh doch nicht so viel in die Sonne!"

Außerdem war ich damals - sicher mitbedingt durch die Hungerjahre nach dem Krieg - sehr mager. Kleinere Jungen riefen hinter mir her: "Schneewittchen, kein Ärschchen, kein Tittchen." Die älteren Jungen in der Tanzstunde nannten mich hinter meinem Rücken "Bügelbrett". Ich hatte weniger Chancen bei ihnen als die vollentwickelten anderen Mädchen. Ich fand mich häßlich und wurde unsicher. Alle anderen Mädchen hatten schon einen Freund, nur ich nicht.

Heute erkenne ich, daß wie wir als Mädchen und Frauen auszusehen haben vor allem von Männern bestimmt wird. Entsprechen wir ihrer Sichtweise von weiblicher Schönheit nicht, haben wir kaum Chancen einen Freund zu finden und bleiben einsam. Es wird uns schwer gemacht, unabhängig von ihrem ästhetischen Urteil ein positives Selbstbild von uns aufzubauen, denn der Preis, den wir für eine solche Unabhängigkeit zahlen müssen, ist häufig der Verzicht auf ihre Anerkennung, auf Nähe und Liebe. Ich erkenne an diesen ersten Problemen mit meinem eigenen Äußeren, daß "schön-sein-müssen" ein Zeichen männlicher Unterdrückung ist, daß sich im Zwang zum Schönsein männliche Herrschaft auswirkt. (4) Diese besondere Schwierigkeit der Frauen, sich vom ästhetischen Urteil von Männern unabhängig zu machen, ist Teil ihres allgemeinen Problems, nämlich in der Regel zu einer "Person ohne ich" sozialisiert zu werden. Dies gilt besonders für die Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes, nämlich "das schöne Eigentum" zu sein. (5) Ich erkenne auch, daß sich Frauen mit der männlichen Sichtweise weiblicher Schönheit identifizieren und dieses Bild dann in unterdrückender Weise gegen andere Frauen wenden können. Ich erkenne aber auch, daß unsere Schönheitsprobleme als nichtbehinderte Frauen meist vorübergehend oder geringfügig sind. Wir können sie weitgehend ausgleichen. Bei vielen behinderten Frauen jedoch sind sie bleibend.

3. Studienjahre

Von 1952 bis 1954 studierte ich an der Pädagogischen Akademie in Bielefeld und wählte als Hauptfächer zwei Fächer, die für die Herausbildung und Verfestigung von Schönheitsvorstellungen wichtig sind, nämlich Kunst und Sport:

- Vom Kunstseminar aus besuchten wir in jenen Jahren zahlreiche Kunstausstellungen in der Bundesrepublik und im naheliegenden Ausland. Meine Begeisterung für europäische Malerei wuchs. Ich vertiefte mich besonders innig in die Mädchen- und Frauendarstellungen der französischen Impressionisten (Manet, Monet, Degas, Renoir) und in die Frauenbildnisse der eher expressionistisch ausgerichteten Maler wie Paul Gauguin oder Eduard Munch - aber auch in die Selbstporträts und Mädchenbilder der Malerin Paula Modersohn-Becker. Diese Frauenbildnisse verfestigten mein Schönheitsideal.

Heute erkenne ich, daß das "schöne Geschlecht" in der Kunst eine herausragende Rolle spielt, jedoch vor allem "passiv", als Objekt männlicher Malerei. Das Bild der Frau ist von Männerhand geschaffen, (6) der schöne weibliche Körper in der Kunst ein ästhetischer Genuß. Die ästhetischen Normen wechseln zwar - je nach Kulturkreis und Zeitgeschmack - in der Regel jedoch ist der von Männern gemalte weibliche Körper Träger "absoluter Schönheit". Andere realistischere Sichtweisen von Frauen in der Kunst bleiben Ausnahmen. (7) Die Minderheit der malenden Frauen dagegen sieht sich selbst realistisch.

Im Sportseminar teilten wir uns in zwei Gruppen: Eine "gemischte" Gruppe ging zu einem Dozenten. Es waren alle männlichen Studenten und jene Studentinnen, die von sich meinten, sich in Turnzeug oder Badeanzug vor Männern sehen lassen zu können. Ich zählte mich zu ihnen, mein Körper hatte inzwischen sog. weibliche Formen angenommen und ich verstand es, mit meiner Figur die Blicke der Männer auf mich zu lenken. Zu der Dozentin gingen jene Studentinnen, die weniger gut proportioniert waren, die mit den kurzen, dicken Beinen oder die mit den fetten Hintern. Die Männer sagten mitleidig über sie: "Es sind die Jungfrauen, die im Wasser beten" und wir Studentinnen lachten mit ihnen über solche Witze.

Heute erkenne ich, daß ich im Hinblick auf das weibliche Schönheitsideal sowohl Opfer als auch Täterin sexistischer Erscheinungsweisen wurde. (8) Das bedeutet, daß ich aufgrund meines weiblichen Geschlechts nicht nur dem Schönheitsurteil von Männern unterwarfen war, sondern daß ich mich gleichzeitig freiwillig ihrem Urteil unterordnete, ihre ästhetischen Erwartungen in mein Selbstbild übernahm, über ihre anerkennenden Blicke und Worte stolz war und darüber hinaus auf jene Frauen herabschaute, die weniger gut aussahen als ich.

4. Lehrerinnenjahre

In meiner langjährigen Lehrerinnenzeit (1954-1973) gestaltete ich mein Äußeres so, daß ich "gefiel". In Kleidung, Frisur und Kosmetik paßte ich mich dem Modetrend und den Erwartungen meiner männlichen Kollegen an. Ich lernte, mich so zurechtmachen, daß "man" mich gern anschaute und sexuell begehrte. Ich erfuhr, daß Zuwendung von Männern zum großen Teil von meinem Äußeren abhängig war. Ich lernte, mich in der "begehrenswerten Verpackung" anzubieten. Es tat mir gut, wenn Männer mich schön und sexy fanden und wenn sie sagten, daß "man" sich mit mir sehen lassen könne. Es schmeichelte mir auch, wenn meine Schüler und Schülerinnen mich bewunderten, wenn sie z.B. sagten: "Fräulein, was sind sie heute wieder chic" oder "Fräulein, was haben sie heute die Haare wieder schön!" Gleichzeitig achtete ich auch auf das Äußere meiner Schülerinnen und unterhielt mich mit ihnen über die unerschöpflichen Themen Mode, Kosmetik, Lieblingsstars. Ich wußte, daß sie den größten Teil ihres Geldes für "Klamotten'' und für Schminke ausgaben.

Heute erkenne ich: Während meines Eindringens in das Berufsleben drangen auch die Merkmale dieses Gesellschaftssystems immer tiefer in mich ein, in diesem Falle die Merkmale kapitalistischer Warenästhetik. (9) Durch sie wird der jahrhundertelange Zwang der Frau zum Schönsein noch verstärkt. Die kapitalistische Warenästhetik treibt Frauen dazu, sich wie eine Ware in der gefälligsten Verpackung anzubieten. Verpackung sind die Dingqualitäten der Frau: Moderne Kleidung, zarte junge Haut, eine dezente Aufmachung des Gesichtes, glänzendes volles Haar, schlanke Glieder, anziehender Körpergeruch, gepflegte Hände, runde Brüste, ein fester Hintern, dynamisches Auftreten. Schönsein ist die Summe dieser Dingqualitäten. Diese Schönheit aufrechtzuerhalten kostet nicht nur Geld, sondern auch Zeit und fällt den Reichen leichter als den Armen. Eine solch perfekte Verpackung jedoch lohnt sich. Sie verspricht uns Frauen, aus jedem Aschenputtel eine Göttin zu machen und damit "geliebt" zu werden. Die Schönheits- und Werbeindustrie verspricht auch jenen Frauen, die im Hinblick auf ihr Äußeres "aus der Rolle fallen" Erfolg. (10)

Nach dem Motto: "Machen Sie das Beste aus ihrem Typ" können kleine Schönheitsmacken kaschiert und kompensiert werden. Dieser fast unentrinnbare Zwang zum Schönsein treibt selbst körperbehinderte Frauen dazu, sich Prothesen anpassen zu lassen, selbst dann, wenn diese schmerzhaft sind, wenn sie ihre Bewegungen beeinträchtigen, ihr negatives Körpergefühl fördern oder gar den Haß auf ihren Körper steigern (11). Mit einer solchen Anpassung an das gesellschaftliche Schönheitsideal wollen sie ihren Teil zur gesellschaftlichen Integration selber beitragen: Sie sollen sich selber den Anschein körperlicher Normalität geben, damit die ästhetischen Bedürfnisse der nichtbehinderten Umwelt nicht gestört werden.

Ich erkenne weiterhin, daß Frauenschönheit häufig der Aufwertung des Mannes dient, daß "die schöne Frau an seiner Seite" sein Ansehen erhöht, daß dagegen die Beziehung zu einer häßlichen oder entstellten Frau für ihn eine Art "Abstieg" bedeuten kann.

Ich erkenne auch, daß der "schöne Körper der Frau" von der Werbeindustrie als Konsumanreiz benutzt wird und daß somit die Produktionsbedingungen einer Gesellschaft mit in die Schönheitsnormen eingehen.

5. Mutterschaft

Als Mutter war ich glücklich darüber, daß mein Kind schön und gesund war. Wenn die Leute zu mir sagten: "Dein Sohn ist ein richtiger Ableger von Dir!" war ich stolz und sah in ihm mein Spiegelbild - aber auch meine Zukunft und meine Hoffnung.

Ich erkenne, daß weibliche Schönheit möglicherweise im schönen und gesunden Kind ihre Bestätigung und Fortsetzung finden kann und daß sich die Verinnerlichung von Schönheitsnormen möglicherweise durch "schöne Kinder" verfestigen kann. So kann ich nur ahnen, wie schmerzlich es für eine Mutter sein muß, ein Kind zu haben, welches "kein Kind zum Vorzeigen" ist.

6. Älterwerden

Ein besonders krasses Beispiel dafür, wie tief das gesellschaftliche Schönheitsideal von mir Besitz ergriffen hatte, ist ein Erlebnis aus der Zeit, als ich als über 40-jährige Frau meine Promotion abgeschlossen hatte und mich auf den Weg des beruflichen Aufstiegs begab. In diese Jahre des beginnenden Alters fällt eine kurze intensive Liebesbeziehung zu einem 20 Jahre jüngeren Mann. Er verkörperte für mich das Idealbild absoluter Schönheit: Er war groß, schmal, glatt, geschmeidig, kraftvoll und jung.

Ich erkenne heute, daß ich angesichts meines eigenen Älterwerdens, angesichts des Dahinschwinden eigener körperlicher Schönheit in einer kurzen leidenschaftlichen Liebe dem Fetisch der Jugendlichkeit verfiel. Es war die Zeit Anfang der 70er Jahre, als Fragen von Jugendkultur, Jugendsexualität und Jugendrevolte im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion standen. Möglicherweise protestierte ich mit dieser Liebe unbewußt gegen das älterwerden und versuchte gleichzeitig, meine eigene Grenzenlosigkeit zu beweisen: "Schaut her! Mir steht als 40-jährige Frau nicht nur die berufliche Welt offen. Auch meine Ausstrahlung auf Männer ist - trotz meiner Falten - noch unbegrenzt!" Ich wollte zeigen, daß Schönheit nicht nur an Dingqualitäten festzumachen ist. Schönheit ist Entwicklung. Schönheit ist Lebendigkeit. Schönheit ist geistige Produktivität.

Sicherlich steckt in dieser Erkenntnis ein Stückchen Wahrheit. Unglaubwürdig jedoch war dabei meine Abhängigkeit von männlicher Anerkennung. Denn: Obwohl ich beruflich aus der typischen Frauenrolle herausgetreten war, hörte ich nicht auf, nicht mit "Männeraugen" zu sehen und so zu sein wie "man" mich wünschte: Ich gab auf als die zwar nicht mehr ganz junge dafür aber erfolgreiche Intellektuelle, stets gut gelaunt und dynamisch. Ich gab mich als perfekte Alleskönnerin, die die ersten sichtbaren Spuren ihres Älterwerdens durch Lebendigkeit und geistige Beweglichkeit auszugleichen versuchte und die es durchaus noch mit jüngeren Frauen "aufnehmen konnte". Damit begab ich mich in Konkurrenz zu anderen Frauen.

7. Krankheit

Eine wichtige Erkenntnis über die sehr subtile Bedeutung weiblicher Schönheit gewann ich durch ein schmerzhaftes Erlebnis im letzten Jahr. Im vorigen Frühjahr mußte ich wegen Verdacht auf Unterleibskrebs operiert werden. Meine Gebärmutter und meine Eierstöcke wurden entfernt. Als ich einige Monate später wieder in der Universität auftauchte, fragte mich ein Kollege aus dem Sportbereich, ob ich krank gewesen sei. Ich antwortete: "Ja, ich habe eine Unterleibsoperation hinter mir." Darauf starrte er mich an, sagte: "Igitt, igitt!" und ging fort. Auf ähnlicher Ebene liegt eine Äußerung eines anderen Kollegen, der nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus forsch lächelnd zu mir sagte: "Ich höre, Du bist ausgenommen worden!" Beide Äußerungen machten mich zunächst sprachlos.

Heute erkenne ich, daß der Verlust der Gebärfähigkeit für uns Frauen zwar keine sinnlich wahrnehmbare ästhetische Beeinträchtigung ist, aber auf der Erkenntnisebene eine Minderung unserer Schönheit zu sein scheint, sonst hätte sich der eine männliche Kollege nicht einem Ausruf des Ekels von mir abgewandt, und der andere hätte mich nicht mit einem Huhn oder einer Pute verglichen. Ich beginne zu begreifen, daß die traditionelle weibliche Schönheit an die "ursprüngliche Bestimmung des Weibes" gebunden zu sein scheint, nämlich an ihren biologischen Zweck, Kinder zu gebären. Ein Verlust unserer Gebärfähigkeit scheint für viele Männer auch ein Verlust unserer Schönheit zu sein.

- Kürzlich stellte der Arzt bei einer der regelmäßigen Nachuntersuchungen bei mir eine Verhärtung der linken Brust fest. Ich hatte Angst, nun Brustkrebs zu haben. Die Mammographie ergab jedoch, daß die Angst unbegründet war. Der Schock, nicht nur wieder eine lebensbedrohende Krankheit zu haben, sondern auch noch durch, eine Brustoperation verstümmelt zu werden, saß mir noch lange Zeit in den Knochen.

Nach diesen Erfahrungen von Angst und Ungewißheit wird mir klar, was eine Brustamputation für die weibliche Schönheit bedeutet: Die Frau ohne Brüste - oder die Frau mit nur einer Brust - eine abstoßende Vorstellung!

Nachdem ich das kühne Buch von Mary Daly: "Gyn:Ökologie" (12) gelesen habe, frage, ich mich:

  • stimmt es, daß Unterleibs- und Brustkrebs medizinisch hervorgerufene "angeordnete" Krankheiten sein können?

  • Warum sind gerade die fetischisierten weiblichen Körperteile wie Unterleib und Brust mögliche Brutstätten für Krebs und damit "potentiell tödliche Organe"?

Kann man das ungeheuerliche Ausmaß an Körperverstümmelungen bei Frauen durch die moderne Chirurgie in jene lange weltweite Tradition von Frauenvernichtung einreihen wie:

  • indische Witwenverbrennung, chinesisches Füße-einbinden, afrikanische Genitalverstümmelungen, europäische Hexenverbrennungen?

  • Ist die Gynäkologie eine besondere subtile patriarchalische Maßnahme, Frauen rein und gefügig zu halten, sie in Angst und Abhängigkeit zu versetzen und ihrer Schönheit und Vitalität zu berauben?

Mary Daly schaut in die Zukunft:

"Bald wird es für eine Frau über fünfzig anormal sein, ihre eigenen Brüste und/oder ihren eigenen Uterus zu haben".

Ich habe versucht, an einigen Stationen meiner Biographie zu zeigen, wie sich bei mir selber Schönheitsnormen herausgebildet haben. So lückenhaft diese Darstellung auch ist, so kann sie doch andeuten, wie tief gesellschaftliche Schönheitsnormen unser Bewußtsein und Handeln als Nichtbehinderte bestimmen können und wie schwer es sein wird, solche "inneren Bilder" vom schönen Menschen zu zerstören. Ich gehe jedoch davon aus, daß es keine "ästhetischen Archetypen" (13) oder diesbezüglichen anthropologischen Schemata gibt, sondern daß wir uns unsere Schönheitsbilder angeeignet haben. Wenn wir uns ihrer bewußt werden, uns mit ihnen auseinandersetzen und ihre teilweise unterdrückende Bedeutung erkennen, können wir versuchen, uns gegen sie aufzulehnen, sie aufzubrechen und vielleicht zu verändern, denn der Mensch ist nicht nur ein durch Normen bestimmtes Objekt, sondern er kann auch zum normenbestimmenden Subjekt werden.

8. Prozesse des Aufbruchs

Durch vielfältige Einflüsse, Erlebnisse und Erkenntnisse wurden meine eigenen Schönheitsnormen allmählich erschüttert. Dies war ein langer und teilweise schmerzhafter Prozeß:

Durch Erlebnisse mit Schülern und Schülerinnen der Sonderschule L., die nicht schön waren. Einige waren fettleibig, schielten oder hatten leichte Körperbehinderungen. Sie waren in der Gefahr, selbst innerhalb der Gruppe lernbehinderter Schüler zu Außenseitern zu werden. Durch sie erfuhr ich, zu welch isolierenden Wirkungen die Verinnerlichung von Schönheitsnormen schon bei Kindern und Jugendlichen führen kann. Ich versuchte, ihre Probleme zum Thema des Unterrichts zu machen.

Durch die Erfahrungen mit Müttern lernbehinderter Schüler: Diese waren meist müde und abgearbeitet, ihr Alter war schwer bestimmbar. Sie hatte kaum Zeit und Geld sich zu pflegen und etwas für sich zu tun. Im Vergleich zu ihnen wurde mir meine eigene bevorzugte Stellung als bürgerliche Frau bewußt. Ich versuchte, die Lebensschicksale arbeitender Menschen - insbesondere arbeitender Frauen - in den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken und z.B. mit Bildmaterial zu arbeiten, welches die Lebensrealität dieser Menschen darstellt, so daß sich die Schüler mit ihnen identifizieren konnten.

Durch systematische theoretische Beschäftigung mit dem sexualen Normsystem. Ich erhielt Einblick in die gesellschaftliche Funktion sexueller Normen. Ich begriff Stück für Stück, daß diese relativen Charakter besitzen und der Absicherung der jeweiligen Macht- und Herrschaftsverhältnisse dienen. In diesem Zusammenhang konnte ich auch die gesellschaftlichen Schönheitsnormen einordnen, deren Stellenwert für mein eigenes Leben begreifen und deren zerstörende Bedeutung für das sexuelle Leben Behinderter erahnen. (14)

Durch Einflüsse der Frauenbewegung: Ich begriff langsam, daß unser Starren auf Schönheit und unsere Jagd nach Schönsein Bestandteil und Ergebnis unserer Sozialisation zur Weiblichkeit sind. Ein Nicht-in-Fragestellen dieser Schönheitsnormen durch uns Frauen selber kann dazu führen, daß wir bewußtlos an unserem eigenen jahrtausende alten Kerker weitermauern.

Durch Erkenntnisse über die zerstörerische Wirkung kapitalistischer Warenästhetik auf das herrschende Frauenbild und auf menschliche Beziehungen: In einer Lehrveranstaltung beschäftigen wir uns mit Frauenfotografie - von Männern gemacht - und mit frauenfeindlicher Werbung. Besonders am Beispiel Marilyn Monroe, "der Göttin der Liebe", erkannten wir, daß Schönheit nach dem Maßstab kapitalistischer Warenästhetik zur "schimmernden Zwangsjacke" für die Frau werden kann. Wir verstanden, was der Satz bedeutet: "Indem so ein Gesicht gewonnen wird, wurde zugleich eines verloren." Wir ahnten, warum Marilyn Monroe, "die zauberhafte und vollkommene Schönheit", einige ihrer letzten Fotos durchstrich, zerkratzte und schließlich ihr Leben selber beendete.

Durch die Geborgenheit in einer Partnerschaft: In einer humanen Partnerschaft erfahre ich, was es bedeutet, daß ein Mann mich erkennen will, wie ich wirklich bin und warum ich so bin und daß dabei die "schöne glatte Oberfläche", Jugendlichkeit und Dynamik gar nicht so wichtig sind. Aus dieser emotionalen Sicherheit heraus gewinne ich Kraft, mich auch öffentlich gegen unterdrückende Schönheitsnormen zu wenden.

Durch Anstöße von behinderten Frauen: Durch körperbehinderte Frauen erfuhr ich, wie sehr sie unter gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu leiden haben. Ich erkannte, daß wir nichtbehinderten Frauen mit unserer Schönheit zu ihrem Leid und zu ihrer Unterdrückung beitragen können, daß wir aber auch gleichzeitig in ihnen unsere eigene Unterdrückung, die leiser und subtiler ist, wie in einem Brennglas verschärft erblicken können. Ich begriff jedoch auch, daß ihre sexuellen Erfahrungen in der Regel kaum die unseren sind.

Durch Anstöße von Männern aus der Behindertenbewegung: In Gesprächen mit körperbehinderten Männern wurde ich als nichtbehinderte Behindertenpädagogin in meiner etablierten und privilegierten Stellung radikal in Frage gestellt. Ich bin dabei, meine Glaubwürdigkeit zu überprüfen, über mein eigentliches Verhältnis zu Behinderten nachzudenken, mein eigenes sexuelles Normensystem zu analysieren und meine eigenen Vorstellungen von Schönheit zu hinterfragen. So frage ich mich z.B., welche Möglichkeiten ich als nichtbehinderte Behindertenpädagogin habe, die Diktatur der sexuellen und ästhetischen Normalität ein wenig aufzubrechen, Schönheitsnormen bewußt zu machen und zu verändern, dabei mich selber zu verändern und zu einer veränderten Sichtweise von Schönheit zu gelangen und neue Schönheitskriterien zu entwickeln. (15)

Anmerkungen

(1) Mausbach/Mausbach/Bromberger: Feinde des Lebens. NS-Verbrechen an Kindern. Frankfurt/M. 1979, S. 59.

(2) Hans, Jürgen: Darstellung von Menschen mit Behinderung in der bildenden Kunst. In: Kunst und Unterricht, Oktober 1981, S. 26-27.

(3) Sölle, Dorothee: Auf die Wirkung christlicher Kunst für die Herausbildung partriarchalischer Leitbilder gehe ich hier nicht ein: Siehe: a) Daly, Mary: Jenseits von Gottvater, Sohn und Co. München 1980. b) Vater und Mutter unser im Himmel. Anfragen feministischer Theologie. In: Das Argument 129, S. 665-677.

(4) Gnüg, Hiltrud: Gibt es eine weibliche Ästhetik? In: Kürbiskern 1, 1978, S. 131-141.

(5) Duden, Barbara: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch 47, S. 125-140.

(6) Bovenschen, Sylvia: Über die Frage, gibt es eine weibliche Ästhetik? In: Dietze, Gabriele: Die Überwindung der Sprachlosigkeit. Texte aus der neuen Frauenbewegung. Darmstadt und Neuwied 1979.

(7) Krolow, Ingrid: Unbeschreiblich weiblich, Frauen in der Kunst: Sind die Rosinen im Kuchen. In: Elefantenpresse und Anna Tühne (Hrsg:): Frauenbilderlesebuch, Berlin 1980.

(8) Haug, Frigga: Opfer oder Täter? In: Das Argument 123, S. 643-639 und Argument-Studienheft 46, S. 4-12.

(9) Haug, W.F.: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/M. 1977, 6.Aufl.

(10) Gipser, Dietlinde und Stein-Hilbers, Marlene: Wenn Frauen aus der Rolle fallen. Weinheim und Basel 1970.

(11) Degener, Theresia: Wer will so eine denn schon? In: Emma, Februar 1982, S. 26-29; s. auch die Berichte körperbehinderter Frauen. In: Courage, Januar 1980.

(12) Daly, Mary: Gyn/Ökologie, Frankfurt/M., 1982, S. 245, 263, 257, 304.

(13) Mürner, Christian: "Normalität" in (Behinderten)pädagogik. In: Behindertenpädagogik, 17.Jg. H.4, 1978, S. 230-240.

Altemöller, Rudolf u.Eggert, Dietriche Körperliche Ästhetik und Interaktion mit Behinderten: Überlegungen zu einer Psychologie der Häßlichkeit. In: Behindertenpädagogik, 10. Jg., H.4, 1981, S. 343-356.

(14) Rohr, Barbara: Lernbehindertendidaktik, Biologie, Sexualerziehung. Studienbrief, Fernuniversität Hagen 3364/1/03/S.1.

(15) Allgemeine Aussagen zur Ästhetik, s.: Ästhetik. In: Klaus, Georg u. Buhr, Manfred (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Berlin 1975, S. 134-140.

Quelle:

Barbara Rohr: "Wie gut, daß ich nicht so aussehe!" - Behinderte Sexualität

Erschienen in: LOS Nr. 15, 5. Jahrgang, Juli 1987, Linz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.03.2005

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