Integration ist das bessere Angebot für alle Kinder

Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 22-23. Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998. Interview von Gabriele Rath und Edith Rössler mit Heinz Forcher, Vorsitzender von Integration: Österreich
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Integration ist das bessere Angebot für alle Kinder

Gabriele Rath und Edith Rössler sprachen mit Heinz Forcher, Vorsitzender von Integration:Österreich

e.h.: Was ist eigentlich Integration:Österreich, warum gibt es diesen Verein, und was sind seine Stärken?

Heinz Forcher: Integration:Österreich ist der Zusammenschluß aller Vereine, die sich österreichweit für Integration, gemeinsame Erziehung, gemeinames Leben einsetzen. Das sind sowohl regionale Vereine, Elterngruppen wie auch Landesvereine. Entstanden ist das Ganze nach vielen Jahren des Kampfes - damals ist es vor allem um die Integration im Kindergarten und in der Volksschule gegangen. Es war eine Notwendigkeit, einen Gesamtverein zu gründen, um geschlossener und gemeinsam politisch stärker auftreten zu können, um die Anliegen besser vertreten und die Rechte einfordern zu können.

e.h.: Um welche Rechte ging es da?

Heinz Forcher: Es geht um etwas ganz Grundsätzliches: Integration ist nicht - wie es Ministerin Gehrer sagt - eine zusätzliche pädagogische Handlungsmöglichkeit, sondern aus unserer Sicht ist Integration ein existentielles Grundrecht, ein Menschenrecht für jedes Kind. Das schließt auch Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache ein - wirklich alle. Mit dem wissenschaftlichen Hintergrundwissen, das uns heute zur Verfügung steht, kann man es mit einem Satz sagen: Integration ist das bessere Angebot für alle Kinder. Deshalb ist uns das so wichtig.

e.h.: Wodurch unterscheidet sich i:ö von anderen Einrichtungen?

Heinz Forcher: Unser Anliegen orientiert sich eben an den Grundrechten. Integration ist etwas Unteilbares das heißt, wir stellen nicht in Frage, ob Integration möglich ist. Unsere Erfahrung zeigt, daß die gemeinsame Erziehung von Kindern immer nur abhängig ist von Rahmenbedingungen. Ich habe noch nie erlebt - in keiner Schule, in keinem Kindergarten -, daß die Integration aufgrund der Behinderung oder der individuellen Voraussetzungen des Kindes nicht möglich gewesen wäre. Es ist immer an äußeren Bedingungen gescheitert. Was es braucht ist, daß sich Menschen einbringen, sich untereinander vernetzen, daß ein Kompetenztransfer stattfindet in den verschiedene Bereichen: der Schulverwaltung, dem schulpsychologischen Dienst, den Sonderpädagogischen Zentren, den Lehrpersonen usw.

Ich sage das oft: Ich kenne in ganz Österreich keine Eltern, die sich freiwillig für die Sonderschule entschieden haben. Es ist in dem Zusammenhang auch wichtig, den Begriff Freiwilligkeit zu hinterfragen, denn in unserer Gesetzeslage steht das freie Entscheidungrecht der Eltern im Vordergrund. Aus meiner Erfahrung findet das aber nicht immer statt, weil die Beratung falsch abläuft, bzw. die Eltern manipuliert werden in Richtung Aussonderung. Es wird ihnen nicht wirklich der Freiraum in Form von Rahmenbedingungen und Beratung zur Verfügung gestellt. Ein Beispiel: Viele Eltern sind aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse gezwungen, wenn sie etwa beide berufstätig sind, das Kind in die Sonderschule zu geben, weil in der Integrationsklasse keine Nachmittagsbetreuung angeboten wird. Da kann dann von freier Entscheidung keine Rede sein, sondern das ist subtile Gewalt.

e.h.: Integration:Österreich hat in Sachen Schulintegration in der Pflichtschule einiges in Gang gesetzt.

Heinz Forcher: Schulintegration ist erst durch den enormen Druck, der auf Eltern behinderter Kinder gelastet hat, möglich geworden. Sie wollten nicht mehr ihre Kinder in "besondere" Einrichtungen schicken. Das Bewußtsein war plötzlich so stark, daß sie ihre Kinder mit den anderen Kindern in eine gemeinsame Schule schicken wollten.

e.h.: Woher sind eigentlich dieser Druck und das Bewußtsein gekommen?

Heinz Forcher: Ich denke mir, daß insgesamt mehr Freiraum entstanden ist. Die vielen Beispiele, wo behinderte Kinder in den nordischen Ländern, in England in den USA bereits in den Kindergarten integriert worden sind, dann auch in unserem näheren Umfeld in Deutschland, das hat auch Signalwirkung auf Österreich gehabt. In Innsbruck ist vor 20 Jahren der erste integrierte Kindergarten Östereichs entstanden. Das war wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, der dann seine Kreise zieht. Dann waren es Eltern in Oberwart, die dort regelrecht auf die Straße gegangen sind und mit Unterstützung von Eltern nichtbehinderter Kinder und der Medien soweit gegangen sind, ein Zelt aufzustellen, in dem in der ersten Integrationsklasse der gemeinsame Unterricht stattfinden sollte. Daraufhin erst stellten die Schulbehörde und die Gemeinde entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung. Plötzlich wurden es dann ganz viele Klassen in Österreich.

Die Steiermark ist das einzige Bundesland, in dem im Sinne einer gesellschaftspolitischen Entscheidung durch den damaligen Landesschulratspräsidenten Schilcher Weichenstellungen für die Integration gesetzt wurden. Das ist in keinem anderen Bundesland in der Form passiert. In der Steiermark wirkt sich das auch so aus, daß rund drei Viertel der Volksschüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Integrationsklassen unterrichtet werden.

In Österreich sind die gesetzlichen Voraussetzungen relativ fortschrittlich, was bei uns jedoch ein großes Problem ist, ist die Bremshaltung der Verwaltung, der Beamtenschaft. Das Gesetz würde eigentlich die Entscheidungskompetenz der Eltern in den Vordergrund stellen.

e.h.: Heißt das, daß die Politik momentan mehr will als die Verwaltung?

Heinz Forcher: Da bin ich mir nicht sicher, ob sie das will, aber die gesetzlichen Voraussetzungen wären gegeben. Der Arbeitsauftrag an die Verwaltung ist aber seitens der politisch Zuständigen nicht klar genug, das ist auch der Hauptkritikpunkt von Integration:Österreich an der Regierung. Wenn es der Regierung ernst wäre, müßten unmißverständliche Arbeitsaufträge an die Schulverwaltung ergehen. Auch eine Ombudsstelle für Eltern-Beschwerden wird von uns gefordert. Und die LehrerInnenausbildung an den Pädaks sowie die Fortbildung an den Pädagogischen Instituten müßte dementsprechend umgestaltet werden. Derzeit werden die Lehrer und Lehrerinnen, die sich engagieren, allein gelassen. Sie benötigen eine professionelle Begleitung, Reflexionsmöglichkeiten, Supervision. Wenn die Lehrpersonen nicht zurecht kommen, dann heißt es: "Wir haben immer gesagt, das geht nicht mit der Integration." In Wirklichkeit liegt es daran, daß man Integration nicht richtig will.

Abb.1: Die Anliegen von i:ö gehen aber über die Integration in der Schule hinaus.

Heinz Forcher: Natürlich gehen unserer Vorstellungen darüber hinaus. Die Regierung, das Parlament kann das ja nicht wirklich ernst meinen, daß man die Kinder acht Jahre integriert und das 9. Jahr kann derzeit nur in der Sonderschule absolviert werden. Das heißt, es ist nicht einmal der Pflichschulbereich integrativ geregelt. Die zuständige Ressortleiterin, Frau Minister Gehrer, sagt, solange sie Ministerin ist, wird es das auch nicht geben! Es gibt ja einige Beschlüsse seitens der Regierung und des Parlaments, die die integrative Entwicklung auch nach der Schule miteinschließen - im berufsbildenden Bereich bzw. in der mittleren und höheren berufbildenden Ebene - ,doch das wird derzeit durch die Frau Minister behindert. Im Jahr der Menschenrechte ist das schon eigenartig, daß eine Regierung, die von sich behauptet, daß sie die Menschenrechte achtet, in ganz bewußter und leichtfertiger Handhabung der Gesetze schwerwiegende Diskriminierungen von behinderten Kindern und behinderten Menschen überhaupt zuläßt. Es wird ihnen ein besseres Angebot vorenthalten, sie werden in ihrer Entwicklung behindert, sie werden eigentlich mit Vehemenz an den Rand gedrängt, sie werden aus dieser Gemeinschaft hinausgeschoben, indem man sagt: Integration, Gemeinsamkeit hat jetzt ein Ende, jetzt geht es wieder in die Sondereinrichtungen.

Das Bedürfnis eines jeden Menschen ist es, ein Angebot zu erhalten, wo er sein individuelles Potential entwickeln kann. Wenn man es zuläßt, dann kann sich sehr viel entwickeln, was man sich zuvor nicht vorstellen hat können. Es sind immer unsere eigenen Barrieren, die die betroffenen Menschen in ihrer Weiterentwicklung behindern.

e.h.: Danke für das Gespräch.

Quelle:

Gabriele Rath/Edith Rössler: Integration ist das bessere Angebot für alle Kinder

Erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 22-23, Interview von Gabriele Rath und Edith Rössler mit Heinz Forcher, Vorsitzender von Integration:Österreich

Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998

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Stand: 22.08.2006

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