Über den Einfluss tradierter Erziehungsmodelle und traumatischer Ereignisse aus dem Dritten Reich auf das Krankheitsbild der Anorexia nervosa

Ein Diskussionsbeitrag

Autor:in - Dominique Rainer
Themenbereiche: Medizin
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie. eingereicht von Dominique Rainer. eingereicht bei Ao. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Rathmayr und Kobetreuerin Frau Dr. Carolin Juen de Quintero MA. Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Copyright: © Dominique Rainer 2007

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Anorexia nervosa wird in der Populärwissenschaft und in den Medien mittlerweile als "Modekrankheit" vieler Jugendlicher, vor allem Mädchen, beschrieben. Die Ursachen und Hintergründe dieser Krankheit mit oft tödlichem Ausgang sind schwer herauszufinden bzw. ist bislang daran noch vieles unerforscht.

Den Familienstrukturen kommt bei der Entstehung der Magersucht eine äußerst wichtige Rolle zu, was bereits bei Hilde Bruch, einer der wesentlichen Forscherinnen und Fachfrauen auf diesem Gebiet, und Monika Gerlinghoff, Psychotherapeutin und Ärztin für Nervenheilkunde und Kinder- und Jugendpsychiatrie, deutlich zum Ausdruck kommt.

Desgleichen spielen bestimmte Wertehaltungen, vor allem in der Familie, eine entscheidende Rolle und eine zentrale Frage ist: Warum führt jene von der im Vergleich zur Großelterngeneration (erste Generation) emanzipierteren bzw. permissiveren Elterngeneration (zweite Generation) in die Jugend gesetzte und geradezu von ihr eingeforderte bzw. eingemahnte Erwartung, sich selbst mögen und akzeptieren zu sollen, egal, wie man aussieht und sich fühlt, dennoch gleichzeitig zu einer weitestgehend mangelnden Selbstakzeptanz und in vielen Fällen sogar zu Selbsthass?

Im Rahmen dieser Arbeit werden Überlegungen angestellt und Thesen aufgegriffen werden, die bis zum jetzigen Zeitpunkt wenig oder noch gar nicht in Betracht gezogen wurden. Kann der Weg zur Anorexie Generationen übergreifend sein? Inwieweit können die Großeltern von Anorektiker/innen eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Krankheit spielen? Großeltern, die das Dritte Reich und den Krieg miterlebten, hatten mit bestimmten, meist sehr strengen Wertesystemen, teilweise im nationalsozialistischen Regime entstanden bzw. darin entwickelt, zu leben: Spielen das damalige Lebensmuster und der Lebensstandard der Großeltern für junge Erwachsene heute noch eine Rolle? Wie gehen diese aktuell mit dem erzieherischen Erbe der Großeltern um, empfinden sie Schuldgefühle für das, was die Großeltern miterleben mussten? Wichtig wird es auch sein, zu fragen, inwieweit die Werte der Großelterngeneration in der heutigen Familie noch aktuell sind? Welche Bedeutung haben sie noch?

Was treibt einen jungen Menschen dazu, sich an den Rand des Todes zu hungern und definitiv seine Existenz aufzugeben?

Die Frage, die es zu beantworten gilt, wird sein, ob in tradierten Erziehungsmustern und Wertehaltungen aus dem Dritten Reich die Möglichkeit einer Anorexie Erkrankung der sogenannten dritten Generation, der heute Jugendlichen bzw. auch bereits Erwachsenen in einem Altersbereich von zirka 16 bis 36 Jahren, angelegt ist? Weiters wird untersucht werden, ob bestimmte Werte und Ideale aus der Zeit des Dritten Reichs bzw. deren Tradierung von einer Generation auf die andere auf einer verbal-kommunikativen, einer non-verbalen Ebene oder auch durch Identifizierungsprozesse ausschlaggebende Faktoren für eine Erkrankung an Anorexia nervosa sein können.

Wenn man die Magersucht als Fast- und Bußritual versteht, könnte man sie möglicherweise als eine Reinigung des Körpers von unbewussten Schuldgefühlen deuten oder sie als eine spezifische Form der Selbst-Bestrafung aufgrund traumatisierender Ereignisse interpretieren.

Danksagung

Zum Gelingen dieser Arbeit haben viele Menschen in den letzten Monaten direkt oder indirekt beigetragen. Auch wenn ich nicht jeden namentlich erwähnen kann, möchte ich ihnen allen an dieser Stelle herzlich danken.

An erster Stelle möchte ich mich bei meinen Interviewpartnerinnen für die sehr aufschlussreichen und offenen Gespräche bedanken.

Besonderer Dank gebührt Frau Dr. Carolin Juen de Quintero MA für ihre kompetente Unterstützung während der gesamten Arbeit. Sie ermöglichte es mir, eine interessante und spannende Arbeit zu schreiben.

Weiters möchte ich Ao. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Rathmayr dafür danken, dass er meine Betreuung übernommen hat.

Meinem Vater, Stefanie Scharler und Marianne Dittrich möchte ich für ihre äußerste Hilfsbereitschaft in den letzten Monaten danken und vor allem meinen Eltern, die mir mein Studium ermöglichten.

Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Frau Dr. Eva Gold für ihre interessanten Beiträge.

Nicht zuletzt danke ich meinen Freunden und Freundinnen Moni, Julia, Julia, Susi, Geli, Vali, Sabine, Bernhard und Droidy und meiner Tochter Alina, die mich während meines Studiums und meiner Diplomarbeit immer wieder in entscheidenden Momenten entlasteten und mich, wenn notwendig, auf andere Gedanken brachten.

"Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders. Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich voll gegessen wie du und alle."

Der Hungerkünstler

1 Einleitung und Überblick zur Arbeit

Im ersten Teil der Theorie werden folgende Schwerpunktthemen und Fragestellungen behandelt: Welche ätiologischen Faktoren können unter anderem für die Entstehung von Essstörungen verantwortlich gemacht werden? Nach einer Typologisierung pathologischen Essverhaltens und einem geschichtlichen Überblick werden Überlegungen zum Thema der Risikogruppen und dem Verlauf der Anorexie angestellt. Welche Modelle zur Erklärung der Ursachen von Magersucht gibt es? Zwei relevante dieser Erklärungsansätze werden genau definiert und beschrieben, da sie für das Verständnis des äußerst komplexen Krankheitsbildes der Anorexie wesentlich sind. Die angeführten Schwerpunkte sind unerlässlich um zum zweiten Teil des theoretischen Abschnitts überzuleiten zu können.

Der zweite theoretische Teil befasst sich grundsätzlich mit Wertehaltungen und Erziehungssystemen in der Familie heute und zur Zeit des Dritten Reichs. Wertvorstellungen und Erziehungsmuster wurden im ersten Teil einführend beschreiben. Wie sieht eine Familie aus, in der die Anorexie zum Mittelpunkt geworden ist, das familiäre Leben beherrscht? Welche Werte waren während des Dritten Reichs von Bedeutung und welche sind es heute? Sind diese Werte und Erziehungsstile im System Familie ähnlich denen von heute? Was können Schweigen oder auch das Gefühl von Schuld und Scham im Bezug auf die Zeit des Dritten Reichs in uns auslösen? Die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen und das Thema der Vergangenheitsbewältigung bilden den abschließenden Teil der theoretischen Ausführung.

Im letzen Abschnitt wird eine empirische Untersuchung vorgestellt, die problemzentrierte Interviews nach einem von der Verfasserin dieser Arbeit erstellten Leitfaden mit anorektischen Mädchen und Frauen in Therapie zum Inhalt hat. Die Untersuchung befasst sich mit der subjektiven Erlebenswelt (sehr selbstreflexive Fragen) der Interviewpartnerinnen und deren Selbstwert, mit dem System Familie, überwiegend mit Vater und Mutter und es werden, vorausgesetzt die Klientinnen können darüber Auskunft geben, Fragen über die Großeltern gestellt. Der erste Teil gibt Aufschluss über Idealwerte der Anorektikerinnen; es wird näher auf Selbsthass und Selbstbestrafungstendenzen derselben eingegangen. Im zweiten Teil des Interviews sollen die Familienmitglieder beschrieben werden. Es wird darauf eingegangen, ob es hierarchische Strukturen in der Familie gibt und zu eruieren versucht, welche Werte den Eltern wichtig sind. Bezogen auf die Großeltern können deren Sicht des Lebens im Dritten Reich und unter anderem auch deren Erleben der Kriegszeit und die entsprechende Weitergabe auf die Nachfolgegenerationen bedeutend sein. Ebenso bedeutend wird es sein festzustellen, ob sich Eltern und Großeltern der Anorektikerinnen in auf die Untersuchung hin bedeutenden Charaktereigenschaften ähneln. Es werden nicht in jedem Interview alle Fragen gestellt und es wird auch nicht immer streng die Frage-Reihenfolge des Leitfadens eingehalten werden, sondern sie wird abgestimmt sein auf den Verlauf des Interviews und die Befindlichkeit der befragten Person. Dies ist, da es sich um sehr sensible Menschen handelt, die sich in Therapie befinden, unerlässlich.

2 Allgemeines zum Thema Jugend und Anorexie

"Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben."

Marc Aurel

Immer wieder ist in modernen Zeitschriften - speziell in Mode- und Jugendzeitschriften - davon zu lesen, wie wichtig es für junge Menschen ist, sich selbst schätzen zu lernen, sich zu respektieren, zu lieben, ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln und zudem noch alle anderen zu lieben und zu respektieren. Dabei stellt sich hier allerdings die Frage: "Wie soll das etwa einem mitten in der Pubertät steckenden 15-jährigen Mädchen gelingen, wenn es tagtäglich ‚überschüttet' wird mit Werbung, die wunderschöne, dünne, von unserer Gesellschaft als ‚perfekt' gesehene Frauen präsentiert und in welcher glückliche Familien mit strahlenden Kindern und Eltern vorgeführt werden."

Es ist für viele eine tief verwurzelte Lebenserfahrung, dass zwischen unserem äußeren Erscheinungsbild und dem Verhältnis zu anderen Menschen und natürlich zu uns selbst entscheidende Zusammenhänge bestehen, mithin Zusammenhänge zwischen Ästhetik und Kommunikation: Wir haben im Laufe unseres Lebens erfahren, dass zwischen unserem Äußeren und unseren kommunikativen (bzw. auch sexuellen) Möglichkeiten ein bedeutender Konnex existiert. Wenn wir subjektiv das Gefühl haben den Normen und Forderungen unserer westlichen Wohlstandsgesellschaften, in denen Schönheit überwiegend über die Werbung definiert ist, zu entsprechen, empfinden wir uns auch als "schön". Als Folge dieses Empfindens fällt es uns leichter, Kontakte zu knüpfen und sexuell begehrt zu werden. Wenn das äußere Erscheinungsbild eines Menschen von diesen Normen und Anforderungen abweicht, fällt es ihm schwerer Gefühle des gesellschaftlichen Eingebundenseins und der Selbstsicherheit zu entwickeln. Er versucht in der Folge zu kaschieren und zu kompensieren. Wenn wir auf unsere eigenen Verhaltensweisen blicken, merken wir, dass wir - zumindest die meisten von uns - auf in der Gesellschaft als " nicht schön" Klassifizierte, auf Menschen, die aus unseren Schönheitsnormen herausfallen, mit Zurückhaltung, Mitleid oder auch Angst reagieren. Viele von uns erfahren durch Erziehung, Kindergarten, Schule als wesentliche Sozialisierungsfaktoren schon früh, dass Schönheit bzw. Ästhetik im gesellschaftlichen Kontext eine wichtige Rolle spielen und eine Verletzung dieser Schönheitsnormen unter entsprechenden Voraussetzungen (familiären, schulischen oder beruflichen) zu Isolation und Einsamkeit führen kann.

Jungen Menschen - Männern wie Frauen - werden teilweise Illusionen darüber vorgegaukelt, wie Frauen zu sein haben, indem ihnen gezeigt wird, dass z. B. Erfolg und gesellschaftliches Eingebundensein nur über Schönheit erreicht werden können. Wie sollen sie es nun lernen, ehrlich zu sich selbst zu sein, sich zu schätzen und sich mit dem eigenen Körper anzufreunden, der vielfach gar nicht so aussieht, wie die Werbung es propagiert. Die Folge davon ist, dass die Entwicklung eines stabilen Selbst-Bewusstseins für weibliche und männliche Jugendliche in unserer heutigen Gesellschaft kein sehr leichtes Gelingen sein kann und bei genauerer Betrachtung auch nie gewesen ist.

Mit der bestehenden Diskrepanz - einerseits der Wichtigkeit ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln und andererseits aber gleichzeitig mit auferlegten, meist unerreichbaren Schönheitsnormen leben zu sollen - kommen Jugendliche nur schwer zurecht. Das Erwachsenwerden wird ihnen nur allzu oft schwer gemacht, und die Flucht in die Krankheit ist nicht selten eine Folge davon.

Im nächsten Abschnitt soll eine Definition von Anorexia nervosa gegeben werden; anschließend werden Faktoren beschrieben, die für die Entstehung der Erkrankung von Bedeutung sind. Darüber hinaus wird auf Kennzeichen von pathologischem Essverhalten eingegangen.

3 Anorexia Nervosa - ein Instrument von Kontrolle und Machtausübung

3.1 Der Begriff Anorexia nervosa

Essstörungen sind schwer wiegende seelisch-körperliche Erkrankungen. Sie können oft ein Leben lang weiter bestehen bleiben, wenn sie nicht rechtzeitig und fachgerecht behandelt werden. Infolgedessen führen sie zu erheblichen Schädigungen und Störungen des Körpers, der Psyche und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Hauptsächlich sind Mädchen und junge Frauen von ihnen betroffen. Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass auch immer mehr männliche Jugendliche und junge Männer betroffen sind.

"Magersucht verbirgt sich lange hinter allgemein akzeptierten Verhaltensweisen und favorisierten Idealen unserer Zeit. Sie äußert sich als konsequente Verwirklichung eines überall propagierten Gesundheits- und Schlankheitsideals. Die Motive abzunehmen, um besser auszusehen, selbstbewusster zu werden, ‚in' zu sein, sind zunächst ebenso wenig außergewöhnlich oder gar krankheitsverdächtig wie die Methoden, die zur Gewichtsabnahme eingesetzt werden. Die Grenzen zwischen Schlankheitskuren und Magersucht sind fließend" (Gerlinghoff, Backmund 2004, S. 13).

Der Übergang von gestörtem Essverhalten zur pathologischen Essstörung verläuft häufig schleichend. Betroffene Personen die ihr extremes Hungern meist zu vertuschen versuchen, tun dies mit einem gleichzeitigen Gefühl von Scham und Angst. Eltern, Freunde und Lehrer merken oft lange nichts davon (vgl. Reich et al. 2004, S. 11).

In manchen Familien ist zu beobachten, dass das veränderte Essverhalten bzw. der Gewichtsverlust zwar den Familienmitgliedern auffällt, aber es fehlt ihnen die Handlungskompetenz und sie fühlen sich letztlich auch mit dem Problem überfordert.

Bei einigen Betroffenen hat der Krankheitsverlauf mit dem Beginn einer Diät eingesetzt, die primär das Ziel hatte einige Kilos zu verlieren und plötzlich eine Eigendynamik entwickelt hat. Zu Beginn der Diät wurde diese noch von den vorwiegend weiblichen Bezugspersonen - in den meisten Fällen der Mutter - unterstützt.

Mit Beginn dieser Eigendynamik des Abnehmens verweigert ein Teil der Betroffenen meist jede Kommunikation das Thema Essen betreffend mit ihren Bezugspersonen.

Andere betroffene Menschen beschäftigen sich in einem übertriebenen Ausmaß mit dem Thema Essen, sammeln Rezepte und bereiten Gerichte für die Familienmitglieder und Freunde zu, die sie selbst aber nicht essen.

Anorexia nervosa (Magersucht) ist ein zu den Essstörungen gehöriges psychosomatisches Krankheitsbild mit meist unaufhörlichem Streben nach immer stärkerem Schlanksein. Die Einstellung gegenüber der Nahrungsaufnahme ist verzerrt (Nahrungsverweigerung trotz häufigem Hungergefühl). Das bewusste Hauptziel der Anorexie ist die Körperkontrolle. Häufige Folgen sind reduzierter Gesamtstoffwechsel und Amenorrhö[1]. Angst vor Übergewicht, gestörte Körperwahrnehmung und lange Krankheitsverleugnung sind stehen im Vordergrund. (vgl. Pschyrembel, klinisches Wörterbuch 1998, S. 80/Toifl 2004, S. 89).

"Bei erheblichem Untergewicht muss eine stationäre Kontrolle der Kalorienein- bzw. -ausfuhr erfolgen. Im Weiteren wird eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie in Kombination mit verhaltenstherapeutischer Modifikation des Essverhaltens und eventuellen systemisch-familientherapeutischen Ansätzen eingesetzt" (Zetkin, Schaldach 2005, S. 99).

3.2 Magersucht: Vergangenheit und Gegenwart (historischer Überblick)

Der Begriff "anorexis" - Mangel an Begierde oder fehlender Appetit (eingeschränkte Bedeutung) wurde bereits im ersten Jahrhundert n. Chr. in einer pseudoplatonischen Schrift erwähnt. Damals wurde die Anorexia nervosa auf körperliche Erkrankungen zurückgeführt (vgl. Delesen 1997, S. 16). Allerdings soll schon Hippokrates (460 377 v. Chr.) psychologische Aspekte der "Anorexis" erkannt haben (Breuer 1983, S. 5 f.).

Fasten ist eine historisch weit zurück verfolgbare Verhaltensweise. Zu Beginn wurde das Fasten ausschließlich religiös begründet. Märchenhafte Geschichten und Berichte über "Fastenwunder" und "Hungerkünstler", oft über junge Mädchen, die vorgaben, jahrelang nichts gegessen und getrunken zu haben, wurden von der religiösen Bevölkerung geglaubt (vgl. Vandereycken et al. 1992, S. 30 ff.).

Die erste medizinisch detaillierte Darstellung zum Thema des abweichenden Essverhaltens wird im Jahre 1694 im Allgemeinen Richard Morton, einem Londoner Arzt des 17. Jahrhunderts, zugeschrieben. Er bezeichnete das Krankheitsbild als "nervous consumption", nervöse Atrophie. Er beschreibt einen Zustand, der durch Amenorrhoe, Auszehrung des Körpers, verringerten Appetit, Nahrungsaversion und auch Hyperaktivität gekennzeichnet ist (Vandereycken et al. 1992, S. 156 ff.).

Auch bei Strober (1986, S. 232) werden die geschichtlichen Aufzeichnungen von Morton und der psychosomatische Zustand der Anorexie in seinem Werk "Anorexia nervosa: History and psychological concepts" in der gleichen Art beschrieben.

Mit der Bezeichnung "nervous" meint Morton, dass er eine als nahezu psychosomatisch zu beschreibende Auffassung dieser Erkrankung hat, deren Ursache er im Nervensystem sieht (vgl. Pudel, Westenhöfer 2003, S. 223). Er vertrat die Ansicht, dass diese Form der nervösen Atrophie ängstlichen Sorgen und der Traurigkeit entstamme (vgl. Selvini Palazzoli 1998, S. 18). In seinem Buch "Phthisiologia or a treatise of consumptions" veröffentlichte er seine Erkenntnisse zum Thema des "pathologischen Magerns" bzw. erwähnte er darin bereits zwei Fälle über ein 18-jähriges Mädchen und einen Jungen, deren Erkrankungen als Folge von freiwilliger Einschränkung der Nahrungsaufnahme entstanden sind (vgl. Treasure 2001, S. 36).

In der wissenschaftlichen und medizinischen Literatur hat sich, seit ihrer Einführung durch Sir William Gull, einem Londoner Internisten, im Jahre 1874, die Krankheitsbezeichnung Anorexia nervosa, weitestgehend behauptet. Trotz alledem wird bis heute immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Namensgebung unzutreffend ist, da der Begriff "Anorexie", d. h. Appetitlosigkeit oder "Appetitmangel nervöser Art" (Vandereycken et al. 1992, S. 9), überhaupt nicht oder lange Zeit kein Symptom der Erkrankung darstellt, d. h., wenn man die Anamnese der meisten Krankheitsfälle verfolgt, ist die Appetitlosigkeit selten das primäre Symptom (vgl. Gerlinghoff et al. 1999, S. 174/Bruch 2004a, S. 16).

Die deutsche Bezeichnung "Magersucht" (oder "Pubertätsmagersucht") ist für die Bezeichnung dieses Krankheitsbildes treffender, wenn man versucht, den Begriff "Sucht" nicht zu eng zu fassen.

"Es handelt sich hier zum Teil um unbewußte Unterdrückung des Appetits oder des Hungergefühls, zum Teil um ein gestörtes Eßverhalten, das aus dem tief verwurzelten Verlangen entsteht, mager zu sein" (Vandereycken et al. 1992, S. 9).

Gleichzeitig mit der allgemeinen Durchsetzung des Begriffs der Anorexia nervosa können eindeutige medizinische Beschreibungen und Erläuterungen zur Anorexie ebenfalls im 19. Jahrhundert gefunden werden. So ist es Louis Victor Marcé, einem französischem Psychiater, vorbehalten, im Jahre 1860 als erster eine umfassende Arbeit zum Thema der Anorexie zu veröffentlichen. Charles Lasègue, ein französischer Psychiater, und der oben erwähnte Gull verfassten zwischen 1868 und 1888 verschiedene Artikel, die die Aufmerksamkeit der Mediziner auf das Thema der Magersucht lenkten (vgl. Treasure 2001, S. 38).

Gull hielt im Jahre 1868 einen Vortrag über eine sehr eigentümliche Krankheitsform, die er als "hysterische Apepsie" (Pepsinmangel[2]) bei jungen Frauen beschreibt. Er betrachtete sie als eine Fehlfunktion der gastrischen Zweige der pneumogastrischen Nerven, die von einer psychischen Verfassung begleitet war, die sehr an eine Form von Hysterie erinnerte.

Im Jahre 1873 publizierte Lasègue einen Artikel unter dem Titel "Anorexie hystérique". Er beschreibt den Zustand eines Mädchens, das anfangs erklärte, sich nach Mahlzeiten unwohl zu fühlen, und später verweigerte es die Nahrungsaufnahme ganz, was mit einer manischen Unruhe gekoppelt war. Lasègue bezeichnete folglich die Anorexia nervosa als eine "hysterische" Erkrankung und machte psychische Ursachen dafür verantwortlich (vgl. Pudel, Westenhöfer 2003, S. 224).

Erst später, eben 1874, publizierte Gull, nach Widerlegung seiner vermuteten "Apepsie" und der Einschränkung der Erkrankung auf Frauen, jenen Beitrag zur Anorexie, der schlussendlich zur Namensgebung der Anorexia nervosa führte (s. o.). Auch er betonte, dass der Zustand auf psychopathologische Faktoren zurückzuführen sei. Weiters behauptete er, dass gefühlsbetonte, emotionale Faktoren für viele funktionale Störungen verantwortlich sein können (vgl. Selvini Palazzoli 1998, S. 20).

Pierre Janet, ein französischer Psychiater und Philosoph, behandelte 1903 einen Fall von Magersucht. Er führte den Begriff der "Psychasthenie"[3] und beschrieb diese als eine zwanghafte Form der Abscheu vor dem eigenen Körper. Er meinte, dass die Anorexie die Weigerung der Patientin widerspiegelte, die weibliche Geschlechtsrolle anzuerkennen, was auch heute bei anorektischen Menschen der Fall sein kann.

1914 setzte sich durch Forschungsarbeiten des Hamburger Pathologen Morris Simmonds in Frankreich, Skandinavien und Deutschland die Meinung durch, dass ein Schwund der Hypophyse[4] für die Anorexie verantwortlich, die Gabe von Hormonen daher die konsequente Behandlung sei (vgl. Pudel, Westenhöfer 2003, S. 224). Die Auffassung einer psychischen Verursachung der Erkrankung wich somit einem somatischen Erklärungsmodell.

Freud sprach im Jahre 1916 auch von der Erkrankung als "Melancholie der sexuell Unreifen". Er vertrat die Ansicht, dass bei der Anorexie ein Gemütszustand der schwermütigen Verstimmung, die Melancholie, beteiligt sei (vgl. Diedrichsen 1990, S. 87).

Über 30 Jahre später wurde deutlich, dass es sich hierbei um ein anderes Krankheitsbild handelte. Die von Simmonds beschriebene "hypophysäre Kachexie"[5] unterschied sich in vielerlei Hinsicht von einer Anorexia nervosa (vgl. Diedrichsen 1990, S. 87). In den dreißiger Jahren wurden immer mehr Arbeiten veröffentlicht, in denen der Unterschied zwischen der Anorexie und der Simmondschen Krankheit dargestellt wurde. (Vandereycken et al. 1992, S. 225).

Anfang der 40er Jahre rückten wieder psychologisch orientierte Ansätze in den Vordergrund. In den Vereinigten Staaten ist die Magersucht vor allem von psychoanalytisch orientierten Wissenschaftern untersucht worden, die ihre Ergebnisse auf einzelne Fälle stützten. Nach diesen Untersuchungen lagen der Essstörung unbewusste Konflikte und eine orale Fixierung zugrunde. Die Angst vor der Nahrungsaufnahme hinge mit unbewussten Phantasien über eine orale Befruchtung zusammen (vgl. Pudel, Westenhöfer 2003, S. 225).

Bachrach et al. (1965, S. 153 ff.) waren die ersten, die eine verhaltenstherapeutische Fallstudie der Behandlung einer Anorexia nervosa-Patientin veröffentlichten. Die behandelte Frau war zum Zeitpunkt des Therapiebeginns ca. 1,60 m groß und wog 23 kg. Mit Hilfe einer Verhaltenstherapie gelang es ihr langsam zu ihrem Normalgewicht zurückzufinden.

Erwähnenswert ist vor allem der Beitrag der amerikanischen Psychoanalytikerin Hilde Bruch. Sie hat sich der Erforschung psychologischer und psychopathologischer Ernährungsprobleme gewidmet und gilt als international führende Autorität auf dem Gebiet der Essstörungen.

Ungünstig verlaufende Lernerfahrungen aus der frühen Kindheit stellen nach Bruchs Auffassung mitunter die Ursache einer Essstörung dar. Diese frühkindlichen Erfahrungen äußern sich in einer Fehlinterpretation von körperlichen Zuständen und Gefühlen und in einer mangelnden Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten (vgl. Bruch 1992, S. 156 ff.).

Nach einer auf über drei Jahrzehnten basierenden klinischen und therapeutischen Erfahrung veröffentlichte Bruch im Jahre 1973 ihr Werk "Eating Disorders: Obesity, Anorexia Nervosa, and the Person Within", in dem sie betont, dass die Gründe für Magersucht in der Persönlichkeitsentwicklung des Individuums und in dessen Familienstrukturen zu suchen seien. Bruch sah in der Anorexie ein Streben nach Kompetenz, Autonomie, Kontrolle bzw. Selbst-Respekt (vgl. ebd. 1973, S. 217 u. 251 f.).

"Mit dem Hungern kann das Gefühl von Passivität und Ineffektivität bekämpft werden, dem Gefühl, ständig von außen kontrolliert zu werden, wird die extreme Kontrolle der Nahrungsaufnahme entgegengestellt" (ebd., zit. nach Pudel, Westenhöfer 2003, S. 225).

Mit der Veröffentlichung von Bruchs wissenschaftlichen Erkenntnissen wurde Anorexie als komplexeres und breiter gefasstes Problemfeld gesehen. Wissenschafter versuchten nun immer mehr, zwischen dem Essverhalten einer Person, dem familiären und sozialen Umfeld und dessen Entwicklungsgeschichte einen intensiveren Konnex zu sehen.

In den 80er Jahren waren viele Wissenschafter der Meinung, dass Anorexia nervosa als eine Art kultureller Störung angesehen werden könne. Das Interesse der Psychologen, Pädagogen, Psychiater, Soziologen und Ärzte am Thema der Magersucht wuchs und wächst bis heute ständig.

Seit den 90er Jahren hat sich die Auffassung weitgehend durchgesetzt, keine organischen Ursachen für die Magersucht anzunehmen. Man geht davon aus, dass die Anorexia nervosa eine psychogene Essstörung mit psychosomatischen Folgeerscheinungen ist und man zur Erklärung der Entstehung dieser Erkrankung auf multimodale Ansätze zurückgreifen muss (vgl. Karren 1990, S. 13 f.).

3.3 Ätiologische Faktoren

Essstörungen sind ernst zu nehmende Erkrankungen, die sich auf alle wichtigen Lebensbereiche auswirken. Das veränderte Essverhalten führt, wie bereits erwähnt, zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgeschäden bzw. werden die geistige Leistungsfähigkeit und die Lebenszufriedenheit nachhaltig beeinträchtigt.

"Trotz eines großen Aufwands an Forschungsaktivitäten kann die Entstehung von Ess-Störungen bis jetzt nicht mit einem einfachen Modell und schon gar nicht mit monokausalen Konzepten erklärt werden" (Gerlinghoff, Backmund 2004, S. 33).

Es herrscht viel eher die Meinung vor, dass ein Bündel von Ursachen, darunter auch biologisch-genetische Faktoren, für die Entstehung von Essstörungen verantwortlich gemacht werden müssen. Insgesamt geht ein Großteil der Autoren von einem multikausalen Ansatz aus.

Drei wesentliche Bereiche, die große Bedeutung für die Entstehung von Essstörungen haben, sind individuelle Faktoren, der soziokulturelle Bereich und der familiäre Hintergrund, wie aus nachstehendem Modell ersichtlich und nachfolgend erklärt.

Abb. 1 Modell der Anorexia nervosa als multikausale Krankheit nach Garner, Garfinkel 1980/Meermann, Vandereycken 1987 (Pudel, Westenhöfer 2003, S. 227)

3.3.1 Individuelle Hintergründe

Eine große Rolle in Bezug auf pathologisches Essverhalten spielen individuelle Faktoren und Hintergründe.

Man kann bestimmte Verhaltensweisen und Züge beschreiben, die Menschen mit abweichendem Essverhalten gemeinsam haben, allerdings kann man weder das Familienbild völlig klar und präzise definieren, in dem anorektisches Essverhalten entsteht, noch kann man die für eine Essstörung prädestinierte Frau nach einem eindimensionalen Muster charakterisieren (vgl. Gerlinghoff, Backmund 2004, S. 52).

Im konkreten Fall erweist sich die Sachlage jeweils als mehrdimensional und vielschichtig. Jeder Fall sollte als singulärer behandelt werden, wenngleich es natürlich vergleichbare Grundmuster geben kann.

Auffällig ist es, dass es sich fast immer um zwanghafte Persönlichkeiten mit perfektionistischen Tendenzen handelt. "Das Denken in den Kategorien des Entweder-Oder - richtig oder falsch, alles oder nichts spiegeln sich nicht selten in den Ess-Störungen, ob Magersucht oder Bulimie, wider" (ebd., S. 54).

Aus Angst vor den Unsicherheiten im eigenen Leben klammern sich Anorektiker/innen an einige scheinbare "Sicherheiten" wie Ordnung, Leistung und Pflichterfüllung.

Jacobi et al. (2000, S. 11 f.) betonen, dass viele Menschen, die an Anorexia nervosa erkranken, eine ausgeprägte Leistungsorientierung aufweisen, die mit asketischen Idealen einhergehen kann. Bemühungen um gute oder sogar ausgezeichnete Erfolge in der Schule oder im Beruf sowie sportliche Aktivitäten dienen dazu, das Selbstwertgefühl zu stabilisieren, welches anorektische Mädchen und junge Frauen kaum besitzen. Exzessives Joggen oder andere Formen körperlicher Hyperaktivität haben eine zweifache Funktion: Das Erfolgserlebnis, ein sportliches Ziel erreicht zu haben, stärkt das Selbstwertgefühl. Darüber hinaus wird durch den gesteigerten Energieverbrauch die Gewichtsabnahme beschleunigt.

Normalität im Sinne von Durchschnittlichkeit versuchen Betroffene oft zu vermeiden; sie erscheint nahezu verachtenswert. Daher haben Anorektiker/innen große Schwierigkeiten, alltägliche Probleme zu lösen und Ziele, die sich auf dem Boden der Realität befinden, zu verfolgen. Daraus resultieren vor allem starke Unzulänglichkeitsgefühle, für die sie das Nicht-Essen als Bewältigungsstrategie einsetzen, um eine Leere zu erzeugen, die als Betäubung dienen kann, weil sie letztlich nichts mehr spüren, ob positive oder negative Gefühle. (vgl. Gerlinghoff, Backmund 2004, S. 54). Nicht-Essen gibt ihnen das Gefühl von Stärke zurück. Sie können verweigern und gleichzeitig bleiben sie hart zu sich selbst.

Kontaktschwierigkeiten und Einsamkeitsgefühle sind häufig anzutreffen. Anorektiker/innen wissen oft nicht, in welche Richtung ihre Gefühle gehen. Sie sind sich nicht sicher, ob die wahrgenommenen Reize von außen oder von innen kommen. Sie haben ein starkes Bedürfnis, Gefühle und Gedanken für sich zu behalten, was nach Buhl (1987, S. 62) seinen Ursprung in einem unsicheren Identitätsgefühl hat. Viele Anorektiker/innen sind auf Distanz zu anderen Menschen bedacht, weil sie befürchten, dass Geheimnisse über ihr strenges Hungern gelüftet werden könnten.

Wenn die Grenze zwischen einem selbst und anderen unklar ist, kann es äußerst schwierig werden, anderen näher zu kommen, ihnen Vertrauen zu schenken und sich auf sie zu verlassen.

3.3.2 Familiäre Faktoren

Das Problem der Anorexie ist überaus vielschichtig. Man sollte es vermeiden, guten Einflüssen und Eigenschaften aus der Familie nur einfach schlechte gegenüber zu stellen oder schlicht eine Liste mit krankheitsfördernden Merkmalen anzuführen. Es sei an dieser Stelle auch angeführt, dass es sich im Folgenden nicht um Schuldzuweisungen handelt; vielmehr soll die Beleuchtung des familiären Hintergrundes Aufschluss über die Komplexität der Erkrankung geben.

Ein wesentlicher Faktor in der Familie ist der zwischenmenschliche Umgang der Familienmitglieder untereinander. Es lässt sich ein ganzes Bündel von Fragen stellen: Wie werden Eigenschaften und für die Familie wichtige Wertehaltungen gelebt? Wie werden sie vom einem zum anderen tradiert? Herrscht in der Familie ein emotional positives Klima? Hat emotionale Wärme einen hohen Stellenwert bei den Familienmitgliedern? Wird das einzelne Familienmitglied als "Person" gesehen oder herrschen vielmehr Apersonalität und Funktionalisierung der Person vor? Spielt Leistung eine wesentliche Rolle in der Familie? Wird Ehrgeiz belohnt oder der Mangel an Ehrgeiz bestraft?

Im empirischen Teil wird auf die Beantwortung einiger dieser Fragen näher eingegangen werden, da sie Teil des Interviewleitfadens sind.

"Wesentlich ist, wie die einzelnen Mitglieder einer Familie einander wahrnehmen, ob als einmalige individuelle Personen oder als Rollenträger im Familiengefüge. Die Entpersonifizierung von Verhaltensweisen, das Regime des 'man muss', 'man darf nicht', lässt den Verdacht aufkommen, dass Rollen besonders wichtig sind, dass all die guten Eigenschaften mehr in Vorstellungen, in imaginären Verpflichtungen gründen als in persönlichen Bedürfnissen und Gefühlen" (Gerlinghoff, Backmund 2004, S. 35 f.).

Die Orientierung und Anpassung der Familie nach außen hin wie auch die Anpassung an Wertvorstellungen der Gesellschaft kann leicht zur Außensteuerung werden, bei der das einzelne Familienmitglied zu kurz kommt und vor allem die Kinder Gefahr laufen, emotional zu verkümmern (vgl. ebd., S. 36).

Wenn man sich auf die Aussagen von ebd. bezieht, wird angenommen, dass es der Beziehung zwischen Kindern und Eltern sehr wohl schadet, wenn sich die Eltern nach perfektionistischen Wertvorstellungen richten und Liebe manipulativ eingesetzt wird, nur um sein Kind zu einem tüchtigen, "wohlerzogenen" Menschen zu machen.

Die Familien von Menschen mit einer Essstörung nehmen oft auf sehr "egoistische" Weise für sich in Anspruch, alles zu besitzen oder zu repräsentieren, was erstrebenswert und gut ist: Ordnung, Bildung, Moral, gute Manieren und Standesgemäßheit. Menschen mit einer anderen Werthaltung wird mit Ablehnung und Geringschätzung begegnet. Dieser Anspruch stammt sehr oft noch aus der Zeit der Großeltern der heute jungen Erwachsenen (vgl. ebd., S. 36).

Emotionen und Schwächen sollten überall, vor allem in Familien, selbstverständliche Ausdrucksformen von Gefühlen sein können. Familien, in denen für Gefühle kein Platz ist und wo Konflikte nicht ausgetragen werden, würden eine andere Ausdrucksform brauchen, um sich offen zu artikulieren. Als einzige Ausdrucksmöglichkeit bleibt oft, mangels anderer Artikulationsmöglichkeiten, nur die Krankheit.

Krank sein bedeutet, auf eine gesellschaftlich akzeptierte Form schwach sein zu dürfen.[6] An der Spitze der Erkrankungen stehen psychosomatische Störungen, insbesondere solche des Magen- und Darmtraktes, sowie Migräne, zunehmend aber auch Ess-Störungen. In manchen Familien nimmt das Essen auch für die Eltern einen sehr hohen Stellenwert ein. Dünn- oder Dicksein ist dabei oft ein wichtiges Beurteilungskriterium, die eigene Person und auch andere betreffend (Gerlinghoff et al. 1999, S. 37).

Garfinkel et al. (1983, zit. nach Diedrichsen 1990, S. 99 f.) weisen in Bezug auf die Familiendynamik von Anorektiker/innen auf die Bedeutung folgender Faktoren hin: Für die Autoren zeichnen sich Anorektikerfamilien insbesondere durch Konfliktvermeidung und mangelnde Konfliktbegrenzung aus. In einigen Familien herrscht eine allgemeine Harmoniebedürftigkeit vor und Konflikte werden nicht eingestanden. In anderen betroffenen Familien ist wiederum zu beobachten, dass Eltern bei der Lösung ihrer Konflikte die Kinder mit einbeziehen und diese letztlich damit überfordert sind. Darüber hinaus ist ein starkes Kontrollverhalten meistens von Seiten der Mütter zu beobachten, das sich in Einmischung und Überbehütung ausdrückt. Die betroffenen Personen haben oft wenig Chance nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Die Autoren sprechen auch von mangelnder Abgrenzung der Generationen innerhalb der Familien, in denen zum Teil die Großeltern bzw. insbesondere die Großmutter eine dominante Rolle innehaben und wo somit unterschiedliche Werthaltungen gelebt werden, die zu einer Verunsicherung der jüngsten Familiengeneration führen können. Sind die Werthaltungen der Eltern- und Großelterngeneration unterschiedlich, werden diese von der jüngsten Generation als ambivalent erlebt; sind die Werthaltungen dieselben, werden sie als noch massiver und einengender erlebt.

Die Eltern haben Angst vor Veränderungen und neigen zu Starrheit und Intoleranz gegenüber Veränderungsversuchen. Durch die Überbetonung von Leistung und Funktionalität entwickelt sich kaum Genussfähigkeit. Bei den meisten Anorektiker/innen ist eine ambivalente bzw. abwehrende Einstellung zur Sexualität vorhanden (vgl. Diedrichsen 1990, S. 99 ff.).

Selvini-Palazzoli (1998, S. 97) meint zum Thema "Magersucht und Sexualität", dass die Pubertät und die plötzliche, überwältigende körperliche Entwicklung das Gleichgewicht der anorektischen Person stören könnten. Die emotionale Abwesenheit des Vaters führt zu einer Beeinträchtigung des Übergangs von der dyadischen Mutter-Kind-Beziehung zur triadischen Beziehung und behindert dadurch ein entwicklungspsychologischen Normen entsprechendes Wachstum.

3.3.3 Soziokulturelle Voraussetzungen

Essstörungen unterliegen dem starken soziokulturellen Einfluss des Schlankheitsideals, welches als Weg zum Glück und zu einem erfolgreichen Leben angepriesen wird. Junge Mädchen und Frauen versuchen mit Hilfe von Diäten, meist in Mode-Zeitschriften beschrieben, die, wie bereits erwähnt, zur vielfach favorisierten Lektüre geworden sind, ihrem Traumgewicht und - damit verbunden - den Zielen von Attraktivität und mehr Selbstbewusstsein näher zu kommen.

"Das Streben nach Schlankheit nimmt inzwischen irreale und zerstörerische Ausmaße an" (Gerlinghoff, Backmund 2004, S. 34).

Sehr bedenklich ist es auch, dass die Mädchen, die sich einer Diät unterziehen, um sich dem gängigen Schönheitsideal anzupassen, immer jünger werden.

Aus der Veränderung der Geschlechterrollen ergeben sich große und zum Teil unerfüllbare Erwartungen. Die "ideale" Frau sieht sich einem zunehmenden Druck ausgesetzt. Sie sollte als berufstätige Frau, als Hausfrau und Mutter sowie als Partnerin erfolgreich sein. Diese zum Teil sehr widersprüchlichen Erwartungen der modernen Industriegesellschaft können zu erheblichen Konflikten führen. Da viele junge Menschen die psychischen bzw. körperlichen Veränderungen der Pubertät auch als existentiell verunsichernd empfinden können, stehen Fragen nach der eigenen Identität in dieser Lebensphase häufig im Zentrum. Sie bleiben jedoch oft weitestgehend unbeantwortet und führen in weiterer Folge zu krisenhaften Situationen, für die zielführende Bewältigungsstrategien meist fehlen.

In der Pubertät wird es notwendig, dass der junge Mensch sich mit seiner Geschlechtsrolle identifiziert. Bei Anorektiker/innen ist zu beobachten, dass diese Identifizierung bruchstückhaft bzw. gar nicht erfolgt.

Die Verweigerung der Übernahme der Geschlechtsrolle hat sehr oft auch mit einem negativen Frauenbild zu tun, das die jungen Mädchen durch die Beobachtung der eigenen Mutter internalisiert haben. Die jungen Frauen nehmen bei ihren Müttern eine dienende Haltung und einen Mangel an Selbstverwirklichung wahr, Haltungen die sie für ihr eigenes Leben nicht wollen. Hungern kann als Versuch interpretiert werden diesem Leben Widerstand zu leisten (vgl. Diedrichsen 1990, S. 95).

Es fehlt darüber hinaus die positive Identifikationsmöglichkeit mit der Mutter, was sich in einer mangelhaften Bewältigung der Geschlechtsrolle zeigt.

Nach der Beschreibung der möglichen Faktoren, die anorektisches Essverhalten begünstigen können, sollen nun die Kennzeichen eines abnormen Essverhaltens beschrieben werden.

3.4 Merkmale anorektischen Essverhaltens

"Kauen und Schlucken. Für mich war es das Schwerste. Es bedeutete das Eingeständnis meiner Niederlage."

Herbst 2002, S. 26

Die täglichen Mahlzeiten zu uns zu nehmen ist eines der Grundbedürfnisse der Menschen und auch eng mit Gefühlsregungen und sozialen Beziehungen verbunden. Die Nahrungsaufnahme kann sinnlichen Genuss bedeuten und Wohlgefühl hervorrufen (vgl. Reich et al. 2004, S. 12).

Sehr deutlich zeigt sich dieses Phänomen bei Säuglingen. Die Aufnahme von Nahrung stellt für sie eine Quelle der Sättigung und gleichzeitig aber auch eine Quelle der Fürsorge dar.

Auch wenn bei ihnen das Vermögen zur Unterscheidung von Bedürfnissen gut entwickelt ist, kennen die meisten erwachsenen Menschen ebenfalls bestimmte Situationen, in denen Essen und auch Nicht-Essen sehr eng mit verschiedenen Gefühlszuständen verbunden sein können. Spannungen können z. B. "auf den Magen schlagen". Auch Langeweile, Unlust oder Frustration können Gefühle sein, die uns dazu veranlassen zu essen.

Wenn Probleme behoben und Spannungszustände abgebaut sind, kehren gesunde Menschen wieder zu einem normalen Essverhalten zurück; allerdings gibt es inzwischen eine Vielzahl von Menschen, bei denen aus Problemen und Kummer ein gestörtes Essverhalten entsteht (vgl. ebd., S. 16).

3.4.1 Typologie anorektischen Essverhaltens

Das Essverhalten der Betroffenen ist angstbesetzt. Essen wird als Bedrohung oder Überforderung empfunden. Das Essverhalten ist zudem rigide, d. h. die Nahrungsaufnahme wird vorwiegend durch strikte Einteilung der Lebensmittel, durch Pläne, feste Zeiten und Einteilung in "erlaubte" und "verbotene" Speisen (Kalorienzahl) kontrolliert. Essen ist überwiegend außenorientiert. Auf körperliche Appetitsignale erfolgt keine angemessene Reaktion. Das Essverhalten wird durch äußere Bedingungen bestimmt (vgl. ebd., S. 13 ff.).

Es besteht eine Wahrnehmungsverzerrung in Bezug auf das eigene Körpergewicht. Die Patientinnen fühlen sich subjektiv dick, obwohl schon Untergewicht besteht. Es besteht keine Krankheitseinsicht bzw. wird das Körpergewicht absichtlich unter einem Minimum gehalten.

Menschen, die an Anorexia nervosa erkranken, haben erhebliche Schwierigkeiten, ein bestimmtes Körpergewicht zu halten, das mit Gesundheit-Sein vereinbar ist. Die Vorstellung zuzunehmen ist für den kranken Menschen stark angstbesetzt und somit dient das übermäßige Hungern auch immer wieder der Angstreduktion. Dabei hat er allerdings nicht unbedingt seinen Appetit verloren. Der Drang abzunehmen hat andere Gründe als der eines Menschen im "Hungerstreik", da jener mit dem Hungern aufhört, sobald sein Ziel erreicht ist (vgl. Treasure 2001, S. 17).

Für Menschen, die an Magersucht erkranken, wird das Abnehmen zu einer Lebensweise ohne absehbares Ende. Für viele von ihnen verläuft das Leben tragisch, und sehr oft leiden sie an mehreren Erkrankungen wie z. B. einer Angst- oder Panikerkrankung, einer Depression oder an selbstverletzendem Verhalten gekoppelt mit der Magersucht.

Es ist für einen gesunden Menschen schwer vorstellbar, dass Essen und moderate Gewichtszunahmen derart negativ behaftete Gefühle auslösen können.

Viele Menschen könnten Symptome wie körperliche Schmerzen, Stress, Unlust oder Konzentrationsprobleme, die das Hungern auslösen kann, gar nicht ertragen. Die Krankheit kann in verschiedener Weise auftreten, und sie wird gerade in unserer heutigen Zeit in sehr vielfältigen Ausprägungen wahrgenommen.

3.4.2 Zwei Fallbeispiele aus der Fachliteratur

Die folgenden Fallbeispiele sollen exemplarisch das Problem der Krankheit verdeutlichen.

3.4.2.1 Fallbeispiel 1

"Klara war das mittlere von drei Kindern und wurde zwischen zwei Brüdern geboren. Ihr älterer Bruder war ein sehr gescheiter und ernsthafter Junge, und Klara hatte das Gefühl, dass die Mutter all ihre akademischen Hoffnungen nur auf ihn setzte. Sie glaubte, dass die Mutter nur an Klaras körperlicher Attraktivität interessiert sei. Als Kind hatte die Mutter Bemerkungen über ihr Aussehen gemacht und ihr einmal gesagt, sie sei fett und esse zuviel. Klara machte es großen Spaß Sport zu treiben, jedoch wurde sie davon sehr hungrig, so dass sie den Sport schließlich aufgab und sich zunehmend aufs Abnehmen konzentrierte. Sie wusste, dass ihre Mutter sie liebte, konnte aber nicht verstehen, warum ihr das Aussehen ihrer Tochter wichtiger war als ihr Wohlbefinden. Klara glaubte daher, dass sie nur dann zufrieden, attraktiv und geliebt werden würde, wenn sie ihr Gewicht niedrig hielte; stattdessen fühlte sie sich jedoch immer müde, hungrig und war sehr leicht aus der Fassung zu bringen" (Treasure 2001, S. 17).

3.4.2.2 Fallbeispiel 2

"Paula wurde magersüchtig, nachdem sie mit 12 Jahren die Schule wechseln musste. Ihre Eltern legten großen Wert darauf, dass sie eine gute Ausbildung genoss, und so wurde sie in eine Schule mit gutem Ruf in die nächstliegende Stadt geschickt. Fast alle ihre Freunde besuchten aber die Schule vor Ort. Während Paula in kurzer Zeit an Gewicht verlor, kümmerten sich ihre Eltern sehr um ihre ältere Schwester, die Probleme mit einem gewalttätigen Freund hatte. Paula wurde ins Krankenhaus gebracht und drängte ihre Eltern, sie frühzeitig wieder heraus zu nehmen. Zuhause fiel es ihr schwer zu essen, und sie bekam regelmäßige Fressanfälle. Bei einer solchen Gelegenheit nahm sie eines Tages eine Überdosis Schmerzmittel, was zu starker Übelkeit und massivem Erbrechen führte. Danach schluckte sie regelmäßig sechs bis acht Schmerztabletten, wenn sie sich nicht genügend unter Kontrolle hatte: und die resultierende Übelkeit half ihr, den Fressanfällen zu widerstehen" (ebd., S. 21).

Bei vielen anorektischen Menschen ist Gewichtsverlust eine Folge von körperlicher Überaktivität und eingeschränkter Nahrungsaufnahme.

In Klaras Fall war die körperliche Aktivität, nämlich der Sport, ausschlaggebend dafür, dass sie sich mehr und mehr auf ihre Figur konzentrierte, das Essen kontrollierte und einschränkte und dafür den Sport aufgab, der sie eher zum "Zu viel Essen" verleitete.

Auch in Klaras Familie scheint ein hoher Leistungsanspruch zu herrschen, der primär jedoch mit dem Bruder in Verbindung zu bringen ist. Klara sollte ihrer Rolle als Frau gerecht werden und vorwiegend auf ihre körperliche Attraktivität achten. Sie könnte subjektiv das Gefühl gehabt haben von Seiten der Mutter nur auf das äußere Erscheinungsbild reduziert zu werden.

Interessant ist an diesem Fall auch, dass der Sport, der Klara anfangs noch Spaß machte, aufgeben wurde, nur um kein Hungergefühl zu bekommen.

Im zweiten Fall wird deutlich, zu welchen Maßnahmen Anorektiker/innen greifen, um Gewicht zu verlieren. Abführmittel und Appetithemmer werden eingenommen, die dem Körper über die Jahre erheblichen Schaden zufügen können.



[1] Nichteinsetzen oder Ausbleiben der Regelblutung (vgl. Duden, Fremdwörterbuch Bd. 5, 2005)

[2] Pepsin: Verdauungsenzym; eine so genannte Peptidase, die in den Mägen von Wirbeltieren für den Abbau von mit der Nahrung aufgenommenen Eiweißen zuständig ist (vgl. Wikipedia)

[3] Psyche: aus griech. psyche: Hauch, Atem, Seele (vgl. Duden, Fremdwörterbuch Bd. 5, 2005) Asthenie: aus griech. asthénaia: kraftlos, schwach, Kraftlosigkeit (vgl. ebd.)

[4] aus griech. hypóphysis: Nachwuchs, Sprössling, Hirnanhang[sdrüse] (Anat.) (vgl. ebd.)

[5] aus griech. kachexía: schlechter Zustand, bes. des Körpers (Med.): mit allgemeiner Schwäche (vgl. Duden, Fremdwörterbuch Bd. 5, 2005), Auszehrung des Körpers

[6] Aussage einer Klientin von Frau Dr. Gerlinghoff (vgl. Gerlinghoff et al. 1999, S 37)

4 Stellenwert der Anorexia nervosa im medizinischen Kontext

4.1 Epidemiologische Daten

Nach bisherigen Forschungsergebnissen tritt die Magersucht fast ausschließlich in industriell und kulturell höher entwickelten Ländern bzw. tritt sie gehäuft in der oberen Mittel- und Oberschicht auf. Daher stammen auch die meisten Untersuchungen und Falldarstellungen aus Westeuropa und den USA.

In die Literatur zum Thema Essstörungen blickend, ist zu bemerken, dass immer wieder von der Gefährlichkeit dieser Störung ausgegangen wird. Richter (2006, S. 37) erwähnt ein kontinuierliches Ansteigen der Zahl von betroffenen Menschen.

Bei Krüger et al. (2001, S. 24) liegt die Prävelenz für anorektische Erkrankungen bei ca. 5 % im Alter zwischen 14 und 35 Jahren, und sie tritt zu 95 % bei weiblichen Personen auf. Löwe et al. (2004, S. 16) sprechen von 90 % weiblicher Betroffener. Laut Jacobi et al. (2004, S. 10) liegt der Prozentsatz für Anorexie-Erkrankungen des weiblichen Geschlechts zwischen 0,2 % und 0,8 %. In überwiegendem Maße ist in der Literatur davon zu lesen, dass - bezogen auf die Gesamtheit aller an Anorexie Erkrankten - 90 % bis 95 % weiblichen Geschlechts sind. Nach der Altersverteilung wird die Entstehung der Anorexie überwiegend in einem Alter zwischen 14 bis 18 Jahren beobachtet, zwei bis drei Jahre früher als bei der Bulimia nervosa. Frühere und spätere bzw. deutlich spätere Ersterkrankungen werden als Seltenheit betrachtet (vgl. Richter 2006, S. 38).

Allerdings verweisen trotz alledem verschiedene Autoren auch auf eine Zunahme der Anorexia nervosa im Alter von 10 bis 14 und 15 bis 25 Jahren (vgl. Jacobi et al. 2004, S. 11). Aus diesen hier angeführten Zahlen, die nur einige von mittlerweile sehr vielen Angaben darstellen, ergibt sich das Gesamtbild einer undifferenzierten Datenlage, die nur derzeitige Tendenzen aufzeigen sollen. In der Literatur und in den Medien wird immer wieder von einem drastischen Anstieg der Anorexia nervosa berichtet. Kliniker beobachten, dass die Behandlungsfälle der an Magersucht erkrankten Menschen zugenommen haben. "Ein real starker Anstieg kann jedoch trotzdem in Frage gestellt werden; dafür sprechen Argumente wie z. B., dass nun betroffene Menschen, die früher unter der Anorexia nervosa eingeordnet waren, dem neuen Störungstyp Bulimia nervosa zugerechnet werden; dass Spezialkliniken bzw. Spezialprogramme eingerichtet und damit zum gezielten Anlaufpunkt für betroffene Menschen wurden; dass eine wachsende Sensibilität in der Bevölkerung wie im professionellen Bereich entstand" (Richter 2006, S. 38f). Im Gegensatz dazu zeigen wieder andere Studien, dass zumindest die Inanspruchnahme therapeutischer Angebote bei Anorexia nervosa seit 1930 eher konstant geblieben ist (vgl. Habermas 2000, S. 13).

Aufgrund der sehr unterschiedlichen Aussagen und Forschungsergebnisse vor allem in Bezug auf die Häufigkeit und die Altersgrenzen der an Magersucht erkrankten Menschen ergibt sich demnach bezüglich dieser Zahlen der Anorexie-Fälle ein recht unklares Bild; trotzdem überwiegen die Angaben über eine Zunahme an betroffenen Menschen.

Es existieren durchaus deutliche Aussagen darüber, dass insgesamt die Zahl der Anorexie-Erkrankungen im Ansteigen begriffen ist. In den Salzburger Nachrichten greift Damberger (2003-05-06, Sonderbeilage/Schönheit) auf eine Studie des österreichischen Gesundheitsministeriums zurück, die von etwa 2500 magersüchtigen Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren spricht und von 5000 weiteren Gefährdeten.

Weiters schreibt ebd. in den schon oben angeführten SN, dass nach einer Behandlung - oft handelt es sich hierbei um eine Gesprächstherapie - sich bei etwa 30 % der Patientinnen eine vollständige Besserung zeigt. Bei 35 % lässt sich eine Gewichtszunahme feststellen, obwohl das Normalgewicht nicht erreicht wird. Die verzerrte Wahrnehmung der eigenen Figur bleibt meistens auch bei den geheilten Patientinnen bestehen. Bei 25 % der Betroffenen wird die Anorexie chronisch. 10 % der anorektischen Menschen sterben.

Die Mortalitätsrate liegt bei mittlerer Krankheitsdauer, dies wären 5 bis 8 Jahre, unter 5 %. Sie steigt aber mit zunehmender Krankheitsdauer; nach etwa 20 Jahren ca. auf 15 % (vgl. http://www.ess-stoerung.at/html/1b_magersucht.htm, Stand: 2006-05-06).

Gerlinghoff et al. (1999, S. 166f) schreiben, dass die Mortalitätsrate bei Anoretiker/innen in verschiedenen Übersichten in einer großen Schwankungsbreite von 0 bis 25 % angeführt wird, allerdings nach den neuesten Ergebnissen die Sterblichkeitsrate bei zirka 5 % liegt. Ein kachektischer Zustand führt dann zum Tod, wenn eine Lungenentzündung oder Nierenversagen als Komplikationen hinzukommen.

Bereits Bruch (1973, S. 252) hat erkannt, dass ein extremes Untergewicht nicht zwangsläufig mit einer akuten Lebensbedrohung verbunden sein muss, d. h. nicht so sehr die Auszehrung allein das Leben bedroht. Vielmehr ist das Leben anorektischer Menschen dann dem Tod nahe, wenn der Elektrolythaushalt, vor allem durch Abführmittelmissbrauch und Erbrechen, gestört ist.

4.2 Klinisch-psychiatrische Erklärungsmodelle im Bereich der Anorexie

In der Fachliteratur gibt es unterschiedliche Modelle zur Erklärung der Ursachen von Anorexia nervosa. Ein universeller Ansatz zur Erklärung dieser Krankheit existiert nicht; vielmehr scheinen somatische, psychologische und soziale Faktoren als Ursachenbündel eine Rolle zu spielen. In der Literatur finden wir allgemein akzeptierte und untersuchte Erklärungsmodelle dieser Erkrankung. Im Folgenden sollen zwei sehr bedeutende Ansätze näher beschrieben werden.

4.2.1 Systemisch orientiertes Erklärungsmodell

Das familiendynamische Modell betrachtet das System Familie als Ganzes und untersucht die Interaktionen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Die an Anorexie erkrankten Menschen werden in "Forschungsarbeiten" nicht isoliert betrachtet, sondern im Familienkontext, d. h. man untersucht z. B. die Beziehung des Klienten zu seinen Eltern oder auch Großeltern.

Anorexie-Erkrankungen treten gehäuft in Familien mit starken Bindungen auf, in denen ein großes Harmoniebestreben herrscht. In diesem System haben magersüchtige Familienmitglieder als Symptomträger eine wichtige Funktion.

"Die Krankheit kann zur Aufrechterhaltung des Familienzusammenhaltes sowie der Ableitung von Spannungen und Konflikten dienen. Die Anforderungen an die Familienmitglieder sind in solchen Familien in der Regel sehr hoch" (http://www.magersucht.de/krankheit/familiendynamik.php, Stand: 2006-05-08).

In betroffenen Familien ist es immer von großer Bedeutung, was die Nachbarn denken und sagen. Die Normen der Umgebung werden Gesetz. Sind die Normen Sparsamkeit, Verzicht, Tüchtigkeit und Unauffälligkeit, werden diese auch in der Familie übernommen. Vor allem Pflichtbewusstsein und Strebsamkeit stehen an erster Stelle. Die Mitglieder entsprechender Familien werden in ihrem sozialen Umfeld oft als sehr fleißige Menschen betrachtet. Sie fallen bis zur Phase der Pubertät in der Schule häufig durch gute Leistungen im Sport und im allgemeinen Unterricht auf. Sie sind leistungsorientiert, meist eher unauffällig und sozial sehr angepasst. Für die Eltern ist es von großer Wichtigkeit, alle ihre Kinder gleich zu behandeln. Allerdings ist jede Beziehung eine individuelle und deshalb kann es auch in einer Familie keine absolute Gleichbehandlung geben. Kinder können nicht normiert werden. Jedes Familienmitglied hat seine eigenen Ansprüche, Vorlieben und Wünsche. Durch diese Uniformität der Behandlung wird oft das Individuelle des Kindes nicht wahrgenommen und für die betroffenen Kinder ist es vielfach nicht möglich das "Eigene" zu leben. Die Krankheit kann somit als "Aufmerksamkeitsschrei" oder als Flucht vor ungelebtem Leben gesehen werden.

In Krisensituationen wird kein Versuch der Weiterentwicklung bzw. Veränderung der Situation unternommen, vielmehr halten die Familienmitglieder an starren und alten Kommunikations- und Interaktionsmustern fest. Wichtige Voraussetzung für "gesunde", ungestörte Interaktionen in der Familie ist vor allem eine deutliche Abgrenzung der Teilsysteme einer Familie, wie Eltern, Kinder und Großeltern (vgl. Diedrichsen 1990, S. 99).

In "Magersuchtsfamilien" liegt die Bedeutung der Verlustthematik tendenziell häufiger im negativen Bereich. Diese Trennungs- und Verlustängste wandeln sich in den Familien rasch in Sorge, zu starke Fürsorge und ein erhöhtes Verantwortungsgefühl für den anderen. Diese Gefühle der Verantwortung beziehen sich häufig auf das körperliche Wohlbefinden, weniger auf die psychische Befindlichkeit.

4.2.2 Analytisch orientierte Ansätze

Für Bruch kann Nahrung ein Symbol für unmäßiges Verlangen nach Liebe oder auch Ausdruck von Hass und Wut sein, was letztlich immer gegen sich selbst gerichtet wird. Weiters sieht sie das Hungern als Ersatz für sexuelle Befriedigung bzw. als Ausdruck des Wunsches ein Mann zu sein. Sie geht davon aus, dass sich Betroffene, die sich mit Essen oder Nicht-Essen übermäßig beschäftigen, die Funktion der Nahrungsaufnahme als Scheinlösung für ihre Persönlichkeitsprobleme benutzen. Das Essen wird also zum "Medium" für die Lösung scheinbar unlösbarer Probleme, über die in der Familie nicht kommuniziert wird (vgl. Bruch 2004b, S. 65).

Nach ihrer Erfahrung sind zwei Merkmale zu beobachten, die zu schweren Essstörungen führen können. Einerseits die Unfähigkeit, Hunger und andere wichtige Körperempfindungen zu erkennen, andererseits ein fehlendes Bewusstsein, das eigene Leben zu leben und daraus resultierend ein Gefühl der Ineffektivität (vgl. ebd., S. 68).

So werden Anorektiker/innen immer wieder als angepasste Menschen beschrieben, die ihrer Umwelt die Wünsche praktisch schon von den Augen ablesen und im vorlaufenden Gehorsam agieren. Sie verlieren dadurch den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Wünschen. Sie haben nicht das Gefühl zu leben, sondern gelebt zu werden, folgsam das zu tun, was von ihnen erwartet wird, bis es ihnen zu viel wird.

Die Wurzeln einer Essstörung liegen in einer spezifischen Störung der Mutter-Kind-Beziehung. Bruch geht davon aus, dass Hunger kein angeborenes Wissen sei, sondern die Wahrnehmung und Kontrolle von Hunger gelernt werden müsse. Dieses Wissen findet in der frühen Mutter-Kind-Beziehung statt und bei Anorektiker/innen wurde dieser Lernprozess gestört. Die Mutter ist den Bedürfnissen des Kindes inadäquat begegnet und es entsteht ein verwirrendes Durcheinander in seinem konzeptuellen Bewusstsein und dementsprechend ist es nicht mehr in der Lage eigene Bedürfnisse zu identifizieren und danach zu handeln (vgl. ebd., S. 69).

Damit kann auch das Gefühl der Ineffektivität erklärt werden. Durch die Kontrolle des Essverhaltens entsteht ein Gefühl von Autonomie und Stärke, das dem Unzulänglichkeitsgefühl entgegen wirken soll. Im therapeutischen Prozess sollte die betroffene Person selbst aktiv werden, um sich zunehmend als selbst bestimmt und unabhängig zu erleben.

4.3 Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa

Bruch (1973, S. 87 ff.) erwähnt drei psychopathologische Veränderungen, die auch als Hauptsymptome psychogener Essstörungen interpretiert werden können: Störungen des Körperbildes (body-image), ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht und eine gestörte Wahrnehmung innerer Reize.

4.3.1 Anorexia nervosa nach dem DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)

  1. Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten (d. h. der Gewichtsverlust führt dauerhaft zu einem Körpergewicht von weniger als 85 % des zu erwartenden Gewichts bzw. bei Betroffenen in der Wachstumsperiode zu einem Körpergewicht von weniger als 85 % des zu erwartenden).

  2. Starke, ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts.

  3. Störungen im Erleben der eigenen Figur und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss der Figur und des Körpergewichts auf die Selbstbewertung, Leugnung des Schweregrades des geringen Körpergewichts.

  4. Bei Mädchen und Frauen: Amenorrhoe, d. h. das Ausbleiben von mindestens drei aufeinander folgenden Menstruationszyklen (vgl. Saß et al. 2003, S. 651 f./American Psychological Association 1994).

Das DSM IV unterscheidet zwei Subtypen: den restriktiven und den Binge Eating/Purging-Typus (bulimischer Typ).

Der restriktive Typus zeigt in seinem Essverhalten keine regelmäßigen Fressanfälle und kein Purging-Verhalten, d. h. selbstinduziertes Erbrechen oder der Missbrauch von Abführmitteln und Diuretika[7] fehlen.

Der bulimische Typus kennzeichnet sich durch rigide Nahrungseinschränkung mit phasenweisen Fressanfällen und Purging-Verhalten (vgl. Pudel, Westenhöfer 1998, S. 220).

4.3.2 Anorexia nervosa nach dem ICD 10 (International Classification of Deseases)

  1. Das tatsächliche Körpergewicht liegt mindestens 15 % unter dem erwarteten Gewicht; befinden sich Betroffene in der Vorpubertät, kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.

  2. Der Gewichtsverlust wird selbst herbeigeführt durch

- selbst herbeigeführtes Erbrechen

- selbst induziertes Abführen

- übermäßige körperliche Aktivität

- Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika

- die Vermeidung von hochkalorischen Speisen

  1. Betroffene legen für sich selbst eine sehr niedrige Gewichtsschwelle fest, wobei die übermäßige Furcht zu dick zu werden als tief verwurzelte überwertige Idee besteht.

  2. Es besteht eine umfassende endokrine Störung, welche sich bei Mädchen und Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- und Potenzverlust zeigt.

  3. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät tritt eine Verzögerung oder Hemmung in der Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte auf (bei Mädchen fehlende Brustentwicklung, Wachstumsstopp und primäre Amenorrhoe, bei Buben bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung oft normal abgeschlossen, die Menarche tritt allerdings verspätet ein (vgl. Dilling et al. 2004, S. 135/WHO 1993).

Es erwies sich als überraschend schwierig, allgemein gültige diagnostische Kriterien für die Anorexia nervosa zu benennen. Die vielen möglichen Ursachen der Erkrankung sind bislang noch nicht eindeutig erkannt, deshalb erfolgt die Zuordnung lediglich aufgrund von Syndromen (vgl. Gorzewski 1997, S. 6). Es handelt sich hier um eine Übereinkunft, die aufgrund immer wieder aktualisierter Daten zu verbessern und erneuern sein wird.

Es bedarf im Bereich der Anorexia nervosa immer einer umfassenden psychopathologischen Befunderhebung, um andere psychiatrische Erkrankungen auszuschließen; z. B. können Gewichtsverluste auch einhergehen mit anderen medizinischen Krankheitsfaktoren wie Hirntumoren oder gastrointestinalen Erkrankungen. Bei einer Major Depression, bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen, nach Belastungssituationen und auch bei Psychosen werden Gewichtsverluste beobachtet, allerdings fehlen hier immer die Angst vor einer Gewichtszunahme bzw. Körperwahrnehmungsstörungen, wie sie bei der Anorexia nervosa festgestellt sind (vgl. Jacobi et al. 2000, S. 18).

Das Essen von auch nur wenig Nahrung wird als eigenes Versagen und als Schwäche des Körpers empfunden. Die verzerrte Wahrnehmung des Körpers lässt diesen nach der Aufnahme von Nahrung als unangenehm "aufgeblasen" erscheinen. Das Fleisch wird als das Unzuverlässige, Schwache erlebt. Innere Gefühle werden als bedrohlich empfunden und erzeugen panische Ängste. Die Knochen hingegen erscheinen stabil und stark. Die Härte und Kantigkeit des knochigen Körpers wird als Schutz vor Auflösung, d. h. vor Versagen und Aufgeben in Hinblick auf das gezügelte Essen erlebt.

4.4 Literarischer Blick auf die Anorexie am Beispiel des "Hungerkünstlers"

Die einschlägige Fachliteratur aus der Hand von Klinikern, Internisten, Psychologen, und Psychotherapeuten liefert uns, wie gezeigt, eine Fülle von Material und Erklärungen zum Phänomen der Anorexia nervosa. Man sollte aber nicht vergessen, dass auch in der so genannten Literatur-Literatur bemerkenswerte Aussagen zum Thema zu finden sind, etwa bei Amélie Nothomb oder Jessica Durlacher, in deren Romanen immer wieder Aussagen zur Anorexie zu finden sind.

Eines der interessantesten literarischen Dokumente hat uns allerdings Franz Kafka in seiner Erzählung "Ein Hungerkünstler" hinterlassen, die einerseits als große Metapher von der Bestimmung und kompromisslosen Hingabe einer künstlerischen Existenz gelesen werden kann, und andererseits aber auch in unserem Sinnzusammenhang eine der differenziertesten Einsichten in die psycho-physischen Befindlichkeiten eines Hungernden gewährt und mithin die Tiefenstrukturen eines Anorektikers auslotet. Wenngleich - und darauf muss explizit hingewiesen werden - "Ein Hungerkünstler" vom Autor zu keinem Zeitpunkt als Studie einer Anorexia nervosa angelegt war, von der, wir wissen es nicht, Kafka gar keine Kenntnis gehabt haben mag. Aber Kunst ist vieldimensionaler und blickt vielfach tiefer als manch fachspezifischer Text.

Und so wird auch in der Fachwelt Kafkas Text immer wieder herangezogen zur Erklärung des Phänomens des anorektischen Hungerns.

"Er (Kafka) hat das Bild der Magersucht treffend erfasst, auch wenn es sich hier, ganz untypisch offensichtlich um einen Mann handelt" (Senf/von Schlippe 2004, S. 1).

"Wie alle großen Schriftsteller ‚weiß' auch Kafka eine Menge von der inneren Welt des Menschen und ihren unbewussten Konflikten. In seinem Hungerkünstler zeigt er sein intuitives Verständnis des Hungerns als Symptom" (Jongbloed-Schurig 2006, S. 410).

Zunächst schreibt Kafka, dass das allgemeine Interesse an den auf Jahrmärkten gewissermaßen als Kuriosität zur Schau gestellten Hungerkünstlern, die vor Augen der Öffentlichkeit in einem Käfig vierzig Tage lang hungern mussten, mit der Zeit deutlich nachgelassen habe. Schließlich beschreibt er dann die Situation eines Hungerkünstlers, der sich von einem Zirkus engagieren lässt, wo sein Käfig in der Nähe der Ställe untergebracht ist, damit das Publikum die Tiere und gleichzeitig den Hungerkünstler bewundern kann. Nach einiger Zeit verliert sich jedoch die Begeisterung für den Hungerkünstler, und er gerät bald in Vergessenheit.

"Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen. Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.

‚Du hungerst noch immer?' fragte der Aufseher, ‚wann wirst du denn endlich aufhören?' ‚Verzeiht mir alle', flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. ‚Gewiss', sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, ‚wir verzeihen dir.' ‚Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert', sagte der Hungerkünstler. ‚Wir bewundern es auch', sagte der Aufseher entgegenkommend. ‚Ihr sollt es aber nicht bewundern', sagte der Hungerkünstler. ‚Nun, dann bewundern wir es also nicht', sagte der Aufseher, ‚warum sollen wir es denn nicht bewundern?' ‚Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders', sagte der Hungerkünstler. ‚Da sieh mal einer'; sagte der Aufseher, ‚warum kannst du denn nicht anders?' ‚Weil ich', sagte der Hungerkünstler [...], ‚weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich voll gegessen wie du und alle.' Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungere" (Kafka 2006, S. 29 ff.).

Der Hungerkünstler hungert, weil er nicht die Speise finden kann, die ihm schmeckt. "Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich voll gegessen wie du und alle" (s. o./Kafka 2006, S. 31).

Die Worte des Hungerkünstlers erfassen präzise das Unvermögen vieler Anorektiker/innen, ihrer Situation anders zu begegnen als mit Hungern. Es erscheint ihnen die Nahrungsverweigerung als die einzige Möglichkeit, auf persönliche Probleme zu reagieren bzw. auf sie hinzuweisen. In dieser ausweglos erscheinenden Lebenssituation kann das Hungern sogar zur "einfachsten Sache der Welt" werden (vgl. Jacobi 2000, S. 4 f.).

Der Hungerkünstler findet keinen Ausweg aus seinem Käfig. Bruch (2004a, S. 41 f.) schreibt im Zusammenhang mit der Lebenssituation magersüchtiger Menschen von einem "goldenen Käfig". Sie skizziert sehr passend die eingeschränkte Lebensfreude und die innere Unfreiheit der betroffenen Personen.

Das immer brüchiger werdende Selbstwertgefühl und die steigende Leistungsorientierung schränken soziale Kontakte ein und führen langsam zur Isolation (vgl. Jacobi 2000, S. 35) bzw. in den goldenen Käfig.

In einer Psychotherapie werden anorektische Menschen ermutigt, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, und gemeinsam mit dem Therapeuten sollte versucht werden, Wege aus dem "goldenen Käfig" zu finden.

Die psychische Verfassung magersüchtiger Menschen ist im oben angeführten Beispiel von Kafka mithin treffend und bildhaft beschrieben.

Da die Familienstruktur und Wertesysteme einen erheblichen Einfluss auf die Krankheit haben, scheint es nun äußerst sinnvoll zu sein, diese zusammenfassend präzise zu erläutern, indem die anorektische Person und die Eltern herausgegriffen und beschrieben werden.



[7] harntreibende Mittel, bei Missbrauch erfolgt Austrocknung des Körpers

5 Für Anorexia nervosa auffällige Familienstrukturen und Wertesysteme

5.1 Das Bild der betroffenen Person

"Nur wenn ich ein Strich bin, kann ich sein."

Jongbloed-Schurig 2006, S. 365

Dieser Satz scheint paradox zu sein, ist jedoch für das Phänomen der Magersucht typisch. "Gilt der Körper gemeinhin als existentielle Voraussetzung des Seins, erstrebt das magersüchtige Subjekt eine Entkörperung, eine Strichexistenz, um sein zu können" (ebd., S. 365).

Die betroffene Person hat das Ziel, ein Gefühl der Körperlosigkeit zu schaffen, ein körperloses Existenzgefühl. Der magersüchtige Mensch versucht, was eigentlich paradox scheint: sich zu Tode zu hungern, um sein zu können.

Man könnte auch sagen, dass er ist, wenn er nicht isst; wenn er isst, ist er nicht (vgl. ebd., S. 366).

Der Anorektiker braucht die Empfindung eines körperlosen Daseins, was auch oft als Regression zum Ursprung unserer psychischen Existenz verstanden wird. Béla Grunberger, einer der international bedeutendsten Psychoanalytiker, bezeichnet dies auch als tiefste narzisstische Regression. "Als Regression zum Ursprung unserer psychischen Existenz: der pränatalen Koenästhesie[8]" (Kaminer 1998, in: Bohleber 1999, S. 112).

Das Hungern tritt dabei vollkommen in den Mittelpunkt. Mittels des Hungerns tritt der Anorektiker sozusagen heraus aus seinem Körper und erreicht das angestrebte Gefühl einer körperlosen Existenz. Es entstehen zwei unterschiedliche kulturelle Muster. Die christliche Idee der Erlösung und Auferstehung durch Leid und der Hungerstreik als letztes Mittel des Widerstands (vgl. Jongbloed-Schurig 2006, S. 366).

Normalerweise würde man sagen, dass jemand, der an Anorexie erkrankt, einen Mangelzustand erlebt bzw. dieser Mangel, um zu gesunden, behoben werden müsste. Allerdings erlebt die anorektische Person ihren chronisch-körperlichen Mangelzustand nicht als Defizit, sondern vielmehr als Erfüllung. "Sie verwandelt den Mangel in Fülle und das Leiden in Genuss" (ebd., S. 366).

Die anorektische Person wirkt in ihrem Dasein und Handeln überaus stark, es scheint, als würde sie sich selbst genügen und niemanden anderen brauchen. "Sie entwickelt ein Kein-Zutritt-Abwehrsystem" (Williams 2003, zit. nach Jongbloed-Schurig 2006, S. 367). Niemand soll sich ihr nähern und sich lieber außerhalb ihrer Welt aufhalten. Wichtig ist, eine völlige Kontrolle über alle Triebregungen zu schaffen, Affekte zu beherrschen und eine Unterwerfung des Körpers. "Voller Verachtung schaut sie auf ihren Körper, dem sie jede Triebregung austreiben will" (ebd., S. 367).

Durch all diese Muster: Erlösung durch Leid, Hungern als Widerstand, Kontrolle über alles menschliche Dasein in ihr, scheint die anorektische Person über eine außergewöhnliche Willenskraft zu verfügen, sie scheint besonders stark. Eigenschaften, die sie letztendlich doch wieder nur schwach und krank machen und zu zerstören drohen.

Die starke Kontrolle der eigenen Triebe ist eigentlich typisch für eine spirituelle Selbstlosigkeit und den Puritanismus, den viele Betroffene ausleben. Das beinhaltet ebenso den Glauben, dass jede Schwierigkeit im Leben durch harte Arbeit gelöst werden kann und dass es moralisch wertvoll sei, die Natur des Menschen - in diesem Fall die Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen - zu überwinden (vgl. Treasure 2001, S. 33).

Es ist fast so, als ob dieser Drang zu Perfektion und das Streben nach einer Art Übermenschlichkeit, egal ob es sich um schulische Erfolge, sportlichen Ehrgeiz oder einen übermäßigen Ordnungssinn handelt, die eigene selbstkritische Stimme beschwichtigen möchte. Aus diesem Grund erzeugt der Perfektionismus auch keine besonderen Lustgefühle, sondern schützt vor Schmerz und Leid und ist im Grunde Ausdruck eines geringen Selbstwerts.

Das Kind einer "Anorektikerfamilie" muss meist den Erwartungen entsprechen, die man an ein "wohlerzogenes", angepasstes Kind stellt (vgl. Gerlinghoff et al. 1999, S. 35).

Allerdings fehlt es dem Kind manchmal so sehr an einem gesunden Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, dass es sich deshalb "hilflos" an einem Vorbild orientiert. Die Selbstbestimmung geht dabei unter; man könnte viel eher von einer Fremdbestimmung sprechen oder einem gesellschaftlichen Imperativ, nach dem es heißen könnte: "Ich muss so sein wie...". Dies könnte man als eine Flucht vor dem und als eine Abwehr des eigenen Selbst verstehen.

Ausschlaggebend ist, dass an Anorexie erkrankte Menschen sehr unter ihrem geringen Selbstwertgefühl leiden und einen immensen Selbsthass verspüren. Dieser Hass gegen den eigenen Körper, gegen die eigene Person geht so weit, dass sich die Betroffenen bestrafen, indem sie hungern, dünn und nichtig werden. Dieses Fasten, dieses Buße-Tun gibt ihnen die Stärke und Härte zurück, die sie benötigen, um in ihrem Leid zu überleben. Sie bekommen eine Art Kontrolle über den eigenen Körper und wollen sich und anderen Familienmitgliedern, meist den Eltern, beweisen, dass sie zu etwas in der Lage sind, nämlich zu hungern, was möglicherweise gerade den anderen in der Familie schwer fällt. "Nichtessen aber war meine Stärke allein, und niemand konnte sie mir rauben" (ebd., S. 80)

5.2 Mutter und Vater

Den Eltern ist es zentral wichtig, ein - zumindest nach außen hin - harmonisches Familienleben zu führen. Dazu gehören ein schön gepflegtes Haus, ein Vater, der arbeiten geht und das Geld verdient, eine Mutter, die gut kocht, und eine Mahlzeit, die alle, glücklich rund um den Tisch sitzend, zu sich nehmen und die allen gut schmeckt (Toifl 2004, S. 101).

Würde man in einer solchen Familie mit am Tisch sitzen, würde man sich wohl fühlen und die Familie wahrscheinlich um ihr harmonisches Zusammenleben beneiden. Blickte man tiefer in das Leben der Familie erkennte man erst, dass es nicht so harmonisch ist, wie es scheint.

Der Vater spielt - ob anwesend oder fehlend - eine zentrale Rolle im Familiensystem bzw. in der Lebensgeschichte der anorektischen Person. In "Magersuchtsfamilien" verkörpert der Vater meist ein sehr strenges, normatives Wertesystem, dem das betroffene Familienmitglied zu entkommen versucht. Die betroffene Person findet zu ihm keine Nähe, obwohl er in der Familienkonstellation für diese sehr wichtig ist. Der Vater wird als wenig kommunikativ und als emotional nicht erreichbar beschrieben (vgl. Richter 2006, S. 53). Meist ist in der zum Thema sprechenden Literatur vom dominanten, autoritären bis hin zu einem labilen, "weichen" Vater zu lesen.

Der leistungsorientierte, karrierebewusste Vater erwartet von seiner Familie, dass sie funktioniert, zumindest nach außen. Seine Frau hat darauf zu achten, dass er von Alltagsproblemen, Kinderkram und Behelligungen durch die Verwandtschaft verschont bleibt (vgl. Gerlinghoff et al. 1999, S. 38).

"Das Verhältnis meines Vaters zu uns Kindern ist sehr entfernt. Er beteiligt sich nicht an der Erziehung und weiß kaum über uns Bescheid. Er zeigt wenig Interesse; Probleme und ernstere Schwierigkeiten erreichen ihn erst, wenn sie massiv sind, und dann reagiert er gereizt und weist die Schuld meiner Mutter zu" (ebd., S. 39).

Den Vater stört es kaum, dass die Ehefrau auf die eigene Berufskarriere verzichtet hat, um ihre Kinder zu gebären und sie schließlich aufzuziehen. Schlussendlich ist dies die natürlichste und vornehmste Aufgabe einer Frau.

"Es drängt sich der Eindruck auf, daß für die Väter von Anorektiker/innen und ihre Frauen die Zeit stehen geblieben ist. Sie halten an Konventionen und Traditionen fest und stellen sich nicht dem Wandel und den Anforderungen der Zeit, in der sie leben, aus Angst vor Veränderungen und damit aus Angst vor Unsicherheiten. Erst ihre Tochter begehrt irgendwann auf in der Magersucht. Sie rebelliert gegen die traditionelle Frauenrolle und weigert sich, die Rolle, die ihre Mutter ihr vorlebt, anzunehmen" (ebd., S. 41).

Fast immer überlassen diese Väter die Erziehung den Müttern, trotzdem erwarten sie von ihren Kindern tadelloses Aussehen, anständiges Benehmen und ausgezeichnete Leistungen. Und diese Erwartungen werden, dem Vater zufolge, an die Kinder mit Recht gestellt, da sie alle finanziellen Zuwendungen von ihm erhalten (vgl. ebd., S. 40). "Mein Vater erzählt selten etwas, und wenn, dann nur etwas aus der Vergangenheit, und zwar nur, wie schwer er es in der Kindheit und Jugend gehabt hat im Gegensatz zu uns; [...] Ängste und Schmerzen zählten nicht, immer nur Mut, Stärke, Durchhalten und Siegen" (ebd., S. 40).

Dass sich in vielen dieser Kinder Minderwertigkeitsgefühle und Gefühle von Schuld entwickeln, ist gut nachvollziehbar.

Viele Mütter von Anorektiker/innen zeigen stark perfektionistische Züge. "Meine Mutter war für mich ein Vorbild an Ordnung, Sauberkeit, Pflichterfüllung und Korrektheit. Ihre größte Angst und Sorge war, nicht so perfekt und makellos dazustehen, wie sie meinte, daß andere es von ihr erwarteten. [...] Nach außen wurde immer eitel Freude gespielt, auch wenn es nach innen gar nicht stimmte. [...] Sie kümmert sich perfekt um den Haushalt, ihre Mutter, ihren Mann und ihre Kinder. Außerdem ist sie eine perfekte Gastgeberin. Sie sieht stets ordentlich und gepflegt aus und hat nie mit jemandem Streit. [...] Das einzige, was uns blieb, war, sie zu bedauern für ihre Aufopferung und dankbar zu sein" (ebd., S. 42 f.).

Die Kinder haben das Gefühl, ewig dankbar sein zu müssen für die Aufopferung der Mutter, was sicher auch in solchen Fällen nicht selten mit Gefühlen von Schuldig-Sein einhergeht. Sie fühlen sich schuldig, dass die Mutter sich ausschließlich um die Kinder und den Haushalt kümmert, dass der Vater das Geld verdient, mit dem er ihre Ausbildung finanziert. Somit haben die Kinder ewig das Gefühl, in der Schuld der Mütter bzw. der Eltern zu stehen.

Nach ebd. (S. 45) versucht die Mutter ihre Kinder so zu formen, wie sie glaubt, dass ihr Mann sie gerne haben möchte, um sie ihm schließlich erwartungsgemäß zu präsentieren. Fragen, die der Vater und andere an die Kinder richten, beantwortet vorsichtshalber die Mutter, weil sie das Gefühl hat besser ausdrücken zu können, was die Kinder meinten. Dabei geht es der Mutter nicht nur um die Kinder und deren Erfolge, sie will mit Hilfe dieser Verhaltensweisen auch von ihrem Mann und der Schwiegermutter anerkannt und akzeptiert werden.

"Das Selbstverständnis dieser Frauen basiert nicht auf ihrem Frausein, sondern auf ihrer Mutterrolle. Sie entsprechen damit zumindest nach außen den Konventionen und Traditionen, wie sie bis Mitte dieses Jahrhunderts allgemein galten und akzeptiert waren. Die seit den 60er Jahren zu beobachtende ständige Weiterentwicklung der Frauen zu mehr Eigenständigkeit und Selbstwertgefühl scheint spurlos an ihnen vorübergegangen zu sein. Nach einem zumindest nur kurzen Intermezzo im Berufsleben, kehren die meisten an den ‚Herd der Familie' zurück, [...]" (ebd., S. 44).

Die Mütter fühlen sich in der Rolle als Frau meist nicht sehr wohl, oder besser, sie fühlen sich in dieser Rolle nicht ganz zurecht. Empfindungen wie Körpergefühl und Sinnlichkeit fehlen oft. Schöne Kleider und jede Art von Luxus werden gemieden. Im Vordergrund stehen immer der Verstand und die Vernunft (vgl. ebd., S. 43).

Der Vater verdient das Geld und ernährt Frau und Kinder. Es scheint, als ordne sich die Frau ihrem Mann unter, zumindest nach außen. Innerhalb der Familie wird sie von den Kindern oft als die Managerin der Familie empfunden, und der Vater wird eher als sehr "fern" beschrieben.

Den Vater könnte man als den Zweitbesten in der Familie bezeichnen (Bruch 1992, zit. nach Gerlinghoff et al. 1999, S. 41). Nach Selvini-Palazzoli (1998, S. 55) seien Väter emotional nicht vorhanden.

Selvini-Palazzoli (1998, S. 56) stellt fest, dass magersüchtige Familienmitglieder oft der Besitz ihrer Mütter sind. Sie sind von ihnen abhängig und nicht in der Lage, anders zu fühlen oder zu denken als die Mutter, auch würden sie sich niemals gegen die Mutter durchzusetzen versuchen oder sich gegen sie stellen.

Die Mutter nimmt in der Familie eine Rolle ein, die es Betroffenen äußerst schwierig macht unabhängig zu werden, anders zu denken oder sich gegen sie, die Herrin im Hause bzw. im Haushalt, zu stellen (vgl. Gerlinghoff et al. 1999, S. 46).

Die Großeltern, also diejenigen, die während des dritten Reichs lebten und den zweiten Weltkrieg meist bereits als erwachsene Personen miterlebten, spielen in Bezug auf die Erziehung und die Wertehaltungen ebenfalls eine große Rolle.

Minuchin und Fishman (1983, S. 91 ff.) waren es, die auf die Notwendigkeit einer klaren hierarchischen Organisation mit eindeutigen, allerdings nicht undurchlässigen Generationsgrenzen in einer funktionalen Familie hinwiesen. Im Gegensatz dazu lässt sich in dysfunktionalen Familien häufig eine Verwischung der Generationsgrenzen und der Hierarchie feststellen.

Auf die heutige Zeit bezogen erscheint nun der Vater nach außen hin als das Familienoberhaupt, die Mutter ist also ihrem Mann untergeordnet. Allerdings sind die Eltern in "Magersuchtsfamilien" wiederum ihren Eltern, den Großeltern der magersüchtigen Kinder, unterlegen. Oft sind es diese, die noch immer den Ton angeben und sich richtungsweisend verhalten, oder die Eltern haben deren Erziehungsstil übernommen bzw. verhalten sich ihren Kindern gegenüber so, wie es ihre Eltern in der Zeit des dritten Reichs taten, um ihnen zu gefallen und um Lob zu erhalten (vgl. Gerlinghoff et al. 1999, S. 55).

"Sie kämpfen um Anerkennung und Liebe und hoffen noch immer darauf, dies endlich zu bekommen, und sei es nun auf dem Wege des Wohlverhaltens und der guten Leistungen ihrer Kinder" (ebd., S. 55).

Im Krieg war das System Familie ebenso wichtig und bedeutend, und/aber die hierarchische Ordnung galt es einzuhalten. Der Vater war der, der das Geld nach Hause brachte oder in den Krieg zog, die Mutter war Hausfrau und Kindererzieherin. Die Kinder waren gehorsam, freundlich und erbrachten gute Leistungen. Und dieses Bild der Familie wurde also von den Kindern, d. h. von der zweiten Generation, übernommen und wird heute teilweise an die dritte Generation weitergegeben.

"Wenn die Großmutter noch mit im Hause lebte, fand sich regelrecht eine unselbstständige und hilflose Mutter, die ständig von ihrer eigenen Mutter herumkommandiert wurde. Der andere Typ der Mütter, regelrecht nach dem frühen Tod der Großmütter oder - seltener - nach unvermeidlicher Trennung von ihr aus äußeren Gründen zu finden, erschien kühl, hyperaktiv, tüchtig" (Sperling et al. 1982, zit. nach Karren 1990, S. 29).

Das Zitat von Sperling et al. (1982) beschreibt das Bild der Mutter und Großmutter treffend. Auch hier ist eine zu starke Abhängigkeit zwischen Mutter und Großmutter vorhanden, infolgedessen eine Unselbstständigkeit der Mutter, genau so, wie sie zwischen der Mutter und dem magersüchtigen Kind beschrieben wird. Hier handelt es sich also um eine schon pathologische Abhängigkeit von der Mutter bzw. eine deutliche Hilflosigkeit ohne Mutter. Kommt es zu einer frühen Trennung von Mutter und Tochter, wird die Mutter oft als hyperaktiv, tüchtig (die fleißige Hausfrau, gute Gastgeberin und Mutter, die "den Haushalt mit links schmeißt") bezeichnet, Verhaltensweisen, die natürlich oft von den Kindern übernommen werden (vgl. Karren 1990, S. 29).

Eva Gold, Psychotherapeutin aus Vorarlberg, die sehr oft mit Hilfe von Familienaufstellungen arbeitet und therapiert, sollte hier erwähnt werden. Ich nahm mit ihr vor einigen Monaten Kontakt auf, da ich der Ansicht bin, dass Familienaufstellungen bzw. Ergebnisse und Erfahrungen daraus für das Thema der Arbeit sehr interessant und hilfreich sein könnten. Sie ist der Ansicht, dass ein tiefer Zusammenhang zwischen der Anorexie heute und dem Dritten Reich besteht, deshalb möchte ich wie folgt ihre Worte zitieren.

In zwei E-Mails vom 2006-03-29 und vom 2006-06-01 schreibt sie:

"Liebe Frau Rainer, ich freue mich sehr über Ihr Inter-Esse am Thema ‚Essstörungen und Bezug zum 3. Reich'. Ich bin - aufgrund der Erfahrungen in meinen Aufstellungsarbeiten - davon überzeugt, dass ein tiefer Zusammenhang besteht, kann es aber nur phänomenologisch beschreiben, habe natürlich keine Statistiken oder Belege für meine Annahmen als die der ‚Erfolge' aus den Aufstellungsarbeiten. [...]" (2006-03-29).

Zum Thema "Eltern und Großeltern" schreibt Frau Dr. Gold, dass die Eltern manchmal ihren Erziehungsstil in Opposition zu deren Eltern leben, manchmal auch gleiche und ähnliche Erziehungsmethoden für die eigenen Kinder gewählt werden.

"[...] Manchmal haben die Eltern Ihren Erziehungsstil im Gegen-Satz zu den Großeltern gelebt, manchmal in Anlehnung an Sie - in jedem Fall, so meine ich zu spüren, waren Sie bei intensiver Beteiligung der Großeltern am 3. Reich noch energetisch in diesem Thema.[...] Literatur kenne ich noch keine dazu, kann also nur von meinem Erlebten erzählen- viel Erfolg für Ihre Arbeit und Ihre Forschung- alles Liebe Eva Gold" (2006 06 01).

Im folgenden Abschnitt werden die Wertehaltungen im erzieherischen Kontext während des Dritten Reichs herausgearbeitet, um erstmals ihre Auswirkungen und ihre Möglichkeit auf eine Erkrankung der Anorexia nervosa zu beleuchten.



[8] Empfindung der völligen Verschmolzenheit mit seiner Welt, aus der ein Gefühl des vollkommenen Glücks hervorgeht (vgl. http://www.freidenker.at/archiv/szan.htm, Stand: 2006-09-29)

6 Erziehung und Werte im Dritten Reich

6.1 Wertehaltungen

Während des Dritten Reichs galt der Grundsatz: Wenn der Mensch, fleißig arbeitet und heldenhaft in den Krieg zieht und zu Hause eine ebenso tüchtige Hausfrau und seine Kinder auf ihn warten, werden der Staat und seine Menschen überleben.

"Man war ein anständiger Mensch, pflichtbewußt, ehrlich, bereit, auch Opfer zu bringen. Und Hitler war das auch. Dem kleinen Gefreiten, dem persönlich anspruchslosen, unermüdlich für das deutsche Volk Arbeitenden, der aus dem Nichts durch selbstlosen Einsatz und unbändigen Glauben die ‚Bewegung' geschaffen hatte, konnte man trauen. Er versprach, Entfremdung und Verzauberung der Weimarer ‚Systemwelt' aufzuheben, indem das Politische und die persönlichen Werte identisch gesetzt wurden: Das Politische ist persönlich" (Brockhaus 1997, S. 220).

Von Hitler wurde den Menschen vorgeschrieben, was das Persönliche zu sein hatte. Er bestimmte, wie die Familie auszusehen hatte, wo die Männer arbeiten gehen sollten und in welche Schulen und Vereinigungen die Kinder zu gehen hatten. Seine Diktatur nahm Einfluss auf alle Menschen und Familien. Das Persönliche wurde den Menschen weggenommen. Dieses war größtenteils fremdbestimmt und es hatte vorwiegend zu funktionieren.

Mut und Härte, Tapferkeit vor dem Feind, Schweigen und Selbstzucht werden zu Kerngehalten der NS-Ideologie gemacht und damit zu wichtigen Werten für Familien des Dritten Reichs. Für Hitler sind diese persönlichen Werte die wesentlichen Stützen der Weltanschauung, zu der er sich bekennt, ihre Pflege - unter Umständen auch Züchtung - ist die erklärte Absicht seines nationalen Programms (Stern 1978, zit. nach Brockhaus 1997, S. 230).

Wenn man Hitler und seine überaus mitreißenden Reden miterlebte, wurde in fast jedem Zuhörer Enthusiasmus freigesetzt, weil das politische Geschehen heroisiert wurde und sich mit Gefühlen von Stärke, Tatkraft und Stolz verband (vgl. Sternheim-Peters 1987, S. 107).

Hitlerreden galten als "sinnfällige Belege für massenpsychologische Effekte: das Aufgeben des eigenen Ich, der Verlust von Entscheidungskompetenz, das rauschhafte Versinken in einen regressiven Sog, die Übereignung an den Führer" (Brockhaus 1997, S. 227).

Auch aus den Bereichen "Kunst und Kultur des Dritten Reichs" lassen sich deutliche Informationen zum Thema Wertehaltungen gewinnen.

Idealisierte Aktbilder junger Frauen und wohl geformter, auch männlicher, Körper sollten den Männern, Frauen und Kindern als Propaganda für die Ästhetik des Menschen dienen. Sie sollten Anmut, Reinheit und Schönheit symbolisieren. Es war Hitler wichtig, die Überlegenheit des reinen und guten Volkes vorzuzeigen. Die Menschen sollten lernen, dass ein gesunder und "schön-trainierter" Körper auch Härte und Stärke aufwies und somit allen anderen, den Schwächeren also, überlegen war.

Es wurde von Künstlern, ganz nach dem nationalsozialistischen Kunstideal, starke, kämpfende Männergestalten, die Stolz zeigten, gezeichnet und geformt. Ganz im Sinne der NS-Frauenpolitik wurden zudem auch stillende Mütter mit ihren Kindern bevorzugt dargestellt bzw. wurde das Leben von Arbeitern und Bauern rekonstruiert.

Diese Form der Kunst wurde als "vollkommen und fertig" beschrieben. Sie sei "mimetisch und bildlich" und benutzte ein Repertoire einfach wieder zu erkennender Figuren. Die Kunst im Nazi-Sinn sollte dem arbeitenden Volk Entspannung bieten, bestimmte Ideen verbreiten und die Masse über den Alltag hinausheben. Sie wurde also als Mittel der Propaganda benutzt (vgl. Offermanns 2004, S. 152).

Jegliche Kunst, die nicht den Vorstellungen Hitlers, Rosenbergs und auch Goebbels entsprach, wurde sozusagen verbannt. Werke jüdischer, kommunistischer und anderer "unerwünschter" Künstler wurden aus öffentlichen Ämtern gewaltsam entfernt, Bücher wurden verbrannt, die "artenfremde" Kulturszene wurde verboten. Damit war der Boden für die "arteigene Kunst" bereitet (vgl. ebd., S. 148).

Die unerwünschte moderne Kunst wurde als unfertig und unharmonisch bezeichnet, in dem Sinne, dass sie die Welt und das Leben nicht als harmonisch und heil darstellte (vgl. ebd., S. 151).

Die nationalsozialistische Kunst sollte eine Kunst des reinen, arischen Volkes sein, die die Ideologie des Dritten Reiches widerspiegelte. Die Entfernung aller modernen, "entarteten" Kunst führte mitunter dazu, dass auch die so genannte "Rassenhygiene" ein grundlegendes Element der nationalsozialistischen Weltanschauung wurde.

Besonderen Zuspruch und breite Anerkennung fanden rassentheoretische bzw. rassenhygienische Überlegungen in der NSDAP, die Rasse mit Volk gleichsetzte. Das Volk als biologische Gesamtheit sollte vor allem vor dem genetischen Verfall durch "Verunreinigung" seines Erbguts bewahrt bleiben und durch gezielte "Auslese" zu Höherwertigem gezüchtet werden (vgl. http://www.blickpunkt-sport.de/wissen-bildung/collegeradio/medien/geschichte/ns3/glossar, Stand: 2006-05-28).

Während dieser Zeit war Hitler für viele ein Vorbild, nach dem man sich richten sollte und es schien, als würde er den Menschen den rechten Weg weisen. Viele glaubten daran, dass er wissen würde, was das Richtige für sie wäre. Besser als sie selbst.

Wichtig war es, Werten wie Stärke, Stolz und Tapferkeit nachzustreben. Unbedingter Gehorsam und die Bereitschaft zur fraglosen Unterwerfung unter Hitler, was wohl letzten Endes zur eigenen Destruktion führte, standen an erster Stelle.

6.2 Familienbild: Verklärung der Mutterrolle - der Mann/Vater als Krieger und Träger des Erbguts

"Die Arbeit ehrt die Frau wie den Mann/das Kind aber adelt die Mutter."

Westermann 1939, S. 87

Das folgende Zitat aus dem ABC des Nationalsozialismus beschreibt sehr deutlich die Rolle der Frau und Mutter im dritten Reich: "Die deutschen Frauen wollen in der Hauptsache Gattin und Mutter sein, sie wollen nicht Genossin sein, wie die roten Volksbeglücker es sich und ihnen einzureden versuchen. Sie haben keine Sehnsucht nach der Fabrik, keine Sehnsucht nach dem Büro und auch keine Sehnsucht nach dem Parlament. Ein trautes Heim, ein lieber Mann und eine Schar glücklicher Kinder steht ihrem Herz näher" (Rosten 1933, zit. nach Tidl 1984, S. 11).

Die Frau im Dritten Reich hatte sich um das Haushalt zu kümmern, die Aufgabe möglichst viele Kinder zur Welt zu bringen und zudem sollte sie auch schön sein. Sie wurde grob gesagt auf die Bereiche Haushalt und Kindererziehung reduziert. Das Ziel der weiblichen Erziehung war es, Mädchen und Frauen auf die Rolle als zukünftige Mütter vorzubereiten.

"Alle sollten schön, Mütter, Hausfrauen und aus dem Lande sein, so wollte es der Faschismus, so sollten die Männer sie sehen. Begehrenswert ins Bett zu tragen. Schön, das galt für die Mütter" (Macciocchi 1978, S. 61).

Nach dem Jahre 1933 wurden alle größeren Frauenvereine aufgelöst, Mädchen und Frauen wurden durch den BDM und das NS-Frauenwerk erfasst bzw. sollten sie vorwiegend im Haus und am Herd tätig sein. Außerhalb ihres Hauses durften sie noch Tätigkeiten als Volksschullehrerinnen oder Krankenschwestern nachgehen (vgl. ebd., S. 9).

Nach einer Rede Mussolinis (1937-06-20), veröffentlicht in der Tageszeitung "Il Popolo d' Italia" (1937), heißt es: "Die Frau muß die Hüterin des Herdes sein wie einst zu Zeiten der Römer, und ihre erste Sorge muß der Nachkommenschaft gelten, die wir uns zahlreich und stark wünschen. Generationen von Pionieren und Soldaten, deren wir zur Verteidigung des Reichs bedürfen, werden so beschaffen sein, wie ihr sie zu erzeugen versteht" (ebd., zit. nach Macciocchi 1978, S. 66).

Westermann (1939, S. 46 f.) beschreibt das Bild der Mutter aus der Sicht des Kindes: "Wenn wir die Küche mit unbeschreiblichem Lärm erfüllten, so klang manchmal vom Waschfaß oder Kochherd leise und ruhig das Wort ‚Kinder'! Solch durchtönende Kraft, Zauber und Macht ging von Mutters Sprache aus, daß wir nicht nur gebändigt gehorsam, sondern in uns gestillt und beruhigt wurden. [...] Sie glaubte so stark an das Anständige und Gute in ihren Kindern, daß Beifügungen wie bös oder schlimm in ihrer Sprache fehlten. [...] Wir lebten alle im Bannkreis der mütterlichen Zucht wie im lautlosen, leuchtenden Licht der Sonne. ‚Was wird Mutter dazu sagen?' Dies Wort kam uns nicht einmal mehr bewußt ins Gedächtnis, es stand über unserem Leben."

Für die Kinder war die Mutter auch schon damals die Starke, die Herrin im Hause. Alles Tun war darauf ausgerichtet, der Mutter keine Schande zu bereiten. Aber das passierte wohl auch kaum, da alles darauf ausgerichtet war, was die Mutter dazu sagen wird, und diese hatte ihre Kinder auch fest im Griff. Die Kinder bewunderten die Mutter wie eine "Göttin". Man hatte gar nicht den Mut, etwas zu tun, was sie verärgern könnte.

Ab dem Jahre 1938 wurde die Ehefrau für überdurchschnittliche Gebärleistungen mit dem Ehrenkreuz oder auch Mutterkreuz ausgezeichnet, im Volksmund "Kaninchenorden" genannt. Müttern von vier und fünf Kindern wurde das Kreuz in Bronze und Müttern von acht und mehr Kindern jenes in Gold verliehen (vgl. Tidl 1984, S. 73).

"Seit der Entstehung des Menschengeschlechts ist es der Mann, der die existentielle Hauptlast im Lebenskampf trägt. Das ist größtenteils auch heute nicht anders. Die Frau hat die Aufgabe, dem Mann als Mitkämpferin zur Seite zu stehen, Kinder zu gebären [...] Alle bestehenden großen Kulturen und Zivilisationen sind das Produkt des Mannes. Das ist unbestritten" (Janeschitz, Herceg 1981, zit. nach Tidl 1984, S. 12).

Der junge, kräftige Mann im dritten Reich hat für seine Familie zu sorgen und sie zu beschützen. Er ist stark und mutig. Stolz muss er in den Krieg ziehen. Die Kinder sehen ihren Vater kaum. Meist dann, wenn die Kinder noch sehr jung sind, muss dieser bereits in den Krieg einrücken und nur selten kommt er nach Hause oder schließlich gar nicht mehr. Die Kinder wissen meist nicht viel über ihm, kennen ihn oft nur aus Erzählungen von Seiten der Mutter oder haben nur dunkle Erinnerungen von seinen Besuchen zu Hause während des Krieges. Wenn der Vater nicht im Krieg ist, ist er meist den ganzen Tag mit seiner Arbeit beschäftigt.

"Ich habe ja nie eine Vaterfigur gehabt, mit der ich mich hätte auseinander setzen müssen" (Bar-On 2004., S. 86).

"Mein Vater ist für mich eine historische Person, ich habe keine emotionale Beziehung zu ihm [...] Er ist mir genauso fern, wie wenn ich über jemanden lesen würde" (ebd, S. 87).

"Von meinem Vater hieß es immer, er sei Soldat. [...] Er war in Italien in amerikanischer Kriegsgefangenschaft [...]" (ebd. S. 222).

Dies sind kurze Interview-Aussagen von heute erwachsenen Menschen, damals Kinder, deren Eltern im Dritten Reich lebten. Die kurzen Zitate beschreiben deutlich die Vater-Kind-Beziehung, mit einem Vater, der nur selten anwesend war.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es üblich war, dass die Mutter zu Hause ihre Zeit mit den Kindern verbrachte, die Rolle der Hausfrau und Mutter einnahm; der Vater leistete harte Arbeit bzw. zog in den Krieg. Er war selten zu Hause und verbrachte nur wenig Zeit mit den Kindern.

Die Familie musste zumindest nach außen hin harmonisch und vor allem angepasst erscheinen, sie hatte zu funktionieren. Die Kinder waren leistungsorientiert, erzielten ausgezeichnete Erfolge in der Schule und waren tüchtige Mitglieder von Vereinigungen wie der HJ oder dem BDM. Der Vater war streng, ein "Arbeitstier", er brachte Geld und Essen nach Hause, die Mutter immer freundlich und eine gute Gastgeberin.

Abb. 2 http://www.dhm.de/ausstellungen/2-134.htm Plakat "Gesunde Eltern - Gesunde Kinder" HG NS Volkswahlfahrt, Reichsführung Berlin. Entwurf: Würbel Franz 1933

"[...] der Vater als pflichtgetreuer Staatsbeamter, die Mutter im Haushalt aufgehend und vor allem uns Kindern in ewig gleicher liebevoller Sorge zugetan" (Hitler 1943, S. 2).

Mit diesen Worten beschreibt Hitler seine Eltern. Für ihn ein selbstverständliches Bild der Familie.

Hitler (1934) erklärte öffentlich: "Wenn die Welt des Mannes der Staat sei, dann sei die Welt der Frau ihr Ehemann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Heim" (ebd.; zit. nach Tidl 1984, S. 11).

Mann, Frau und Kind im Dritten Reich waren Mitglied von mindestens einer bestimmten Organisation. "Partei, Fachschaft, Frauen- und Mütterbünde, Hitlerjugend, Jungvolk, Bund Deutscher Mädel nehmen praktisch alle Zeit in Anspruch, die dem Einzelnen (neben Beruf, Hausarbeit, Schule) noch verbleibt" (Mann 2002, S. 30).

Die Familienmitglieder hatten oft aus reinem Zeitmangel keine Zeit mehr für ihre Angehörigen oder für sich selbst. Die Jugend kannte keine Privatinteressen mehr.

Laut einer Anekdote, entnommen aus ebd. (S. 31), könnte es so gewesen sein: "Der Vater kommt heim, findet niemanden zuhause. Ein Zettel liegt auf dem Tisch: ‚Bin im NS-Frauenbund. Komme spät zurück. Mutter.' Da legt er seinerseits einen Zettel hin: ‚Gehe auf die Parteiversammlung. Es wird spät werden. Vater.' Als nächster kommt Fritz, der Sohn. Er hinterlässt einen Zettel: ‚Haben Nachtübung, wird bis morgen dauern. Fritz.' Hilda, die Tochter, ist die letzte. Sie schreibt auf: ‚Muß auf Nachtversammlung des BDM. Hilda.' Als die kleine Familie sich gegen zwei Uhr morgens zusammenfindet, sind Diebe dagewesen und haben alles gestohlen [...] Auf dem Tisch aber liegt ein fünfter Zettel: ‚Daß wir hier stehlen konnten, danken wir unserm Führer. Heil Hitler! Die Diebe'."

Es wurde zunehmend wichtiger, für den Staat da zu sein und zu arbeiten. Von früh bis spät wurden die Menschen mit Arbeit, "vorgeschriebenen" Hobbys und all den Tätigkeiten in den Organisationen eingedeckt. Gemütliches Leben in der Familie bzw. Zärtlichkeiten in der Familie wurden "gekürzt". Man hatte und bekam dafür keine Zeit mehr.

Im nächsten Abschnitt wird auf die Erziehung im Dritten Reich eingegangen und das "verschwindende" Familienbild noch präziser definiert.

6.3 Erziehung: "stark, schön und beherrscht"

In den von Rauschning (1988, S. 237) aufgezeichneten "Gesprächen mit Hitler" beschreibt Hitler, was er unter "seiner" Pädagogik versteht: "Von einer Schule wird in Zukunft der junge Mann in eine andere erhoben werden. Beim Kinde beginnt es, und beim alten Kämpfer wird es enden. Keiner soll sagen, daß es für ihn eine Zeit gibt, in der er sich ausschließlich selbst überlassen sein kann. [...] Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewaltige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. [...] Stark und schön will ich meine Jugend. [...] Mit Wissen verderbe ich mir meine Jugend. Aber Beherrschung müssen sie lernen."[9]

Während des damaligen Nazi-Regimes wurde ein breites Freizeitangebot entwickelt, zu welchem die Jugendlichen nützen wollten und sollten. Es handelte sich dabei um die bereits erwähnten Organisationen wie die Hitler Jugend oder den Bund Deutscher Mädel.

"Sie wollten dazu gehören und machten mit, sie dachten an ihren Spaß und die vielen neuen Erlebnisse. Doch genau davon profitierte Hitler"

(http://www.martinschlu.de/nationalsozialismus/jugend/01.htm, Stand: 2006-09-02).

Hitler und der Nationalsozialismus sahen die Kinder und Jugendlichen als den Baustein für die Zukunft. Diese waren es, die später in den Krieg ziehen sollten. Dafür mussten sie auch richtig ausgebildet werden (vgl. Mann 2002, S. 32).

Innerhalb der Jugenddienste nahmen Körperschulung und körperliche Ertüchtigung den ersten Platz ein. Folgende Worte wurden zum Zwecke der Untermauerung dieses Anspruchs in HJ-Veröffentlichungen zitiert: "Die gesamte Erziehungsarbeit des Völkischen Staates muss ihre Krönung darin finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbaut. Der Völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung geistiger Fähigkeiten" (Klönne 2003, S. 57).

Das vorrangige Ziel war also die Erziehung der Jugendlichen zu gesunden und kräftigen Männern, die später im Krieg auch die Fähigkeit haben sollten zu kämpfen. Politische Schulung und körperliche Ertüchtigung waren das Programm der HJ.

"Dein Körper gehört der Nation und du hast die Pflicht, gesund zu sein"[10] (ebd., S. 58).

"Dein Körper gehört deiner Nation, denn ihr verdankst du dein Dasein"[11] (Tidl 1984, S. 14).

Die HJ hatte die Aufgabe, die Jugendlichen zu guten Soldaten zu erziehen. Mut und Tapferkeit waren wichtig, um widerstandslos für das Land zu kämpfen. Wenn kleine Kinder in die HJ kamen, waren Kampfspiele und Waffen das Interessante. Es sollte eine Selbstverständlichkeit und eine Ehre sein zu kämpfen. Phantasie und Einbildungskraft versuchte man nutzbar zu machen (vgl. Mann 2002, S. 36 f.).

Im Jahre 1936 wurde es für alle Buben und Mädchen von zehn bis achtzehn Jahren Pflicht, den Jugenddienst zu erfüllen. Das hieß, dass die Jugendorganisationen für die Erziehung außerhalb der Schule und des Elternhauses zuständig waren. Sie wurden gegründet, um die Jugendlichen darin auszubilden, sich dem führenden Regime zu unterwerfen ohne dieses zu hinterfragen. Mehrere Schritte waren dazu erforderlich. Nach vier Jahren im Jungvolk kam man in die Hitlerjugend und dann Schritt für Schritt weiter. "Buben und auch Mädchen wurden immer mehr zu einem nationalsozialistischen Denken umerzogen. Die Bündnisse hatten die Aufgabe, die Kinder so zu erziehen, dass sie Spaß daran hatten, die Ziele des Nationalsozialismus zu verwirklichen

(http://www.martinschlu.de/nationalsozialismus/jugend/01.htm, Stand: 2006-09-02).

Die Erziehung im Elternhaus wurde für diese Umsetzung oft als Störfaktor empfunden. Zum wichtigsten Aufenthaltsort für die Jugendlichen wurden Versammlungsraum und Parteilokal. "Dort spielt sich ab, was entscheidend ist, - ‚daheim' gibt es nur noch nebenher" (Mann 2002, S. 32).

Die Kinder und Jugendlichen gehörten dem Führer. Sie wurden dem Elternhaus entrissen und in eine andere Form von Familie hineingezwängt. Die Jungendorganisationen sollten für sie sorgen und sie erziehen, die Eltern waren dabei im Weg.

Die Kinder aber fühlten sich hin- und her gerissen zwischen den Instanzen, nämlich einerseits der Schule und der HJ bzw. dem BDM und andererseits der Familie. Natürlich gab es auch Familien bzw. Eltern, die ein ungutes und ambivalentes Gefühl hatten, wenn ihr Kind ständig unter nationalsozialistischer Aufsicht von dieser auferlegten Pflichten nachgehen mussten und sie, die Eltern, politisch anders gesinnt waren. Ein Grund mehr, die Kinder von ihren Eltern fern zu halten.

Körperschulung und Körperdisziplin standen im Dritten Reich nahezu an erster Stelle (s. o). Im Folgenden wird auf Aussagen von Hans Surén zum Thema Körperschönheit und Körperschulung genauer eingegangen bzw. werden beeindruckende Aussagen aus seinen Schriften zitiert.

"Der runde Rücken, wie bei einem Lastträger - spitze, vorhängende Schultern wie die eines alten Karrengaules! Anstatt der Hügel einer gewölbten Brust ein trostloses, totes Wüstental. Nicht nur beim Manne! Laßt euch wiedererwecken zu schönheitsdurstigem Menschentum. Wachst wie die Natur ringsum in Frühlingsregen und Morgentau - laßt eure Brüste sich stärken und eure Rücken sich strecken! Ihr Männer und Frauen, tragt mit Stolz die gewölbte Brust - die Hügel eurer Schönheit - laßt sie sich heben und senken im Rhythmus eines kraftvollen Atems!" (Surén 1938, S. 29 f.).

Die Haltung war nach Surén wohl eine Art Ausdruck frischer Lebenskraft. Der Körper und die Körperertüchtigung sollten, zur Zeit des Dritten Reichs, für die Menschen wichtige Bereiche des Lebens darstellen. Heute ist es im Grunde nicht anders. Der Körper, die körperliche Schönheit nehmen einen äußerst wichtigen Platz im Leben des heutigen Menschen ein. Jeden Tag wird man konfrontiert mit den besten Diättipps, mit Turnübungen für straffere Beine oder einen dünneren Bauch, präsentiert und vorgezeigt von schönen, attraktiven Models.

"Wie viel weniger Sorgen und Nöte um Kraft, Gesundheit und aufrechten, deutschen Charakter hätten wir in Deutschland gehabt, wenn die Lebensgestaltung der Jugend und der Erwachsenen nicht durch überlebte Erziehungs- und Lebensanschauungen sowie durch ungesunde Lebensverhältnisse so verderblich beeinflußt worden wäre. Erst seit der nationalsozialistischen Revolution werden viele Vorsätze in die Tat umgesetzt und vollkommen Neues geschaffen, so, daß die kommende Generation auch in Kraft und Gesundheit sowie in allen heldischen Tugenden ein leuchtendes Beispiel echter Germanenart geben wird" (ebd., S. 73).

Nach Surén haben erst die Nationalsozialisten den Menschen die richtige Lebensweise näher gebracht. Falsche Erziehungsmethoden und ein ungesunder Lebensstil hätten den Menschen verdorben. Das nationalsozialistische Gedankengut erst verhelfe auch der kommenden Generation zu mehr Kraft und Gesundheit.

Auch damals hatte die "richtige" Erziehung bereits einen bedeutenden Stellenwert in der Gesellschaft bzw. zeigte der Nationalsozialismus der Elterngeneration, nach welchen Kriterien und Richtlinien man seine Kinder zu erziehen hätte, nämlich mit Strenge, Härte, Disziplin. Nur so konnten die Kinder zu gesunden, kräftigen und somit glücklichen Bürgern heranreifen.

Nach Hitler und Surén standen Stärke, Schönheit und Körperschulung in einem engen Konnex mit der reinen Rasse. Helden haben einen stets durchtrainierten, nach der gymnastischen Schulung Suréns starken Körper, Helden sind arisch reinen Charakters.

"Fehler und Unterlassungen in der Jugenderziehung können oftmals während des ganzen Lebens nicht wieder gut gemacht werden. Jede Art der Erziehung, die bei dem jugendlichen Körper nicht voll und ganz das Wichtigste gibt - nämlich Gesundheit und Kraft fürs ganze Leben - ist und bleibt falsch. Diese Forderung steht als eine flammende Warnung am Zukunftshimmel unseres Volkes" (ebd., S. 75).

Die richtige Erziehung spielt eine wesentliche Rolle, und eine richtige Erziehung war nur die, die das Streben nach Stärke, Kraft, Mut und einen gesunden Körper als eines der wichtigsten Gebote in den Mittelpunkt des Lebens der Menschen stellte.

"So erhält das ernste Streben jedem die Reinheit" (ebd., S. 101).

Surén legte den Menschen nahe, dass nur hohe Leistungen - mit Hilfe seiner Turnübungen - bzw. die Erziehung zu diesen Fähigkeiten den Menschen gesund und "rein" halten könnten.

"Die Körperseele ist wie ein heiliges Gefäß, das wir selbst tragen und füllen müssen. Mit ganzem Fleiß und Willen an und in uns selbst arbeiten und wir werden hinaus schreiten und hinauf zu den Höhen eines starken Lebens. [...] Unsere Rasse ist in Wahrheit Träger einer gesunden, schönen, freien Körperlichkeit als williges Werkzeug arischer Seelenkräfte, die von jeher ständig um Weiterentwicklung und Aufstieg ringen - intellektuell, seelisch und körperlich" (ebd., S. 15). Und schließlich geht das so weiter, bis der Mensch stark und mutig genug ist, um in den Krieg zu ziehen.

Je mehr Soldaten im Krieg sterben mussten, desto eindringlicher forderte die NS Nachwuchs, nach dem Motto: Jedes Kind eine gewonnene Schlacht. Natürlich kamen nur die Kinder in Frage, die gesund und rein waren.

Nach Hitler (1943, S. 311) durfte jedes Tier sich nur mit einem Genossen der gleichen Art paaren. Der Stärkere hatte zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern. [...] Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selber.

Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf krank machende Strukturen in der Familie. Schwerpunktmäßig stehen die Faktoren Schweigen, Schuld und Scham im Vordergrund. Dazu ist zu vermuten, dass sich diese Verhaltensweisen -ausgehend von der Kriegsgeneration und der zweiten Generation - auf die dritte Generation auswirken können.



[9] Die Ursprungs- und Herkunftslage der Quelle ist umstritten. Selbst wenn es sich bei den "Gesprächen mit Hitler" um eine Fälschung handeln sollte, darf legitimerweise angenommen werden, dass Rauschning die Ideologie Hitlers gekannt und definiert hat und durchaus in Hitlers Haltung geschrieben hat.

[10] Parolen der HJ (vgl. Klönne 2003, S 58)

[11] Eines der zehn Gebote aus der HJ und dem BDM (vgl. Tidl, 1984, S 14)

7 Auswirkungen krank machender Strukturen auf die Folgegenerationen

Die dargestellten Wertehaltungen waren zur Zeit des Dritten Reiches wohl legitim. Dennoch darf man den Verdacht äußern - im Rückblick auf den heute noch geübten Umgang mit den Erfahrungen der Nazi-Zeit - dass der Mensch im fraglichen Zeitraum inhärent gespürt hat, dass dabei vieles Gelebtes, Getanes und in Folge Tradiertes banal gesagt nicht in Ordnung und mit dem eigenen Gewissen nicht wirklich lückenlos zu vereinbaren war. Wie versuchten und versuchen aber schließlich die Menschen, die dieses von ihnen damals oder sehr viel später als falsch empfundene Leben führten, sich und ihr Gewissen zu schützen? Wie sind die Menschen von damals mit der Schuld umgegangen , die sich durch die Kristallnacht, den Holocaust, die Arisierungsverfahren und andere Gräueltaten, an denen sie vollziehend oder zusehend und so stillschweigend beteiligt waren, auf sich geladen hatten? Wie gingen sie nach dem Krieg und wie gehen sie noch heute damit um? Die empfundene und wohl unerträgliche Schuld und die daraus resultierende Scham versuchte und versucht man vor allem mittels Schweigen zu verdrängen und zu unterdrücken. Man glaubte und glaubt auf diese Art und Weise vergessen und wieder "glücklich" leben zu können. Schweigen und Verdrängen schaffen die Dinge allerdings nicht aus der Welt. In irgendeiner Form, ungeahnt und manchmal auch unerwartet, spätestens in den Nachfolgegenerationen, drängt das Verdrängte und Verschwiegene an die Oberfläche.

7.1 Schweigen, Schuld und Scham

Der in dieser Arbeit bereits zitierte israelische Wissenschafter und Psychologe Dan Bar-On begann als einer der ersten die Nachwirkungen des Holocaust auf die Kinder von NS-Tätern zu erforschen. Er stieß dabei auf ein immenses Vakuum. Dan Bar-Ons Interesse an der Täterseite folgte seinen Forschungsprojekten in Israel über Auswirkungen des Holocaust auf Opfer und ihre Familien. Bereits hier hatte er das belastende Syndrom des Schweigens entdeckt. Nach eindringlichen Gesprächen mit den Nachfahren von "NS-Tätern" konnte er auch deutlich machen, dass der Umgang mit den Erfahrungen aus der Kriegsvergangenheit auf Täter- wie auf Opferseite parallele Muster aufweist.

Gespräche und Geschichten zeigen Wirkung, z. B. als Beitrag zur mentalen Abrüstung, die die Nachkriegsgesellschaften dringend brauchen.

"Ich kenne viele Kinder von Opfern, die schrecklich gelitten haben, weil ihre Eltern versuchten, sie zu schützen, und ihnen nichts erzählten. Und die Kinder hatten dieses unterschwellige Gefühl, dass da etwas Schreckliches verborgen war, aber sie wussten nicht, was es war. Dies war für sie viel schlimmer" (Bar-On 2004, S. 83 f.).

Es gibt eine Art von kollektiven Schuldgefühlen, wodurch sehr viele angefangen haben, die Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Krieg zu verdrängen und zu vergessen (vgl. ebd., S. 85).

"Dan Bar-On hat die Öffentlichkeit für die Erkenntnis sensibilisiert, dass nur die individuelle und gesellschaftliche Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, dazu beitragen kann, Abgründe zwischen den Generationen und politischen Konfliktparteien zu überbrücken. Dabei setzt er auf den Dialog" (ebd., S. 11).

Im Folgenden werden Aussagen von Menschen, die Eltern und andere Verwandte aus dem Dritten Reich haben und hatten, zitiert und näher betrachtet. Es handelt sich hierbei um Interviews, geführt von Dan Bar-On, die das lange Schweigen über das Geschehene im Krieg augenfällig verdeutlichen. Es wurde einerseits den Kindern damals verschwiegen, was "draußen in der Welt der Erwachsenen passierte", wo der Vater hinging, wenn er in den Krieg zog, und andererseits wird auch heute von Seiten der Nachfolgegeneration ihren Kindern - der dritten Generation - gegenüber sehr viel ge- bzw. verschwiegen. Die Kinder erfahren oft nicht viel oder gar nichts darüber, was der Großvater im Krieg erlebt hat bzw., was vielleicht noch die Eltern selbst gesehen und erlebt haben. Und Schweigen kann krank machen. Wie soll man lernen mit etwas umzugehen, wenn darüber nur geschwiegen wird. Die Kinder (die zweite und dritte Generation) spür[t]en, dass da etwas war/ist, worüber geschwiegen wird.

"Von den Eltern habe ich überhaupt nichts erzählt bekommen, soviel ich weiß, überhaupt nichts. Ich glaube, das erste Mal, dass ich überhaupt erfahren habe, was mein Vater war, war schon in S. während der Kochlehre. Ich sah zufällig eine Fernsehsendung und habe darin meinen Vater gesehen. Darüber wurde aber nie gesprochen. Ich habe auch nie gefragt. [...] Aber ich fragte meinen Vater nie etwas, und er erzählte auch nie von allein. Es kann schon sein, dass ich das im Unterbewusstsein ein bisschen verdränge, dass ich es wahrscheinlich gar nicht wissen möchte" (ebd., S. 55 f.).

Auch die Verdrängung spielt in Bezug auf krank machende Faktoren eine wesentliche Rolle. Es ist bekannt, dass vieles, was in irgendeiner Form der Verdrängung unterliegt, irgendwann in Form von psychischen und auch physischen Erkrankungen zum Vorschein kommen kann.

"Ich habe nicht einmal geheiratet - wie könnte ich Kinder in diese Heydrich-Geschichte hineinbringen?" (ebd., S. 156).

Mit der Vergangenheit wird sehr unterschiedlich umgegangen. Manche Menschen sind der Meinung, keine Kinder in eine Familie hineinsetzen zu können, die mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu tun hat, vor allem auf Seiten der Täter.

Andere fühlen sich schuldig dafür, dass ihre Kinder in einer Familie, die den Nationalsozialismus miterlebte, aufwachsen "müssen". Aus diesem Grund schweigen auch viele lieber darüber.

"Für mich war das sogar etwas Erregendes, wenn ich draußen Soldaten und die Hitlerjugend marschieren sah. Ich wollte nun auch gerne marschieren" (ebd., S. 205).

Die Hitlerjugend, die Nazi-Lieder, das Marschieren, die Heimabende, das alles war für die Kinder und Jugendlichen damals faszinierend und mitreißend. Heute erzeugt dieses Gefühl, das sie beim Dabei-Sein verspürten bzw. die Tatsache, dass sie dabei waren, oft Schuld und Scham. Man hatte teilweise das Gefühl, die Kinder davor verschonen zu müssen, was passiert war. Und man hat heute das Gefühl, vor seinen Kindern verschweigen zu müssen, was im Nationalsozialismus geschah, einerseits, weil man Angst hat davor, wie die Kinder es verarbeiten würden, und man andererseits (ver)schweigen musste, aufgrund von Scham und Schuldgefühlen, was die Großeltern im Krieg erlebten, als Opfer und/oder als Täter, oder die Eltern vielleicht selbst noch miterlebten. Viele schweigen, oder viele versuchen auch "ungerechtfertigterweise zu rechtfertigen", was z. B. der Großvater während des dritten Reichs oder im Krieg erlebte.

7.2 Schuld- und Verantwortungsgefühle in der dritten Generation

Viele Jahre lang wurde über die Geschehnisse während des Dritten Reichs geschwiegen. Die Menschen weigerten sich, zu Hause über ihre Geschichten und Erlebnisse zu erzählen und in den Schulen wurde das Thema ebenfalls lange Zeit totgeschwiegen bzw. wurde in Schulen nie offen darüber unterrichtet. Auch auf sozialpolitischer Ebene gab es keine ehrliche Auseinandersetzung mit diesem Thema. Der zweite Weltkrieg blieb fast ein halbes Jahrhundert lang ein Tabuthema in weiten Kreisen der österreichischen Nachkriegs-Gesellschaft und des öffentlichen Diskurses.

Jede neue Generation - in Bezug auf die vorliegende Arbeit die dritte Generation, d. i. die Enkelkinder der ehemaligen Opfer und Täter im Dritten Reich - soll und muss ihren eigenen Zugang zu den historischen, kulturellen und moralischen Dimensionen des Lebens im Dritten Reich und den Nationalsozialismus finden (vgl. Wernstedt 1997, S. 125).

Mittlerweile wird grundsätzlich, meist in Schulen, ein erheblicher und ungeschönter Beitrag dazu geleistet , dass die Schüler über das Dritte Reich und das Geschehen in dieser Zeit lernen und sie erhalten auch Informationen darüber, was die Großeltern möglicherweise erleben, erleiden, ertragen mussten bzw. getan haben könnten. In ihren Familien selbst wird jedoch trotzdem meist weiter geschwiegen. Nur selten erfährt das Enkelkind vom Großvater oder von den eigenen Eltern, dass dieser unter lebensunwürdigen Verhältnissen in einem Konzentrationslager gefangen war oder etwa selbst dort zum Täter wurde. Eine persönliche Beteiligung von Familienmitgliedern an Naziverbrechen wird verdrängt oder totgeschwiegen, was es der nachfolgenden Generation erschwert, sich "offen" und ehrlich mit dieser schmerzhaften Vergangenheit auseinandersetzen zu können.

Es gibt viele Gruppen von Schüler/innen, die mit Unterstützung ihrer Lehrkräfte geschichtliche Pionierarbeit leisteten, desgleichen kirchliche Gruppen und andere interessierte Personen, die versuchen die Geschichte des Dritten Reichs in Eigeninitiative aufzuarbeiten (vgl. ebd., S. 126).

Viele dieser Menschen werden dabei, auch unbewusst, von Hassgefühlen erfüllt. Hass kann entstehen gegenüber denjenigen, die in der Zeit des Dritten Reichs Handlungen setzten und Taten begingen, die aus heutiger Sicht unverständlich erscheinen. "Ich war jung (‚die Gnade der späten Geburt'), die fremden Alten konnte ich hassen", schreibt Lohscheller (1998, S. 29) in einer Arbeit zum Thema der Grenzen und Möglichkeiten antirassistischer Erziehung unter Berücksichtigung des historischen Kontexts.

Allerdings befanden/befinden sich oft genug auch die Großväter der heute dritten Generation unter diesen so genannten Tätern. Für die Generation der Enkel stellt sich nun die Frage, ob man den Großvater, den man eigentlich lieben können sollte und der einem nahe steht, nicht eher verachten sollte für Taten, die einem unbegreiflich erscheinen bzw. sind.

Das Aufkommen von Gefühlen wie Verachtung oder Hass ist durchaus möglich. Allerdings sind Gefühle von Schuld und eine Übernahme von stellvertretender Verantwortung für die Großelterngeneration eher anzunehmen.

Auch können Schuldgefühle und Scham entstehen, nicht nur für das, was sie getan hat, sondern auch für das und als Folge dessen, was den Großeltern widerfahren ist. Man übernimmt, wenn auch unbewusst, Verantwortung für das, was die Großeltern erleben mussten.

Frau Dr. Gold schreibt in einem E-Mail vom 2006-09-14, dass die Problematik der Liebe zum Großvater und der gleichzeitigen Betrachtung seiner Schuld sehr groß ist. Die Wirkung der Taten aus dem Dritten Reich ergibt sich vor allem aus dem großen Tabu, was heißen soll, dass sich die Wirkung erst aus dem Schweigen und Verschweigen in der Familie ergibt, dem "Sich-nicht-Stellen" der Verantwortlichen, nicht im Sinne eines "mea culpa", sondern eher im Sinne einer "tiefen Betroffenheit über die eigene Täterschaft und einer tiefen Betroffenheit durch die Opfer".

Aus rein phänomenologischer Sichtweise habe ich, durch meine an Anorexie erkrankten Interviewpartnerinnen, die Erfahrung gemacht und es auch gefühlsmäßig so empfunden, dass diese unter extremen Schuldgefühlen leiden. Sie haben diese Schuldgefühle manchmal gegenüber ihrem gesamten Umfeld, vor allem aber gegenüber ihren Familien und anderen sehr nahe stehenden Menschen, ohne dafür allerdings einen klar ersichtlichen Grund ausmachen zu können. Die Gefühle konnten von Seiten der Interviewpartnerinnen weder genau erklärt werden, noch konnten sie diese genauer beschreiben oder definieren. Jedoch drängten ihre Schuldgefühle die Anorektiker/innen unwillkürlich in Situationen und Handlungen, mit deren Hilfe sie der ihnen unangenehmen Schuld entkommen zu können glaubten. Sie versuchten dies vorwiegend mittels Handlungen, mit denen sie anderen das Gefühl vermitteln wollten ohnehin "gut" und verantwortungsbewusst zu sein. Im Vordergrund standen: hochrangige Leistungen zu erbringen, die die Eltern stolz machen sollten; Stärke und Härte zu zeigen bzw. jedem zu demonstrieren, dass sie in der Lage seien auf eigenen Füßen zu stehen und nicht die Hilfe anderer benötigten; Schwächen zu zeigen hätte sie wieder in ein Leben mit Schuldgefühlen gedrängt.

Die Form der Schuld, die ich in meiner praktischen Arbeit kennen gelernt habe, sitzt so tief und ist so schwer zu beschreiben, dass ich hier auch auf eine Schuld als Generationsphänomen oder als eine "Überlebensschuld" hinweisen möchte.

Ich habe in diesem Abschnitt der Arbeit absichtlich von meinen Erfahrungen und Erlebnissen mit anorektischen Menschen geschrieben, weil es äußerst schwierig ist, dieses hier beschriebene Phänomen der Schuld und Verantwortung zusätzlich mit Literatur zu belegen, da es schlicht zum Thema "Schuld der dritten Generation" sehr wenig und zum Thema "Zusammenhang von Drittem Reich und Anorexia nervosa" gar keine Literatur gibt.

Es ist mir sehr wichtig, die Schuldfrage in diesem Abschnitt zu erwähnen, da die ständige Anwesenheit der Schuld ein sehr auffälliges Merkmal in den Interviews war und man ihre Bedeutung nicht leugnen und vergessen sollte.

7.3 Ein Familienbericht von A. Durlacher

Der folgende Bericht ist entnommen aus: http://archives.arte-tv.com/societe/jmberlin/

dtext/holocaust/a_durlacher.html, Stand: 2006-05-30.

A. Durlacher (2001), die Mutter, beschreibt ihre Familie als eine glückliche, in der immer viel kommuniziert wurde. Über den Krieg wurde allerdings geschwiegen.

"Wir waren sehr glücklich. Wir sprachen immer viel miteinander, jedoch nicht über den Krieg. [...] Den Krieg hatten wir aus unserem Leben verdrängt, auch wenn Gerhard sehr oft krank war und plötzlich wegen einer Kleinigkeit sehr wütend werden konnte. Wenn er gelegentlich in der Zeitung etwas über die Lager las, schlug er sie gleich wieder zu, und ein Freund, der einmal etwas über Auschwitz wissen wollte, wurde beinahe vor die Tür gesetzt. Über das Thema konnte nicht mehr gesprochen werden."

Speziell vor den Kindern wurde über das Thema Krieg geschwiegen. Sie sollten mit der Vergangenheit ihrer Großeltern und auch ihres Vaters nicht "angesteckt" werden. Themen wie Krieg und Lager sollten nicht in die Welt der Kinder eindringen. Erst später einmal wollten die Kinder wissen, was mit den Großeltern geschehen war. Ihr Vater, Gerhard, erzählte nur kurz und beiläufig, davon.

"Die Kinder verstanden gar nichts, trauten sich aber auch nicht, nachzuhaken, da sie merkten, daß er böse und abweisend wurde. [...]"

Es wird deutlich, dass sich der Vater der Familie für die Kriegsvergangenheit schämte und das Leid dieser Zeit als Erniedrigung empfunden hatte.

"Darum verdrängte er mit aller Macht seine düsteren Erinnerungen und wollte und konnte nicht seinen Kindern davon erzählen."

Die Kinder waren sehr sensible und phantasievolle Kinder, die früher keine Gruselgeschichten mochten und später Themen über den Tod vermieden. Sie hatten das Gefühl, dass über ihrer Familie eine Art Geheimnis lag, etwas worüber unbedingt geschwiegen werden musste; deshalb hatten sie auch weiter nicht den Mut zu fragen.

"Die Kinder spürten aber, daß da ein Geheimnis war, das sie zunächst nicht erkunden konnten, später nicht mehr erfahren wollten."

Die Mutter erwähnt, dass die Familie ansonsten "normal funktionierte".

"Ich fand, wir hatten eine gute und glückliche Familie. Gerhard mochte zwar keinen Lärm, keine Feste, aber was viel wichtiger war: wir gingen sehr offen miteinander um." Das - nach den Worten der Mutter - "harmonische Familienleben" zerbrach, als eine der Töchter krank wurde.

"Meine Vorstellung von einer harmonischen Familie zerbrach, als Jessica an Magersucht erkrankte. Ich konnte es kaum fassen, als Gerhard sagte: 'Wir sind Gift für unsere eigenen Kinder'."

Kann man ein neues Leben beginnen nach einer Kindheit in Auschwitz? Wie den eigenen Kindern die Frage nach den Großeltern beantworten? Wie die traumatischen Erfahrungen im KZ erklären, wenn man die unerträglichen Erlebnisse aus der Erinnerung zu tilgen versucht? Was löst das Schweigen der Eltern bei ihren Kindern aus?

Mit diesem Beispiel der Schriftsteller-Familie Durlacher soll gezeigt werden, zu welchen Auswirkungen das Schweigen führen kann. Die Familie ist vordergründig glücklich und kommuniziert viel miteinander, sie redet allerdings nicht über den Krieg. Die Großeltern werden nur kurz erwähnt, die Kinder verstehen aber nichts, weil sie auch vom Krieg und dem Nationalsozialismus nichts wissen. Die Eltern meinen, schweigen zu müssen, weil sie die Kinder nicht mit der Kriegsvergangenheit der Großeltern und der des Vaters in Angst versetzen wollen. Die Kinder haben nicht den Mut zu fragen, obwohl sie spüren, dass da etwas ist, ein Geheimnis, das ihnen mit Müh und Not verschwiegen wird. Wenn sie fragen, reagiert der Vater wütend. An diesem Beispiel wird auch gezeigt, wie krank machend diese schweigenden Familienstrukturen sein können. Der Vater ist sehr oft krank, die Kinder sind ängstlich, ertragen keinen Lärm, und sie vermeiden alles, was irgendwie mit dem Tod zu tun hat. Schließlich erkrankt eine Tochter, Jessica, an Magersucht (s. o.) und der Kreis schließt sich.

Jessica Durlacher, heute selbst Schriftstellerin, schreibt überwiegend über Menschen, die Forschungen zu ihren Familien anstellen. Die Hauptfiguren ihrer Romane recherchieren immer wieder über Familienmitglieder, meist Großeltern, die im dritten Reich lebten. Es bleibe dahingestellt, ob ihre Bücher autobiographisch sind, aber es ist legitim anzunehmen, dass autobiographische Anteile enthalten sind. Elemente, die eine Verbindung zur Anorexie haben, kommen, wie schon erwähnt, in einigen ihrer Werke ebenso klar zum Vorschein. Aus ihrem Roman "Das Gewissen" (2001), ihrem Vater gewidmet, können einige Passagen zitiert werden, die das Thema der Anorexie ansprechen und familiengeschichtliche Probleme beschreiben.

"Ach, weil ich nichts gegessen hab. Ich konnte einfach nicht mehr essen. Essen war bei uns zu Hause nämlich ziemlich mit Emotionen befrachtet. Meinen Vater machte es wahnsinnig, dass ich nicht aß, der ist völlig ausgerastet. Es gab Szenen bei Tisch, grässlich. Ich erinnerte ihn an jemand aus dem Lager" (Durlacher 2001, S. 32).

"Nein, ich hatte eine Heidenangst vor den Wutausbrüchen meines Vaters und war zugleich von einer fast schon unmenschlichen Loyalität befangen und einem starken Mitgefühl, ihn vor seiner eigenen Wut beschützen zu müssen" (ebd., S. 95).

"Die Ängste und die Einsamkeit, die ständige Besorgnis um meine Familie! Das Schuldgefühl, ob des Verrats, wenn ich mir mal einen Tag keine Sorgen machte! Der Ehrgeiz und die Disziplin, mit der gute Noten für Klassenarbeiten erzielt werden mussten [...]" (ebd., S. 104 f.).

"Der paradoxe Kampf mit dem Essen (dick!), das einen groß und stark machen sollte" (ebd., S. 105).

Was in Schulen, Universitäten und Medien ein Thema ist, bleibt und blieb vielleicht lange Zeit in Familien ein Tabu. Es schwiegen die Väter, es schwiegen die Mütter. Es schwiegen sowohl die Journalisten über sich als auch die Juristen, die Ärzte und auch die Psychologen und Politiker (vgl. von Arnim 1989, S. 5).

Man beschwor wohl die besondere Verantwortung, die sich aus unserer tragischen Geschichte herleite, doch dass diese nationalsozialistische Tragödie ein schweres Verbrechen war, begangen von vielen, auf solche "Details" ließ man sich nicht gerne ein. Viel lieber wurde geschwiegen. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, fängt man langsam an Fragen zu stellen und zu reden. Das Thema bricht aus - sowohl bei denen, die es endlich beenden wollen, als auch bei jenen, die endlich anfangen, sich ihm zu stellen. Es spielt eine Rolle, dass der Wiederkehr des Verdrängten offenbar nicht zu entkommen ist.

"Manche von denen, die dabei waren, sehen sich - für sie unvermutet - der Erinnerung ausgeliefert. Manche von denen, die überlebten, wagen erst mit dem Abstand von Jahrzehnten den Rückblick und beginnen, ihre Geschichte zu erzählen. Manche der Nachgeborenen entdecken im Grund eigener Neurosen die versäumte Auseinandersetzung mit den Eltern, die gemeinsame Unfähigkeit, aus dem vermauerten Schweigen auszubrechen" (ebd., S. 5 f.).

Die Autorin könnte in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung der eigenen Biografie gemeint haben, da der Begriff der Neurose sehr weitläufig und oberflächlich ist.

"Wer sich in einer verkehrten Welt einrichtet, wird selbst verkehrt" (Wolf 1988, zit. nach von Arnim 1989, S. 7).

"Es spielt eine Rolle, daß die Zeitzeugen aussterben. Wir sind die Letzten, fragt uns aus" (Sahl 1985, zit. nach von Armin 1989, S. 7).

"Wie geht man mit der Vergangenheit um? ‚Indem man damit umgeht', sagte mir ein kluger Mann. Das habe ich versucht. Der Versuch ist Fragment geblieben, bruchstückhaft, unvollständig. Es gibt kein Rezept, kein Fazit, keine Katharsis. Es gibt kein Ende. Es hört nie auf. Man kann sich nicht lösen und wird nicht erlöst, aber man kann trotzdem leben und erst recht lieben. Ich bin in diesem Jahr des Lesens, des Zuhörens und des Schweigens die Vergangenheit nicht losgeworden. Im Gegenteil: Ich habe sie hinzugewonnen" (von Armin 1989, S. 8).

7.4 Traumatisierung und ihre Auswirkungen

Menschen, die den Krieg miterlebten, wurden durch ihre Erfahrungen oft schwer traumatisiert. Welche Auswirkungen diese traumatischen Ereignisse bzw. das jahrelange Verdrängen und (Ver)schweigen auf die Nachfolgegenerationen haben können, damit beschäftigt sich das Konzept der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen.

Kellermann (2005-09-13) schreibt, dass es nach einer massiven Verdrängung der Vergangenheit nicht leicht ist, das verborgene Material anzunehmen und zu verdauen. Emotionen wie Scham, Schuldgefühle, Zorn, Trauer und Beklemmung können in einer konfliktreichen Mischung zum Vorschein kommen. Auch ethische Fragen über mögliche persönliche oder kollektive Verantwortungsgefühle sollten dabei nicht ausgespart bleiben. Die emotionalen Nachwirkungen der Traumatisierungen der Überlebenden und ihrer Familien sind sogar ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg noch offensichtlich (vgl. http://www.erinnern.at, Stand: 2006-09-29).

7.5 Das Traumakonzept der Ich-Psychologie

Der Begriff Trauma stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt "durchstechen".

Bentovim (1995, S. 40) präzisiert diese Definition aus dem Griechischen zusätzlich, indem er sagt, dass bei einem Trauma etwas Intaktes verletzt wird. Es handelt sich um ein Ereignis, bei welchem die Schutzschicht eines Menschen, die die Psyche umgibt, durchbrochen wird. Langfristige Konsequenzen für das psychische und physische Wohlergehen sind die Folge, und Hilflosigkeit dominiert.

Nach Hirsch (2004, S. 9) ist die Psychoanalyse in ihrem Beginn zu verstehen als eine Theorie der Verursachung psychischer Krankheiten durch seelisch-körperliche Traumata, die in der Familie und in der Kindheit stattfanden, nicht bewusst erinnert werden können und gerade auch deshalb psychische Symptome, auch psychogene Körpersymptome produzieren.

Um den Vorgang im Körper bzw. in der Psyche eines Menschen nach einem Trauma zu beschreiben, könnte man das Trauma als Überrollen der Ich-Grenze einer Person, des Reizschutzes, verstehen.

Ein weiteres dynamisches Moment sieht Freud im Verhältnis der Stärke des traumatischen Reizes von außen und der Fähigkeit des Ich, ihm einen Reizschutz verschiedener Stärke entgegenzubringen. Diese äußeren Erregungen, die die Stärke besitzen den Reizschutz zu durchbrechen, werden als traumatische bezeichnet (vgl. Hirsch 2004, S. 14).

Bei der traumatischen Neurose stammt nach Freud die übermäßige Reizmenge aus der äußeren Umgebung (z. B. Kriegsneurose); sie ist als "die Folge eines ausgiebigen Durchbruchs des Reizschutzes aufzufassen" (Freud 1920, zit. nach Hirsch 2004, S. 14).

Hirsch (2004, S. 14) erläutert, dass gerade die Bereitschaft zur Angst den Reizschutz stark macht, und wenn sie, die Angst, in einem selbst nicht hervortritt, kann bereits ein geringer Reiz die Psyche überschwemmen.

So bekommt das Trauma immer mehr einen mechanischen Charakter. Nicht zu vergessen, dass sich das Trauma aus dem traumatisch wirkenden Ereignis und der Reaktion des Opfers - des Ich - zusammensetzt. Ein Reiz, entweder von außen oder von innen, trifft auf das Ich. Meist entsteht der Eindruck, dass es völlig sekundär oder gar gleichgültig ist, um welche Form von Reiz es sich handelt. Es kann sich dabei um eine Naturkatastrophe, um den Angriff eines Unbekannten oder eines Verwandten, zu dem also eine unter Umständen enge, bedeutsame Beziehung besteht, oder um Triebreize von innen handeln (vgl. ebd., S. 14 f.).

7.5.1 Die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen

Die Folgen von Traumata für die zweite und die folgenden Generationen sind meist bei Nachkommen Überlebender des Nationalsozialismus und anderer traumatischer Erfahrungen und Geschehnisse aus dieser Zeit beschrieben worden (vgl. Grubrich-Simitis 1979, S. 991 ff.).

Ebd. (S. 1006) erläutert weiter, dass besonders der Zwang, sich in die Eltern, in deren Erlebnisse und Gefühle einzufühlen, um ihre nicht mitgeteilte Geschichte zu erfahren und für sie ihre meist ungelebten Emotionen zu empfinden, traumatisierend wirken können. Die Kinder meinen, sich in die Gefühlswelt der Eltern einfühlen zu müssen und versuchen auf diesem Wege in einer besonderen Form der Rollenumkehr einen Defekt der Eltern auszufüllen.

Sie sollen für ihre Eltern die Brücke zum Leben sein; sie sollen die verlorenen idealisierten Liebesobjekte ersetzen, indem sie in deren abgebrochene Biographien schlüpfen und dort zu leben anfangen, wo diese zu leben aufgehört haben. Sie denken ständig an die Vergangenheit der Eltern. Sie versuchen die Leere mit Inhalt zu füllen und Symbole zu finden (vgl. ebd., S. 1008).

Die Kinder versetzen sich in die Eltern hinein, sie versuchen in der Phantasie das traumatische Ereignis ihrer Eltern wieder zu erleben, was die Projektion von Trauer und Aggression der Eltern auf die Kinder erleichtert. Diese Identifikation mit dem Ich-Bereich der Eltern führt zu den gleichen Symptomen auch in der zweiten Generation. Es wird beschreiben als ein "Sich nicht lebendig fühlen können" (Kogan 1990, zit. nach Hirsch 2004, S. 61).

Auf einen Zusammenbruch und die Niederlage des dritten Reichs war die Kriegsgeneration nicht eingerichtet. Die meisten Menschen dieser Generation hatten nach diesem Geschehen große Angst und waren desillusioniert. In den Nachkriegsjahren waren sie beschäftigt damit, ihre eigene Schuld abzuwehren und damit auch nicht in der Lage, ihren eigenen Kindern einen Weg aus der traumatischen Vergangenheit zu weisen (vgl. Bar-On 1996, S. 20 ff.).

"Oft genug wird der Versuch, die Traumata der Eltern zu symbolisieren, scheitern, wieder werden Symptomatik (Angst, Selbstwerterniedrigung, Schuldgefühl) oder konkretistisches Agieren, auch ‚Lebendig-tot-Sein' nun in der zweiten Generation notwendig sein" (Kogan 1990, zit. nach Hirsch 2004, S. 61).

Sichrovsky (1987, S. 23) meint, dass die transgenerationale Weitergabe von Traumata aus dem Dritten Reichs und des Nationalsozialismus darin besteht, dass das weitergegeben wird, was in der ersten Generation, der Kriegsgeneration, sozusagen fehlt. "In vielen Fällen haben die Kinder der Täter die Leidensrolle der Eltern übernommen" (ebd., S. 24). Die Kinder der ersten Generation versuchen das Fehlen der Scham- und Schuldgefühle nun auf ihre Weise auszudrücken.

Dass die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der Vorfahren an die folgenden Generationen weitergegeben wird und diese versuchen, sich in die Geschehnisse und traumatischen Erlebnisse einzufühlen, um die verschwiegenen Geschichten zu erfahren, ist von vielen Autoren und Wissenschaftern belegt worden. Dass viele ältere Menschen heute noch die Zeit des Nationalsozialismus glorifizieren sollte nicht unerwähnt bleiben.

Heute, in einer Zeit, in der im Geschichtsunterricht das Thema "Drittes Reich und Nationalsozialismus" nicht mehr ausgespart bleibt, verhält es sich gerade mit der dritten Generation ähnlich. Die Enkelkinder der Kriegsgeneration werden neugierig, wollen mehr wissen und fangen an, ihren Großeltern Fragen zu stellen, oder sie merken, dass in ihrer Familie etwas zu sein scheint, über das nicht gesprochen werden soll.

Zu welchen Auswirkungen es tatsächlich kommen kann, wird von Hirsch (2004) mit Fallbeispielen aus seiner eigenen Praxis deutlich beschrieben. Es kommt in den zwei folgenden Fällen klar zum Ausdruck, dass sich die Folgen einer tragischen Kriegsvergangenheit der Familie in Familienmitgliedern aus nachfolgenden Generationen manifestieren können.

7.5.2 Zwei Fallbeispiele von Mathias Hirsch

7.5.2.1 Fallbeispiel 1

"Eine etwa 30-jährige essgestörte Patientin, Frau Jolande K., von Beruf Krankenschwester, begann eine kombinierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie wegen einer schweren Selbstbeschädigungssymptomatik und einer langen Liste von Erkrankungen des Bewegungsapparates, häufigen Operationen und Unfällen. In den Vorgesprächen schilderte sie die Handwerkerfamilie, aus der sie kam, als relativ durchschnittlich, sie habe lediglich immer ‚die Vernünftige' sein müssen, weil ihre jüngere Schwester an einer schweren Muskelerkrankung gelitten habe, sodass sich alle elterliche Sorge auf die Schwester richtete. Die ersten vier Lebensmonate allerdings habe sie wegen einer Infektionskrankheit in der Kinderklinik verbringen müssen; die Eltern hätten sie nur durch eine Glasscheibe sehen können. Nach den Großeltern befragt, gab sie an, dass der Vater ihres Vaters einer von fünf Brüdern gewesen sei, von denen nur zwei die Nazizeit überlebt hätten; die Brüder hätten sich entweder gegenseitig angezeigt oder seien von der Familie denunziert worden, teilweise wegen angeblicher vererbbarer Erkrankungen oder der politischen Gesinnung; ein als schwachsinnig diagnostizierter Bruder (also ein Großonkel der Patientin) sei von der Familie im KZ mit den Worten abgegeben worden: ‚Das ist einer für euch!' Später stellte sich als die zentrale Frage der Patientin heraus, welches Recht sie habe, zu leben, wie ihr Leben aussehen könne, wenn sie nicht funktioniere, auch wenn sie nicht krank sei. Das Gefühl grenzenloser Wertlosigkeit sowie der ungeheure Druck, mit dem sie Leistungen und soziales Verhalten steuerte, hatten dazu geführt, dass sie nie eine Partnerbeziehung haben konnte, dagegen im Beruf die Anforderungen der Vorgesetzten glänzend erfüllte. Die strenge Instanz, mit der sie sich selbst unentwegt begleitete, nannte sie ‚mein innerer Volksgerichtshof'. In Bezug auf die massiven Selbstbeschädigungen und die Herstellung von artifiziellen Krankheiten meinte sie einmal: ‚Ich mach' das mit meinem Körper, was die sich damals gegenseitig angetan haben'" (Hirsch 2004, S. 64).

In diesem Beispiel erkennt man deutlich den Hass, den die Klientin gegen sich bzw. gegen ihren eigenen Körper verspürt sowie massive Selbstzerstörungstendenzen; diese spielen ja auch im Bereich der Anorexie eine große Rolle und werden im obigen Fallbeispiel sehr deutlich sichtbar. Die Frau muss in ihrer Familie immer die Rolle der vernünftigen älteren Schwester einnehmen bzw. muss sie diese Rolle auch nach außen hin, ihrem gesamtem Umfeld gegenüber, spielen. Nachdem die Schwester an einer schweren Muskelerkrankung leidet, war es für sie äußerst wichtig die Starke in der Familie zu sein bzw. zu spielen und alle notwendigen und geforderten Leistungen (für sie und ihre Schwester) zu erbringen. Diese Gefühle verfolgen sie bis heute. Sie setzt sich selbst einem ungeheuren Druck aus, um alle Leistungen und Anforderungen ihrer Vorgesetzten zu erfüllen. Sie fühlt sich ungeheuer wertlos, braucht deshalb zum Ausgleich ihren "inneren Volksgerichtshof" und die schweren Selbstbeschädigungen.

Interessant ist auch, dass bei der Klientin neben der schweren Selbstbeschädigungssymptomatik und mehrerer physischer Erkrankungen eine Essstörung erwähnt wird.

Während nun nach ebd. (S. 66) in der zweiten und dritten Generation "aufgrund der weitergegebenen unterwerfenden Identifikation mit dem Aggressor die Opferidentität perpetuiert wird", existiert heute auch eine Art "männliche" Form des Umgangs mit dem aus der Vorgeneration übernommenen Schuld-Introjekt.

Die Klientin verspürt eine massive Schuld und sie meint, sie hätte überhaupt kein Recht zu leben, was in diesem Fall als eine Form der Überlebensschuld interpretiert werden könnte. Im letzen Satz des Beispiels meint sie, sie mache nun das mit ihrem Körper, was die sich damals gegenseitig angetan haben. Sie erwähnt ihren Großvater und seine Brüder in Verbindung mit der Nazizeit, wie diese sich gegenseitig anzeigten und einen Bruder, anscheinend behindert, in ein KZ abschoben. Damals zerstörte sich die Familie gegenseitig und heute macht die Klientin das gleiche mit sich und ihrem Körper.

Ebd. (S. 67) schreibt, dass es sich hierbei um eine identifikatorische Nachahmung aufgrund einer sekundären Identifikation handelt.

7.5.2.2 Fallbeispiel 2

"Armin L. entwickelte im Alter von 12 Jahren derartige aggressive und antisoziale Verhaltensweisen, dass der Verweis von der Schule drohte. Armin lebte allein mit der Mutter, nachdem diese sich von Armins Vater getrennt hatte. Der Vater wurde als extrem aggressiv beschrieben, in jähen Stimmungsschwankungen habe er sowohl Armin als auch die Mutter häufig geprügelt, sei dann oft wieder weinerlich und mitleidheischend gewesen. Er hatte eine Firma in den Konkurs getrieben; die Schuldenlast musste Armins Mutter, die der Vater einmal zur Unterschrift gedrängt hatte, allein tragen. Die Familie war nach Übersee geflohen, dort verstärkte sich aber bald die Aggressivität des Vaters, sodass die Mutter mit Armin zurückkehrte, obwohl sie in Deutschland die immensen Schulden abtragen musste. In seiner extremen Kränkung versuchte der Vater, Armin zu entführen, was in letzter Minute mit Polizeigewalt verhindert werden konnte. - Von Armins Vater wurde bekannt, dass er Sohn eines hohen Nazibeamten war, der, von den Alliierten zum Tode verurteilt, am Tage vor der Vollstreckung aber begnadigt und schließlich entlassen worden war, als Armins Vater etwa neun Jahre alt war. Weil der Vater so lange inhaftiert gewesen war, kannte der Junge damals den Vater gar nicht und war umso mehr entsetzt, als der unbelehrbare, extrem gekränkte Vater eine Schreckensherrschaft installierte, die durch folgendes Bild illustriert werden kann: Die Familie saß stumm am Mittagstisch, die Suppe war noch sehr heiß, sodass das Kind sie nicht essen konnte. Voll stummer Wut über den vermeintlichen Ungehorsam packte der Vater den Nacken des Jungen und drückte sein Gesicht in den Teller mit heißer Suppe" (ebd., S. 66 f.).

Abb. 3 Hirsch 2004

Abb. 4 Hirsch 2004

In diesen Abbildungen scheint sich etwas darzustellen, was auch aus der Nazigeschichte herrühren könnte. Seine aggressiven Phantasien drückt Armin mit Waffen, Panzern, Leichen und Gesichtern voller Aggressivität aus.

Auch nach ebd. (S. 69) scheint sich bei dem Jungen, "unheimlich genug, etwas Spezifisches abzubilden, das aus der Nazitradition stammen könnte: Die Vernichtungsphantasie wird in Form von maschinellen Apparaten dargestellt, die von uns, den Therapeuten, durchaus als Äquivalent der Anlagen fabriksmäßiger Massenvernichtung aufgefasst wurden".

Weiters sieht der Autor in diesen aggressionsgeladenen Verhaltensweisen auch unbewusste Integrationsversuche des Destruktiven der Großeltern-Generation durch den Jugendlichen (vgl. ebd., S. 70).

Es geht in diesen Fallbeispielen nicht um an Anorexia nervosa Erkrankte, da sich derartige Beispiele in der Literatur bis jetzt nicht finden lassen (mit Ausnahme des Berichts von A. Durlacher). Trotzdem kann man auch in anderen Beispielen (s. o.) deutlich sehen, dass die Geschichte des dritten Reichs und auch die Nazi-Vergangenheit Spuren bei der Nachfolgegeneration hinterlassen. Spuren, die sich in Form von psychischen und physischen Krankheiten äußern.

Die Enkelkinder wissen oft nur sehr wenig über ihre Großeltern und den Krieg, meist aber tatsächlich deshalb, weil darüber nicht geredet wurde oder wird oder sie merken, dass es z. B. dem Großvater unangenehm ist, über seine Vergangenheit zu reden: und schließlich wird er auch nicht mehr über Kriegsgeschichten "ausgefragt". Die Nachfolgegeneration weiß, dass ihre Familien auch eine bestimmte Kriegsvergangenheit haben, will aber nicht zu viel fragen, weil sie merkt, dass irgendetwas daran unangenehm ist oder sie nicht den Mut hat zu fragen, weil sie ahnt, dass auch ehemalige Nationalsozialisten in der Familie sind/waren. Die Enkelkinder haben also ihrerseits mit Gefühlen von Angst und Unwissen zu kämpfen.

8 Beschreibung der Untersuchungsmethode

8.1 Überblick über die Vorgehensweise

Am Beginn des praktischen Teils meiner Arbeit bzw. meiner Untersuchung im Juli 2006, d. h. der Durchführung der Interviews, stellte sich für mich die Frage, welche der betroffenen Personen ich interviewen solle: die an Anorexie Erkrankten, deren Eltern oder vielleicht deren Großeltern? Schlussendlich kam ich zu der Entscheidung, dass die direkt Betroffenen, also die AnorektikerInnen, wohl am besten und am meisten von sich selbst, ihrer Umgebung und vor allem - für mich am interessantesten - von ihren Gefühlen, ihrer Erlebenswelt und nicht zuletzt ihrer Familie erzählen könnten, eine Annahme, die sich im späteren Verlauf meiner Arbeit auch als richtig erwies. Im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit, die den Schwerpunkt in der Untersuchung und Erforschung der Entstehungsgründe von Anorexie, der emotionalen Erlebniswelt der Erkrankten und deren familiärem Umfeld sieht, hat der empirische Teil den Zweck, den theoretischen Teil zu kommentieren und zu veranschaulichen.

Ich entschied mich zu diesem Zweck für die Methode des problemzentrierten Interviews. Die zentralen Aspekte meiner Befragung wurden von mir vor Beginn der Untersuchung erarbeitet und ein Leitfaden wurde erstellt. Es war für mich wichtig, dass meine Interviewpartnerinnen, die sich ohnehin in einer äußerst schwierigen Lebensphase und zudem oft und lange Zeit in einem Krankenhaus befinden oder schon befanden, die Möglichkeit bekommen sollten, frei und möglichst ohne Richtlinien sprechen und erzählen zu können. Trotz alledem kam ich letztlich im Sinne einer Ergebnisorientierung nicht umhin, sie mit meinem Leitfaden immer wieder in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich wollte aber auch und vor allem, so weit mir dies möglich war, eine Situation gegenseitigen Vertrauens schaffen. Die Interviewpartnerinnen sollten sich auf keinen Fall ausgehorcht fühlen. Ich versuchte sie mit dem Leitfaden auf bestimmte Fragestellungen hinzulenken, die es ihnen möglich machen sollten, offen und ohne Vorgaben antworten zu können. Sie waren somit in ihrem Antwortverhalten weitestgehend frei und konnten auch Antworten verweigern (Methodik des problemzentrierten Interviews).

Ich nahm Kontakt auf mit der Psychosomatik und Psychosozialen Psychiatrie an der Universitäts-Klinik Innsbruck, in dem Wissen, dass dort in zunehmendem Maße Menschen aufgenommen werden, die an Essstörungen leiden. Es wurde dort sehr offen und interessiert alles in die Wege geleitet, um mir die Durchführung meiner Interviews zu ermöglichen. Ich wurde dem gesamten Team vorgestellt und hatte nun die Möglichkeit, immer dann, wenn ich ein Interview vorbereitet hatte, an die Klinik zu kommen. Ich schloss mich dann aktuell der jeweils durchgeführten Visite an und wurde den anorektischen Mädchen und Frauen vorgestellt. Es waren im Zeitraum der Durchführung meiner Interviews, von Anfang Juli bis Mitte September 2006, ausschließlich Mädchen und Frauen im Alter von 17 bis 46 Jahren stationär aufgenommen und kein männlicher Klient. Ich erklärte den Frauen jeweils kurz, worum es in meiner Arbeit gehe, wobei ich sie vorrangig wissen ließ, dass ich den Zusammenhang zwischen bestimmten Wertehaltungen und Gefühlen und der Familie von magersüchtigen Menschen und deren Erkrankung untersuche möchte. Wir vereinbarten Interviewtermine und die Gespräche wurden jeweils an der Klinik in einem kleinen Aufenthaltsraum durchgeführt.

Die Interviews sind also Einzellfallstudien. Es handelt sich, wie oben erwähnt, um anorektische Mädchen und Frauen, die sich zum Zeitpunkt des Interviews gerade in der Innsbrucker Universitäts-Klinik in stationärer Therapie befanden. Mehr Informationen zur Person möchte ich zum Schutz meiner Interviewpartnerinnen in dieser Arbeit nicht veröffentlichen.

Die insgesamt neun durchgeführten Interviews dauerten jeweils zwischen 1 1/2 bis 2 1/2 Stunden. Zu Beginn eines jeden Gesprächs gab ich auch den befragten Personen meinen Interviewleitfaden, damit sie nach unserem Gespräch noch einmal die Möglichkeit hatten zu reflektieren. Zudem wurden die Fragen, welche teilweise sehr selbstreflexiv und demnach schwierig sind, mit der jeweiligen Therapeutin nach Wunsch noch einmal besprochen.

Zu einem Teil meiner Interviews verfasste ich im Anschluss ein Postskriptum (Methodik des problemzentrierten Interviews). Insbesondere bei jenen Klientinnen, bei denen mir oft gleich zu Beginn Gestik, Sprechen und Stimme auffällig erschienen: eine ganz leise, piepsende Stimme, sehr schnelles, auch nervöses Sprechen, Abschweifen vom Thema in das gleichsam Unendliche oder eine ständige Bewegung und Unruhe der Hände.

Die Interviews wurden mit Hilfe der literarischen Umschrift (vgl. Punkt 8.3.2) und auch teilweise den nachstehend angeführten Transkriptionszeichen folgend niedergeschrieben.

Transkriptionszeichen

Transkriptionszeichen

Bedeutung

montag kam er ins krankenhaus

MONtag kam er ins krankenhaus

MONtag kam er * ins krankenhaus

MONtag kam er ** ins krankenhaus

MONtag kam er *2* ins krankenhaus

MONtag kaaam er *2* in=s krank´n/

MONtag kaaam er *2* in=s krank´n/ (WEINEN)

MONtag kaaam er *2* in=s <krank'n/ (WEINEN)

I: #Wann# / A: #MONtag# kaaam er *2* in=s <krank´n/(WEINEN)

Jede Zeile nummerieren (auch leere Zeilen)

Anonymität: Namen (Verena: V., Kärnten: K., alle anderen Namen ebenfalls abkürzen)

Interviewtext (nur Kleinschreibung!)

Betonung von Silben durch Großschreibung

Kurzpause durch *

längere Pause durch **

Pause über 1 Sek. mit Längenangabe *Sek.*

Dehnung durch Buchstabenwiederholung

Kommentar in Klammern und Großbuchstaben

Tonhöhe fallend < (steigend >)

gleichzeitiges Reden von Interviewer (I) und interviewte Person (hier:A) markiert durch Doppelkreuz (#)

Die Auswertungen der Interviews erfolgten nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Punkt 8.3.4). Dabei konzentrierte ich mich auf jene Passagen meiner Interviewprotokolle, die sich in engerem Sinne auf den Gegenstand der Forschungsfrage beziehen und am aussagekräftigsten sind. Nach Mayring (1988) ist diese Vorgehensweise unter dem Punkt Festlegung des Materials beschrieben. Dort heißt es, dass nicht alle Interviewprotokolle komplett inhaltsanalytisch ausgewertet werden, sondern nur Ausschnitte, die sich auf das Forschungsthema beziehen (vgl. Lamnek 1989, S. 202). In weiterer Folge wurden die Interviews in Verbindung mit der Methode nach Mayring auch tiefenstrukturell interpretiert und miteinander verglichen. Dafür nahm ich Anleitungen nach Leithäuser und Volmerg zu Hilfe.

8.2 Die qualitative Forschungsmethode

Im empirischen Teil der hier vorliegenden Arbeit werden nun die Theorie und die Methode beschrieben, mit der die Untersuchung durchgeführt wurde. Es wurden, wie erwähnt, Mädchen und Frauen interviewt, die an Magersucht erkrankt sind, wobei vor allem auf deren Lebens- und Gefühlswelt näher eingegangen wurde und schließlich auch auf deren Familien, die Familienkonstellationen und die einzelnen Familienmitglieder.

Diese qualitative Untersuchung hat also zur Aufgabe, den vorangegangenen theoretischen Teil der Arbeit und seine Thesen bzw. Fakten mit Hilfe der durchgeführten Interviews zu dokumentieren.

8.2.1 Vorstellung des Materials

Absicht, Vorgangsweise und Methode wurden oben bereits kurz dargestellt. Es soll lediglich noch ergänzt werden, dass das Erzählprinzip hier im Vordergrund steht und durch sehr offene Fragen bezüglich des für den Fragenden/Untersuchenden interessanten Problembereichs eingegrenzt wird.

Es steht jeder Fall sowie jede Untersuchung als "Einzelfall". Die subjektiven Empfindungen bzw. intimen Äußerungen der interviewten Klientinnen sind Mittelpunkt eines jeden Interviews. Ziel ist es, Auffälliges und, verglichen mit den Aussagen der anderen Befragten, Ähnliches aus einer Vielzahl von Informationen herauszufiltern. Im Fokus des Interviews stehen die Anorexie bzw. die Wertehaltungen aus den Familien der Mädchen und Frauen und vor allem gewisse "Auffälligkeiten" aus deren Gefühlswelt.

Es wird im Folgenden versucht, die theoretischen Grundlagen der qualitativen Forschung darzustellen. Zunächst werden die Grundsätze qualitativen Vorgehens herausgearbeitet.

8.2.2 Zentrale Prinzipien der qualitativen Sozialforschung

Lamnek (1995, S. 22 ff.) hat sechs Prinzipien der qualitativen Sozialforschung entwickelt, welche er als die "Programmatik qualitativer Sozialforschung" bezeichnet. Sie werden nachstehend kurz erläutert:

Das erste Prinzip beschreibt die Offenheit gegenüber der Untersuchungsperson (inklusive ihrer individuellen Eigenarten), aber auch jene gegenüber der Untersuchungssituation und den im Einzelnen anzuwendenden Methoden, vor allem, wenn unerwartete Umstände eine Abweichung von der ursprünglichen Planung nahe legen. Die Hypothesen sollen erst im Forschungsprozess entwickelt werden. Der Untersucher muss offen sein für neue Entwicklungen und Dimensionen, die ebenfalls in die Aufstellung der Hypothesen einfließen können. "Der Hypothesenentwicklungsprozess ist daher bei qualitativen Projekten - zumindest dem Lehrbuch nach - erst mit dem Ende des Untersuchungszeitraums ‚vorläufig' abgeschlossen" (ebd., S. 23).

Beim Prinzip Forschung als Kommunikation stehen die Kommunikation und die Interaktion zwischen dem Forscher und dem Probanden im Mittelpunkt. Forschung versteht sich als Kommunikation und Interaktion zwischen dem Forscher und dem zu Erforschenden. "Die Sicht der Wirklichkeit ist perspektivenabhängig und mit dem Wechsel der Perspektive ändert sich auch das, was als wirklich gilt" (ebd., S. 23).

Das Prinzip Prozesscharakter von Forschung und Gegenstand beschreibt die Prozesshaftigkeit von sozialen Phänomenen. "Qualitative Sozialforschung nimmt die Verhaltensweisen und Aussagen der Untersuchten nicht einfach als statistische Repräsentation eines unveränderlichen Wirkungszusammenhangs, sondern als prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion von sozialer Realität" (ebd., S. 25). Es soll dabei auch die wissenschaftliche Erfassung der Entstehung von sozialen Phänomenen garantiert werden. Das Forschen selbst, das die Kommunikation zwischen Untersucher und Proband voraussetzt, hat prozesshaften Charakter. Alle beteiligten Personen wirken an der Konstruktion von Wirklichkeit und an der Aushandlung von Situationsdefinitionen mit. Der Forscher selbst ist involviert, was ein wesentlicher Bestandteil des gesamten Prozesses ist und schließlich dadurch auch das Ergebnis beeinflusst.

Das vierte Prinzip nennt Lamnek Reflexivität von Gegenstand und Analyse. Jeder menschlichen Handlung wird eine Sinnzuweisung gegeben, die mit dem Begriff der "Indexikalität" definiert ist. "Dies meint, dass jede Bedeutung kontextgebunden und jedes Zeichen Index eines umfassenden Regelwerks ist. Damit verweist jede Bedeutung reflexiv auf das Ganze, wird die Bedeutung eines Handelns oder eines sprachlichen Ausdrucks nur durch den Rekurs auf den (symbolischen oder sozialen) Kontext seiner Erscheinung verständlich" (ebd., S. 25).

Die Explikation beschreibt die Erwartung an die Untersucher: Diese sollen die einzelnen Schritte des Forschungsprozesses so weit wie möglich offen legen. Es werden sowohl die Regeln, nach denen die erhobenen Daten interpretiert werden, als auch die Regeln, nach denen z. B. das Interview erst in Daten umgeformt wird, erläutert.

Das Prinzip der Flexibilität erklärt, dass es aufgrund eines flexiblen Erhebungsverfahrens einfacher ist, sich den jeweiligen Eigenheiten des Untersuchungsgegenstandes anzupassen. Auch wird es dadurch ermöglicht, die im Verlauf des Forschungsprozesses erzielten Erkenntnisse für die nachfolgenden Untersuchungsschritte sinnvoll zu verwerten.

Mayring (1996, S. 9 ff.) führt in seiner Theorie des qualitativen Denkens nachstehende Grundlagen an, die das Grundgerüst desselben darstellen:

  1. Die Forderung stärkerer Subjektbezogenheit der Forschung meint, dass die von der Forschungsfrage betroffenen Subjekte Ausgangspunkt und Ziel der Untersuchung sein müssen.

  2. Die Deskription der Forschungssubjekte besagt, dass der Ausgangspunkt der Forschung eine genaue und umfassende Beschreibung des Gegenstands ist.

  3. Der Untersuchungsgegenstand liegt nie völlig offen, deshalb ist immer auch eine Interpretation der Forschungssubjekte notwendig.

  4. "Humanwissenschaftliche Gegenstände müssen immer möglichst in ihrem natürlichen, alltäglichen Umfeld untersucht werden" (ebd., S. 12).

  5. Menschliches Handeln ist situativ gebunden und mit subjektiven Bedeutungen behaftet, daher lässt sich die Verallgemeinerbarkeit der Resultate durch ein Verfahren wie das der repräsentativen Stichprobe nicht garantieren. Sie muss im Einzellfall schrittweise begründet werden.

8.3 Verfahren der qualitativen Analyse

"Qualitatives Forschen darf nicht verschwommen sein; die Vorgehensweisen müssen offengelegt und systematisiert werden wie quantitative Techniken auch. Nur so lassen sie sich vernünftig, gegenstandsangemessen einsetzen, nur so lassen sie sich auch untereinander kombinieren und mit quantitativen Analyseschritten dort, wo es notwendig ist, verbinden" (ebd., S. 48).

Im Folgenden werden die in dieser Arbeit verwendeten Methoden der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung der Interviews beschrieben.

8.3.1 Allgemeines zum problemzentrierten Interview (das PZI als Erhebungsverfahren)

In diesem Abschnitt wird auf allgemeine theoretische Grundsätze des PZI hingewiesen; dabei werden die bereits weiter oben erwähnten Vorgangsweisen dieser Methode ausgespart.

Unter dem Begriff des problemzentrierten Interviews (PZI), den Witzel (1982, S. 66 ff.) geprägt hat, versteht man alle Formen der halbstrukturierten, offenen Befragung. "Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, um einem offenen Gespräch nahezukommen" (Mayring 1996, S. 50).

Witzel (1982, S. 70 f.) beschreibt drei Prinzipien des problemzentrierten Interviews:

Mit dem Begriff der Problemzentrierung meint er, dass das Interview auf eine bestimmte Problemstellung zentriert werden muss. Die grundlegenden Fragestellungen der Untersuchung soll der Untersuchende bereits vor der Interview-Durchführung erarbeitet haben.

Die zweite Grundposition, die Gegenstandsorientierung des Verfahrens, bedeutet, dass das PZI eine äußerst flexible Methode ist, die sich an den Bedürfnissen der zu untersuchenden Person orientiert.

Mit der Prozessorientierung meint Witzel "die flexible Analyse des wissenschaftlichen Problemfeldes, eine schrittweise Gewinnung und Prüfung von Daten, wobei Zusammenhang und Beschaffenheit der einzelnen Elemente sich erst langsam und in ständigem reflexiven Bezug auf die dabei verwandten Methoden herausschälen" (ebd., S. 71).

Im PZI wird der sprachliche Zugang gewählt. Die Befragten können ihre ganz subjektiven Deutungen und Perspektiven offen legen, sie können selbst Zusammenhänge und größere kognitive Strukturen im Interview entwickeln.

Es können während des Interviews Widersprüche entstehen, auch können sich neue Aspekte zur Fragestellung entwickeln oder möglicherweise vorangegangene Aussagen korrigiert werden. Durch ein gezieltes Nachfragen kann dies jedoch geklärt werden (vgl. Mayring 1996, S. 51).

Die Anwendung des PZI empfiehlt sich besonders in jenen Fällen, in denen "schon einiges über den Gegenstand bekannt ist, überall dort, wo dezidierte, spezifischere Fragestellungen im Vordergrund stehen" (ebd., S. 52) und bot sich aus diesem Grunde gerade für meine Arbeit und Absicht als günstiger Weg an.

Die nachfolgende Grafik ist angeführt um die einzelnen Schritte des PZI deutlicher zu veranschaulichen.

Abb. 5 Ablaufmodell des problemzentrierten Interviews. (Mayring 1996, S. 53)

Die Formulierung und die Analyse des Problems sollten für eine sachgerechte Durchführung des Interviews am Anfang stehen (Problemanalyse). Daraus entstehen die zentralen Aspekte für den Interviewleitfaden. Es folgt die Leitfadenkonstruktion. Der Leitfaden enthält die einzelnen Fragen und Thematiken zum Gespräch in einer vernünftigen, überschaubaren Reihenfolge und auch Vorschläge zur Formulierung der Fragen bzw. Formulierungsalternativen. Der nächste Schritt besteht nun in einer Pilotphase. Es werden Probeinterviews durchgeführt. Die Pilotphase ist wichtig für eine Interviewschulung und gleichzeitig wird der Leitfaden getestet. Anschließend beginnt die eigentliche Interviewphase.

Das Gespräch beinhaltet dabei im Wesentlichen folgende drei Teile:

Die Sondierungsfragen: Sie sind allgemein gehaltene Einstiegsfragen. Es soll dabei eruiert werden, welche subjektive Bedeutung die Thematik für den Befragten besitzt.

Die Leitfadenfragen: Sie beinhalten jene Aspekte, die im Interviewleitfaden als zentral festgelegt sind.

Die Ad-hoc-Fragen: Sie werden oft spontan formuliert, weil der Interviewer immer wieder auf Aspekte stoßen wird, die im Leitfaden nicht festgehalten, aber für die Aufrechterhaltung des Gesprächsfortgangs bedeutsam sind (vgl. ebd., S. 52).

Um das eruierte Material auch festhalten zu können, wird das Gespräch, im Einverständnis mit den Interviewten, mittels eines Tonbandgeräts aufgezeichnet (Aufzeichnung).

Die Gesprächssituation selbst lässt sich laut Lamnek (1989, S. 75 f.) in vier Phasen einteilen:

Wie auch im narrativen Interview werden beim PZI zu Beginn des Gesprächs die erzählende Gesprächskultur und der Problembereich der sozialen Wirklichkeit festgelegt.

Der zweite Schritt ist die allgemeine Sondierung. Mit Erzählbeispielen des Interviewers soll die Erzählphase des Befragten stimuliert werden bzw. sollen sie dazu dienen, mögliche emotionale Vorbehalte des Interviewten gegenüber bestimmten Themen zu reduzieren. Der Faden des Gesprächs wird mittels entsprechenden Nachfragens weiter verfolgt bzw. wird versucht, den Befragten zu detaillierteren Aussagen zu bewegen.

Anschließend folgt die spezifischeSondierung, in der der Interviewer versucht, die Darstellungsvarianten und Sequenzen der Erzählung nachzuvollziehen. Der Forscher hat hier drei Möglichkeiten der Verständnisgenerierung. Mit der so genannten Zurückspiegelung bietet der Forscher dem Interviewten ein Interpretationsangebot einer Erzählsequenz. Der Befragte hat dann die Möglichkeit, die Deutungen zu kontrollieren, zu modifizieren und zu korrigieren.

Der Interviewer kann auch eine Verständnisfrage stellen. Diese dient dazu, widersprüchliche und nicht verstandene Äußerungen zu thematisieren um dadurch gültigere, präzisere Interpretationen zu erlangen.

Die dritte Phase ist die der Konfrontation, welche allerdings eher vorsichtig anzuwenden ist, da der Interviewte mit Unklarheiten und Widersprüchen konfrontiert wird, was zu einer Gefährdung des Interviewklimas führen kann.

In der vierten Phase hat der Forscher die Möglichkeit, Fragen zu den Themenbereichen zu stellen, die der Interviewte von sich selbst aus noch nicht angesprochen hat. An dieser Stelle sind nun die oben beschriebenen "ad-hoc-Fragen" möglich.

Den 4 Phasen kann eine so genannte Phase 0 vorangestellt werden, die darin besteht, dem Befragten einen standardisierten Kurzfragebogen vorzulegen, was in sich als schwierig anbahnenden Gesprächssituationen den Einstieg in ein Gespräch erleichtern kann.

8.3.2 Datenaufbereitung

Die Transkription der einzelnen Gespräche zwischen Forscher und interviewter Person ist für eine ausführliche Auswertung und Interpretation unabdingbar. Die später in der Arbeit beschriebene Auswertungstechnik setzt eine wörtliche Transkription voraus.

Während der Auswertung lassen sich in einem Transkript Textstellen vergleichen und Randnotizen machen; man kann Wichtiges und Auffälliges unterstreichen und vor allem kann man immer genau die Seiten aufblättern, die man zum Bearbeiten des Interviews gerade benötigt. Das Tonbandgerät alleine würde die Arbeit deutlich erschweren.

"Durch wörtliche Transkription wird eine vollständige Textfassung verbal erhobenen Materials hergestellt, was die Basis für eine ausführliche interpretative Auswertung bietet" (Mayring 1996, S. 69).

Es gibt im Wesentlichen drei Techniken um ein Interview zu transkribieren:

Die Übertragung in normales Schriftdeutsch ist die am stärksten eingreifende und verändernde Protokolltechnik: Sprachstilverfeinerung, Satzbaukorrekturen und Dialektbereinigung. Diese Technik ist dann von Vorteil, wenn der Befragte Zeuge, Experte oder Informant ist.

Die zweite Methode ist die literarischeUmschrift, dh, dass der Dialekt im allgemein gebräuchlichen, hochsprachlichen Alphabet transkribiert wird.

Die dritte Technik ist die Verwendung des InternationalenPhonetischenAlphabets. Dieses Alphabet ist speziell für das gesprochene Wort entwickelt worden, vor allem, um alle Arten von dialektischen und sonstigen sprachlichen Feinheiten genauestens wiedergeben zu können (vgl. ebd., S. 69 f.).

8.3.3 Die qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsverfahren

"Die Stärke der Inhaltsanalyse ist, daß sie streng methodisch kontrolliert das Material schrittweise analysiert. Sie zerlegt ihr Material in Einheiten, die sie nacheinander bearbeitet. Im Zentrum steht dabei ein theoriegeleitet am Material entwickeltes Kategoriesystem; durch dieses Kategoriensystem werden diejenigen Aspekte festgelegt, die aus dem Material herausgefiltert werden sollen" (ebd., S. 91).

Entwickelt wurde die primär kommunikationswissenschaftliche Technik in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in den USA insbesondere zur Analyse der sich immer stärker etablierenden Massenmedien wie Zeitungen und Radio, die systematisch und meist quantitativ ausgewertet wurden, um Genaueres über ihren Einfluss auf die Gesellschaft zu erfahren. Jedoch wurde schließlich bald nach einer qualitativen Inhaltsanalyse verlangt. Laut J. Ritsert (1972) wurde, wie in Mayring (1996, S. 91) nachlesbar, mittels der quantitativen Technik vor allem vier Aspekten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kontext von Textbestandteilen, latente Sinnstrukturen sowie markante Einzelfälle seien seiner Meinung nach durch die quantitative Technik kaum berücksichtigt worden Ebenso wenig wurde auch das berücksichtigt, was im Text nicht vorkam.

Die Vorgangsweise in der qualitativen Inhaltsanalyse lässt sich mit folgenden Schlagworten kurz präzisieren:

Die Aussagen der interviewten Personen werden durch die Techniken der Zusammenfassung, der Explikation oder der Strukturierung herausgearbeitet und fallspezifischen Kategorien zugeordnet.

Der Forscher legt also ein SystemvonKategorien fest, auf die hin das vorhandene Material untersucht wird.

Schließlich werden die individuellen Einzelfalldarstellungen fallübergreifend generalisiert und interpretiert (Mayring 1988, zit. nach Lamnek 1989, S. 213).

Die drei Grundformen qualitativer Inhaltsanalyse sind folgende:

a. Die Zusammenfassung: Bei der Zusammenfassung ist es das Ziel der Analyse, das vorhandene Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte des Interviews nicht verloren gehen. Durch das Mittel der Abstraktion wird eine überschaubare Einheit geschaffen, welche immer noch ein klares Bild des Grundmaterials ohne wesentliche Verluste zeigt. Mittels dieser Technik können gewaltige Materialmengen bearbeitet und auf einen überschaubaren Umfang reduziert werden.

Folgende Schritte sind nach Lamnek (1989, S. 204) bei der Zusammenfassung zu beachten:

1. Die Paraphrasierung: Es werden alle irrelevanten Textstellen (z. B. Wiederholungen) gestrichen und das restliche Material wird auf eine einheitliche Sprachebene gebracht bzw. in eine grammatikalische Kurzform umgewandelt.

2. Die Generalisierung: Die erhaltenen Paraphrasen werden verallgemeinert. Die alten Gegenstände müssen in den neu formulierten enthalten sein.

3. Erste Reduktion: Bedeutungsgleiche und nicht inhaltstragende Paraphrasen werden gestrichen, die anderen Paraphrasen werden übernommen.

4. Zweite Reduktion: Die Paraphrasen mit ähnlichen und gleichen Aussagen werden zusammengefasst (Bündelung). Paraphrasen mit mehreren Aussagen werden ebenfalls zusammengezogen (Konstruktion/Integration)

5. Kategorienbildung: Für die Kategorienbezeichnung wird ein Begriff oder ein Satz, der möglichst nahe am gerade bearbeiteten Material liegt, formuliert. Die im Analyseverlauf zu der konstruierten Kategorie passenden Textstellen werden dieser Kategorie zugeordnet. Wenn die neue Textstelle nicht zu der gebildeten Kategorie passt, wird eine neue Kategorie gebildet.

Abb. 6 Zusammenfassung eines Interviewausschnitts mit einem arbeitslosen Lehrer. (Mayring 1996, S. 67 f.)

b. Die Explikation: Bei der Explikation ist es das Ziel, zu einzelnen zunächst unklaren und weiter interpretationsbedürftigen Sätzen und Begriffen zusätzliches, erklärendes Material zu suchen und heranzutragen, um das Verständnis eines Begriffes bzw. einer Aussage zu erleichtern oder zu unterstützen. Die Explikation ist im eigentlichen Sinn eine Kontextanalyse, dh aus dem Kontextmaterial soll eine erklärende Paraphrase gebildet werden (vgl. Mayring 1996, S. 94). Textstellen, in denen sich der Gesprächspartner für den Interviewer unverständlich ausgedrückt hat, werden also somit erläutert.

c. Die Strukturierung: Bei der Strukturierung wird eine bestimmte Struktur (formale, inhaltliche, skalierende oder typisierende Aspekte) aus dem Material herausgefiltert, unter zuvor fixierten Ordnungskriterien ein Querschnitt durch das Material gelegt oder das Material wird aufgrund bestimmter Kriterien eingeschätzt. Hauptteil dieser Technik ist es nun, das Kategoriensystem so genau zu definieren, dass eine präzise Zuordnung des Textmaterials zu den einzelnen Kategorien immer möglich ist.

Dieses Verfahren setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:

  1. Definition der Kategorien: Es erfolgt eine genaue Festlegung, welche Textbestandteile welcher Kategorie zugeordnet werden sollen.

  2. Ankerbeispiele: Konkrete Textstellen werden angeführt, die unter eine bestimmte Kategorie fallen und für diese als Beispiel gelten sollen.

  3. Kodierregeln: An bestimmten Stellen, wo Abgrenzungsprobleme zwischen einzelnen Kategorien bestehen, werden Regeln formuliert, um ein eindeutiges Zuordnen zu ermöglichen. (vgl. ebd., S. 94 f.)

Ich entschied mich in meiner Arbeit für die Methode der Zusammenfassung. Es handelt sich bei meinen Interviewtranskriptionen um eine große Menge an Material, welches es zu reduzieren galt, um die wesentlichen Paraphrasen herausfiltern zu können.

8.3.4 Psychoanalytische Textinterpretation

Im Verfahren der psychoanalytischen Textinterpretation, entwickelt von Leithäuser, Volmerg und Lorenzer, soll über das Material, den Text also, auf tiefer liegende Strukturen (Verdrängtes) geschlossen werden. Nach Ansicht der Autoren wäre das zu analysierende Material nicht vollständig verständlich, wenn die sehr wichtigen unbewussten Inhalte nicht auch berücksichtigt würden (vgl. ebd., S. 101 f.).

Diese Form der Interviewinterpretation meint also, dass der zu analysierende Text nicht voll verständlich wäre, wenn man sozusagen lediglich an der Oberfläche stehen bliebe.

Es sollen und müssen im Sinne vollständiger Information verdrängte Gehalte freigelegt und in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und Relevanz analysiert werden.

Zunächst soll der manifeste Inhalt des Materials erfasst werden, was auch als das logische Verstehen bezeichnet wird. Es wird der Text insgesamt als einheitliche Struktur erfasst; allerdings wird bereits dabei nach auffälligen Widersprüchlichkeiten gesucht, die Indikatoren für Verdrängungsprozesse und unbewusste Handlungen sein können.

Den nächsten Schritt bezeichnet man als ein psychologisches Verstehen des Textes. Dabei handelt es sich schließlich um eine genauere Widerspruchsprüfung, bei der man auf Gestik, auf affektive Gehalte des Gesprächs und auf das konkrete situationsbezogene Verhalten des Sprechers achtet. Man könnte beispielsweise versuchen auf Widersprüche zwischen Text und Gestik besonderes Augenmerk zu legen (vgl. ebd., S. 103). Die visuellen Auffälligkeiten während meiner Interviews wurden von mir, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, fallweise in einem Postskriptum festgehalten.

Beim sg. szenischen Verstehen wird versucht, die sprachlichen Äußerungen auch in Zusammenhang mit der Interaktion von Interviewer und Interviewtem zu betrachten. Es soll damit auch hinterfragt werden, welche Bedeutung die entsprechenden Interaktionen im Hinblick auf das Leben des Befragten haben. Aus dem Vergleich von diversen Szenen könnten sich auffällige Muster erkennen lassen, die mit anderen Mustern verglichen werden können (vgl. Leithäuser et al. 1979, S. 173 f.).

Beim tiefenhermeneutischen Verstehen als nächsten Schritt analysiert und thematisiert man die Verdrängungen. Dabei greift man auf die Ergebnisse der vorangegangenen Schritte zurück und versucht zu ergründen, wo Sprach- und Interaktionsmuster sich als Verdrängungsmechanismen erweisen könnten. Diese Analyse führt schließlich zur Rekonstruktion der Sinngehalte.

Bei der tiefenhermeneutischen Rekonstruktion kommt man zu der entscheidenden Frage, was verdrängt wurde und warum es verdrängt wurde (vgl. Lissmann 2001, S. 49).

Die von mir ausgewählte Form der weiteren Bearbeitung meiner Interviews ist ein weitestgehend interpretatives Verfahren, welches hier nicht fehlen sollte. Allerdings ging ich bei dieser Form der Ergebnisinterpretation nicht strikt nach den oben beschriebenen Schritten vor, sondern nahm nur bestimmte Teile der oben dargestellten Vorgangsweisen und Ideen als Anleitung für eine tiefenstrukturellere Analyse zu Hilfe. Ich konzentrierte mich dabei vor allem auf visuelle Auffälligkeiten (Gestik, Mimik, affektive Gehalte) und auf die Stimmen der interviewten Personen und achtete zudem vor allem auf etwaige Widersprüchlichkeiten im Text, welche schließlich auch auf allgemeine Befindlichkeiten sowie mögliche Verdrängungsprozesse hinweisen könnten.

Die fallspezifischen Kategorisierungen und Auswertung nach Mayring finde ich hilfreich und sinnvoll als Technik der Zusammenfassung und Kürzung umfangreichen Materials, da ich mir damit, wie auch schon oben erwähnt, einen besseren Überblick über die inhaltlichen Aussagen meiner Interviewpartnerinnen verschaffen konnte. Die Reduktion des Interviewmaterials unterstützte unter anderem auch die Thesenbildung für die Interpretation, die im Folgenden noch zu erarbeiten sein wird.

9 Ergebnisse

Beim Verfassen des theoretischen Teils kamen mir bei der Beschreibung des Krankheitsbildes bzw. des Krankheitsverlaufs immer wieder auffällige Begriffe in den Sinn, die mit der Krankheit eng in Zusammenhang stehen: Sensibilität, tadelloses Benehmen, Extremleistungen, Pflichtbewusstsein, sportlicher Ehrgeiz bis zum Extrem sowie scheinbare Problemlosigkeit.

Nun, nach der Interviewperiode bzw. nach der Transkription der einzelnen, sehr intensiven Gespräche zeigt sich, dass diese Begriffe in den Aussagen der Gesprächspartnerinnen in unterschiedlicher Intensität und unterschiedlicher Bedeutung für die Einzelperson immer wiederkehrten.

Die insgesamt zehn ausgearbeiteten fallspezifischen Kategorien umfassen vor allem die Gefühls- und Erlebenswelt der interviewten Klientinnen, wobei im Speziellen auf ein Reduzieren der eigenen Person auf Leistung und Perfektionismus, auf Selbsthass und Selbstbestrafung sowie Abwehr und Nichts-an-sich-Heranlassen näher eingegangen wird. Die nächste für die Untersuchung wichtige Kategorie beschreibt die Familie und bedeutende Familienkonstellationen; auch werden einerseits für die befragte Person andererseits für die Ergebnisse der Arbeit bedeutende familiäre Werte genannt und schließlich werden die Großeltern, deren Charakter und mitunter auch deren Erziehungsstil beschrieben. Es wird - damit zusammen hängend - auch näher auf die unterschiedlichen Gedanken der interviewten Personen zum Dritten Reich eingegangen, aber vor allem auf - soweit bekannt - die Rollen der Großeltern im Krieg. Abgeschlossen, sozusagen abgerundet, wurde das jeweilige Interview mit Schlussgedanken der Klientinnen und der Interviewerin, die sich aus dem gesamten Kontext heraus ergaben. Dabei handelt es sich um freie Gedanken der Beteiligten, überwiegend ihre eigenen Erlebnisse und die dabei hochkommenden Gefühle betreffend.

9.1 Diskussion und Zusammenfassung der Kategorien

In nachstehenden Abschnitt der Arbeit werden die einzelnen Kategorien beschrieben und teilweise durch Aussagen der befragten Klientinnen in indirekter Rede unterstrichen, um die Bedeutung der Kategorien noch deutlicher hervorzuheben.

Das Leben nach dem Krankenhausaufenthalt

Zusammengefasst zeigt sich, dass das Leben aller befragten Personen geprägt ist von einem extremen Lerneifer und ebenso extremen Anpassungszwang sowie einem stark ausgeprägten Perfektionismus in Bezug auf Arbeit, Schule und Körper. Auch wird ihr Leben bestimmt von einem selbst auferlegten Hungerstreik und einem ständigen Unter-Druck-Setzen der eigenen Person. Auch dann, wenn es darum geht, sich ein Leben nach dem Krankenhaus vorzustellen, ist es auffällig, dass sich die Klientinnen auch in diesem Bezug neuerlich stark unter Druck setzen. Sie beschreiben ihr Leben nach dem Krankenhausaufenthalt als ein eher streng strukuriertes und von Perfektionismus geprägtes. Sie haben das Gefühl, viel Versäumtes nachholen zu müssen.

Eine Frau beschreibt ihr zukünftiges Leben als eines in einer gut funktionierenden Familie mit zwei Kindern. Sie habe vor ihre zwei Kinder eher streng zu erziehen und sie sollen, wie sie es selbst von ihrem Elternhaus mitbekommen hat, lernen, sparsam zu leben. Sie betont, dass sie, wenn die Kinder ein bisschen größer seien, wieder vorhabe, arbeiten zu gehen. Es sei ihr auch sehr wichtig eine so genannte gute und ordentliche Hausfrau zu sein.

Eine andere Klientin wiederum berichtet davon, eine wegen der Krankheit versäumte Schiffsreise und unbedingt die Schule und alle versäumten Prüfungen nachholen zu wollen.

Einer weiteren Befragten ist es sehr wichtig, die Lehrabschlussprüfung zu machen, den Führerschein nachzuholen und vor allem von zu Hause auszuziehen (mit 17 Jahren).

Auch wenn es sich bei den oben genannten zum großen Teil um durchaus umsetzbare Vorhaben handelt, hatte ich während der Interviews das Gefühl, meine Interviewpartnerinnen würden sich mit ihren Plänen zunächst einmal zu Großes aufladen und vornehmen, nach dem Muster: schnell aus dem Krankenhaus raus und ebenso schnell alles umsetzen, was versäumt wurde und sich keine Pause gönnen. Es ist ihnen äußerst wichtig Schule bzw. Lehre abzuschließen und eine Familie zu gründen, um wieder einen nach ihrem Bewertungsschema bedeutenden Stellenwert in der Gesellschaft zu erreichen. Dieser Stellenwert wird für sie dann erreicht, wenn Versäumtes so schnell wie möglich nachgeholt wird und alle Vorhaben umgesetzt werden.

Perfektionismus in allen Lebensbereichen

Auffällig ist, wie bereits erwähnt, ein stark ausgeprägter Perfektionismus in fast allen Lebensbereichen. Dieser manifestiert sich in einem extremen Lerneifer. Man will die Erste und Beste in der Schule sein. Hervorstechendes Merkmal ist auch ein starker Anpassungszwang an andere Mitmenschen. Die meisten der Befragten stellen z. T. sehr hohe Anforderungen an sich selbst, lediglich um auch so, oder besser, zu sein wie andere.

Im Berufsleben muss alles perfekt ausgeführt werden und auch der Körper muss perfekt sein. Das Anforderungsprofil an die eigene Person ist in beiden Fällen enorm, wenn nicht überhaupt unerfüllbar. Ziel ist es, alles zu erreichen, was man sich vorgenommen hat. Sie sind sehr selbstkritisch. Der Gedanke: "Es könnte alles noch besser sein" ist vorherrschend. Sie verbieten sich das Essen bis zum körperlichen und psychischen Zusammenbruch und verlieren sich selbst in ihrem extrem ausgeprägten Drang nach Leistung.

Eine befragte Klientin beschreibt dazu sehr präzise, sie sei außerordentlich ehrgeizig und dies sei das Ergebnis ihrer Erziehung zum Ehrgeiz. Sie habe deshalb selbst einen starken Lerneifer entwickelt, um immer und überall die Beste zu sein. Die positive Einstellung zum Ehrgeiz habe sich in ihr verstärkt, weil sie für ihre Leistungen stets belohnt worden sei.

Was bedeutet das Wort "dick"?

In der Kategorie "Bedeutung des Wortes dick" kommen die in der vorhergehenden Kategorie erläuterten Auffälligkeiten und Eigenschaften der interviewten Klientinnen noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck. Alle beschreiben die Angst, wertlos zu sein und von niemandem gemocht zu werden, wenn sie zu dick seien. Sie verbinden mit dem Wort dick ein Gefühl von Wertverlust und progressiver "Ent-Wertung". Wenn sie essen und daher nicht die Kraft aufbringen sich ein striktes Essverbot aufzuerlegen und es auch einzuhalten, haben sie das Gefühl keine Leistungen zu vollbringen. Essen wird als unangenehme Tätigkeit bzw. sogar als etwas Erschreckendes beschrieben und als persönliches Versagen empfunden. Essen und Leistung stehen also in einem engen Zusammenhang.

Eine der Befragten verbindet ihr Sich-Dick-Fühlen mit Hass, Ekel und einem Grauen erregenden Körpergefühl. Es gebe für sie kein Mittelmaß zwischen dick und dünn. Sie kenne nur extrem dick oder extrem dünn. Extrem dünn zu sein sei das, was sie erreichen wolle.

In der Aussage einer meiner Klientinnen manifestiert sich die Meinung, dicke Menschen würden in unserer Gesellschaft abgewertet bzw. als hässlich bezeichnet; sie wolle das mit aller Kraft verhindern.

Selbstbestrafung und Schuldgefühle

Der Großteil der interviewten Personen bestätigt, sich mit dem selbst auferlegten Essverbot selbst bestrafen zu wollen. Passiert z. B. etwas Tragisches oder Unvorhergesehenes, geben sie sich schnell die Schuld dafür und versuchen diese Schuldgefühle auszugleichen, indem sie hungern. Wird in der Arbeit nicht die Leistung erbracht, die sich die Anorektikerin auferlegt, versucht sie, den Druck, der aufgrund der ihrer Meinung nach nicht erbrachten Leistung entsteht, dadurch zu "lösen", dass sie hungert.

Vielen der interviewten Frauen ist es sehr wichtig über ihre Schuldgefühle sprechen zu können. Sie betonen, dass sie vor allem in Streitgesprächen, nämlich dann, wenn sie versuchen, offen ihre Meinung zu sagen, schnell ein unangenehmes Gefühl von Schuld und Scham empfinden. Sie beschreiben dieses Gefühl als ein "drückendes Gefühl von Leere", das kaum zu ertragen sei, und sie haben den Drang, diesem Gefühl mit Hungern entgegenzuwirken. Oft meiden sie den Kontakt zu anderen Menschen um möglichen Streitgesprächen aus dem Weg zu gehen.

Auffällig ist die Erwähnung stark belastender Schuldgefühle, wenn es um die Familie geht. Egal, ob es sich um einen Streit zwischen den Eltern handelt, um eine Scheidung der Eltern oder die der betroffenen Person selbst oder um eine Prügelei des Bruders mit jemand anderem: Sie fühlen sich für ein Geschehen sehr oft verantwortlich und geben sich selbst die Schuld für fast alles, was die Familie betrifft.

Eine Klientin schilderte, sie habe das Gefühl ihre verwitwete Mutter finanziell und im Haus unterstützen zu müssen, ansonsten käme sie mit den "erdrückenden Schuldgefühlen" gegenüber sich selbst und der Mutter gegenüber nicht zurecht, weil sie sie ständig das Gefühl hätte, diese allein zu lassen. Sie habe mit 16 Jahren neben der Schule noch zwei Jobs gehabt, habe im Haushalt ihrer Mutter, die auch arbeite, viele Tätigkeiten abnehmen müssen und habe auch nach Schulabschluss neben einem späteren Besuch einer Fachschule immer mehrere Jobs (4-mal wöchentlich) ausgeführt und zudem sich auch noch um ihre Neffen und Nichten gekümmert.

Gefühls- und Gedankenabwehr

Zur Kategorie "Abwehr von Gefühlen und Gedanken mittels der Anorexie" äußert der überwiegende Teil meiner Gesprächspartnerinnen, sie könnten sich durch ihre Krankheit, durch das Hungern also, soweit betäuben, dass sie keinerlei unangenehme Gefühle mehr verspüren. Wieder andere verbinden mit dem Wort Abwehr ausschließlich die Abwehr von bzw. den völligen Verzicht auf Essen.

Fünf der befragten Anorektikerinnen meinen mittels ständigen Hungerns die Annäherung von Männern abwehren zu können.

Eine aus dieser Gruppe meint, sie wolle sich für ihren Freund unansehnlich machen indem sie nicht mehr isst, da sie große Angst davor habe ihn falsch und ungeschickt zu berühren und ihm weh zu tun.

Die anderen erklären, sich mit ihrem Hungern hässlich für Männer machen zu wollen. Sie würden versuchen auf diese Art Beziehungen abzuwehren.

Meist geht mit dem sich selbst auferlegten Verbot zu essen demnach auch eine Art Gefühlsverbot einher. Es fällt den Anorektikerinnen, so wie sie es beschreiben, äußerst schwer, Gefühle zu zeigen oder über Probleme zu reden. Auffällig ist, dass sie in Gesprächen über ihre tiefer liegenden persönlichen Probleme schnell abblocken.

Selbsthass, Selbstzweifel und Selbstkontrolle

Zum Thema "Selbsthass und Zweifel" meinen die befragten Frauen, dass ihnen das Bewusstsein sowie die Akzeptanz, ein Mensch mit wertvollen Fähigkeiten zu sein, auch wenn sie es des Öfteren von Mitmenschen bestätigt bekommen, völlig fehlten. Genauso wie langsam und zunehmend spürbar der Körper die Kontrolle über einen übernehme, nehme auch die Fähigkeit sich selbst zu erkennen und schätzen zu können ab. Mit den ständigen Schuldgefühlen verliere man den Rest an Selbstwert, den man vielleicht noch hat.

Eine meiner Gesprächspartnerinnen hat diese Gefühle der Wertlosigkeit und der Angst sehr präzise beschrieben. Sie erzählt, sie habe "Gedankenmomente", in denen sehr starke Selbstzweifel in ihr hochkämen. Sie stelle sich Fragen wie "Warum habe ich diesen Körper noch?", "Warum bin ich noch auf dieser Welt?", "Warum bin ich so, wie ich bin?" und stelle sich auch selbst in Frage, indem sie glaube, alles, was sie mache, sei falsch.

Der überwiegende Teil der befragten Frauen wird aufgrund seiner starken Selbstzweifel verfolgt von großer Angst, Fehler zu machen: Dieses Gefühl führt sehr oft dazu, sich von der Umwelt abzuschirmen.

Fast alle bestätigen, dass für sie ihr Hungern notwendig sei, um ein Gefühl von Kontrolle und Stärke über die eigene Person zu bekommen.

Eine junge Klientin meint dazu, dass sie gerade durch ihr Hungern ein Gefühl von Stärke zurückbekomme, welches sie durch keine anderen Handlungen je wieder empfinden können würde. Den Sinnlosigkeitsgefühlen und dem Gefühl eines lebensunwerten Lebens, könne sie auf diese Weise für eine kurze Dauer entgegenwirken.

Manche erwähnen, aufgrund des Glaubens, ständig falsch zu handeln und auch falsch zu reagieren, ein Gefühl des ständigen Sich-vor-ihren-Mitmenschen- entschuldigen-Müssens zu haben, was die Unsicherheit und die Selbstzweifel der Befragten noch einmal sehr deutlich macht.

Die Familie

Einen Blick auf die Kategorisierungen und Zusammenfassungen der Interviews im Bereich Familie werfend, fällt mir spontan auf, dass besonders drei Formen von Familienkonstellationen vorherrschend sind:

  1. die typisch hierarchische Ordnung (Vater, Mutter, meist Bruder dann Schwester, schließlich die anorektische Person selbst),

  2. die Situation des Todes eines Familienmitglieds (bzw. die eines Nicht-vorhanden-Seins einer klar definierten Bezugsperson aus anderen Gründen),

  3. ein auffällig glückliches, problemloses Familienverhältnis, möglicherweise manchmal auch eine nur scheinbare fassadenhafte Problemlosigkeit in der Familie.

Nach der Beschreibung der sog. hierarchischen Familienkonstellation wird der Vater als Oberhaupt oder auch einfach als der "Ernährer" definiert. Allerdings erscheint er in den Schilderungen auch häufig als eine fremde, fast geheimnisvolle Person. Er sei demzufolge eher ruhig oder schweigsam und wenn er sich nicht gut fühle oder wenn er "grantig" sei, solle man ihn lieber in Ruhe lassen. Er zeige zunächst einmal keine besondere Reaktion auf Angelegenheiten, die die Familie betreffen.

Er ist derjenige, der arbeiten geht, und die Mutter ist in diesem Fall zu Hause, zuständig für alles, was Haus und Kinder betrifft. Sie ist die Hausmanagerin und weiß überwiegend, im Gegensatz zum Vater, über Probleme (z. B. schulische) der Kinder Bescheid. Sie wird als häuslich, ordentlich und gutmütig charakterisiert.

In einigen Fällen wird geschildert, dass es ihr sehr wichtig sei, dass ihre Kinder schnell auf eigenen Füßen zu stehen lernten und unabhängig würden, mit Geld umgehen könnten und zu Hause mithelfen würden.

Bei der Aufstellung der einzelnen Familienmitglieder in Form eines Turms stehe der Vater ganz oben und als nächstes käme die Mutter, lautet die Schilderung einer Klientin: "Oben einmal ist der Vater, dann die Mutter, wie es eben ist." Dieser Satz bestätigt noch einmal, dass noch in vielen Familien die Erziehung dahin geht, den Vater als das Oberhaupt der Familie anzusehen.

Fehlt in der Familie die Rolle des Vaters (Tod oder Nicht-vorhanden-Sein aus anderen Gründen), so übernimmt vielfach die Mutter beide Rollen, eben auch die des Vaters. Sie wird charakterisiert als sehr starke und arbeitstüchtige Frau, von der man alles haben kann.

Eine Klientin, deren Vater gestorben ist, als sie 6 Jahre alt war, beschreibt ihre Mutter als stark, ehrgeizig und sehr besorgt. Sie wolle ständig jedem alles recht machen. Sie sei eine, den Haushalt betreffend, sehr saubere, ordentliche Frau. Arbeiten und Geld, vor allem ein sparsamer Umgang mit letzterem, seien ihr sehr wichtig. Die Meinung Außenstehender gelte für die verwitwete Mutter sehr viel.

Eine andere Klientin, die ihren Vater verloren hat, als sie 13 Jahre alt war, beschreibt den Charakter der Mutter ebenfalls als "überaus stark" und als ständig in Sorge seiend. Sie gebe alles und verzichte gleichzeitig auf alles.

Beide Frauen erwähnen, eine dauernde Verpflichtung zu empfinden, die Mutter finanziell und im Haus unterstützen zu müssen. Die verstorbenen Väter werden als streng, aber vorwiegend sensibel, jedoch auch labil charakterisiert.

Auffällig ist, dass jene Klientinnen, die von Eltern erzählen, die aus den verschiedensten Gründen selten auch als Eltern anwesend waren, immer das Gefühl haben, die Rolle der Starken und Erwachsenen übernehmen zu müssen, auch wenn sie noch minderjährig sind. Sie meinen aber nie, dass auch die Geschwister diese Rolle in der Familie übernehmen könnten. Die Last, die Rolle der Starken übernehmen zu müssen, liege allein auf ihnen.

Nicht unauffällig ist auch die Beschreibung der glücklichen, problemlosen Familienverhältnisse. Dabei beschreiben die Klientinnen vor allem ihre Kindheit als eine sehr schöne und harmonische, ohne Strenge von Seiten der Eltern. Diese werden als eher mitfühlend und ruhig definiert. Der Vater wird teilweise als einfühlsam, häuslich, aber auch als empfindlich und manchmal depressiv beschrieben. Arbeiten habe für ihn einen hohen Stellenwert.

In derart beschriebenen Familienverhältnissen ist vorwiegend der Vater derjenige, der arbeiten geht. Die Mutter ist Hausfrau und eine liebevolle, fürsorgliche Mutter, die sich manchmal zu viel an Arbeit auflädt.

Eine der interviewten Frauen beschreibt das Beispiel ihrer sehr glücklichen Familie folgendermaßen: Die Eltern hätten sich in ihre Angelegenheiten nie eingemischt, es sei ihr "nur Positives" mitgegeben worden. Jetzt, da alle Kinder, die Befragte mit eingeschlossen, von zu Hause ausgezogen seien, kämen alle Familienmitglieder genauso gut miteinander aus wie zuvor. Sie könnten über alles miteinander reden und würden immer zusammenhalten.

Eine Klientin, die ihre Familie als sehr lebendig (zu Hause fünf Kinder) und durchwegs glücklich beschreibt, würde sich selbst stets am Bild der perfekten Tochter, das sie vor Augen habe, orientieren: Diese würde nie etwas machen, was die Eltern vor allem aber der Vater nicht wollte. Sie wolle ihn nicht enttäuschen. Sie brauche, auch als Zweitälteste in der Familie, immer die Rückmeldung und eine Erlaubnis der Eltern, etwas tun zu dürfen. Sie meint, sie habe erst in der Therapie vieles, was sie und die Familie betreffe, erfahren und gelernt.

Nach den Schilderungen fast aller Befragten, die in der eben beschriebenen harmonischen Familie leben, würden die Geschwister entweder studieren oder einen in der Gesellschaft angesehenen Beruf ausüben.

Familiäre Werte

Die Klientinnen aus Familien, in denen die anorektischen Personen geprägt sind vom Verlust eines Familienmitglieds, meist des Vaters, beschreiben als für sie bestimmend vorwiegend jene Werte, die ihnen von den Müttern vermittelt wurden. Ehrgeiz, Ordnung und Flinkheit seien als innerfamiliäre Werte bzw. Werte, die ihnen von zu Hause ins Leben mitgegeben wurden, sehr bedeutsam. Die Erziehung wurde z. T. als streng empfunden Sie seien dazu erzogen worden, alles immer sofort und ohne Aufschub zu erledigen. Ebenso definieren sie sich selbst als sehr sparsame Menschen, denen ein sorgsamer Umgang mit Geld anerzogen worden sei. Zudem wurden von einigen hohe schulische Leistungen verlangt.

In der eher hierarchischen Familienkonstellation erwähnen die befragten Personen, dass die Familie nach außen hin den Eindruck des Perfekten vermitteln solle, weshalb es für die Eltern schwer zu ertragen sei, dass ein Familienmitglied an Magersucht erkrankt ist. Den Eltern sei es wichtig, dass die Tochter einen anständigen Beruf erlerne und ihr eigenes Geld verdiene. Sie würden dann stolz sein, wenn die Tochter etwas Erreicht habe. Die Kinder, die einen angesehenen Beruf haben, viel Geld verdienen, einen hohen Bildungsgrad aufweisen, würden, vor allem beim Vater, mehr gelten.

Eine der befragten Klientinnen erinnert sich an Familienfeiern, auf denen ihr der Vater deutlich gezeigt habe, dass er sich für seine Tochter schäme. Er sei für sie sehr schlimm gewesen, denn er habe mit allen Familienangehörigen geredet, nur sie habe er ignoriert. Er schämte sich für ihre Krankheit, so ihre Sicht.

Eine Person meint, dass ihr Erscheinungsbild, dürr und ungesund, für ihren Vater unerträglich und sie in der Gesellschaft nicht ‚vorzeigbar' sei.

Zum Teil beschreiben die befragten Personen auch das Gefühl, dass die männlichen Familienmitglieder mehr wert seien. Der Bruder habe von den Eltern oder Großeltern immer alles bekommen, was er haben wollte, vom Spielzeugtraktor bis zur Finanzierung einer akademischen Ausbildung.

Die Frauen, die in den oben erwähnten problemlosen Familienverhältnissen aufwuchsen bzw. noch aufwachsen, beschreiben z. T. die ihnen vermittelten familiären Werte überwiegend als sehr positiv, stehen ihnen aber, bezogen auf ihre derzeitige Position bzw. ihre Lebensumstände, durchaus auch kritisch gegenüber und stellen sie heute partiell in Frage. Wie bereits weiter oben kurz erläutert, hätten die Eltern nie etwas wie Strenge gezeigt und die Kinder seien von den Eltern gelehrt worden, über alles zu reden und gut miteinander auszukommen.

Auffällig ist in diesen Familien auch, dass manche Klientinnen äußern, von Seiten der Eltern keinen Druck in Bezug auf schulische oder berufliche Leistungen empfunden zu haben, aber sie sich selbst Druck und Selbstkasteiung z. B. im Bereich der Essensverweigerung auferlegt hätten.

Die Großeltern

Alle interviewten Personen beschreiben die Großeltern entweder nach dem, was sie von ihren Eltern darüber erzählt bekommen (haben) oder sie beschreiben sie so, wie sie sie aus eigenem Erleben sehen und kennen bzw. gekannt haben.

Bei denjenigen der befragten Frauen (vorwiegend jenen mit Verlust des Vaters), bei denen Extremleistungen im Bereich Beruf und Schule sehr auffällige Merkmale sind und die sich selbst ausschließlich auf ihre Leistungen reduzieren oder darauf reduziert werden, z. B. durch Belohnungen, die also übermäßig hohe Forderungen an sich selbst stellen und bei denen extremer Ehrgeiz und pedantische Ordnung und Sparsamkeit in der Familie auffallen, werden die Großeltern meist als streng, ja sogar als autoritäre Persönlichkeiten beschrieben.

Die Muttergestalt, die von den befragten Personen als ordnungsliebend bis zur Pedanterie, als ehrgeizig und z. T. als streng charakterisiert wird, genoss selbst eine strenge Erziehung. Der Großvater mütterlicherseits wird mitunter als Tyrann beschrieben, der sehr auf eine katholisch orientierte Erziehung hielt. Die Großmutter mütterlicherseits wird als eine gute, fürsorgliche, aber trotzdem strenge Mutter beschrieben und als sog. ordentliche Hausfrau.

Väterlicherseits ist auffällig, dass der Großvater als eher gefühlsloser Mensch charakterisiert wird. Gefühle seien in der Familie des Vaters der Anorektikerin nicht gezeigt worden. Die Kinder hätten in der Familie des Großvaters väterlicherseits keinen hohen Stellenwert gehabt; sie mussten viel arbeiten und der Mutter (d. i. die Großmutter) im Haus helfen. Schläge von Seiten der Großeltern gegen ihre Kinder waren ganz normal.

Die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits werden als sehr sparsame Menschen beschrieben, die sich zu Kriegszeiten kein verschwenderisches Leben leisten konnten; diese Lebensweise sei ihnen bis heute (bzw. bis zu ihrem Tod) erhalten geblieben.

Jene Befragten, deren Leben von einem Kaum-Vorhanden-Sein von eigentlichen Bezugspersonen geprägt ist, beschreiben die Großeltern teilweise als Menschen, die viel im Elternhaus mithalfen bzw. noch mithelfen und manchmal die Rolle der Bezugspersonen übernahmen bzw. übernehmen würden, Rollen, die man eigentlich von Vater und/oder Mutter erwarten hätte dürfen.

Eine Klientin, die in ihrem Leben bis jetzt selten eine echte Bezugsperson hatte, beschreibt den Tod des Großvaters mütterlicherseits als sehr tragisch. Sie habe gut mit ihm reden können. Er habe ihr, bei entsprechenden Nachfragen, auch vom Leben im Krieg erzählt, vom Leben als Soldat und dem ständigen Sich-verstecken-Müssen. Sie habe das Gefühl gehabt, er habe nicht gern darüber geredet und wolle das Vergangen lieber vergessen.

Die Großeltern väterlicherseits würden dem Bruder mehr Aufmerksamkeit schenken als ihr; er sei mehr wert.

In Form eines Turmes aufgestellt würden für sie in der Familie die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits an oberster Stelle stehen.

Eine interviewte Klientin, die in der oben beschriebenen hierarchischen Familienkonstellation, in der der Vater als Familienoberhaupt an oberster Stelle steht oder schlicht als "Ernährer" der Familie gilt und in der die Mutter für die Angelegenheiten der Kinder zuständig ist, aufwuchs, beschreibt die Großeltern-Familie aus Kriegszeiten als sehr kinderreich. Die Großmutter habe die Kinder mehr oder weniger alleine durchgebracht, weil der Großvater kaum zu Hause war. Dieser wird als streng und als eine stattliche Person beschrieben.

Eine weitere der von mir befragten Personen erwähnt dazu, dass ihre bereits verstorbene Großmutter nur in der Mutterrolle aufgegangen sei. Sie habe sich nur um ihre Kinder gekümmert, für andere Dinge habe sie keine Zeit gehabt. Die Enkelkinder hätten für die Großmutter nicht allzu viel gegolten. Der Großvater sei anderwärtig beschäftigt oder im Krieg gewesen. Auffällig ist auch, dass sie zwar viel von der Großmutter erzählt, allerdings überwiegend Negatives; der Großvater wird kaum erwähnt.

Bei jenen Familien, die ich oben als glückliche und als solche ohne Probleme beschrieben habe, wird das Verhältnis der Großeltern zu den Eltern als ein überwiegend gutes geschildert. Die Großeltern würden von den Interviewten sehr geschätzt werden. Die Großmütter werden meist als sehr fleißige Frauen charakterisiert.

Nach Schilderungen einer Klientin, die ihre Familie als eine eher glückliche und "normale" beschreibt, würden die Großeltern väterlicherseits sich mehr auf die Schwester konzentrieren. Sie habe das Gefühl nur eine Mitläuferin zu sein. Ihr würde man nur dann Aufmerksamkeit schenken, wenn sie krank sei. Dann erlebe sie zumindest Mitleid von Seiten der Großeltern.

Ihr Großvater mütterlicherseits (verstorben) habe ihr, allerdings nur ihr und niemandem sonst aus der Familie, sehr oft vom Krieg erzählt. Sie schildert, dass sie bei diesen Erzählungen ein Gefühl von Angst und Schrecken empfunden habe sowie Mitgefühl für den Großvater und seine Kriegserlebnisse. Sie habe sich immer vorgestellt, wie sehr er gelitten haben musste.

Der Großvater habe einerseits gemeint, dass nie wieder Hitlers Zeiten kommen dürfen, andererseits bei "frechen Jugendlichen" Hitler aber manchmal nicht schaden würde.

Ihre Mutter sei besorgt gewesen, sie bekäme Schuldgefühle, wenn sie den Erzählungen des Großvaters höre.

Ihre Großmutter mütterlicherseits sei eine fleißige und ordentliche Frau, Eigenschaften, die sie ihrer Tochter (d. i. die Mutter der Befragten) mitgegeben habe.

Im Folgenden werden, immer noch im Bezug auf die Großeltern, Gefühle, Empfindungen und Eigenschaften der interviewten Klientinnen dargestellt, die allen, unabhängig vom ‚Familientyp', gleich oder ähnlich sind:

Bei den Klientinnen, die auffällig viel über ihre Schuldgefühle und über ein Leben in ständiger Schuld reden, wird die Großeltern-Familie väterlicherseits z. T. als eher gefühllos beschrieben, dh in der Familie des Vaters hätte man nie über Emotionen gesprochen, geschweige denn solche gezeigt.

Eine der befragten Anorektikerinnen meint dazu, in der Familie ihres Vaters sei nie viel über Gefühle geredet worden und bei ihrer Krankheit sei es aber sehr wichtig, viel zu reden. Sie könne sich nicht vorstellen, mit ihren Großeltern über ihre Krankheit zu reden, weil sie es auch nicht verstehen würden, warum man einfach aufhört zu essen. Sie würden das nicht nachvollziehen können und sie würde vor den Großeltern eher Schamgefühle entwickeln.

Eine andere, die die Loslösung von ihren Eltern, vor allem vom Vater, als sehr problematisch schildert, beschreibt ihre Großmutter väterlicherseits als sehr dominante Frau. Sie habe während des Krieges eine Horde Kinder durchbringen müssen, und wenn sie das Essen auf den Tisch gestellt habe, musste auch alles aufgegessen werden. Der Vater der Klientin könne es heute ebenso wenig akzeptieren, wenn Essen übrig bleibe. Die Loslösung des Vaters von seinem Elternhaus sei sehr schwierig gewesen.

Wenn sie ihre Großeltern beiderseits beschreibt, spricht sie davon, dass die Großväter in den Krieg ziehen mussten, die Großmütter mit den Kindern zu Hause waren. Großväter wie Großmütter seien sehr stark und auch arbeitstüchtig, Eigenschaften, die ihnen aus dem Krieg mitgegeben worden seien. Ihr Vater habe die Stärke vom Großvater und die Dominanz von der Großmutter geerbt. Man könne mit der Großmutter und dem Vater nicht diskutieren, denn nur das, was sie sagen, zähle auch.

Die Mutter der Befragten sei wie deren Mutter (d. i. die Großmutter) eine sehr arbeitstüchtige Frau.

Emotionswelt (Schlussgedanken)

In diesem letzten Abschnitt beschreiben sich die befragten Frauen noch einmal selbst. Dabei sprechen sie allerdings nicht ausschließlich von sich alleine, sondern auch von den Erfahrungen mit anderen ihnen bekannt gewordenen an Anorexie Erkrankten. Insgesamt beschreiben sich die interviewten Frauen selbst als sehr sensibel. Das Gefühl von fehlender Beachtung ja sogar Abneigung, welches z. T. die anderen Gefühle dominiert, empfänden sie als sehr schmerzhaft. Anorektikerinnen (ich schreibe bewusst von weiblichen Erkrankten, weil ich nur mit solchen Interviews geführt habe) seien sehr unentschlossen und unsicher. Sie hätten große Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen und Schuldgefühle seien dabei ein ständiger Begleiter. Die Anorektikerinnen hätten sowohl vor der Erkrankung als auch während dieser mit den hier beschriebenen Eigenschaften, wohl auch Krankheitsbildern, zu kämpfen.

Die Gefühle, die anorektische Menschen vor und während der Krankheit empfinden, seien sehr ähnlich, so die Aussagen der Befragten auch unter Einbeziehung ihrer Erfahrungen mit anderen und ihres daraus resultierenden Wissens um die Gefühlswelt von an Anorexie erkrankten Menschen.

Zuerst würde man versuchen seinen Körper zu kontrollieren, und irgendwann, ohne es richtig zu merken, kontrolliere der Körper einen selbst. Man sei schließlich nur noch Sklave der Krankheit, die einem sage, was man zu tun habe.

Manche betonen sehr stark, hart zu sich selbst sein zu müssen, um die Kraft aufbringen zu können, aus der Krankheit herauszukommen.

Viele beschreiben, immer wiederkehrende Selbstmordgedanken zu haben bzw. gehabt zu haben, da für sie das Leben in einem ständigen Gefühl von Schuld, Scham oder Angst in Verbindung mit der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper unerträglich sei.

9.2 Diskussion und Interpretation der Ergebnisse

Im Folgenden werden vier Thesen formuliert, unter denen die Ergebnisse aus dem empirischen sowie dem theoretischen Teil zusammengefasst und erläutert werden. Diese vier Thesen umfassen den Erlebnis- und Gedankenbereich des anorektischen Menschen; weiters werden bestimmte tradierte Erziehungsmodelle behandelt, die eine "anorektische Familie" kennzeichnen. In der dritten These geht es um die Weitergabe traumatischer Ereignisse aus dem dritten Reich, wobei das Leben bzw. der Charakter der Großelterngeneration (aus Sicht der Interviewpartnerinnen) eine bedeutsame Rolle spielen. In der letzten These werden noch einmal das Schweigen und Verschweigen in der Familie, sowie, in Verbindung damit, Schuld- und Schamgefühle aufgegriffen werden.

Ich erlaube mir zu Beginn der Ergebnisinterpretation das folgende Gedicht mit dem Titel "Jeden Tag" und dessen Interpretation anzuführen, da es noch einmal sehr deutlich die Ergebnisse der Untersuchung bestätigt und dem Leser die Gefühlswelt des anorektischen Menschen verdeutlicht. Das Gedicht beschreibt die Gedankenwelt und die Ausweglosigkeit aus der Magersucht eindringlich und präzise, weshalb ich es unter anderem besonders für diesen Abschnitt der Arbeit sehr passend finde.

Jeden Tag

Jeder Tag ein neuer Kampf,

jeder Tag das gleiche Ziel,

jeder Tag die gleiche Qual,

jeder Tag die Enttäuschung.

Immer so tun als ob,

immer sagen: es wird schon gehn,

immer denken: ich hör auf,

immer lenken,

immer Berg auf.

Niemals nachgeben,

niemals weinen,

niemals ducken,

niemals verletzlich sein.

Aber:

Jetzt hört mal zu,

meine Batterien sind leer,

ich kann nicht mehr.

Ich bin ein Mensch voll Fleisch und Blut,

und mir geht es gar nicht gut.

Ich weiß was ihr denkt ,

ich weiß was ihr sagt......

aber kommt doch einmal mit in meine Welt,

fühlt wie ich und denkt wie ich,

macht doch einmal einen Tag mit,

aber geht allein,

denn freiwillig komm ich nicht mehr mit.

(http://www.magersucht.de/erfahrung/lyrik1.php, Stand: 2006-04-21)

Das Gedicht stellt für den Leser noch einmal einen wichtigen Aspekt der Krankheit in den Vordergrund, nämlich die Einsamkeit (Aussage einer Interviewpartnerin).

Ich habe das Gedicht einigen meiner Gesprächspartnerinnen zu lesen gegeben, um auch deren Meinung zu diesen Zeilen einzuholen. Sie meinten, es drücke in kurzen, aber eindringlichen Worten ihre Gefühle, die Emotionen ihrer Lebenswelt aus, vor allem auch die oft schwierigen Beziehungen zu ihren Mitmenschen.

Es sollte erwähnt werden, dass die Autorin des Gedichts eine Anorektikerin, mithin ein kranker Mensch und auch keine Berufs-Poetin ist, weshalb eine Interpretation ihres Gedichts nach poetologischen sowie literarisch-ästhetischen Kriterien nicht zielführend wäre. Wir sind auf den Inhalt reduziert und müssen uns lediglich die Frage stellen, was uns die Autorin sagen will.

Sie versucht mit aller Schmerz-Erfahrung wiederzugeben, was es bedeutet magersüchtig zu sein. Es heißt, täglich aufs Neue zu kämpfen, gegen sich selbst und eine nicht verstehende Umwelt; und doch trotz Kampf immer nur Schmerz, Enttäuschung und Niederlagen erleben zu müssen: "Jeder Tag ein neuer Kampf/jeder Tag das gleiche Ziel/jeder Tag die gleiche Qual/jeder Tag die Enttäuschung."

Jeder Tag ist ein neuer Betrug an sich selbst und geprägt von der Täuschung, dem Täuschen - Müssen seines sozialen Umfeldes: "Immer so tun als ob/immer sagen: es wird schon gehen/immer denken: ich hör auf..."

Jeder Tag ist aber auch ein Kampf gegen sich selbst und der Kampf gegen die anderen. Es kostet Kraft, einen Schutzwall der Unverletzlichkeit aufbauen zu müssen - in seinem Schmerz, der spürbar vorhanden ist. "Niemals nachgeben,/niemals weinen,/niemals ducken,/niemals verletzlich sein."

Sie will nicht zeigen, wie schlecht es ihr geht und zeigt es doch, indem sie diese Zeilen schreibt.

Mit den beiden letzten Strophen will sie den Menschen, gerade denen, die nichts von der Krankheit und den Befindlichkeiten eines Anorektikers verstehen, mitteilen, dass es ihr gar nicht gut geht und sie den Endpunkt eines Erschöpfungszustandes erreicht hat: "Meine Batterien sind leer, / ich kann nicht mehr."

Andere Menschen reden und urteilen, meinen zu verstehen, wie es anorektischen Menschen geht, wie es in ihnen aussieht und wie ihnen geholfen werden kann.

Die Autorin lädt diese Menschen, uns alle, ein, in ihre anorektische Welt hineinzugehen, um wirklich zu verstehen und mit ihren Augen sehen zu lernen.

Allerdings kommt sie freiwillig nicht mehr mit. Sie ist gefangen in ihrer hermetisch abgeschlossenen Welt, will nichts mehr hören von anderen und niemanden mehr sehen, der zu wissen meint, wie es ihr geht. Sie kommt nicht mit, um mit ihnen, mit uns, zu reden, sie bleibt da, wo sie ist, tief in ihrer schmerzhaften anorektischen Welt, allein, ohne dort jemanden anzunehmen. Die anderen, wir, sollen schauen und vielleicht auch verstehen, aber sie sagt uns: "aber geht allein..."

Um diese Zeilen, geschrieben von einer kranken, trotzdem sehr starken Persönlichkeit, literarisch zu untermalen, möchte ich aus Nothombs Werk (2003, S. 102 f.) zitieren: "Beim Unterschreiten der symbolischen 40-Kilo-Grenze hatte sie nicht nur an Gewicht sondern auch an Gefühl verloren. [...] Mit jedem Kilo, das von ihr abschmolz, ging auch ein Stück ihrer Liebe dahin. Sie trauerte ihr nicht nach, im Gegenteil; um trauern zu können, wäre ja noch Gefühl nötig gewesen. Sie freute sich diese Doppelbelastung los zu sein: die fünf Kilo und diese hinderliche Verliebtheit. [...] Liebe, Trauer, Verlangen, Schwärmerei - all diese Torheiten waren Erkrankungen von Körpern mit mehr als vierzig Kilo. [...] Bei fünfunddreißig Kilo war das Leben ein anderes: Alles kam nur darauf an, den physischen Anstrengungen standzuhalten, seine Energie so einzuteilen, daß man die acht Übungsstunden aushielt, den Versuchungen der Mahlzeiten tapfer entgegenzutreten, die Erschöpfung der Kräfte stolz zu verbergen - und endlich zu tanzen, wenn man es verdient hätte."

Eine präzise Bestätigung der Aussage der letzten Strophe des Gedichts findet sich bei Bruch (2004, S. 95): "Am Ende stellt sich das Gefühl ein, mit gewöhnlichen Leuten, die sowieso nichts verstehen, nicht mehr kommunizieren zu können."

Ich denke, ich habe mit diesen Zeilen, dem Gedicht und dessen Interpretation, schon viele wichtige Informationen und Aussagen aus dem Bereich der Erlebnis- und Gedankenwelt des anorektischen Menschen vorweg genannt.

9.2.1 Erlebnis- und Gedankenwelt in der Anorexie

Die Handlungs-, Erlebnis- und Gedankenwelt des anorektischen Menschen wird beherrscht von Perfektion, Selbstdisziplin und Extremleistungen, so lange, bis der Körper keine Kraft mehr hat und resigniert.

"Kontrolle steht über Allem. Nichts ist so wichtig wie Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung, Macht über meinen Körper zu haben" (Herbst 2002, S. 59).

Das Aufgeben bzw. der Verlust dieser Selbstkontrolle würde eine Niederlage der eigenen Person bedeuten, und das gilt es zu vermeiden. Für die Anorektikerin heißt es, in jeder Lebenslage stark und diszipliniert zu bleiben.

Ich habe zu Beginn des theoretischen Teils die anorektische Person als eine häufig zwanghafte Persönlichkeit mit perfektionistischen Tendenzen beschrieben. Es fehlt ihr das Mittelmaß, es gibt nur ein Entweder-Oder sowie die Extreme des Richtigen oder des Falschen.

Diese Aussage wird in einem meiner Interviews sehr präzise bestätigt, indem die befragte Klientin erwähnt, es gebe für sie nur das Extrem dick oder dünn zu sein; und extrem dünn zu werden, das wolle sie erreichen. Mit der Empfindung, einen extrem dünnen Körper und somit das gesteckte Ziel erreicht zu haben, wird auch das für anorektische Menschen bedeutende Gefühl der Selbstkontrolle und der Macht über den eigenen Körper stärker. Sie fühlen sich wenigstens in diesem einen Bereich stark.

Anorektische Menschen halten, wie aus den Interviewkategorien und dem theoretischen Teil der Arbeit ersichtlich, fest an scheinbaren "Sicherheiten" wie Ordnung, Leistung und Pflichterfüllung. Die Angst vor Unsicherheiten und der daraus resultierende Kontrollverlust über das eigene Leben ist so groß, dass zwanghaft versucht wird, an bestimmten Regeln und Ordnungen festzuhalten, ohne dabei sozusagen aus der Bahn zu gelangen.

Das Hungern wird als Bewältigungsstrategie eingesetzt, um jenen starken Unzulänglichkeitsgefühlen etwas entgegen stellen zu können, die in dem Versuch, alles perfekt oder besser zu meistern als andere, unweigerlich entstehen.

In meinen Interviews kommt deutlich zum Ausdruck, dass das Nicht-Essen einerseits als Mittel der Selbstkontrolle und der Macht verwendet wird und auch dazu, besser und stärker zu sein als andere.

Das selbst auferlegte Essverbot wird andererseits aber auch eingesetzt als Selbstbestrafung oder als Buße für nichterfüllte Leistungen, tragische oder unvorhergesehene Ereignisse, für die sie sich schuldig fühlen. Mittels des Hungerns wird schließlich versucht, diese Form der starken Schuld- und Schamgefühle zu lösen. Man könnte den gewählten Weg des Hungern vergleichen mit einem Passionsweg oder einer Selbstkasteiung, die man sich auferlegt um seine Schuld, die man sehr stark empfindet, zu begleichen.

Im theoretischen wie auch im empirischen Teil der Arbeit wird mehrfach festgehalten, dass anorektische Menschen versuchen, ihr Selbstwertgefühl, welches sie ohnehin kaum besitzen, durch eine ausgeprägte Leistungsorientierung und ausgezeichnete Erfolge in der Schule, im Beruf oder im Sport zu stabilisieren.

Ich denke allerdings, dass es unter anderem mit einem durch das Fasten und Hungern zunehmend schwächer werdenden Körper immer schwieriger wird, an diesem "anorektischen Lebensstandard" der vermeintlichen Stärke festzuhalten, was heißt, dass mit dem Schwächer-Werden, dem zunehmend Nichtiger-Werden des Körpers und der Person und der daraus folgenden Resignation auch das Selbstwertgefühl und der Glaube an die eigene Person, soweit noch vorhanden, wieder unweigerlich schwinden.

Anorektische Menschen befinden sich in einem Teufelskreis. Aus diesem zu entkommen ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Sie fasten und hungern, weil dies das einzige Mittel ist, ihren Schuld- oder Schamgefühlen zu entkommen. Sie hungern um sich selbst und anderen, die diese "Fähigkeit des Hungerns" nicht besitzen, Stärke zu beweisen, was immer einhergeht mit einer extrem perfektionistischen Lebensweise; sie hungern, weil Essen Aufgeben der eigenen Lebenskraft bedeuten würde. Sie empfänden dies als Verlust ihrer Selbstkontrolle, Macht und Disziplin, und damit wären sie durchschnittliche und ganz "normale" Menschen, was, wie im theoretischen Teil erwähnt, für viele anorektische Menschen als verachtenswert gilt. Mit dem Schwächerwerden des Körpers sind diese nicht gewollten Entwicklungen allerdings vorprogrammiert. Was Stärke vermitteln soll, wird unweigerlich zur Schwäche. So schließt sich der Teufelskreis. Was anorektische Menschen zunächst vermeintlich stark macht, wendet sich schlussendlich gegen sie. Sie "kämpfen" allerdings weiter, bis sie nur noch Haut und Knochen sind und 25 Kilo wiegen. Sie hungern sich buchstäblich zu Tode.

Der Hungerkünstler hungert sich zu Tode, weil er nicht die Speise finden konnte, die ihm schmeckt. Die anorektische Person verspürt durchaus ein starkes Hungergefühl, hat aber "keinen Appetit, keinen auf Essen, keinen auf die Liebe, keinen aufs Leben" (Flöss 1998, Einband Rückseite).

Im Rückblick auf meine Interviews sollte erwähnt werden, dass die anorektischen Mädchen wirklich schwach aussehen mit ihrem dünnen, zarten, nichtigen Körper und trotzdem äußerst stark wirken. Sie zeigen ein sehr sensibles Verhalten, erwecken aber trotz ihres Krankseins stets den Eindruck von Stärke. Viele meiner Interviewpartnerinnen sprachen mit einer kräftigen, lauten Stimme. Sie erzählten so viel, dass sie oft ins schier Unendliche redeten und jedes kleinste Lebensdetail erwähnten. Der kleinere Teil der Frauen sprach sehr leise, mit auffällig hoher, auch schwacher und weinerlicher Stimme. Bei ihnen musste ich immer wieder mit Fragen und Erklärungen die Interviewsituation aufrecht erhalten.

9.2.2 Tradierte Erziehungsstrukturen

Das Dritte Reich hat Spuren hinterlassen: Auch unsere Großeltern lebten ein zum großen Teil von außen auferlegtes Leben unter Kontrolle, Macht und daraus resultierender (Selbst-)disziplin. Diese Schlagwörter waren für die damalige Erziehung prägend und sind auch heute in vielen Familien noch Teil der Erziehung.

Für die Eltern magersüchtiger Kinder scheint die Zeit stehen geblieben zu sein bzw. halten sie streng an alten Traditionen und Konventionen fest, so schreiben Gerlinghoff et al. (1999, S. 71).

Verglichen mit spezifischen Passagen des theoretischen Teils über die "anorektische Familie" und neu gewonnenen Informationen aus meinen Interviews scheint es tatsächlich so, als hätte für diese die Zeit Halt gemacht. So lässt sich im theoretischen sowie im empirischen Teil feststellen, dass für die betreffenden Familien Werte wie Ordnung, Bildung, eine strikte Moral, vorbildliches und vorzeigbares Benehmen und Auftreten, standesgemäßes Verhalten und Bildung sowie Ausbildung von äußerst erstrebenswerter Wichtigkeit sind, im Dritten Reich gelebte, ja eingeforderte und bis ins Heute tradierte, nach wie vor fraglos gültige Werthaltungen. Auf Menschen mit einer anderen Haltung wird mit Ablehnung und auch Geringschätzung reagiert, vor allem in den Familien mit überwiegend hierarchischen Strukturen.

Ich möchte hier noch einmal die äußerst wichtige Passage (siehe auch: Pkt. 3.3.2, familiäre Faktoren) aufgreifen, dass Emotionen und Schwächen überall, vor allem in Familien, selbstverständliche Ausdrucksformen von Gefühlen sein sollten. Familien, in denen für Gefühle kein Platz ist und wo Konflikte nicht ausgetragen werden, würden eine andere Ausdrucksform brauchen, um sich offen zu artikulieren. Als einzige Ausdrucksmöglichkeit bleibt oft, mangels anderer Artikulationsmöglichkeiten, nur die Krankheit.

Wenn ich an dieser Stelle an meine Interviewpartnerinnen denke bzw. an deren Schilderungen ihrer Familien, verstärkt sich in mir der Eindruck, dass ihre Krankheit wirklich der Ausdruck eines Hilfeschreis ist, den niemand hört und was dann schlussendlich zur Krankheit führt als einem möglichen Ausweg aus den für sie unerträglichen Familienverhältnissen. Über Probleme wird in der Familie nicht gesprochen. Im Vordergrund steht das Schweigen gepaart mit dem Streben nach Leistung und Ordnung, Ehrgeiz, Tüchtigkeit und gelebter Harmonie, zumindest nach außen. Krankheit bedeutet Schwäche. Auch im Dritten Reich war für Schwäche und das Schwache allgemein kein Platz und derartige Wertehaltungen haben die Generationen überlebt. Es soll hier verwiesen werden auf jenes Interviewbeispiel (Kategorie: familiäre Werte), in welchem für den Vater die Tochter in ihrer Magerkeit nicht mehr vorzeigbar war. Irgendwann gibt es für die Kinder keine andere Möglichkeit mehr, als mit Krankheit auf derartige familiäre Umstände zu reagieren, in denen das Schweigen und das Perfektionistische zu dominierenden Haltungen werden.

Die Erziehung während des Dritten Reichs war eine Erziehung mit dem Ziel, stark zu sein, schön zu sein und sich in Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin üben zu können. Auch die anorektische Person macht es sich zur Aufgabe, stark und beherrscht zu sein und auch schön, bezogen auf ihren Begriff von Schönheit.

Aus den im theoretischen Teil bereits zitierten Passagen von Hans Surén ist unschwer ersichtlich, dass vor allem mittels seiner Turnübungen der Mensch stark, gesund und frei werden könne.

Die damalige Reduzierung der Frau auf die Rolle als Hausfrau und Mutter und die des Mannes auf den hart arbeitenden Vater und Soldaten sowie die Auffassung, dass Kinder nur dann als wertvoll zu betrachten seien, wenn sie auch gesund und stark waren und ihre Rolle als zukünftige Männer, Soldaten und harte Arbeiter/innen zu erfüllen in der Lage waren, hat im Menschen des Dritten Reiches einen tiefen Eindruck und ebenso tiefe Spuren hinterlassen, die bis heute aus dem Erziehungsdenken nie völlig getilgt werden konnten. Wichtig ist es zu erwähnen, dass diese hier beschriebenen Rollenbilder an die hierarchische Familienkonstellationen der interviewten Anorektikerinnen erinnern: die Mutter als zu Hause Arbeitende und sich um die" funktionierenden" Kinder Kümmernde und Sorgende, der Vater als außer Haus Tätiger und selten in die Familiengeschehnisse Involvierter.

Rückblickend auf die Kategorisierungen der Interviews wurden von mir drei Familienbilder beschrieben: die vorwiegend hierarchisch strukturierte, die vom Verlust einer klar definierten Bezugsperson geprägte und die auffällig glückliche Familie. Der abwesende Vater zeigt seine Wirkung sowohl im hierarchisch geprägten Familienbild als auch in den Familien, in denen er verstorben ist. Im ersteren ist er als viel Arbeitender zwar "Herr im Haus" aber dennoch wenig bis gar nicht im Erziehungsprozess präsent. Es wird als die Aufgabe der Mutter gesehen, sich um die Kinder zu kümmern.

Zur Beschreibung des sog. glücklichen Familienbildes möchte ich noch einmal auf meine Interviews zurückgreifen. Die Frauen, die ihre Familie als auffällig glücklich beschrieben haben, reden durchwegs sehr schnell, so, als wären sie froh, wenn das Interview schnell vorbei wäre, so, als hätten sie Angst, man könne etwas erfahren, was sie lieber verschweigen wollten, so, als wollten sie bestimmte Dinge, ihr Leben betreffend, nicht erwähnen bzw. lieber vergessen. Wenn Fragen über die Familie gestellt wurden, wurden diese rasch beantwortet, mit den Worten "es war alles schön und hat alles gut gepasst". Dabei drängt sich mir unwillkürlich die Frage auf: Was war hier nicht so sehr in Ordnung? Was wird, ob bewusst oder unbewusst, zu verschweigen oder zu vergessen versucht?

Der Perfektionismus und das Streben nach Vollkommenheit wurden im Dritten Reich von den Menschen, von Hitler selbst, den Jugendorganisationen und auch von Lehrern und Eltern verlangt, weil sie es nicht anders kennen gelernt hatten. Heute wird beides von vielen Eltern der dritten Generation noch immer so gelebt, wie es ihnen von den oben genannten Institutionen (Hitler, Lehrer, Eltern und anderen Organisationen) vorgelebt wurde.

In Gerlinghoff et al. (1999, S. 72) ist zu lesen, dass Familien, in denen ein Mitglied an Anorexie erkrankt ist, einen unglaublich hochmütigen Anspruch haben auf alles, was richtig und gut ist: auf geistiges Niveau, Bildung, Moral und gute Manieren. Diesem Anspruch, oft genug ein Diktat aus der Zeit der Großelterngeneration, gilt es zu folgen. Er richtet sich an alle Familienmitglieder, als Träger einer Rolle. Das Individuum, seine Bedürfnisse und Gefühle werden dabei außer Acht gelassen.

Heute wird also die oben beschriebene Haltung von der dritten Generation sehr oft verlangt, verlangt von den Eltern, die oft von den Großeltern, die diesen Lebensstil leben mussten, nichts anderes kennen gelernt haben.

Wenn man nun noch einmal zurückblickt auf die aus heutiger Sicht abnormen Traditionen und Einstellungen des Dritten Reiches, ist es nicht verwunderlich, wenn die "heutigen Nazis" Österreichs die Forderung der Frau auf Selbstbestimmung und auf die freie Verfügung über ihren Körper in alter Diktion schlicht verneinen und die Emanzipation der Frau zurückweisen.

"Schließlich hat auch Hitler schon die Emanzipation der Frau als ein Symptom der Entartung, als jüdisches Hirngespinst bezeichnet, das seiner Meinung nach auf derselben Ebene lag wie die parlamentarische Demokratie" (Schoenbaum 1968, S. 227).

9.2.3 Traumatische Ereignisse und Erfahrungen aus dem Dritten Reich

Traumatische Erfahrungen aus dem Dritten Reich von Seiten der Großelterngeneration können in der gesamten Familie tiefe Spuren hinterlassen. Einerseits fühlen sich Familienmitglieder sowohl der zweiten als auch der dritten Generation schuldig dafür, was die Großeltern erleben mussten oder, wenn man von der Täterseite ausgeht, selbst anderen zufügten; andererseits wird von ihnen auch versucht, diese zu verteidigen oder sich für deren Tun und Handeln zu rechtfertigen.

Die Enkelkinder der ehemaligen Opfer und Täter des Dritten Reichs sind die Letzten, denen noch ein direkter Kontakt mit der sog. ersten Generation möglich ist.

Schuldgefühle und stellvertretende Verantwortung, resultierend aus der Familiengeschichte, können Faktoren sein, die zu Krankheit führen. Blicke ich zurück auf Aussagen meiner Interviewpartnerinnen, so sind diese, wie schon erwähnt, ständig geplagt von Schuldgefühlen. Sie werden regelrecht verfolgt von sie erdrückender Schuld, die sich aber oft schwer erklären lässt. Warum besitzen anorektische Menschen diese ausgeprägte Form von Schuldgefühlen? Woher kommen sie? Fragen, die auch von meinen Gesprächspartnerinnen manchmal gar nicht oder nur bedingt beantwortet werden können. Zumindest geht aus den Interviews hervor, dass sie sich die Verantwortung "aufhalsen", der der beispielsweise defizitäre Vater nicht nachkam, was für anorektische Menschen in extremem Ausmaß einen Versuch darstellt, dem Druck einer vermeintlichen Schuld daran zu entkommen.

Ich komme nicht umhin, im Bereich der Schuld und Verantwortung an zwei bestimmte Frauen zu denken, die ich interviewte.

Die erste der beiden Frauen erwähnt von sich aus, dass sie sehr oft Schuldgefühle und Trauer empfinden würde für tragische oder traumatische Ereignisse, die eigentlich andere Menschen aus ihrem näheren Umfeld betreffen. Sie erzählt sehr viel von ihrem Großvater, der in Kriegsgefangenschaft gelebt hat und geflohen ist. Dabei erwähnt sie auch immer wieder, wie schrecklich diese Zeit der Gefangenschaft und Flucht für ihn gewesen sein musste. Sie betont, dass man das alles verhindern hätte müssen. Ihre Mutter hätte sich immer große Sorgen um sie gemacht, wenn der Großvater von der Zeit des dritten Reiches erzählte. Die Mutter habe gemeint, die Tochter würde sich die Geschichte des Großvaters zu sehr zu Herzen nehmen und sie dann selbst nicht vergessen können. Auffällig schienen mir bei ihr das sehr schnelle Reden und vor allem das extreme Viel-Reden, möglicherweise ein Versuch, sich dabei sehr viele und komplexe Gedanken, die für sie sehr unangenehm sind, von der Seele zu reden.

Die zweite interviewte junge Frau, 25 Jahre alt, verblüffte mich anfangs sehr mit ihrer scheinbaren Reife. Gefühlsmäßig würde ich sagen, dass sie sich verhielt und vor allem redete wie eine Frau, die viel älter ist und schon sehr viel erlebt hat und erleben musste. Der Vater war gestorben, die Mutter immer berufstätig. Auffällig war, dass sie, die interviewte Klientin, sich für ihr familiäres Umfeld verantwortlich fühlte und alles dafür tat, ihre Familie zu unterstützen. Ich hatte das Gefühl, sie verpasste es, Kind zu sein und ihre Kindheit ausleben zu können.

Nach meinem Empfinden und meiner Erfahrung handelt es sich bei dem Schuldgefühl meiner anorektischen Interviewpartnerinnen zum größten Teil um eine sehr diffuse Form von Schuld, die weder von mir noch von den erkrankten Frauen genau präzisiert und beschrieben werden kann. Und genau dieser Punkt macht die Diskussion des Schuldempfindens in der Anorexie so spannend und interessant

Die eben erwähnte Schuld, die Schuldgefühle und das Gefühl, für so vieles, besonders die Familie betreffend, Verantwortung tragen zu müssen, ließe sich durchaus interpretieren als aus Pflichterfüllungs- und Gehorsamsdenken, wie es noch aus dem dritten Reich stammt und in den Familien weiter getragen wurde, resultierend.

Es handelt sich dabei also um tradierte Werte und Erziehungsmodelle, "tradierte Familienmodelle", die natürlich nicht immer und überall zum Tragen kommen, was aber nicht ausschließt, dass bestimmte Familien sich von alten Mustern nicht lösen konnten bzw. auch heute noch nicht können.

Ich möchte in diesem Abschnitt der Arbeit noch einmal den bereits im theoretischen Teil (siehe auch: Pkt. 7.2, Schuld- und Verantwortungsgefühle in der dritten Generation) erwähnten Gedanken aufgreifen, dass es sich neben den tradierten Familienmustern durchaus um eine Schuld als Generationsphänomen oder als eine "Überlebensschuld" handeln könnte. Die Schuldgefühle sitzen tief und lassen sich wohl auch deshalb so schwer erklären.

Auf meine Interviews zurückblickend ließen sich die auffallend starken Selbstzweifel der anorektischen Frauen am Phänomen der Schuld erklären. Fragen wie: "Warum bin ich auf dieser Welt?", "Warum habe ich diesen Körper noch?", "Bin ich es wert, auf dieser Welt zu sein?" dokumentieren klar diese Selbstzweifel, die aus der Schuld resultieren.

9.2.4 (Ver-) schweigen

Das Verschweigen von Geschehnissen aus dem Dritten Reich und generell das Schweigen über diese Zeit kann Folgen haben, die auch noch in der dritten Generation wirksam werden und sich durchaus in pathologischer Form manifestieren können.

Es gibt selten ein Entfliehen aus der Vergangenheit - weder für die Opfer noch für die Täter und deren Nachfahren. Für viele Menschen der ersten und der zweiten Generation waren die Themen des Dritten Reiches und des Kriegs ein großes Tabu, und wurden buchstäblich totgeschwiegen.

Die Großelterngeneration versucht damit zu vergessen, die dritte Generation soll wohl verschont werden. Ob sie das will/wollte?

Oft genug vertrauten sich weder die Opfer noch die Täter der Großelterngeneration ihren Kindern an, noch taten es die Eltern gegenüber den Kindern der dritten Generation. Allerdings hinterlässt das Schweigen viel eher seine Spuren als das Miteinander-Reden, welches vielmehr helfen würde bei der Bewältigung traumatischer Erlebnisse, auf der Opfer- wie auf der Täterseite.

In vielen Familien wird geschwiegen, und zwar so lange, bis die Jüngeren versuchen, das Gespräch zu erzwingen, was meistens zum Scheitern verurteilt ist; vielfach gleichermaßen aus Gründen der Scham wie der Schuld.

Das Schweigen und Verschweigen führt unweigerlich dazu, dass die Familie in einen Schleier von Geheimnissen gehüllt wird. Es entsteht für Familienmitglieder das Gefühl, sie kennen die Familie bzw. einen wesentlichen Teil der Familiengeschichte nicht, was sehr belastend und schmerzlich sein kann. In einer Familiengeschichte, die nicht an die Öffentlichkeit oder zumindest an die Kinder gelangen darf, wird ein Fehlen gefühlt: Warum wird geschwiegen? Gibt es etwas, was verschwiegen werden muss? Was ist überhaupt geschehen? Das sind Gedanken und Fragen, die die Familienmitglieder unangenehm begleiten können, die aber nie beantwortet werden. Die Familie schweigt, hat Geheimnisse, unterdrückt und versucht zu vergessen. Unausgesprochenes bleibt wie etwas unsichtbar Spürbares über der Familie hängen.

Bei einem Teil meiner Interviews ist es sehr auffällig, dass es den Gesprächspartnerinnen im Interviewabschnitt, der die Kernfamilie und die Großeltern betrifft, sehr schwer fällt, auf meine Fragen zu antworten. Entweder sie konnten einfach nicht antworten oder sie wollten es nicht. Des Öfteren bekam ich zu hören, dass sie auf die Frage keine Antwort oder darüber zu wenig Bescheid wüssten. Auch werden Fragen sehr kurz und prägnant beantwortet, woraus ich den Eindruck gewann, sie wollten zu dem gerade besprochenen Thema nicht mehr erzählen, als ihnen notwendig erschien.

Schweigen ist erlernbar. In Familien, in denen früher nie gesprochen wurde, wird auch oft in Nachfolgegenerationen geschwiegen. Ganz einfach deshalb, weil man nie die Erfahrung machen durfte und konnte, dass über Probleme auch geredet werden kann. Woher sollte man dann das Reden plötzlich erlernen? Und über Probleme zu sprechen, bedeutet in gewisser Weise auch wieder, Schwäche zu zeigen.

Schweigen bzw. Verschweigen und somit der Versuch zu verdrängen, machen traumatische Geschehnisse aus dem Dritten Reich nicht ungeschehen. Wie erwähnt (auch unter: Auswirkungen krank machender Strukturen auf die Folgegenerationen) tritt spätestens in der Nachfolgegeneration, in der dritten also, die noch am engsten mit der Kriegsgeneration in Verbindung steht, die diffuse Empfindung von Verdrängtem und Verschwiegenem an die Oberfläche, die Empfindung, etwas nicht näher Definier- und Benennbares nicht erfahren zu haben.

10 Zusammenfassung der Ergebnisse

In der Anorexie stehen das Aussehen, der Wunsch, einen extrem schlanken Körper zu besitzen und die Angst davor, "fett" zu sein nicht unbedingt im Vordergrund. Vielmehr geht es bei diesem Krankheitsbild um tiefgreifendere Probleme. Anorektische Menschen befinden sich, wie erwähnt, in einem Teufelskreis, aus dem es für sie ohne Unterstützung von außen kaum ein Entkommen gibt. Sie befinden sich in einem ständigen Kampf mit sich selbst. Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin, Extremleistungen sowie Kontrolle und Macht über die eigene Person, den eigenen Körper stehen an erster Stelle. Zu essen und damit seine Fähigkeit des Hungerns zu verlieren, würde bedeuten, aufzugeben bzw. einen Verlust dieser wichtigen Selbstkontrolle darstellen. So zu sein wie die Menschen in seiner Umgebung würde heißen, "normal" zu sein. Das wäre aber nicht genug. Normal bzw. durchschnittlich zu sein, bedeutet in gewisser Weise auch, schwach zu sein. Diese Schwäche darf jedoch nicht zugelassen werden. Hungern gibt dem Menschen in der Magersucht das Gefühl von Stärke und Macht, das er auf seinem Lebensweg nie besessen oder verloren hat. Er "kann" damit etwas, was andere nicht "können".

Die "anorektische" Familie weist vielfach Muster von Selbstbeherrschung, Extremleistungen und Kontrolle auf. Wie bereits erwähnt, ist ein wesentlicher Faktor in der Familie der zwischenmenschliche Umgang der Familienmitglieder miteinander.

Es schadet der Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern durchaus, wenn sich die Eltern nach perfektionistischen Wertvorstellungen richten und dabei Liebe sozusagen manipulativ eingesetzt wird, schlicht mit dem Ziel, sein Kind zu einer "funktionierenden", tüchtigen, strebsamen Person zu machen und die Familie nach außen hin ebenso perfekt, funktionierend und harmonisch wirken zu lassen.

Familienmitglieder aus Familien, in denen diese falsche Harmonie herrscht, wo Gefühle keinen Platz haben und Konflikte nicht ausgetragen werden, ziehen sich, als einzige Flucht- und Ausdrucksmöglichkeit, in die Krankheit zurück. Aber Krankheit bedeutet in diesen Familien wiederum Schwäche.

Das Verhältnis der Kinder zum Vater wird vielfach als ein eher distanziertes definiert. Er beteiligt sich nicht an der Erziehung, das ist die Aufgabe der Mutter. Er bringt das Geld nach Hause. Im theoretischen Teil, bei der Beschreibung der Eltern anorektischer Kinder heißt es, dass die Frau auf die Berufskarriere verzichte, um Kinder zu gebären und aufzuziehen. Der Vater kümmere sich um die Familiengeschehnisse kaum.

Die Großeltern- und Kriegsgeneration kennt kaum anderes Bild der Familie als das zuvor beschriebene. Dieses Familienleben wurde von ihnen vorgelebt. In der Zeit des Dritten Reichs war der Vater der schwer arbeitende Mann und Soldat und zu Hause eher ein Fremder. Die Mutter war die Kindererzieherin, die eine möglichst große Anzahl von Kindern in die Welt setzen sollte. Diese sollten ihrerseits wiederum höflich und stark sein, funktionale Menschen. Die zahlreichen Jugendorganisationen des Dritten Reichs sowie Hitler selbst sorgten dafür, dass alles in die oben beschriebene Richtung lief. Selbstbeherrscht, diszipliniert, stark und, wenn auch von außen, kontrolliert - diese Schlagwörter prägten die Zeit des Dritten Reichs. Ich kenne diesen Ansatz aus eigenen Erzählungen meiner Familie und schließlich aus der Erfahrung während meiner Arbeit.

Um das z. T. schwer zu beschreibende Schuldempfinden des Anorektikers und das Gefühl, für so vieles, vor allem die Familie betreffend, Verantwortung tragen zu müssen, erinnert an das Gehorsamsdenken und die Pflichterfüllung, die wir aus dem Dritten Reich kennen und die in den Familien weiter getragen wurde.

Fragen nach Wert und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, die anorektische Menschen ständig begleiten, zeugen von deren Selbstzweifel, die man durchaus einer unbewussten Überlebensschuld zuschreiben kann.

Über das Dritte Reich wurde und wird geschwiegen; es wird kaum etwas über das Leben der Großeltern erzählt. Mussten sie im KZ sterben? Waren sie selbst an der Tötung von Menschen aktiv beteiligt? - die Enkelkinder werden das weder von ihren Eltern noch von den Großeltern selbst erfahren. Geschwiegen und verschwiegen wird einerseits aus Gründen der Scham und Schuld, andererseits aus dem Denken heraus, die dritte Generation mit einer derart schrecklichen Vergangenheit nicht belasten zu dürfen. Stärker belastend als die Wahrheit ist für diese allerdings das unterschwellige Gefühl, dass etwas Schreckliches in der Familie verborgen liegt oder liegen könnte.

Traumatische Ereignisse aus dem Dritten Reich kann man nicht ungeschehen machen, auch nicht dann, wenn man darüber schweigt. Aber man kann vieles Vergangenes besser machen, aufarbeiten, wenn man darüber spricht. Über Probleme und Konflikte sollte mit jedem Familienmitglied gesprochen werden, nicht nur um die Vergangenheit verarbeiten zu können, sondern auch, um die nachfolgenden Generationen vor einer Flucht in die Krankheit zu schützen. Offenheit und Aufrichtigkeit sind der Beginn eines richtigen Weges.

11 Kritikpunkte und weiterführende Überlegungen

Warum leiden Menschen an der weit verbreiteten Krankheit der Anorexia nervosa? Es ist äußerst schwierig, auf diese Frage eine allgemeinwissenschaftliche Antwort zu geben bzw. wurde bislang von Wissenschaftern auch keine allgemeingültige Erkenntnis gewonnen. Es werden die Ursachen erforscht, aber niemandem ist es bisher gelungen, die Frage mit letzter Sicherheit zu beantworten, warum Menschen beginnen, sich so sehr zu reduzieren, bis zu ihrem Tod.

Gerade auch aus diesen Gründen ist es von großem Interesse und ein spannendes Unterfangen, die Magersucht in ihrem systemischen Kontext zu untersuchen, was in dieser Arbeit geschah.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Um sich gesund zu entwickeln, braucht er ebenso gesunde, positive Beziehungen, allem voran familiäre, in denen der Einzelne als Individuum Ehrlichkeit, Geborgenheit und Wärme erfährt. In der Familie erlebt der Mensch im Normalfall die ersten wichtigen und lebensgestalterischen Beziehungen. Sind Beziehungsmuster innerhalb eines Familiensystems gestört, so kann das nachhaltige Auswirkungen auch auf nachfolgende Familienmitglieder haben.

Mein Beitrag soll zum Nachdenken darüber anregen, und möglicherweise kann er für neue Diskussionspunkte im Bezug auf das Krankheitsbild anregend sein. Aber um in der Forschung wirklich präzise, genaue Ergebnisse zu erhalten, müsste man die qualitative Untersuchungsmethode erweitern, d. h. es müssten für dieses äußerst komplexe Thema mehr betroffene Personen befragt und eine quantitativ erheblich erweiterte Untersuchung durchgeführt werden.

Allerdings hatte ich mit der hier vorliegenden Arbeit in erster Linie die Absicht, einen Diskussionsbeitrag zu liefern und einen Einblick in den Fragenkomplex zu eröffnen, ob und inwieweit tradierte Erziehungsmuster sowie traumatische Ereignisse aus dem Dritten Reich auf das Krankheitsbild der Anorexie in der heute dritten Generation Einfluss nehmen können.

Weiter möchte ich betonen, dass eine umfassende Feldforschung den Rahmen einer Diplomarbeit sprengen würde, da auch Mittel und Zugänge begrenzt sind. Dieser Gedanke erfasste mich vor allem während meiner Interviewperiode. Gegen Ende meiner Interviews kam ich auf immer wieder neue Ideen und Gedanken, die für mein Thema passend, hilfreich und vor allem interessant sein hätten können und die ich in meinen Leitfaden hätte einbauen können/sollen. Allerdings ist es, gerade wenn man auf dem Gebiet der qualitativen Untersuchung, der Interviewtechnik etwa, während seines Studiums nur wenig Erfahrung gesammelt hat, schwierig, den Bereich auf einer professionelleren Ebene durchzuführen.

Es wäre z. B., um noch mehr Informationen und noch genauere Ergebnisse zum Thema zu erhalten, hilfreich, eine gesamte Familie zu interviewen. Interviews mit zumindest einem Elternteil und einem Großelternteil der von der Krankheit Betroffenen wären im Hinblick auf mein Thema, welches sich im weitesten Sinne auch auf das Leben der Großeltern- bzw. Kriegsgeneration ausweitet, besonders aufschlussreich gewesen. Ich habe mein Vorgehen schlussendlich auf die anorektischen Personen selbst fokussiert, weil ich der Ansicht bin, sie können zu ihrem Krankheitsbild, ihrer Befindlichkeit, ihren Gedanken und Handlungen die aufschlussreichsten Aussagen machen.

Zusammengefasst ist zu betonen, dass die Anorexie bis heute ein äußerst komplexes Krankheitsbild darstellt. Befasst man sich mit dem Hungern anorektischer Menschen, mit deren möglichen Absichten und Gedanken und mit deren Familien, so wird man mit einer Vielzahl an Rätseln konfrontiert. Um zumindest einen für mein Dafürhalten nicht unwesentlichen Teil dieser Rätsel zu lösen, steht es an erster Stelle, die Betroffenen selbst reden zu lassen und sie anzuhören und anhand ihrer Aussagen die meist verworrenen Familiengeschichten und -konstellationen zu erfahren und in seine Überlegungen mit einzubeziehen.

Das Schönheitsideal des Schlank-Seins ist vorwiegend in der westlich geprägten Welt vorherrschend, und es scheint in vielen Bereichen unserer Gesellschaft das Aufweisen einer schlanken, ja fast "drahtig" zu nennenden Figur, das ultimative Must und der Garant für Ruhm und Erfolg zu sein.

Eine Magersucht, wie sie in der vorliegenden Arbeit definiert wird, würde in einem Land wie z. B. Indien gar nicht weiter auffallen, da dort, laut wissenschaftlicher Studien, bei einem Großteil von "gesunden" Frauen ein BMI von unter 17,5 festgestellt wurde, was in unserer Gesellschaft bereits einem als magersuchtsspezifisch geltendem Gewicht entspricht. Aufgrund von im Vergleich zur westlichen Kultur völlig unterschiedlichen Lebensbedingungen und -verhältnissen ist der oben genannte BMI in Indien und ähnlich entwickelten Ländern nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches.

Damit ist zu sagen, dass paradoxerweise der höhere Lebensstandard in den industrialisierten Regionen der Welt die Erkrankung fördert, die Ursachen aber, wie in der vorliegenden Arbeit untersucht und verdeutlicht wird, tiefer liegen bzw. auf systemischer Ebene zu erarbeiten sind.

Würde man nun etwa auch auf das Krankheitsbild der Anorexie z. B. in den USA blicken, deren Geschichte und Kriegsvergangenheit eine ganz andere ist, würde man möglicherweise anhand von Interviews feststellen können, dass die Familienbilder auch dort durchaus dieselben oder ähnliche Muster aufweisen, wenn auch - zugegebenermaßen - auf dem Hintergrund eines unterschiedlichen historischen Kontexts, dessen Untersuchung allerdings auch zu vergleichbaren familiären Grundmustern führen könnte.

Repräsentative Ergebnisse aus anderen Ländern liegen allerdings nicht vor, deshalb muss die Untersuchung auch eingegrenzt bleiben auf die hier vorliegenden Ergebnisse.

Die Untersuchung z. B. in Form einer Dissertation auszuweiten auf andere Länder, in denen während der Naziherrschaft in Österreich und Deutschland andere politische und soziale Verhältnisse herrschten, wäre in Bezug auf mögliche Unterschiede in den Wertehaltungen von anorektischen Menschen und deren Familien äußerst interessant. Mit Sicherheit wäre es diesen Versuch auch wert, um auf diese Weise den Untersuchungsbereich auszudehnen und zu neuen Erkenntnissen und eventuell daraus resultierenden Therapieansätzen für anorektische Menschen zu kommen.

Wie beschrieben, waren der Körper und ein bestimmtes Schönheitsideal bereits oder gerade zur Zeit des Dritten Reiches durchaus wichtig, und dies wurde z. T. auch in den Vordergrund gestellt. Auf die Frage, ob es auch in dieser Zeit die Magersucht gegeben hat, würde ich sagen, dass man wohl bedacht war auf sein Äußeres, auf seinen Körper, was einem ja von autoritären Instanzen eingetrichtert wurde, aber für die Entstehung der anorektischen Erkrankung nicht vordergründig ist. Die Menschen damals waren, aufgrund von drastischem Nahrungsmittelmangel, froh, ausreichend Nahrung zu haben, und vor allem war es ein Zeichen von Wohlstand, wenn man genug davon zu Hause hatte. Weiters sollte betont werden, dass eine Anorexie wahrscheinlich gar nicht weiter aufgefallen wäre, da man zum einen eine Vielzahl anderer Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen hatte und zum anderen wissenschaftliche Erkenntnisse darüber im Gegensatz zu heute nicht in vergleichbarem Ausmaß vorhanden waren. Dh, eine Person, die an Anorexie erkrankt war, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach nicht als solche erkannt worden; man hätte sie schlicht als krank bezeichnet, ohne spezifischere Zuordnung des Krankheitsbildes.

Darüber hinaus sollte betont werden, dass sich das Wissen über das Krankheitsbild der Anorexie im Laufe der Zeit wesentlich erweitert hat. Man weiß heute vom Einfluss der Familie, aber es bestehen, wie in der vorliegenden Arbeit zu zeigen versucht wird, noch wenig eindeutige Kenntnisse vom Einfluss der Großeltern-Generation im Kontext des Dritten Reichs. Sicher ist, dass die Anorexia nervosa ein multikausales Geschehen ist.

12 Kurzer Ausblick auf mögliche Therapieansätze

Im Hinblick auf die psychotherapeutische Arbeit mit an Anorexie erkrankten Menschen wäre es, Bezug nehmend auf das vorliegende Thema, interessant, drei Ansätze zu diskutieren bzw. sie in die Praxis mit einzubeziehen:

  • die Anfertigung eines Genogramms (Stammbaum) gemeinsam mit den betroffenen Personen, um möglicherweise sehr wichtige und bedeutsame Informationen über deren gesamte Familie zu erhalten.

  • die Betroffenen müssten von den Therapeuten/innen explizit über die Großeltern und deren Vergangenheit gefragt werden. Wissen sie nicht Bescheid über das Beziehungsfeld Großeltern und Drittes Reich, sollten sie dazu ermutigt werden selbst Nachforschungen darüber anzustellen.

  • der letzte Therapieansatz befasst sich mit der Idee, das negative Gefühl, Buße tun zu müssen, von welchem, wie erwähnt, anorektische Menschen buchstäblich erdrückt werden, in gutes, positives Gedankenpotenzial umzupolen.

Um negative Gefühle in positive umzukehren, könnte z. B. ein sozialer Akt gesetzt werden (z. B. Tätigkeit in einer sozialen Einrichtung wie z. B. einem Altersheim, Unterstützung anderer anorektischer Menschen auf ihrem Weg der Gesundung).

Negative Introjekte, also Schuldintrojekte, sollen auf diesem Wege mental und emotional aufgelöst bzw. abgegeben werden.

Anorektische Menschen laden sich ein Zuviel an fremder Verantwortung auf, was schlussendlich auch dazu führt, dass sie vergessen, was ihre eigene Verantwortung ist oder zu sein hat. Sie übernehmen kaum eigene Verantwortung; es ist letztlich immer die Verantwortung anderer Menschen in ihrer Umgebung, die sie auf sich nehmen.

"Was ist aber meine eigene Verantwortung?" - Die Bewusstmachung dieser Frage ist ein wichtiger Prozess in der Therapie. Je integrierter die eigene Person ist, desto positiver wird auch die Entwicklung in Richtung der eigenen Verantwortung sein.

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E-Mail

Frau Dr. Eva Gold: praxis@eva-gold.com (in der Arbeit zitiert)

Herr Dr. phil., Univ. Doz. Karl Fallend: karl.fallend@aon.at

Hilfsmittel

Diktiergerät für die Aufnahme und Transkription von Interviews

Auswertungsprogramm:

  1. Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring)

  2. Interpretation der Ergebnisse (Anleitung und Hilfestellung nach Mayring, z. T. Leithäuser und Volmerg)

Lebenslauf

Persönliche Daten

 

Geburtsdatum:

24.01.1980

Geburtsort:

Saalfelden am Steinernen Meer

Familienstand:

ledig; 1 Kind, Alina Anna Rainer (geb. 21.12.2003)

Staatsangehörigkeit:

Österreich

Ausbildung

 

1986 - 1987

Vorschule Saalfelden

1987 - 1991

Volksschule "Mädchen", Saalfelden

1991 - 1999

Bundesrealgymnasium Saalfelden (Neusprachlicher Zweig)

1999

Matura am BRG Saalfelden

2000 - 2001

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Studium der Psychologie

2001 - 2005

Institut für Kommunikation im Berufsleben und Psychotherapie, Innsbruck, Psychotherapeutisches Propädeutikum

seit 2001

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Studium der Erziehungswissenschaften

Berufserfahrung und Praktika

 

1999 - 2000

Freiwilliges Soziales Jahr im Behindertenwohnheim OÖ "Schön f. behinderte Menschen" in Schön/Micheldorf, (Werkstätten, Freizeit und Wohnen)

2000

Volontariat: "Schön f. behinderte Menschen" in Schön/Micheldorf

2001

Museumsaufsicht: Schloss Ambras, Innsbruck

2002

Babysitten: Babysitterbörse, Innsbruck

2002

Stauberatung bei ASFINAG, Mautstelle Schönberg

Eidesstattliche Erklärung

Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe.

Ich habe dazu keine weiteren als die angeführten Hilfsmittel benutzt und die aus anderen Quellen entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet.

Innsbruck, 11. März 2007

...............................................

Rainer Dominique

Quelle:

Dominique Rainer: Über den Einfluss tradierter Erziehungsmodelle und traumatischer Ereignisse aus dem Dritten Reich auf das Krankheitsbild der Anorexia nervosa

Ein Diskussionsbeitrag

Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie.

eingereicht bei Ao. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Rathmayr und Kobetreuerin Frau Dr. Carolin Juen de Quintero MA. Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.09.2007

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