Arbeit - ausschließlich unser Leben?

Autor:in - Dietmar Raffeiner
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium 1989, S. 121 - 124
Copyright: © Dietmar Raffeiner 1989

Arbeit - ausschließlich unser Leben?

In unserer Gesellschaftsordnung wird der Mensch primär in seiner Rolle als homo oeconomicus gesehen und gewertet. Noch immer herrscht die Meinung vor, daß der Mensch durch seine Arbeit, sprich Produktivleistung seine Würde erfahren soll. Der Mensch muß plan- und berechenbar sein, der Mensch muß eine Kosten-Nutzen-Relation haben. Tatsächlich liegt den meisten Normalitätsentwürfen die Leistungsethik in ihrer verhängnisvollen Variante der Erfolgsethik zugrunde. Der monetär meßbare Erfolg des Menschen ist zum Ausdruck seiner Qualität von Personen geworden. Das heißt, der Mensch wird fast immer vom Wert seiner Arbeit und dessen gesellschaftlicher Bedeutung her definiert. Schon der hl. Paulus meinte: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen."

Die Hochschätzung der Arbeit ragt wie ein Fels aus unserer Zivilisation, das Arbeits- und Produktivitätsdenken ist zur Religion geworden. Während Mensch und Natur unter dem Joch des Arbeits- und Produktivitätsdenkens immer mehr zusammenbrechen, sind die Ordner und Planer der Welt in den höheren und niederen Etagen immer noch damit beschäftigt, noch effektivere Temposteigerungen in Arbeit, Produktion, Konsum etc. zu erzielen. Das Ganze hat sich zu einer denkenden Lawine entwickelt, die sich jedoch selber nicht mehr denken kann.

Auch in den Behindertenwerkstätten wird heute versucht, jeden, der über Kraftreserven verfügt und imstande ist, irgendeinen Hebel in Bewegung zu setzen, an die "Arbeitsfront" zu schicken. Der Pluralismus vielfältigster Lebensstile und Wertorientierungen, wie er in der Aufbauphase in den Südtiroler Behindertenwerkstätten manchmal noch sichtbar war, mußte in den letzten Jahren immer mehr einem reinen Produktivitätsdenken weichen. Ich möchte betonen, daß mir sehr wohl bewußt ist, daß es in den Behindertenwerkstätten Menschen gibt, die ihr Lebensglück durch Arbeit finden wollen und somit ohne Zweifel ein Recht auf Arbeit haben. Aber an diesem Recht zweifelt sowieso niemand, denn mittlerweile ist ein ganzer Stab von Betreuern, Arbeitseingliederern und Amtsdirektoren unterwegs, um diesem Arbeitsrecht zum Durchbruch zu verhelfen.

Ich möchte aber an dieser Stelle meine Stimme für jene Menschen in den Behindertenwerkstätten erheben, die nicht arbeiten wollen und somit mit dem Produktivitätsdenken "nichts am Hut" haben. Es ist unsinnig, wenn in einer Gesellschaft wie der unseren, in der die Arbeit knapp wird, die alten Urteile über die Arbeitspflicht und die Verwerflichkeit des Nichtstuns weiterleben, als gäbe es viel zu schaffen. Die Aufforderung an den Unwilligen, auch er müsse arbeiten, ist unzeitgemäß. Wo Arbeit knapp ist und Arbeitslose auf Beschäftigung warten, darf jener nicht verachtet werden, der nicht arbeitet.

Die Menschenwürde vieler geistig behinderter Menschen wohnt nicht am Arbeitsplatz. Ich bin der Meinung, so wie der Arbeitswillige in der Behindertenwerkstätte ein Recht auf Arbeit hat, hat der Nichtarbeitswillige ein Recht, sich dem Arbeits- und Produktivitätsdenken zu entziehen. Für geistig behinderte Menschen ist die Frage meistens nicht die, wie sie sich tagsüber beschäftigen sollen, sondern wie sie sich als Menschen realisieren können. Dabei ist Arbeit nur ein Aspekt im Werkstattleben, ein viel wichtigerer Aspekt aber ist der Kontakt mit der sozialen Umwelt. Viele geistig behinderte Menschen können besser leben, ohne von Arbeit getrieben zu werden; sie brauchen nicht die Arbeit, um sich selber zu finden. Solche Menschen mit geistiger Behinderung brauchen nach meinen Erfahrungen vor allem viel Raum zur freien Selbsterfahrung. Das heißt, das Gestalten von Lebensäußerungen soll in erster Linie möglichst zweckungebunden sein, denn das eigentlich Bedeutende im menschlichen Leben wurzelt nicht im Zweckhaften, sondern im Unplanbaren, im Nichtvorhersehbaren.

Je enger gefaßt die Zwecke sind, auf die hin wir Betreuer unsere Anstrengungen konzentrieren, umso weniger haben viele geistig behinderte Menschen die Chance, ihre Eigenheiten zum Ausdruck zu bringen. Der allzu kurze Zügel der eindeutigen Zweckorientierung bringt die Menschen in der Werkstatt um die Chance, bei ihren Tätigkeiten Entdeckungen zu machen, sich näher kennen zu lernen und sich auf ungeplante Weise zu vergnügen. Die Grundlagen, auf denen Georg Paulmichls Geschichten entstanden sind, waren absichtslose Grundlagen, die Triebfeder zum Schreiben war der absolute Spaß.

Überhaupt glaube ich, daß einer der größten Fehler, den wir Betreuer machen, darin liegt, daß unser Tun mit geistig behinderten Menschen immer "sinnvoll" für etwas sein muß. Als "sinnvoll" wird immer das bezeichnet, das ein Mittel für einen Zweck darstellt. Fast keinem Menschen in der Werkstatt wird es gestattet, nach seinen irrtumsfrohen Vorstellungen zu leben. Von der Wiege bis zur Bahre entscheiden wir Betreuer, ohne Pausen des Erbarmens, bis in die intimsten Sphären der Persönlichkeit von geistig behinderten Menschen hinein. Fast ausschließlich versuchen wir, solche Menschen für unsere Zwecke "dienstbar" zu machen. Vielleicht ist dies nichts Anderes als eine modernere Form der Kolonisation von Menschen.

Ob diese allgegenwärtige Suche nach zweckgebundenem Lebenssinn auch für Menschen mit geistiger Behinderung immer sinnvoll ist, bezweifle ich immer mehr. Wenn ich vorhin davon sprach, Raum frei zu halten für Spiel und Unterhaltung, dann wollte ich darauf hinweisen, daß es im menschlichen Leben auch einen "freischwebenden Sinn" gibt, der zwar meistens keinen monetär meßbaren Erfolg bringt, aber im Zeitalter, in dem die Menschen das Träumen verlernt haben und von ständiger Mobilmachung getrieben werden, für das Seelenheil immer wichtiger und notwendiger wird. Vielleicht brauchten wir überhaupt mehr Träumer als Arbeiter?

Vielleicht müssen wir Betreuer in den Werkstätten, um einen Begriff aus der Landwirtschaft zu verwenden, unsere Anstrengungen wieder mehr daraufhin konzentrieren, aus den Monokulturen des Arbeits- und Produktivitätsdenkens aussteigen und hinfinden zu einer Vielfelderwirtschaft, in der die Arbeit das Leben nicht mehr dominiert, sondern sich nur mehr als ein Element von vielen ins Leben einfügt. Wo dies geschieht, könnte Raum frei werden für eine humanere Kultur und Lebensgestaltung. Es könnte zum Teil soweit kommen, daß in den Arbeiten von geistig behinderten Menschen ihre Kreativität sichtbar wird. Dies könnte zur Folge haben, daß in einer Werkstätte Individualität wieder sichtbar wird und nicht nur das Herstellungsvolumen eines monströsen Gesamtapparates. Jemand, der seine Eigenheiten nicht sichtbar machen kann, wird stumpf, stirbt innerlich ab und dient höchstens noch als abschreckendes Beispiel, ähnlich einer Vogelscheuche.

Die Welt ist voll von Überfluß, vor allen Dingen in Form von überflüssigen Dingen, während alles Notwendige durch Abwesenheit glänzt. An der Produktion dieses Überflusses, der uns Menschen immer schneller über die Köpfe zu wachsen beginnt, brauchen wir nicht die Arbeitskraft eines jeden Menschen mit geistiger Behinderung auch noch zu beteiligen.

Deshalb sollten gerade wir Betreuer uns von der Krise der heutigen Gesellschaft stimulieren lassen und genug Mut und Phantasie aufbringen, die Bedeutung der Arbeit für das Leben von geistig behinderten Menschen neu zu definieren.

Quelle:

Dietmar Raffeiner: Arbeit - ausschließlich unser Leben?

Erschienen In: TAFIE (Hrsg.): Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. 5. Gesamtösterreichisches Symposium, S. 121 - 124. Autoreneigenverlag TAK, Innsbruck 1990

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.02.2005

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