Integration Behinderter zwischen Humanität und Ökonomie.

Zu finanziellen Aspekten sonderpädagogischer Unterrichtung

Autor:in - Ulf Preuss-Lausitz
Schlagwörter: Sonderschule, Ökonomie, Kosten
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrifft:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 32-40. Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998
Copyright: © Ulf Preuss-Lausitz 1998

1. Zur Problematik vom Reden über die Kosten gemeinsamer Erziehung

Seit Kinder mit Behinderungen, also Schüler mit "zusätzlichem besonderen (meist: sonderpädagogischem) Förderbedarf" in die allgemeinen Grund- und Oberschulen aufgenommen werden, um gemeinsam mit den nichtbehinderten Kindern unterrichtet zu werden, gibt es mal offenes, mal verdecktes Stöhnen über die Kosten, die diese oft von Eltern erzwungene Schulreform kostet. Die Auffassung mancher Bildungs- und Finanzpolitiker lautet: Wir wollen ja - aber kosten darf es nichts (zusätzlich). Jakob Muth, der 1993 verstorbene damalige Verantwortliche der Bildungsratsempfehlung von 1973 "Zur pädagogischen Förderung Behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher" (Bonn 1973) hielt die gemeinsame Erziehung für ein Menschenrecht: "Integration ist ein Grundrecht im Zusammenleben der Menschen, das wir als Gemeinsamkeit aller zum Ausdruck bringen. Es ist ein Recht, auf das jeder Mensch einen Anspruch hat" (Muth 1992, S. 185). Wenn dem so ist, dann kann seine Wahrnehmung - wie jedes Grundrecht - nicht von Geldfragen abhängig gemacht werden.

Die Anspruchnahme dieses Grundrechtes[1] nimmt weltweit, europaweit und auch in Deutschland zu. Viele Staaten realisieren inzwischen die Unterrichtung von Menschen mit besonderem Förderbedarf innerhalb der allgemeinen Schule ausschließlich oder doch überwiegend, wie Italien, Spanien, Portugal, die skandinavischen Länder usw. Die Europäische Union hat Programme entwickelt, die die integrative Förderung Behinderter in Schule, Ausbildung und Arbeit unterstützen. In der Bundesrepublik haben einzelne Bundesländer die gemeinsame Erziehung[2] inzwischen gesetzlich geregelt, andere führen Schulversuche durch (Heyer 1994). Die Stellen für Integrationsmaßnahmen werden in den Landeshaushalten oft gesondert ausgewiesen, so daß der Eindruck besteht, sie beruhten immer auf einer zusätzlichen Finanzierung und gemeinsame Erziehung sei eine vergleichsweise luxuriöse Schulreform. Ein Verbandsvertreter der Sonderschulen wie der Berliner Vorsitzende des VDS, N. Stoellger, nimmt beispielsweise folgenden "Mißstand" an: Für Integration würde "ein vier- bis fünfmal so hoher Personalaufwand betrieben" wie für Sonderschulen. Kinder in Sonderschulen seien also "systembedingt benachteiligt" (Stoellger 1995, S. 420)[3]. Evt. sinkende Kosten in anderen Bereichen - etwa in den Sonderschulen oder bei den kürzeren Taxifahrten - werden nicht beachtet, ja sind oft gar nicht bekannt.

Die Kosten für Sonderschulen wurden dagegen nie einer öffentlichen Erörterung ausgesetzt. Möglicherweise wollte und will sich kein Politiker dem Verdacht aussetzen, er - oder sie - sei behindertenfeindlich. Auch in jüngster Zeit werden von Schulträgern Sonderschulen mit teuren Sonderausstattungen (und Folgekosten) gebaut - etwa für Köperbehinderte oder Geistigbehinderte -, ohne zu diskutieren, ob eine langfristige Planung für gemeinsame Erziehung für diesen Schulträger nicht pädagogisch wünschenswerter, sozialpolitisch produktiver und nicht zuletzt auch kostengünstiger wäre.

Auf diese Weise ist es immer die integrative Erziehung, die sich, auch finanziell, legitimieren muß. Nachdem gemeinsame Erziehung durch ihre große Akzeptanz bei Schülern, Eltern, Lehrern und in der Öffentlichkeit kaum mehr pädagogisch in Frage gestellt wird, werden Bedenken in erster Linie als finanzielle Argumente vorgebracht (oder vorgeschoben). Integration muß zeigen, daß sie nichts oder nicht allzu viel mehr kostet. Die Kosten des Sonderschulsystems werden nicht kritisch befragt.

Um eine vernünftige gleichgewichtige Betrachtung zu befördern, soll im folgenden der Vergleich mit den Kosten im Sonderschulsystem einbezogen werden.



[1] 1995 wurde in das Grundgesetz ein Passus zum Verbot der Diskriminierungs von Behinderten aufgenommen (Art. 3. Abs. 3.2 GG). Zumindest wenn der Staat Schüler mit Behinderungen (mit sonderpädagogischem Förderbedarf) zwingt, in Sonderschulen unterrichtet zu werden - weil Alternativen wie gemeinsame Erziehung nicht angeboten werden -, könnte dies als Diskriminierung im Sinne des GG zumindest empfunden werden, zumal dann, wenn es in verschiedenen Bundesländern diese Alternative gibt. Mit anderen Worten, die GG-Änderung eröffnet eine verfassungsrechtliche Überprüfung in jenen Bundesländern, in denen juristisch oder faktisch der Zwang zur Sonderschule existiert. Diese Auffassung vertritt auch Herdegen in einem Rechtsgutachten für die Bundesregierung, die sich diese zu eigen gemacht hat. Herdegen schreibt: "Wenn Kinder wegen ihrer Behinderung nicht zu Regelschulen zugelassen, sondern auf Sondereinrichtungen verwiesen werden, so liegt hier eine Benachteiligung stets dann, wenn diese Ungleichbehandlung nicht dem Willen der Betroffenen (oder ihrer Erziehungsberechtigten) entspricht." (Der Beauftragte 1995, S. 39).

[2] Ich spreche in diesem Text synonym von Integration, gemeinsamer Erziehung oder gemeinsamer Unterrichtung. Auch der Begriff Nichtaussonderung wird gelegentlich entsprechend verwendet. Ebenso verwende ich gleichbedeutend die Begriffe Behinderte, Kinder mit Behinderungen, Menschen mit speziellen Bedürfnisse (special needs), Gutachtenkinder (bambini con certificati), Menschen mit handicaps, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Durchweg sind Schülerinnen und Schüler gemeint, die eine über das übliche hinausgehende, i.d.R. sonderpädagogische Förderung bedürfen und ohne Integration in Sonderschulen bzw. Förderschulen beschult würden.

[3] Diese Behauptung Stoellgers wird allerdings nicht belegt. Die im folgenden dargestellten Untersuchungen (Kern, Zutter, Steiermark) zeigen, daß die Behauptung nicht aufrechterhalten werden kann - selbst wenn nur die Personalkosten gerechnet werden.

2. Statt verengtem Blick: Sieben Kosten-Ebenen

Der bisherige Blick auf die Kosten der gemeinsamen Erziehung bzw. der Sonderschule ist fast immer nur auf die Personalkosten (genauer: auf die Lehrerstunden-Kosten) gerichtet. Bei Integration werden diese oft im Haushalt extra ausgewiesen (insbesondere wenn es sich um Schulversuche oder Sonderprojekte handelt). Dieser verengte Blick verzerrt jedoch die wirklichen Gesamtkosten; eine betriebswirtschaftliche Betrachtung erfordert daher eine komplexere Analyse beider Systeme, also der separaten und der integrativen Unterrichtung von Kindern mit Behinderungen bzw. mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Nach Durchsicht der spärlichen Literatur[4] können sieben Kostenbereiche genannt werden, die in sich zu differenzieren wären. Die Kostenträger sind dabei oft ganz verschiedene (Landesschulverwaltung, Sozialamt, Kommune, Kreis, Jugendverwaltung usw.) - und dies ist einer der Gründe, warum diejenigen, die für die Lehrer-Personalkosten zuständig sind, die übrigen Kosten vernachlässigen. Nötig ist jedoch eine Gesamtbetrachtung der finanziellen Aspekte von Sonderschule oder Integration, die alle Ebenen, Zuständigkeiten und (teilweise versteckte) Hauhaltspositionen zusammenfaßt.

Diese sieben Kostenbereiche sind

  • Personalkosten

  • Transportkosten

  • Gebäude-Betriebskosten (einschl. Bau-, Reparatur und Abschreibungskosten der Gebäude)

  • Kosten für die Schulzeit

  • Kosten für die Schulform (Ganz-/Halbtagsschule)

  • Kooperationskosten

  • Gesamtgesellschaftliche Folgekosten

Diese sieben Bereiche sollen im folgenden erläutert werden. Sie sollen rechnerisch bezogen sein auf die anteiligen Kosten für ein Kind mit zusätzlichem (sonderpädagogischen) Förderbedarf pro Jahr[5] (Ausnahme: der siebte Bereich). Die einzelnen Ausgabepositionen sind nicht in jedem Fall empirisch gegeben; die Gesamtliste ist eher als eine - vielleicht noch nicht vollständige - Check-Liste anzusehen. Jeweils in Klammer sind die wahrscheinlichen Kostenträger vermerkt (wobei diese Zuordnung von Bundesland zu Bundesland teilweise unterschiedlich sein könnte).

2.1 Personalkosten

Der Aufwand an Sonderpädagogikstunden im Unterricht (Schule/Land): Für die Sonderschulen ist zu prüfen, ob überhaupt alle Lehrer eine - teurere - Sonderpädagogikausbildung besitzen, ggf. müßte also ein Teil der Lehrer differenziert berechnet werden. Außerdem müßte in konkreten Sonderschulen beachtet werden, daß eine hohe Frequenz die Kosten pro Kind logischerweise verringert, eine geringe erhöht. Klassen von vier oder fünf Kindern sind extrem teuer. - Bei Integration ist der Sonderpädagogikstundenanteil in der Regel leicht zu berechnen, da er durch die Empfehlung des Förderausschusses bzw. die Entscheidung des Schulamts festgelegt ist.

Sonderpädagogikstunden im Ambulanzsystem (Schule/Land): Diese Kosten entstehen nur, wenn in einem Land das Ambulanzsystem Verwendung findet. Es "verbraucht" häufig Arbeitsstunden für das Reisen zwischen Schulen. Das Ambulanzsystem ist auch pädagogisch in seiner Effektivität umstritten (vgl. Bächtold 1988).

Lehrerermäßigungstunden für Kooperation bei Integration (Schule/Land): falls Ermäßigungsstunden für die Kooperation von Regellehrern mit Sonderpädagogen in Integrationsschulen vorgesehen sind; entsprechend müßte nach Ermäßigungsstunden in Sonderschulen gefragt werden.

Personal für pflegerische und therapeutische Betreuung in Sonder- und Integrationsschulen (Schule/Land oder über BSHG/KJHG/Jugendverw.): Zu prüfen wäre exemplarisch, wie hoch der anteilige Aufwand pro Kind anfällt, ggf. differenziert nach Behinderungsarten bzw. spezieller Sonderschule. In Sonderschulen gibt es häufig feste Stellen für Pflege/Therapie, die nicht individuell begründet sind, sondern vorgehalten werden. Bei Integration muß der entsprechende Bedarf individuell begründet und beantragt werden. Das letztere Verfahren könnte durch seine regelmäßige Überprüfung kostengünstiger sein.

Aufwand für Fortbildung (Schule/Land): Sich fortzubilden ist eine Verpflichtung während der gesamten Lehrertätigkeit, wird jedoch bei der Einführung von Integration häufig gesondert angeboten und finanziert. Zu prüfen wäre, inwieweit diese bei Umstellung notwendige Fortbildung auch auf Lehrer in Sonderschulen ausgedehnt werden kann, um die Flexibilität des sonderpädagogischen Einsatzes zu erhöhen und den Einsatz der Lehrer im integrativen Unterricht zu erleichtern. Würde so verfahren, sind die Kosten der üblichen Lehrerfortbildung zuzurechnen, nicht einer besonderen Form der sonderpädagogischen Unterrichtung.

Regelschullehrer-Stunden (Ermäßigung, Frequenzsenkung) (Schule/Land): Ermäßigung bei Integration wird häufig nur im ersten Jahr - zur erleichterten Fortbildung und Kooperation - gewährt. Die Frequenzsenkung in Integrationsklassen bewirkt, daß dies entweder zur Erhöhung in parallelen Klassen führt - dann ist dies konstenneutral - oder zur (teuren) Bildung neuer Klassen.

Hausmeister-Kosten, Reinigung (Schule/Kommune): Dieser erhebliche Faktor ist dann unterschiedlich, wenn durch Schließung von Sonderschulen wegen Integration die Kosten für Hausmeister/Reinigung entfallen oder wenn die Schülerzahl stark differiert.

Beanspruchung des Schulpsychologischen Dienstes (Land/Kommune): Zu prüfen ist, ob die Berichte zutreffen, die davon sprechen, daß der Schulpsych. Dienst bei Integration weniger in Anspruch genommen wird, weil schon die Sonderpädagogen in Integrationsschulen/-klassen als Ansprechpartner für Verhaltensprobleme gewählt werden und i.d.R. auch Lösungen anbieten.

2.2 Transport

Behindertentransportkosten (Kommune): Erheblich geringere Kosten bei wohnortnaher integrativer Beschulung im Vergleich zur Sonderschul-Beschulung (kürzere Transportwege).

2.3 Gebäude-/Betriebskosten

Betriebskosten (Energie, Müll, Wasser, Versicherung, Maschinen, Abschreibung/Renovierung pro Klassenraum) (Schulträger): Je größer die Schülerzahl pro Schule ist, desto relativ geringer sind die Kosten pro Schüler. Kleine (Sonder-)Schulen haben entsprechend hohe Kosten pro Schüler. Integration führt bei den - größeren - Regelschulen nur unerheblich zu Mehrkosten und senkt die Kosten pro Schüler.

Mobiliarersatz, Spezialausstattung (Schulträger): Spezialeinrichtungen sind in Regelschulen unüblich, mit Ausnahme von behindertengerechten Rampen, Toiletten, ggf. Treppen oder Ruheräumen (die häufig, wenn vorhanden, multikfunktional genutzt werden, z.B. als Erste Hilfe-Raum o.ä.). Auch der Ersatzbedarf für Spezialausstattung in Sonderschulen wäre zu berechnen.

Renovierungskosten/Gebäudekosten/Zinslasten: Diese sind in bestimmten Sonderschulen (mit Spezialausstattungen) möglicherweise höher anzusetzen als in Regelschulen. Betriebswirtschaftlich sollte eine jährliche "Abschreibung" gerechnet werden (analog wie bei den Dauerkosten eines Autos).

2.4 Schulzeit

Dauer der vorschulischen Betreuung bzw. Zurückstellung (Kitaträger/Träger der Vorklasse): Die "klassische" Schule verlangt "schulreife" Kinder und praktiziert die Zurücksstellung in die Vorklasse (derzeitige Zurückstellungsquote rd. 10%). Diese Praxis bewirkt erhebliche Mehrkosten in der Vorklasse (Anteile Personalkosten, Material, Betriebskosten usw.); wird bei Integration nicht die "Schulreife" des Kindes, sondern die "Kindesreife" der Schule (für alle angemeldeten Kinder) zugrundegelegt, kann die Zurückstellungsquote gesenkt werden bzw. ganz entfallen.

Dauer des Schulbesuchs (Wiederholungen) (Schule/Land; Schulträger; ggf. BSHG/KJHG-Träger): Integration geht davon aus, daß die Schule sich von Anfang an auf den Entwicklungsstand des - integrierten - Kindes einstellt und nicht nur die Zurückstellungen, sondern auch das Sitzenbleiben/die Klassenwiederholung vermeidet. Dies spart entsprechende Kosten[6].

2.5 Schulform

Ganztags- bzw. Halbtagsschule (Schule/Land; Schulträger): Viele Sonderschulen werden als Ganztagsschulen geführt, mit entsprechendem zusätzlichen Personal und zusätzlich ausgestatteten Räumen. Zu prüfen ist, ob durch Integration die nachmittägliche Betreuung von Kindern mit Behinderungen durch andere und kostengünstigere Formen durchgeführt werden kann.

Internatssonderschule oder wohnortnahe Regelschule mit häuslichem Wohnen (Schule/Land, oft auch Sozialverwaltung und Jugendverwaltung): Bei wohnortnaher Integration kann die äußerst teure Internatserziehung - Kosten bis DM 60.000.- pro Schüler/Jahr - fast völlig entfallen und, wo nötig, ggf. durch eine kostengünstigere Betreuung innerhalb der Familie (Familienhelfer oder ambulante Pflege) ersetzt werden.- Insbesondere in der DDR war Internatserziehung verbreitet - zuweilen selbst bei Kindern mit Lernbehinderung.

2.6 Kooperation

Kosten für Abstimmung unter Ämtern/Einrichtungen/Kompetenzen (unterschiedliche Träger): Reibungsverluste (die nur schwer zu quantifizieren sind) entstehen dann, wenn mehrere Institutionen getrennt voneinander am selben Kind Fördervorhaben entwickeln. Die pädagogisch, organisatorisch und finanziell günstigste Variante besteht sicher in einer institutionellen regelmäßigen Abstimmung, etwa in Form einer regelmäßigen Konferenz, oder durch die Delegation von Vertretern unterschiedlicher Einrichtungen in ein multifunktionales Förderzentrum (ohne Unterricht). Dies würde auch für die Eltern viel Beratungszeit und Energie ersparen. Die Abstimmung zwischen Schularzt, Schulpsychologischem Dienst, sonderpädagogischer Kind-Umfeld-Analyse, Behindertenfürsorge (BSHG, KJHG) und Schulträger könnte an einem Ort in einer koordinierten Beratung erfolgen (vgl. Sander 1992). Sehr kostensparend (neben allen anderen Vorzügen)!

Überweisungsverfahren/Förderausschußverfahren (Schule/Land; ggf. Soziales/Schulträger): Dieser Kostenfaktor ist nur zwischen Integration und Sonderschule nur different, wenn es unterschiedliche Verfahren für Sonderschule und Regelschule gibt.

2.7 Volkswirtschaftliche Folgekosten

Dieser Bereich ist nicht quantitativ berechenbar, aber er muß in der öffentlichen Debatte über die Wirkungen von Sonderschule und Integration erwähnt werden. Es ist davon auszugehen, daß integrativ erzogene und unterrichtete Kinder selbständiger werden als in Sonderschulen, daß sie frühzeitig lernen, sich selbst realistisch einzuschätzen, daß die Gefahr der sozialen Isolation - auch im späteren Leben - geringer ist und daß sie, weil selbständiger und eigenaktiver, auch weniger Betreuungspersonal in Anspruch nehmen müssen. Heidenreich (1993, S. 3) spricht darüber hinaus davon, daß bei Integration "langfristig verbesserte Chancen der beruflichen Eingliederung Behinderter zu erwarten sind". Zusammenfassend könnte davon ausgegangen werden, daß die Chance für Lebensqualität und Autonomie steigt, und daß dies zugleich die (finanziell relevante) Fürsorgepflicht des Staates entlastet. Nicht zuletzt ist anzunehmen, daß durch die lange gemeinsame Schulerfahrung von Menschen mit und ohne Behinderungen die soziale Kompetenz und die soziale Integration von Behinderten und Nichtbehinderten steigt und Aggression gegenüber Behinderten abnimmt.

Betrachtet man nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrer, so wäre die Annahme zu prüfen, ob in Klassen mit gemeinsamer Erziehung die Berufszufriedenheit der Lehrer[7]steigt - was eng mit einem geringeren Krankenstand und einer späteren Pensionierung einhergeht. Mit anderen Worten, wenn auch älteren Lehrer/innen die "Schule wieder Spaß macht", weil sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden und ein humanes Miteinander zu gestalten, dann spart der Staat zugleich Geld - weil weniger zusätzliche Vertretungslehrer nötig sind und die Lehrer/innen länger im Schuldienst sein können und wollen. Zu prüfen wäre also der Krankenstand und das Lebensalter bei Pensionierungen in Sonderschulen und Integrationsschulen[8].



[4] Eine Umfrage bei 45 Experten im deutschsprachigen Raum durch den AK Gemeinsame Erziehung Berlin ergab, daß nur Heidenreich (1993), Kern (1995) und Zutter (1990) schon größere Untersuchungen vorlegten. Ansonsten scheinen auch innerhalb der Ministerien noch kaum betriebswirtschaftliche Studien in Auftrag gegeben oder gar selbst durchgeführt worden zu sein. Für die systematische folgende Darstellung stützen wir uns teilweise auf Heidenreich.

[5] Diese Vergleichsebene ist durchaus problembeladen: Während integrative Kosten fast durchweg, auch von den Verwaltungen, pro Kind gerechnet werden, gilt dies für Unterricht in Sonderschulen erst einmal nicht: dort entstehen die Kosten pro Klasse, jedenfalls was die Unterrichtsstunden betrifft. Ein Sinken der realen Frequenz (etwa aufgrund von integrativ unterrichteten Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf) spart ja in der Sonderschule keine Lehrerstunde, wenn nicht eine ganze Klasse entfällt. Es erhöht im Gegenteil den relativen Kostenanteil, der dann für die verbleibenden Kinder anfällt. Dies gilt auch für die anteiligen Betriebskosten des Gebäudes. Nur die Zuweisungen, die nach Schülerzahl erfolgen, etwa für die jährlichen Lehr- und Lernmittel, bleiben von der Frequenz der Klassen unabhängig.

[6] Andreas Flitner und Klaus Klemm sprechen davon, daß bei den jährlich 350 000 sitzenbleibenden Schülern Kosten von 1,5 Milliarden Mark entstehen (Flitner/Klemm 1995). Das wären also pro Schüler DM 4.286.- Hierbei sind nur die Personalkosten berücksichtigt.

[7] In einer Befragung von Lehrern (N = 63) in Integrationsklassen Brandenburgs wurde von über der Hälfte ausdrücklich betont, daß trotz der größeren zeitlichen Belastung ihre Berufszufriedenheit und ihr Verständnis für Behinderte zugenommen haben. Vgl. Preuss-Lausitz 1996.

[8] Mir ist die methodische Fragwürdigkeit, mögliche Unterschiede nur auf den Ort des Unterrichtens zurückzuführen, bewußt. Andere Einflußfaktoren müßten also möglichst kontrolliert werden. Dennoch ist dies eine Frage, die bislang nicht im Bereich der Aufmerksamkeit von Forschung und Verwaltung stand, die jedoch eine große pädagogisch-psychologische als auch ökonomische Bedeutung hat.

3. Kostenbeispiele: Erfahrungen und Kenntnisse

Sonderschulen sind teuer. Die Kommission der Europäischen Union hat 1992 festgestellt, daß die Kosten des Sonderschulwesens je nach Mitgliedsstaat um das Zwei- bis Zehnfache (!- P-L) über denen des allgemeinen Schulwesens liegen. Bürli, der dies mitteilt, schätzt selbst die durchschnittlichen Kosten eines Kindes mit Behinderungen im Sonderschulsystem im Vergleich zu einem nichtbehinderten Kind im Regelschulwesen auf das Vierfache (Bürli 1994, S. 851). Auch das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung berechnete für das Jahr 1986, daß die "unitcosts" (DM pro Schüler pro Jahr) der Betriebsausgaben bei Grund- und Hauptschulen bei reichlich DM 6.000 lagen (mit Schwankungen zwischen den damaligen 11 Bundesländern zwischen DM 5.400 und DM 7.100) und rd. DM 19.000 in Sonderschulen (mit Schwankungen zwischen DM 14.000 und DM 21.000) (DIPF/Haug 1989, S. 175, S. 187)[9]. Diese Kosten sind damit um das Doppelte höher als die für einen Gymnasiasten (ebda.). Die absoluten Zahlen mögen sich inzwischen verändert haben, die Relationen sicher nicht.

Auch aus NRW und dem Saarland sind einzelne Untersuchungen über die Kosten der Sonderschule bekannt. Auf einer Fachtagung der GEW Saar berichtete das Kultusministerium, daß für die Betriebs-/Gebäudekosten eines Sonderschülers DM 8.000 bis DM 40.000 angesetzt werden, außerdem DM 400 bis DM 600 bei Nutzung des Öffentlichen Verkehrsnetzes, jedoch bis zu DM 18.000 für die Nutzung von Taxis für körperbehinderte Schülerinnen und Schüler (pro Jahr)(alle Angaben ohne Personalkosten, vgl. GEW Saar 1992). - Der Schulleiter einer Schule für Geistigbehinderte berechnete - in Preisen von 1985 -, daß für einen seiner Schüler einschließlich Personalkosten DM 58.791 pro Jahr aufgewendet wurden. Darin waren allerdings auch DM 12.969 Jahreszinsen für Baukosten enthalten. Zieht man diese ab, kommt man immer noch auf DM 45.822 pro Schüler/Jahr. Für die Schule für Lernbehinderte am gleichen Ort fielen pro Kind DM 18.000-20.000 an. Diese Angabe entspricht der Untersuchung des DIPF (DIPF/Haug 1989).

In ganz aktuellen Kostenberechnungen für einzelne Sonderschulen werden diese Angaben untermauert. So sind für eine Berliner Schule für Geistigbehinderte sämtliche Ausgaben pro Jahr und Schüler untersucht worden[10] .Für die 95 Schüler, die am 1. 1. 1995 dort unterrichtet wurden, waren 18 Vollzeit-Lehrerstellen, 16 Stellen für Pädagogische Unterrichtshilfen, 3 Stellen für Betreuer und 6,5 Stellen für nichtpädagogisches Personal (Küche, Reinigung, Wirtschafterin) vorhanden. Pro Schüler/in sind allein durch pädagogisches Personal (Lehrer und Päd. Unterrichtshilfen) 11 h vorhanden[11]. Dabei sind die übrigen Personalkosten noch nicht einbezogen! Die Schülertransportkosten betrugen 1994 DM 568.676,- pro Schüler sind das umgerechnet rd. DM 6.000,- jährlich.

Als Gesamtkosten pro Schüler/Jahr ergeben sich an dieser Schule im Jahr 1994:

Tab.1: Kosten einer Schule für Geistigbehinderte 1994

Kostenfaktor

Kosten der Schule pro Jahr

Kosten pro Schüler und Jahr (95 Schüler)

18 Lehrer

18 x 80.000.- [a] = 1.440.000.-

15.158.-

 

16 x 75.000.- = 1.200.000.-

12.632.-

5 Verw., Betreuer, Hausmeister

5 x 60.000.- = 300.000.-

3.158.-

1 Wirtschafterin

54.860.-

577.-

3,5 Stellen Küchenhilfe, Reinigung

3,5 x 52.460.- = 183.610.-

1.933.-

Summe Personal

3.178.470.-

33.458.-

Schülertransporte

568.676.-

5.986.-

Lehr- und Lernmittel

24.628.-

259.-

Gebäude Betreibskosten

177.000.-

1.863.-

Baul. Unterhaltung Durchschnitt 92 - 94 (ein Jahr)

310.580.-

3.269.-

Summe sonstiger Kosten

1.080.884.-

11.377.-

Gesamtkosten

4.259.354.-

44.835.-

[a] In Preisen von 1995 kostet ein Beamter (A12/13) DM 78.400, ein Angestellter BAT IIa DM 99.460.- wegen der zu bezahlenden Sozialausgaben (Rentenvers., Arbeitslosenvers., Krankenvers.anteil). Dies sind Haushaltsplandaten, keine empirische Größen der entsprechenden Schule. Wir setzen hier pauschal für Lehrerstellen DM 80.000.- an und ignorieren, wie groß der Angestelltenanteil ist. Für PU, meist Angestellte, werden pauschal DM 75.000.- gerechnet.

Diese Angaben für 1994 entsprechen etwa den oben genannten Berechnungen aus NRW für 1985, bei Einbeziehung der Preissteigerungsrate liegen sie sogar darunter[12].

In einem weiteren Beispiel werden Angaben einer Schule für Körperbehinderte für das Jahr 1994 dargestellt[13]. In dieser sehr stark ausgelasteten Schule werden 177 Schüler beschult. Dafür werden 35,5 Vollzeitlehrer-Stellen (zu 25 h) eingesetzt.

Die Lehrerkosten berechnen sich pro Schüler auf DM 16.045,-, die Kosten für die Schülertransporte pro Kind auf DM 5.033,-, die anteiligen Kosten für den Gebäudebetrieb und die Lehr- und Lernmittel auf DM 1.898,-. Das sind zusammen DM 12.976,-. Hinzu kommen die nur pauschal berechneten Kosten für Pädagogische Unterrichtshilfen, Hausmeister, Verwaltung, Reinigung und Küche, für die hier rd. DM 16.700,- berechnet werden. Das ergibt zusammen DM 39.576,-.

Bei diesem Beispiel wird deutlich, daß die Kosten in Sonderschulen pro Schüler allein von der Anzahl der Schüler abhängen: Riesige, in dieser Größe pädagogisch fragwürdige Großeinrichtungen sind selbstverständlich relativ billiger, vor allem in den personalunabhängigen Bereichen.

Zum Vergleich seien exemplarisch die Kosten einer Grundschule in einem Berliner innerstädtischen Bezirk dargestellt[14]. In dieser Schule sind im Oktober 1994 407 Schüler, davon 8 mit zusätzlicher sonderpädagogischer Unterstützung (unterschiedliche Behinderungen).

An Kosten entstanden 1994:

Tab.2: Kosten einer Grundschule mit Integration 1994

Kostenfaktor

Kosten der Schule pro Jahr

Kosten pro Schüler pro Jahr (407 Schüler)

25 VZ-Stellen Lehrer A12/13

25 x 80.000 = 2.000.000.-

4.914.-

2 Stellen Sonderpäd.

2 x 80.000.-= 160.000.-

20.000.- (auf 8 Schüler), auf 407 = 393.-

1 Hausmeister

52.000.-

128.-

Reinigung

120.500.-

296.-

Schülertransport

---

---

Lehr- und Lernmittel, Mobiliarersatz

68.000.-

167.-

Geschäftsbedarf

1.500.-

4.-

Gebäude Betriebskosten (Müll, Wasser, Energie, Versicherung)

151.000.-

371.-

Baul. Unterhaltung jährlich

rd. 100.000.-

246.-

Gesamtkosten ohne Sonderpäd.

2.653.000.-

6.126.-

Diese Preise pro Schüler für das Jahr 1994 in einer großstädtischen Grundschule entsprechen den für das Jahr 1986 als unitcosts ermittelten Kosten für Grund- und Hauptschulen (s.o.). Für die sonderpädagogisch geförderten 8 Kinder sind diese Kosten ebenfalls anzusetzen, diese Kinder sind in den 407 Schülern mitgerechnet. Für sie zusätzlich kommen 2 Lehrerstellen hinzu, mit den entsprechenden Preisen (wovon andere Schüler natürlich auch profitieren). In jedem Fall ist der Kostenaufwand erheblich, wobei wir aus Datenschutzgründen nichts über die Schwere der Behinderungen (einschl. Geistigbeh.) im einzelnen sagen können. Im Schnitt werden hier 6,25 h pro Förderkind eingesetzt, das ist ein überdurchschnittlich hoher Anteil pro Kind und entspricht dann nach unserem Kostenmodell DM 20.000.- Integrationskinder kosten an dieser Schule also zusammen DM 26.126.-

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß der Unterricht in Sonderschulen finanziell von erheblichem Aufwand ist: Kleine Klassenfrequenzen und teurere Lehrer, oft zusätzliches Personal und besondere Ausstattungen mit hohen Betriebskosten sind der Grund. Die Bundesrepublik der Nachkriegszeit hatte aus den beschämenden Erfahrungen im Nationalsozialismus den Schluß gezogen, daß die gut ausgestattete Sondererziehung in Sonderschulen die angemessene Antwort ist. Ein Bauboom in den 60er Jahren beruhigte das "schlechte Gewissen" der Bundesbürger. Und in der DDR hat in analoger Haltung ihre polytechnische Oberschule als Einheitsschule von den Behinderten ebenso freigehalten - durch Fortsetzung des deutschen Sonderschulwesens.

Während heute Eltern oft mühsam für ihr Kind integrative Erziehung durchzusetzen versuchen und oft mit dem Hinweis auf "fehlende Mittel" blockiert werden, ist allerdings zu fragen: Stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis der Pädagogik in den Sonderschulen? Sagen nicht außerdem zahlreiche Studien, daß integrative Erziehung bessere Schulleistung liefert (u.a. Tent 1991, Haeberlin 1990)? Ist der Goldene Käfig überhaupt wünschenswert, und ist er nicht zu vergoldet? Können diese Mittel nicht in das allgemeine Schulwesen transferiert werden?

Zur Beantwortung dieser Frage ist nicht nur der Blick auf die bisherige Kosten einzelner Sonderschulen hilfreich, sondern auch eine Betrachtung der Gesamtentwicklung in einer Gemeinde. Hannelore Kern, Schulrätin in Berlin-Kreuzberg, hat für das Jahrzehnt von 1985 bis 1994 vorgerechnet, wie sich die sonderpädagogische Förderung verlagert hat. In diesem Stadtteil, der zahlreiche Kinder aus sozial schwachen Familien beschulen muß und viele Kinder kennt, die mit der deutschen Schulsprache Schwierigkeiten haben, waren 1985 im Bereich der Lern-/Sprach- und Verhaltensauffälligen 3,98% in Sonderschulen. Dann begann allmählich die integrative, gemeinsame Erziehung. 1994 waren noch 2,1% eines Schülerjahrgangs in Sonderschulen, 1,8% in Integrationsklassen der Regelschule, zusammen also ebenfalls 3,9%. Der Bezirk hat in einem Jahrzehnt "200 bis 260 Sonderschüler bzw. 1 bis 2 Sonderschulen" eingespart - und eine geschlossen. Die dadurch eingesparten Betriebskosten sind nicht berechnet worden, dürften jedoch erheblich sein. Für das Jahr 1994 berechnete Kern Lehrerstunden (insgesamt) in Integration von 5,3 h pro Kind in der Grundschule (geistig Behinderte ausgeklammert), in der entsprechenden Sonderschule von 4,5 h[15]. Berücksichtigt man, daß Sonderpädagogen in der Grundschule 2 h mehr (nämlich ebensoviel wie Grundschullehrer) unterrichten müssen, dann kommt man auf einen Mehrbedarf bei Integration von nur noch 0,4 h im Vergleich zur Schule für Lernbehinderte. Im Bereich der Sprachbehinderten sind Mehrkosten von 1,5 h errechnet worden (Kern 1995, S. 150 f.). Ich betone: Sämtliche sonstige Kosten einer Sonderschule, die in der Regelschule geringer sind oder wegfallen, sind hier nicht erhoben worden. Wenn, wie hier in Kreuzberg, die gemeinsame Erziehung schon einen erheblichen Umfang angenommen hat und eine ganze Schule geschlossen werden kann (bzw. von unten jahrgangsweise in eine integrative Regelschule umgewandelt wird), dann ist Integration insgesamt nicht teurer. Das betont auch Heidenreich (1993).

Aus der Schweiz ist eine der wenigen vergleichenden empirischen Untersuchungen bekannt. Barbara Zutter hat die Hilfsschule (entspricht der Schule für Lernbehinderte bzw. der Allg. Förderschule) mit der "Regelklasse mit heilpädagogischer Schülerhilfe" verglichen, wie sie in der Schweiz als Integrationsklasse vorherrscht (Haeberlin 1990); diese arbeitet mit Ambulanzlehrern. In Preisen von 1989 berechnete Zutter, daß die Kosten pro Kind/Jahr in der Hilfsschule sich auf Franken 12.673.- beliefen, die Kosten in der integrativen Regelklasse pro Förderschüler sich auf Franken 12.254 beliefen.- Integration war also sogar kostengünstiger. In der Aufschlüsselung der einzelnen Posten wird deutlich, daß die Personalkosten in der integrativen Regelklasse höher sind, einschließlich der Reisekosten für die Sonderpädagogen, andererseits die Betriebskosten/Gebäudekosten und die Transportkosten für die Schüler in der Hilfsschule so stark zu Buche schlagen, daß die Gesamtausgaben pro Schüler in der Hilfsschule überwiegen (Zutter 1990, S. 450). Würde in der Schweiz statt des Ambulanzsystems die deutsche Version eingeführt, wo also Sonderpädagogen in Regelschulen in Gänze Teil des Kollegiums sind, entfielen auch noch die Reisekosten für die Lehrer.

Aus Österreich ist für das Bundesland Steiermark für den geplanten Fall, daß 75% aller behinderten Kinder in Integrationsklassen unterrichtet werden sollen, errechnet worden, daß 1 Lehrerstelle für 4,2 Schüler vorzuhalten seien. Trotz dieses für deutsche Verhältnisse günstigen Verhältnisses kommt dieser amtliche Plan zur Schlußfolgerung, daß Integration etwa 12% der Lehrerstellen einspart (vgl. Ausschuß 1995). Hier ist also Integration selbst unter bloßer Betrachtung der Lehrerstunden günstiger.

Insgesamt läßt sich festhalten: Werden vor allem nicht nur die Lehrerstunden berechnet, sondern weitere anteilige Personalkosten und vor allem die Betriebskosten der Gebäude, die Ausstattungen und die Transportkosten, dann belegen alle vorliegenden Studien - die durch weitere ergänzt werden sollten -, daß gemeinsame Erziehung nicht teurer ist. Die Kosten sinken dann besonders stark, wenn Integration weit vorangeschritten ist und einzelne Sonderklassen bzw. ganze Schulen geschlossen werden (müssen). Aber auch vorher kann von einem Mehrfachen der Kosten für Integration im Vergleich zur Sonderschule nicht gesprochen werden. Dieser Eindruck kann nur auftreten, wenn zum einen die Gesamtkosten im Sonderschulbereich nicht beachtet werden, die Einsparungen in der Sonderschule durch Integration ignoriert werden, oder dort - etwa durch sinkende Frequenzen bei gleichbleibender Zahl der Klassen - nicht realisiert werden, vor allem aber dadurch, daß durch die Fixierung auf die Lehrer-Personalkosten alle anderen Kostenelemente ausgeblendet werden. Betriebswirtschaftlich und wissenschaftlich ist dies jedoch unzulässig.



[9] Hier wurden auch die anteiligen tatsächlichen Ausgaben für Beihilfe, Versorgung, für Unterrichtsverwaltung, Sach- und Investitonsausgaben einbezogen.

[10] Quelle: Drucksache Nr. 192/1995 des Bezirksamtes Wilmersdorf. Die Einbeziehung der Besoldungsbasis erfolgte nach offiziellen Tabellen.

[11] Zugrundegelegt werden 25 h pro Lehrer, 38 h pro PU. Pro Schüler würden dann anteilig 4,7 Lehrer-Stunden und 6,4 Stunden Päd. Unterrichtshilfen verwendet. Aufschlußreich ist, daß die Berliner Schulverwaltung bei der Integration Geistigbehinderter bis zum Schuljahr 1994/95 12 h (Lehrer einschl. PU) berechnet hat und ab Schuljahr 1995/96 auf 8 h zurückging - Integration wird hier im Vergleich zur Schule für Geistigbehinderte zur Sparmaßnahme.

[12] Es wäre für den Vergleich nötig, die Schülerzahl der NRW-Schule zu kennen.

[13] Quelle: Bezirksamt Berlin-Reinickendorf, Kl. Schriftl. Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen, Antwort Nr. 528 v. 10. 4. 1995

[14] Information des Bezirksamts Berlin-Kreuzberg.

[15] Im Bundesdurchschnitt kamen 1992 6,4 Sonderschüler auf einen Lehrer (nur in Schulen für Lernbehinderte 7,8 Schüler, in übrigen Sonderschulen 5,0). Vgl. KMK 1993, S. 4.- Bei 25 h pro Sonderpädagogen wären das 25: 6,4 = 3,9 h, die für ein Kind in einer Sonderschule aufgewandt wird (in Lernbehindertenschulen 25: 7,8 = 3,2 h). Bei 26,5 h Unterrichtsverpflichtung, wie sie in Berlin für Sonderpädagogen in Grundschulen gilt, ergäbe sich 26,5: 6,4 = 4,1 h Stundenaufwand für einen Sondersschüler im Schnitt, nur für einen Lernbehinderten 26,5: 7,8 = 3,4 h. (Die Differenz zu Kerns Berechnung könnte in der dortigen Einbeziehung von Ermäßigungsstunden liegen, die die Kosten pro Kind natürlich erhöhen). Wenn diese 4,1 in die Regelschule für Integration genommen werden, also kostengleich blieben, kämen nur noch die Stunden hinzu, die für einen Schüler gebraucht werden (in Grundschulen z.B. etwa 1,5 h). Alle anderen Kosten sind bei Integration niederer, wie oben gezeigt.

4. Perspektive: Was ist uns Humantität wert?

Abschließend soll gefragt werden, wie sich trotz der Sparmaßnahmen im Bildungsbereich langfristig die gemeinsame Erziehung bzw. die sonderpädagogische Förderung sichern läßt. Grundlage dafür scheint mir eine - mit dem Finanzministerium bzw. dem Parlament verbindlich abzusprechende - Garantie, daß ein bestimmter, festgelegter Prozentanteil von Schülern längerfristig eine zusätzliche, i.d.R. sonderpädagogische Förderung garantiert erhält, unabhängig von der individuellen Feststellung des Förderbedarfs. Diese sog. "Quotenregelung"[16] würde ermöglichen, daß - da die realen Geburtenzahlen Jahre vor Schuleintritt bekannt sind - jeder Schulträger seinen sonderpädagogischen Bedarf im voraus anmelden und unabhängig von der jeweiligen Finanzlage erhalten würde - und es darüber kein jährliches Gezerre der Beteiligten mehr geben bräuchte. Für Sonderbedingungen innerhalb eines Kreises bzw. eines Schulträgers - z.B. überregional tätige Heime/Sonderschulen[17] oder Häufung sozialer Brennpunkte - sollte allerdings ein zusätzlicher Ausgleich gewährt werden.

Außerdem sollten die heutigen "unitcosts" pro Schüler in Regelschule und Sonderschule errechnet werden. Es sollte festgelegt werden, daß die Ausgaben pro Kind im Bereich außerhalb der Personalkosten eine bestimmte Summe nicht überschreiten, eine Summe, über die sich der Kreis/der Schulträger zusammen mit der Schulaufsicht einigt.

Ein Beispiel: Im Kreis X werden im Jahr 1994 1000 Kinder geboren. Für das Jahr 2000 kann dann davon ausgegangen werden, daß rd. 5%, das sind 50 Kinder, einen zusätzlichen sonderpädagogischen Bedarf haben. Das Ministerium legt fest, daß für Kinder mit Behinderungen zusätzlich beispielsweise 4,5 Unterrichtsstunden und DM 1000.- Lehrmittel angesetzt werden[18]. Dann erhält der Kreis X für das Jahr 2000 für diese Kinder 50 X 4,5 = 225 Unterrichtsstunden und DM 50. 000.- für Lehrmittel (gebunden an Klassen, in denen diese Kinder aufgenommen werden). 225 h (bei fiktiven 25 h pro Vollzeitstelle) ergeben 9 Vollzeitstellen. Wo und wie diese Lehrerstellen (bzw. die Stunden) eingesetzt werden, entscheidet der Kreis. Er ist klug beraten, wenn er die mit Sonderbeschulung verbundenen erheblichen Betriebs- und Transportkosten, die von ihm zu tragen sind, gering hält oder vermeidet, also möglichst wohnortnahe Unterrichtung organisiert[19]. Auf diese Weise würden die Gesamtkosten für den Schulträger, den Kostenträger der Transportkosten und für das Land optimiert werden. (Voraussetzung ist natürlich, daß der Schulträger für die Sonderschulen und die Regelschulen mit Integrationsklassen derselbe ist. Das gilt auch für den Oberschulbereich.)

Ein solches hier vorgeschlagenes Verfahren erübrigt nicht die Feststellung eines individuellen Förderbedarfs. Schließlich müssen wir wissen, in welche Klasse die zusätzlichen Mittel fließen sollen[20]. Das Verfahren liefert jedoch den berechenbaren Rahmen für jede Entscheidungsebene und addiert die Kosten für die Sonderschulen und die für Integration - auch über die Personalkosten hinaus.

Ich sagte eingangs mit den Worten von Jakob Muth, daß Integration ein Grundrecht ist. Es darf nicht von finanziellen Erwägungen abhängig gemacht werden, so wie auch bisher der Unterricht in Sonderschulen jedem Kind ermöglicht wurde. Aber es darf und muß gefragt werden, wie wir die Verwirklichung dieses Grundrechts in der Form der gemeinsamen Erziehung in der allgemeinen Grund- und Oberschule absichern. Ganz deutlich ist, daß es nicht die wirklichen zusätzlichen Kosten, sondern die öffentliche Darstellung ist, die die Integration als besonders teure Schulreform erscheinen läßt: Erhebliche Kostenbereiche (und Einsparungen) werden bislang einfach ignoriert. Nein, beachten wir, was wir bislang - erfreulicherweise - an Gesamtkosten in die Sonderbeschulung investieren, beachten wir also auch die nicht personalbezogenen Ausgaben, dann ist die gemeinsame Erziehung, auch flächendeckend, eine finanziell realisierbare Reform, in der allenfalls die Kostenbereiche sich verschieben, jedoch nicht insgesamt steigen. Ja, gerade je stärker Integration sich - aufgrund des Elterndrucks - durchsetzt und dadurch zur Schließung einzelner Sonderschulklassen (oder gar ganzer Schulen) führt, desto günstiger ist sie auch unter Finanzaspekten. Integration ist jedoch keine perfide Sparmaßnahme, wie gelegentlich unterstellt. Sie organisiert sowohl pädagogisch als auch gesamtwirtschaftlich das schulische Lernen der Menschen mit Behinderungen sinnvoller. So wird die vielfältige Schule für alle ein Erfahrungsfeld für Kinder mit und ohne Behinderungen.



[16] Die Quote sollte sich nur auf die Gesamtplanung beziehen, nicht etwa auf jede einzelne Schule. Schließlich gibt es bekanntlich Schulen, die mehr, und solche, die weniger Integration praktizieren. Die Individualverteilung ist also durch die Quotenregelung nur dadurch bestimmt, daß eine an die Schülerzahl des Schulträgers gebundene Zuweisung erfolgt. Außerdem sollte die Quote alle 10 Jahre überprüft werden, da sich sowohl die pädagogische wie die medizinische Lage der Kinder mit Behinderungen verändert haben könnte.

[17] Es ist z.B. auffällig, daß das Land Brandenburg als Umland Berlins viele Heimkinder aufnimmt und in deren Folge auf eigene Kosten auch zu besschulen hat. Hier läßt sich ein Ausgleichskonzept denken: Der abgebende Schulträger hätte sich auch an den Beschulungskosten für Behinderte zu beteiligen.

[18] Selbstverständlich ließen sich auch differenziertere Modelle entwickeln, die z.B. auf den diversen Behindertenanteilen pro Altersjahrgang (rd. 10 Berhinderungsarten) beruhen, wie sie die Schulstatistik (KMK 1993) aufführt. So ist beispielsweise bekannt, daß über Jahrzehnte rd. 0,6% eines Altersjahrganges als Kinder mit geistigen Behinderungen eingeschult werden. Das wären bei 1000 Schülern eines Kreises also 6 Kinder. Für diesen Adressatenkreis könnten andere h-Anteile (z.B. 1/2 Lehrerstelle) vorgesehen werden. Für eine Gesamtrechnung ist diese Differenzierung jedoch nicht erforderlich. Allerdings könnte es zur Orientierung für die Einzelentscheidung hilfreich sein, pro Behinderungsbereich grobe Richtwerte einzuführen.

[19] Es ließe sich auch denken, daß das Land nicht nur eine Obergrenze der Frequenz, sondern auch eine Untergrenze einführt, die nicht unterschritten werden darf. Sonderschulklassen mit drei oder vier Kindern sind sowohl pädagogisch wie ökonomisch unsinnig.

[20] Damit ist nichts gegen das sog. Hamburger Modell gesagt, bei dem in der "Integrativen Regelschule" pauschal pro Klasse 1/4 Vollzeitstelle Sonderpädagogen eingesetzt werden, wenn diese alle Kinder aus dem Einzugbereich der Schule aufnehmen (Schwerbehinderte werden gesondert finanziert). Dabei wird dann auf die aufwendige Durchführung von Förderausschüssen und Begutachtungen verzichtet. Der individuelle Nachweis könnte auch hier durch nachträgliche anonymisierte Meldung erfolgen. Im "Hamburger Modell" ist das Elternwahlrecht logischerweise aufgehoben (wenngleich dies nicht explizit gesagt wird).

Literatur

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Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten (Hrsg.): Der neue Diskrimiinierungsschutz für Behinderte im Grundgesetz. Entstehung und Tragweite des Benachteiligungsverbotes (Art. 3.3.2 GG). Autor: Prof. Dr. Mathias Herdegen. Bonn 1995 (Anschrift Postfach 140280, 53107 Bonn

Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung Behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn 1973 (Kommissionsvorsitz: J. Muth)

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KMK: Die Sonderschulen in der bundeseinheitlichen Schulstatistik 1985-1992. KMK Dezember 1993

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Zutter, Barbara: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Integration von Lernbehinderten. In: VHN 4/1990, S. 446-451

Weitere Informationen, Anregungen und Kritik an den vorgelegten Darlegungen sind erwünscht an: Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz, Technische Universität Berlin, Institut für Erziehungswissenschaft, Sekr FR 4-3, Franklinstr. 28/29,D-10587 Berlin

Quelle:

Ulf Preuss-Lausitz: Integration Behinderter zwischen Humanität und Ökonomie - Zu finanziellen Aspekten sonderpädagogischer Unterrichtung

Erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrifft:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 32-40

Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.11.2005

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