Ein kontinuierlicher deutscher Sonderweg?

Zur Schul- und Berufsbildung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf

Themenbereiche: Schule, Arbeitswelt
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen In: Sabine Knauer und Jörg Ramseger (Hg.) Welchen Beitrag leistet die schulische Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt? Ergebnisse eines Expertenhearings. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, S. 61–73.
Copyright: © Justin J.W. Powell, Lisa Pfahl 2009

Ein kontinuierlicher deutscher Sonderweg?

In Deutschland wird immer mehr Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert (5,8 %), zugleich besucht ein stetig wachsender Anteil von Kindern und Jugendlichen (4,9 %) nicht eine allgemeine, sondern eine Sonderschule (KMK 2008). Sonder- bzw. Förderschulen gehören zum allgemeinen Bildungswesen, stellen jedoch historisch gewachsen und schulrechtlich gesehen ein nach gesundheitsspezifischen Gesichtspunkten gegliedertes, eigenes Schulsystem dar. An Sonderschulen werden besondere Hilfsmittel bereitgestellt und „geschützte“ Lernmöglichkeiten für arme, (chronisch) kranke und behinderte Kinder und Jugendliche geschaffen. Das deutsche Sonderschulsystem stellt ein räumlich getrenntes, in Inhalt und Umfang reduziertes Angebot an Lernmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit Benachteiligungen und Behinderungen zur Verfügung. Die im Folgenden dargestellten Forschungsbefunde über die geringen Bildungserfolge von Sonderschülern[1] legen jedoch Zweifel am Erfolg der Sonderbeschulung nahe.



[1] Männliche Schüler machen die überwiegende Mehrheit aller Sonderschülerinnen und Sonderschüler aus. In diesem Beitrag sprechen wir von Schülern und meinen damit beide Geschlechter.

Können wir auf Behinderungen im schulischen, beruflichen und sozialräumlichen Umfeld verzichten?

Diese Frage wird im vorliegenden Beitrag in ihrer sozialen, räumlichen wie auch historischen Dimension diskutiert. Dabei wird deutlich, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland ihre Schul- und Berufsbiographien in verschiedenen, meist von der Mehrheit der Bevölkerung getrennten Lern- und Arbeitsorten bestreiten. Bildungsungleichheiten, die durch eine frühe Selektion von Kindern und Jugendlichen in unterschiedliche Schultypen hergestellt werden, bestärken und reproduzieren bestehende soziale Benachteiligungen. Für die Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gilt dies in besonderem Maße. Im Jahr 2006 besuchten insgesamt 408.085 Schülerinnen und Schüler eine Sonderschule (KMK 2008) und wurden somit „schulisch behindert“, d. h. aufgrund von Benachteiligungen und wahrgenommenen Behinderungen an Sonderschulen segregiert (Powell 2007). Diese Schülerinnen und Schüler werden mehrheitlich nicht zu einem qualifizierenden Schulabschluss geführt (vgl. Powell 2006a). In der Debatte um die Chancengleichheit aller Schüler sind folgende Fragen bislang offen geblieben: Wie kann eine gerechte Verteilung von schulischen Lernmöglichkeiten und Unterstützung im Bildungssystem erreicht werden? Wie kann die spätere Teilhabe am Erwerbsleben von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) sichergestellt werden?

Das deutsche Sonderschulsystem stellt mit seiner je nach Bundesland variierenden Anzahl von ca. zehn verschiedenen Sonderschultypen ein hochdifferenziertes Organisationsgefüge dar. 1994 wurde zwar ein Klassifikationssystem der individuellen „sonderpädagogischen Förderbedarfe“ (wie etwa Lernen, geistige und soziale Entwicklung, oder Sprache) eingeführt, jedoch existieren Sonderschulen weiterhin. Am Ende des 19. Jahrhunderts etabliert, hat sich die Sonderschule im Verlauf des 20. Jahrhunderts nur graduell gewandelt; sie blieb als eigenständige Schulform sowohl in der BRD als auch in der DDR erhalten. Ihre Legitimation zieht die Sonderpädagogik nicht aus den Bildungserfolgen ihrer Schüler, sondern aus ihrer fortwährenden „Entlastungsfunktion“ für allgemeine Schulen und einem „gesonderten Bildungsanspruch“ von Kindern mit Benachteiligungen und Behinderungen (Pfahl 2008). Die Gruppe der Sonderschüler wurde und wird relational zum jeweiligen Lern- und Leistungsverhalten des Durchschnitts der Schüler definiert. Ihre schulische Behinderung benennt somit eine negative Abweichung vom vermeintlich Normalen und wird in Umfang (vgl. Powell 2006b) und Inhalt (vgl. Pfahl 2008) historisch kontingent konstruiert, auch in Bezug auf die Anforderungen in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt.

In diesem Beitrag werden sowohl die Konsequenzen einer Überweisung an eine Sonderschule für benachteiligte Schüler und diejenigen mit Behinderungen rekapituliert, als auch eine ländervergleichende Perspektive auf sonderpädagogische Einrichtungen eingenommen. Wir beginnen mit der Darstellung zentraler Befunde zur Auswahl, Überweisung und Schul- und Berufskarrieren von Sonderschülern und -abgängern (Abschnitt 2). Anschließend werden vergleichende Analysen der Segregations- und Integrationsquoten sowie der unterschiedlichen Schulorganisation in Deutschland, den USA und anderen Ländern vorgestellt (Abschnitt 3). Abschließend verweisen wir auf einen erheblichen Forschungsbedarf in Deutschland (Abschnitt 4).

Schul- und Berufskarrieren von Sonderschülern und Sonderschulabgängern

Sonderschulabgänger erhalten in der Regel kein schulisches Zertifikat, das sie für eine Berufs- oder Hochschulbildung qualifiziert, deshalb bleibt ihnen der Übergang in den ersten und zweiten Arbeitsmarkt zumeist strukturell verwehrt. Seit Jahrzehnten erhalten Schulabgänger von Sonderschulen nur in Ausnahmefällen reguläre Arbeitsplätze und gelangen überwiegend in berufliche Maßnahmen, was zur Folge hat, dass sie im späteren Lebensverlauf überdurchschnittlich häufig arbeitslos und abhängig von staatlichen Leistungen und Fürsorge sind (vgl. Maschke 2008). Obschon Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen auch in anderen europäischen Staaten Benachteiligungen erfahren, zeigen Bildungsreformen wie in Italien und Norwegen, dass die schulische Inklusion aller Kinder und Jugendlichen in gemeinsamen Klassen an allgemeinen Schulen umsetzbar ist, wenn dies gewollt wird (Ferdigg i. d. B.; Hvinden i. E.). Hier unterstützt die inklusive Beschulung den Zugang aller jungen Menschen zu beruflicher Bildung und zum Arbeitsmarkt. Im Gegensatz zur segregierten Beschulung von Schülern mit SPF in Deutschland, welche zur Zertifikatslosigkeit führt, erreichen darüber hinaus bspw. in den USA die Hälfte der so klassifizierten Schüler einen qualifizierenden Schulabschluss, der ihnen den formellen Zugang zu tertiärer Bildung ermöglicht (Powell i. E.). Das Beispiel der USA und die Bildungsergebnisse anderer europäischer Länder verweisen darauf, dass integrative und inklusive Beschulung häufiger zum Erreichen schulischer Zertifikate führt und der Übergang von Menschen mit Behinderungen in qualifizierende berufliche Bildung dadurch unterstützt wird. Untersuchungen zu den Übergängen in postsekundäre Bildung der Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten in Deutschland, der Schweiz und Österreich bestätigen, dass ohne schulische Inklusion und Qualifizierung äußerst wenige Möglichkeiten für ihre weitere Ausbildung und berufliche Teilhabe bestehen (vgl. Powell/Felkendorff i. E.).

Obwohl in Deutschland insbesondere seit den 1970er Jahren erfolgreich Programme der schulischen Integration etabliert wurden, behielten diese jedoch mangels einer flächendenkenden Umsetzung Modellcharakter. Die vergleichbar selten anzutreffenden inklusiven Schulprogramme, die Leitsätze wie Vielfalt, Gruppenzugehörigkeit und Solidarität in allgemeinen Schulen realisieren, beugen der Abschlusslosigkeit und Stigmatisierung und damit dem Ausschluss aus gesellschaftlichen Organisationen und dem persönlichen Rückzug von gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Schüler mit und ohne Behinderungen vor. Ein Vergleich der Bundesländer verdeutlicht, dass schulische Integration in Deutschland durchaus realisierbar ist (vgl. Krappmann et al. 2003).

Die Integrationsraten, die die KMK jährlich ausweist, geben Aufschluss über den Anteil der Schüler mit SPF, die an allgemeinen Schulen unterrichtet werden im Verhältnis zu allen Schülern mit SPF. Im Durchschnitt werden nur 16 % aller Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in Deutschland an allgemeinen Schulen integriert, jedoch variiert diese Integrationsquote je nach Bundesland stark: von 5 % in Niedersachsen oder 6 % in Sachsen-Anhalt bis 32 % in Schleswig-Holstein, 34 % in Berlin, und 45 % in Bremen (KMK 2008), wobei die Gründe für solche Disparitäten noch nicht vollständig erforscht sind. Dennoch sind die Möglichkeiten der schulischen Integration keinesfalls ausgereizt; die Segregation von Kindern und Jugendlichen mit SPF in Deutschland bleibt im Vergleich zu anderen Demokratien sehr hoch (vgl. Powell 2006a). Bei dieser relativ hohen, aber bundeslandspezifisch stark variierenden Anzahl von Schülern mit SPF stellt sich die Frage, welche Schüler an eine Sonderschule gelangen und wie ihre Schulkarrieren verlaufen.

Zunächst zu den Feststellungsverfahren des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch Lehrer und Psychologen. Diese setzen in der Regel erst nach größeren Leistungsrückständen der Schüler ein und sind in der Ressourcenzuwendung zu langsam; denn die Verfahren selbst stellen ein zeitaufwändiges und teures Expertenhandeln dar. Brigitte Kottmann (2006) hat in ihrer Studie zum Feststellungsverfahren des sonderpädagogischen Förderbedarfs gezeigt, dass im Zuge der Feststellungsverfahren insbesondere die Förderplanung fehlt. D. h. , die Chance, inhaltliche Lernziele für das individuelle Kind im Verfahren zu definieren, bleibt oft ungenutzt. Damit wird die Möglichkeit eines verbesserten Unterrichts innerhalb der Regelschule verhindert. Die behauptete „Ergebnisoffenheit” der Verfahren wird zudem durch die bestehenden Schulstrukturen sowie durch Finanzierungsvorbehalte der Bundesländer untergraben.

Die Schüler, denen im Feststellungsverfahren ein sonderpädagogischer Förderbedarf nach psychologischer und pädagogischer Begutachtung attestiert wird und deren Lernzuwächse nach Einschätzung von Lehrern und Schulpsychologen an der Regelschule nicht (mehr) gesichert werden können, stellen zudem eine selektive Gruppe dar. Zum Beispiel die Kinder im Schwerpunkt Lernen wachsen zumeist in armen, sozial benachteiligten Familien auf und haben sehr häufig Eltern, die in Arbeitslosigkeit leben (vgl. Pfahl 2006). Schüler mit Migrationshintergrund sind dabei in vielen Förderschwerpunkten z. T. deutlich überrepräsentiert (vgl. Powell/Wagner 2002; Wagner/Powell 2003). Zudem tragen Jungen ein größeres Risiko, an einer Sonderschule segregiert zu werden, vor allem an Sonderschulen für Lernbehinderte, die mit zwei Dritteln Jungen quasi „Jungenschulen“ darstellen (Faulstich-Wieland 2004, S. 651). Fast alle Schüler mit festgestelltem SPF wechseln im bundesdeutschen Durchschnitt an eine Sonderschule und setzen ihre Schulbiographien somit in einem homogenen sozialen Schulkontext fort, der nicht wohnortnah gestaltet ist.

Sonderschulen werden in der sonderpädagogischen Forschung und Praxis dabei oft als „Schonraum“ bezeichnet, womit ein Lernort charakterisiert wird, der „auffälligen“ und „leistungsschwachen“ Schülern eine Rückzugsmöglichkeit in kleinen Klassen zusammen mit anderen Kindern mit (ähnlichen) Lernschwierigkeiten bieten soll (Pfahl 2008). Seit Jahrzehnten wird dieses Konzept von Erziehungswissenschaftlern aufgrund seiner stigmatisierenden Wirkung kritisiert. Hinzugekommen sind soziologische Kritiken am „Cooling-Out-Effekt“ von Sonderschulen, in denen Schüler sich an die reduzierten Erwartungen anpassen (Pfahl 2006), an der sich selbst erfüllenden Prophezeiung der Klassifizierung und der institutionellen Strukturen, die schulische Behinderung begünstigen (Powell 2003), sowie an der Entstehung von „Feedback-Loops“ des Scheiterns durch Klassenwiederholungen oder Maßnahmekarrieren, die eine Perspektiv- und Motivationslosigkeit der Schüler herstellen und verstärken (Solga 2005).

In der Tendenz führt der Besuch einer Sonderschule nicht zu einem Schulabschluss: Kontinuierlich verlassen um die 80 % aller Sonderschulabgänger die Schule ohne qualifizierenden Abschluss (KMK 2008). Die dort zusammen treffende homogene Gruppe bietet wenig Anreize und Vorbilder, während in inklusiven Klassen gerade die Vielfalt positiv für das kognitive und soziale Lernen genutzt werden kann (vgl. Prengel 2006). Wie Hans Wocken (2000) gezeigt hat, erhöht sich die Leistungskluft, je länger Schüler auf einer Sonderschule verbleiben. Sie fallen in ihren Lernleistungen nach einer Überweisung weiter zurück, obwohl sie anfangs vergleichbare Leistungen mit Hauptschülern haben. Im Zuge der Bildungsexpansion geht dieses Fehlen von Zertifikaten mit einem erhöhten Verdrängungswettbewerb aus der beruflichen Ausbildung einher, was die systematische Diskriminierung der Schulabgänger auf dem Arbeitsmarkt verstärkt und ihr Arbeitslosigkeitsrisiko erhöht.[2]

Nach Verlassen der Schule werden Jugendliche ohne qualifizierenden Abschluss mit schwierigen Übergängen konfrontiert, die oft in Ausbildungslosigkeit führen. Auch das Absolvieren einfacher oder theoriereduzierter (Teil-)Ausbildungen stellt einen äußerst schwierigen Übergang in das Erwerbsleben dar, weil die Gefahr der Prekarisierung kaum kompensiert wird (vgl. Konietzka 1999). Sonderschulabgänger werden bei der Ausbildungsplatzsuche stark diskriminiert und brechen ihre berufliche Ausbildung aufgrund fehlender Unterstützung, mangelnder Förderpläne und Begleitung bzw. Assistenz häufiger ab als andere Schulabgänger (vgl. Körner i. d. B.; Ginnold i. d. B.). Im weiteren Lebensverlauf bleibt die Erwerbs- und Lebenssituation ehemaliger Sonderschülerinnen und -schüler zumeist prekär und durch Maßnahmen beruflicher (Wieder-)Eingliederung geprägt (vgl. Powell/Felkendorff i. E.).

Die Segregation von Sonderschülern wird in den besonderen Maßnahmen der Berufsausbildung fortgeführt. Sonderschulabgänger werden in der Phase ihrer Berufsorientierung häufiger in Rehabilitationsmaßnahmen gelenkt als Hauptschüler oder ehemalige Integrationsschüler. Damit besteht für sie ein erhebliches Risiko, nach einer rehaspezifischen Berufsvorbereitung keine Vollausbildung zu erreichen (vgl. Ginnold 2008). Prinzipielles Problem der beruflichen Maßnahmekarrieren ist eine weitere Stigmatisierung und ein niedriger Status der Quasi-Ausbildung. Zudem sind die Maßnahmeteilnehmer nach oft mehrmaligem Durchlaufen diverser Berufsbildungsschleifen mehrere Jahre älter als Haupt- und Realschulabgänger, die sich um Ausbildungsplätze bewerben (vgl. Solga 2005). Zusätzliche segregierende Maßnahmen bringen Menschen mit Behinderung nicht langfristig in qualifizierte Arbeitsverhältnisse — zumal der Arbeitsmarkt angespannt ist (vgl. Lex 2000). Forschungen zu Jobcoaching zeigen, dass eine Begleitung von Sonderschullabgängern beim Übergang von der Schule in den Beruf durchaus im Einzellfall zum Erfolg führen kann, doch es bleibt eine langjährige, aufwändige und kostspielige, individuelle Unterstützung von einzelnen Betroffenen (vgl. Pfahl 2004): Die schulischen und beruflichen Benachteiligungen der Sonderschulabgänger vermag auch ein Zuwachs an sozialpädagogischen Angeboten im Übergang von der Schule in den Beruf nicht zu kompensieren.

Die berufliche und gesellschaftliche Exklusion von Menschen mit Behinderungen basiert diesen Ergebnissen zufolge in erheblichem Maße auf der Bildungsbenachteiligung. Obwohl systematische und flächendeckende vergleichende bildungsökonomische Berechnungen der unterschiedlichen Förderorte noch ausstehen (vgl. Spieß i. d. B.), belegen die vorhandenen Statistiken die extrem hohen sozialen und ökonomischen Kosten schulischer Segregation (vgl. Preuss-Lausitz 1998; 2009), beruflicher Exklusion und Arbeitsmarkt-Marginalisation (vgl. BMBF 2008). Schwerwiegender noch als die Kosten sind die Verletzungen von Menschenrechten durch Bildungsdiskriminierung, die schwer revidierbar Abhängigkeiten und Beschränkungen der Selbstbestimmung erzeugen (vgl. Muñoz 2007). Auch räumliche und kommunikative Barrieren limitieren Entwicklungspotenziale: Die angestrebte Barrierefreiheit ist in vielen Dimensionen nicht erreicht — trotz neuer Gesetzgebung auf supranationaler, nationaler und Bundesländerebene steht „Design für alle“ noch aus.



[2] So sind in Deutschland über die Hälfte der Langzeitarbeitslosen gering gebildete Personen mit fehlenden qualifizierenden Zertifikaten (vgl. Solga 2005).

Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und den USA

Über die letzten 15 Jahre ist sowohl die Zahl der Schüler, die eine Sonderschule besuchen, als auch der Anteil Schüler mit SPF , der in allgemeine Schulen integriert wird, in Deutschland stetig gewachsen (Abb. 1). Seit 1999 werden in der amtlichen Statistik auch Integrationsquoten errechnet.[3] Zusammen ergibt sich daraus die Gesamtförderquote, deren Tendenz steigend ist: von 1999 bis 2006 stieg diese Quote von 5,1 % auf 5,8 %, während die Sonderschulbesuchsquote seit 1990 von 3,7 % auf 4,9 % stieg (KMK 2008). Diese Trends verdeutlichen die Spannung zwischen der Ausweitung der schulischen Integration und inklusiver Bildung — wie sie von den Vereinten Nationen (Muñoz 2007) und der Europäischen Union (2008) verlangt wird — und der institutionellen Trägheit und den starken Interessen am Erhalt des bestehenden, hochdifferenzierten Sonderschulsystems sowie den fehlenden Investitionen in schulische Bedingungen, die gemeinsamen Unterricht ermöglichen.

Abbildung 1. Sonderschulbesuchquoten (Segregation) und Gesamtförderquoten (Segregation & Integration) in Deutschland 1990-2006

Skala mit Sonderschulbesuchquoten und
Gesamtförderquoten in Deutschland von 1990 bis 2006

Förderquoten und Sonderschulbesuchsraten (Europa, USA)

Im Vergleich mit anderen europäischen Staaten liegt Deutschland mit der Anzahl von Schülern, denen sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird, im Mittelfeld. Die Anzahl Schüler mit SPF , die an separaten Sonderschulen unterrichtet wird, ist hingegen eine der höchsten in Europa (vgl. Powell 2006b, S. 583). Dabei variieren sowohl die Förderquoten als auch die Integrationsraten von Schülern mit SPF regional.[4] Trotz der großen Chance der deutschen Wiedervereinigung wurde auch diese Transformationsphase nicht genutzt, um die schulische Integration flächendeckend auszuweiten. Im Gegenteil, es sind gerade die neuen Bundesländer, die die höchsten Sonderbeschulungsraten aufweisen, z. T. mehr als doppelt so hohe Raten wie in westlichen Bundesländern, Tendenz steigend (vgl. Krappmann et al. 2003; Powell 2006b; KMK 2008). Diese Quote schlägt umso gravierender zu Buche, als die in den westlichen Bundesländern an Sonderschulen weit überrepräsentierte Gruppe von Schülern mit Migrationshintergrund in den neuen Ländern so gut wie gar keine quantitative Rolle spielen (vgl. Knauer 2008, S. 162).

Im Hinblick auf die europäischen Nachbarländer und die USA wird klar, dass sogar in diesen reichen westlichen Ländern die Bandbreite der Gruppengrößen sehr groß ist (Abb. 2 zeigt auf der linken Seite die Förderquoten, nämlich den Anteil aller SchülerInnen, die als förderbedürftig klassifiziert wurden, in Prozent) — von 1 % (Italien) bis zu einem Fünftel (Finnland). Noch größere Varianz zeigt sich aufgrund der grundlegend verschiedenen Bildungssysteme, von denen einige nahezu vollständig segregieren (Belgien) bis hin zu Italien, wo es Sonderschulen nur vereinzelt gibt (Abb . 2 zeigt auf der rechten Seite die Segregationsraten, also den Anteil der Schüler mit SPF , die Sonderschulen besuchen, in Prozent).

Darüber hinaus wird deutlich, dass Deutschland und die USA gegensätzliche sonderpädagogische Fördersysteme institutionalisiert haben: In den USA gibt es eine umfangreiche klassifizierte Gruppe, die dann größtenteils in Regelschulen integriert wird (jedoch nicht ganztägig in Regelklassen inkludiert ist). In Deutschland wird eine viel kleinere Gruppe klassifiziert, jedoch fast ausschließlich räumlich getrennt unterrichtet. An diesen Beispielen sehen wir, dass sonderpädagogische Fördersysteme innerhalb Europas und in den USA sehr verschiedene Formen annehmen. Anerkannter Förderbedarf kann eine Ausnahme sein oder kann zur Selbstverständlichkeit an allen Regelschulen werden. Sonderpädagogische Förderung kann entweder nahezu ausschließlich in besonderen Einrichtungen angeboten werden, oder, ganz im Gegenteil, an allen allgemeinbildenden Schulen. Somit wird eindeutig klar, dass es nicht Fragen des Könnens oder der Machbarkeit sind, die schulische Integration und inklusive Bildung bestimmen, sondern Fragen des Wollens und der Umsetzung.

Es gibt drei grundlegend unterschiedliche Modelle, nach denen die sonderpädagogische Förderung organisiert werden kann. Dabei unterscheiden sich die Lernorte ähnlich wie die Gruppengröße, indiziert durch Segregationsraten von nahezu null bis 100 % (Abb. 2). Der deutsch-amerikanische Vergleich kontrastiert das „binäre Modell“ im deutschen Fall (mit der strikten Trennung zwischen allgemeinen Schulen und Sonderschulen) und das „Kontinuum-Modell“ im amerikanischen Fall (in dem vielfältige Organisationsformen existieren). Keines der beiden Länder hat eine unitäre, auf Inklusion aller Kinder ausgerichtete Schulstruktur. Dieser Vergleich zeigt, dass es nicht ausreicht, nur über das Entweder-Oder der Segregation und Inklusion zu sprechen, denn es gibt zumindest in den USA und zunehmend auch in Deutschland eine Reihe unterschiedlicher, hybrider Organisationsformen der Förderung.

Abbildung 2. Förderquoten und Segregationsraten in USA und Europa (Auswahl)

Liste der Förderquoten/Klassifizierungsraten und
Segregationsraten in USA und Europa. Eine Auswahl an Ländern wurde
getroffen: Finnland, Island, USA, Dänemark, Portugal, Norwegen,
Deutschland, Belgien, Spanien, Österreich, England und Wales,
Frankreich, Niederlande, Schweden und Italien.

Im Hinblick auf die Förderorte vollzieht sich der Übergang von der Exklusion zur vollständigen Inklusion entlang eines Kontinuums von Segregation (Trennung zwischen Gebäuden), über Separation (Trennung innerhalb eines Gebäudes) und Integration (teilweise gemeinsamer Unterricht) hin zu vollständiger Inklusion (gemeinsamer Unterricht) (vgl. Powell i. E.). Eine Überwindung der prinzipiellen Exklusion, wie sie in den 1960er Jahren erreicht wurde, ist demnach nur der erste Schritt hin zur größtmöglichen Teilhabe an formal organisierten Lernmöglichkeiten. Die segregierenden Organisationsformen, die im deutschen Bildungssystem etabliert, verallgemeinert und verteidigt werden, blockieren gleichzeitig den Ausbau der inklusiven Bildung.

Im amerikanischen Fall bedeutet Segregation die komplett räumliche Trennung in separaten Klassen oder Sonderschulen. Separation bedeutet, dass mehr als 60 % des Schultages in separaten Klassen verbracht wird. Dagegen wird von Integration gesprochen, wenn die Schüler 21 bis 60 % des Schultages in separaten Klassen verbringen, und von Inklusion, wenn die Schüler weniger als 20 % des Schultages außerhalb von Regelklassen verbringen (vgl. Abb. 3). Obwohl ein Kontinuum von Segregation über Separation und Integration zur Inklusion eine Verminderung der Stigmatisierung verspricht, gibt es Länder wie Italien, die auf diese unterschiedlichen Lernorte verzichten — zugunsten einer inklusiven Schule für alle.

Abbildung 3. Fördersystemstrukturen (Lernorte) USA – Deutschland 2005

Diagram zur Veranschaulichung von Inklusion,
Integration, Separation und Segregation im Schulalltag in den USA und
in Deutschland im Jahr 2005

Im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten schafft die Bildungspolitik in Deutschland schulorganisatorische Voraussetzungen, die sich äußerst stark an dem Prinzip orientieren, Leistungshomogenität von Schülergruppen herzustellen. Dabei stellen die Unterrichtung von Jahrgangsklassen, die Praxis der relativ frühen, leistungs- und herkunftsabhängigen Verteilung von Schülern auf unterschiedliche weiterführende Schulen, die Klassenwiederholung und die Aussonderung von Schülern mit SPF zentrale Mechanismen dar, die eine Leistungshomogenität der Gruppen von Schülern sichern sollen. Im Gegensatz dazu orientieren sich viele andere europäische Staaten am Prinzip der Leistungsheterogenität, indem sie einen großen Anteil von Schülern mit SPF in den allgemeinen Schulen zieldifferent unterrichten und benachteiligte Kinder unterstützen, wobei sie gerade darüber den Erfolg ihrer Bildungssysteme insgesamt zu sichern pflegen – indem der Anteil der kompetenzarmen Schüler reduziert wird. Deshalb gilt das deutsche sonderpädagogische Fördersystem, in dem über 85 % aller Schüler mit festgestelltem Förderbedarf in Sonderschulen unterricht werden, unter Bildungsexperten als deutscher „Sonderweg“.

In den dargestellten Förderquoten sehen wir die aggregierten Entscheidungen der Überprüfungsverfahren. Auf Schulebene handelt es sich um die Lösung des „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemmas“ (vgl. Füssel/Kretschmann 1993). Es gilt, die positiven und negativen Konsequenzen der Klassifizierung abzuwägen, was zu interkulturell höchst unterschiedlichen Klassifizierungshemmschwellen und damit zu disparaten Gruppengrößen führt (Powell 2003). Wie in der Bildungs- und Sozialpolitik üblich, muss die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen durch eine Umverteilungsinstanz legitimiert werden. Dieser Prozess geht jedoch häufig mit der Stigmatisierung der Bedürftigen einher. Die Tatsache, dass Schüler durch den Status als Sonderschüler gesellschaftliche Abwertung erfahren und große Schwierigkeiten haben, den Übergang von der Schule in den Beruf zu bewältigen, ist seit Beginn der Sonderbeschulung bekannt, was die Debatte um Integration und Separation seit über hundert Jahren mitbestimmt. Nun können wir fragen, ob Behinderung als Konstrukt immer in ein Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma hinein führen muss. Der amerikanische Fall zeigt, dass ab einer gewissen kritischen Masse die Hemmschwelle zu Beginn eines Feststellungsverfahrens reduziert wird, wenn Kinder in ihrer Gemeinschaftsschule bleiben können, sonderpädagogische Unterstützung flexibel in jeder Schule angeboten werden kann und dadurch Durchlässigkeit gewährleistet wird. Jedoch gibt es andere Bildungssysteme, wie in Finnland, die eine Ressourcenzuweisung ohne stigmatisierende und bürokratische Klassifizierung ermöglichen und eher eine Ad-hoc-Unterstützung anbieten. In jedem Fall ideal wäre ein sonderpädagogisches Förderangebot, das die zusätzlichen Ressourcen in Form von pädagogischer Förderung oder anderer bereit zu stellender Hilfsmittel sofort beim Auftreten von Lernproblemen einsetzt und die Schüler vor Ort, d. h. in der Regelklasse im gemeinsamen Unterricht, unterstützt und ohne langwierige Begutachtungsverfahren und stigmatisierende Etikettierung bereit gestellt wird.

Am Schnittpunkt gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen und steigender Leistungserwartungen sollen sonderpädagogische Maßnahmen sowohl die individuelle Lernförderung als auch die Bildungschancen von Benachteiligten — Schülern aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien, behinderten Kindern und Kindern nichtdeutscher Herkunft — stärken. Dies sind typische Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die „schulisch behindert“ werden, wobei Jungen deutlich häufiger ein Förderbedarf attestiert wird als Mädchen. Beispielsweise betrug der Anteil nichtdeutscher Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen nahezu ein Fünftel aller Schüler (KMK 2006, S. xvi; Powell/Wagner 2002; Wagner/Powell 2003). Die Klassifizierungsraten von Schülern verschiedener sozialer Gruppen, die Verteilung dieser Schüler auf vorhandene Schularten und deren Schulabschlüsse, die für ihre späteren Ausbildungs- und Berufschancen von grundlegender Bedeutung sind, wurden aufgezeigt. Während diese ersten Indikatoren eine deutliche Sprache sprechen, wird mit einer weiteren Differenzierung durch vorhandene Behinderungskategorien und demografische Variablen deutlich, dass „schulische Behinderung“ nicht nur mit klinischen, individuellen Faktoren erklärt werden kann, sondern vor allem mit erstaunlich disparaten Rahmenbedingungen der sonderpädagogischen Förderung einhergeht.

In diesem Sinne möchten wir nochmals die einleitende Frage — Können wir auf Behinderungen im schulischen, beruflichen und sozialräumlichen Umfeld verzichten? — aufgreifen. Worauf wir verzichten können ist: schulische Behinderung, die durch Etikettierung und organisatorische Segregation in Schule und Ausbildung hergestellt und legitimiert wird. Worauf wir nicht verzichten können, sind Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, insbesondere deshalb, weil jeder — um mit Irving K. Zola (1989), dem Vater der Disability Studies zu sprechen — für das eigene Leben sehr viel von der (frühzeitigen) Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigem Phänomen Behinderung lernt. Ebenfalls nicht verzichten können wir auf Ressourcen, die Benachteiligungen ausgleichen, sowie auf schulische und berufliche Integration oder Inklusion. Einen Beitrag zur Erreichung dieser in internationalen Chartas, wie beispielsweise der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, festgelegten Ziele können hochwertige empirische Studien leisten, die multidimensionale Definitionen und Analysen des Förderbedarfs entwickeln. Solche Studien könnten unter anderem dazu dienen, Barrierenkataloge zu erstellen, in denen fördernde und behindernde Kontextfaktoren identifiziert werden, um ein besseres Erkennen und Benennen eingeschränkter Teilhabe zu ermöglichen.



[3] Die Validität und Reliabilität dieser Integrationsquoten wird von Cloerkes (2003) u. a. wegen enormer Disparitäten und Schwankungen angezweifelt.

[4] Während durchschnittlich in Deutschland 2006 4,9 % aller Schüler an Sonderschulen unterrichtet wurden, variierte die Sonderschulbesuchsquote von 3,5 % in Schleswig-Holstein und 3,8 % in Rheinland-Pfalz bis 8,5 % in Sachsen-Anhalt und 8,7 % in Mecklenburg-Vorpommern (KMK 2008).

Empfehlungen für die Bildungs- und Arbeitsmarktforschung: Forschungslücken und Interventionsbedarf zur schulischen und beruflichen Bildung und deren Behinderung

Zum Schluss geben wir einen Ausblick auf die zukünftig erstrebenswerte Ausrichtung der Forschung zum Thema schulischer und beruflicher Bildung und Behinderung. Die schulische Segregation findet bis heute vor allem nach Gesichtspunkten eines gesundheitsbezogenen bzw. klinischen Modells von Behinderung und Konzepten der Anormalität statt und wird nicht durch ihre Bildungsergebnisse legitimiert. Um die langfristigen beruflichen Integrationschancen von Menschen mit Behinderungen im Übergang von der Schule in den Beruf zu erhöhen, bedarf es einer stärkeren schulischen Qualifizierung der Schulabgänger. Eine repräsentative Untersuchung der Bildungsergebnisse unterschiedlicher schulischer Lernorte und der mit ihnen verbundenen Schülerkarrieren kann Auskunft über geeignete(ere) Lernorte für schulische und berufliche Qualifizierung geben. Hier ist die Beratung durch Experten und Menschen mit Behinderung unerlässlich, damit die richtigen Fragen gestellt und barrierefreie Instrumente entwickelt werden können.[5]

Die Schulstrukturen in den deutschsprachigen Ländern erlauben nur einem sehr geringen Anteil von Jugendlichen mit SPF eine weiterführende Ausbildung. Gerade deshalb sind sowohl die vergleichende Forschung zu (Aus)Bildungssystemen als auch die Verknüpfung von Bildungs-, Behinderten-, und Arbeitsmarktpolitik unbedingt zu verstärken. Zum einen kann so den vollen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Kosten der Trägheit segregierender Bildungssysteme empirisch begegnet werden und zum zweiten können gute Praxen inklusiver (Aus)bildung eruiert und ausgeweitet werden. Eine sichergestellte und ausgeweitete Beteiligung der deutschsprachigen Länder an internationalen Studien wie der OECD -Studie „Pathways for Disabled Students to Tertiary Education and Employment” — welche einer Reihe vergleichender Studien folgt (OECD 2003a, 2003b, 2004, 2005, 2007) — stellt einen wichtigen Zugang dar, um die Karrieren von Menschen mit Behinderungen im postsekundären Bildungsbereich zu verfolgen. Längsschnittanalysen sind von zentraler Bedeutung, um die kumulativen Vor- und Nachteile der Beteiligung an unterschiedlichen (Aus-)Bildungsformen und Übergangs- und Arbeitsmarktprogrammen zu evaluieren.

Das zukünftige nationale Bildungspanel (National Educational Panel Study: NEPS) für Deutschland wird die Bildungsverläufe der deutschen Bevölkerung repräsentativ untersuchen (vgl. BMBF 2005; BMBF 2007).[6] Es werden Vorschüler, Grundschüler, Haupt-, Real- und Gesamtschüler, Gymnasiasten, Auszubildende in der Berufsbildung und im Übergangssystem, Hochschüler und erwerbstätige Personen in der Weiterbildung in großen Fallzahlen über einen langen Zeitraum hinweg (wieder-)befragt werden. Damit werden Analysen ermöglicht, die sich auf Fragestellungen konzentrieren wie: Bildungsprozesse und Bildungsentscheidungen bei kritischen Übergängen, Leistungen von Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen (gemessen am Erfolg ihrer Absolventen), Kompetenzentwicklung im Lebenslauf sowie Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Bildungspfade in schulischer und beruflicher Bildung bis zum Übergang ins Erwerbsleben (vgl. BMBF 2007). Im Design der Studie soll die Gruppe der halben Million Kinder und Jugendlichen mit SPF berücksichtigt werden, denn repräsentative Daten zu sonderpädagogischen Fördersystemen stehen seit längerem aus. Bereits bei PISA wurden die Sonderschüler bzw. Schüler mit SPF in Deutschland weniger systematisch in die Befragung einbezogen, als es in anderen Teilnehmerländern der Fall war. Deshalb ist die Entwicklung von geeigneten Messinstrumenten für die Schüler aller Förderschwerpunkte auch ein Ziel des NEPS . Als Teil des allgemeinen Bildungssystems müssen Sonderschulen auch in der allgemeinen Bildungsforschung stärker als bisher berücksichtigt werden. Nur durch die Erhebung repräsentativer Daten der Schülergruppe können die Bildungsergebnisse von Sonderschulen gemessen werden und damit ein — wie beabsichtigt — vollständiger Überblick über das deutsche Bildungswesen und den entsprechenden Bildungsverläufen geliefert werden. Die Befragung der im Verhältnis zu allen Schülern relativ kleinen Gruppe der Schüler mit SPF an Sonderschulen und in inklusiven Schulen bedarf, um zu verlässlichen Erkenntnissen zu gelangen, eines Oversamplings, d. h. einer gezielten quantitativen Überrepräsentanz in der Stichprobenziehung. Ein solches Verfahren wird auch im Falle von Schülern mit Migrationshintergrund angewendet. Ggf. bedarf es darüber hinaus der Entwicklung eigenständiger Messinstrumente. Ein Oversampling der unterschiedlichen Sonderschulformen und integrativen Klassen würde Vergleiche der Bildungsergebnisse von unterschiedlichen Lernorten und Schulformen (segegrierte, integrierte und inklusive Beschulung) ermöglichen. Solche Vergleiche sind unbedingt notwendig, um die Frage nach der geeigneten Beschulung von benachteiligen Schülern und von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen für Deutschland zu klären.

Die Forderung nach einer inklusiven Bildungspolitik mit Bildungserfolgen für Schüler mit SPF besteht nach wie vor von Seiten Betroffener, Eltern und Experten. Das Ziel, die stigmatisierende Klassifizierung und bestehende Separierung durch die Deinstitutionalisierung der schulischen Behinderung und eine inklusive Pädagogik zu ersetzen, ist noch nicht realisiert, auch wenn regionale Unterschiede darauf hindeuten, dass es in auch in Deutschland durchaus möglich ist, die notwendigen Rahmenbedingungen für gemeinsamen Unterricht zu schaffen. Hierzu sind Schulen erforderlich, in denen alle Kinder gemeinsam, möglichst in denselben Klassen zusammen kommen und miteinander lernen. Dass solche Modelle erfolgreich sein können, ist in den letzten Jahrzehnten in Praxis und Wissenschaft auch in Deutschland und den USA bestätigt worden (vgl. Preuss-Lausitz 2001; Eberwein/Knauer 2009 i. E.; Ware 2004). Eine an Inklusion ausgerichtete Bildungspolitik könnte die in Deutschland und anderen Staaten bereits gewonnenen Erfahrungen berücksichtigen und dazu beitragen, die Reformen allgemein umzusetzen. Dies scheint insbesondere angesichts der Tatsache geboten, dass durch schulische Behinderung hohe gesellschaftliche Folgekosten entstehen, etwa wenn schulischer Misserfolg, Demotivation und fehlendes Selbstvertrauen im späteren Lebensverlauf durch kostspielige arbeitsmarkt- bzw. sozialpolitische Maßnahmen kompensiert werden sollen. Analysen zu den hemmenden und fördernden Faktoren des Bildungserfolges kann eine Bildungsforschung liefern, die aus einer Lebensverlaufsperspektive Schülerkarrieren und Erwerbsverläufe untersucht. Wobei nur durch ein forschungsstrategisches „Mainstreaming“ der Sonderschulen zukünftig auch Aussagen für die eine halbe Million umfassende Gruppe der Schüler mit SPF getroffen werden können.

Die sowohl äußerst kostspielige als auch meist nicht erfolgreiche Kompensation individueller Benachteiligung durch die Sonderbeschulung — auf Grund von reduzierten Erwartungen, sozialen Stigmatisierungen und institutionellen Diskriminierungen (wie etwa gesetzliche Abschlussbeschränkungen in bestimmten Sonderschulformen) — zwingen sowohl aus Sicht der Gerechtigkeit als auch der Effizienz zum grundlegenden Nachdenken über die Notwendigkeit einer bildungspolitischen Transformation von segregierenden Schul- und Berufsbildungseinrichtungen zur inklusiven Bildung aller Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die gegenwärtig praktizierte Selektion in das Sonderschulsystem verstößt gegen das Prinzip der Chancengleichheit und gegen das Menschenrecht auf Teilhabe — und steht im Widerspruch zu dem seit 1994 im Grundgesetz verankertem Prinzip „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden”. Gerade deshalb sind räumliche Vergleiche und Längsschnittanalysen, die zu einem pragmatischeren Verständnis der heterogenen, sich vergrößernden Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit SPF beitragen, absolut unverzichtbar. Diese Analysen wären wiederum wegweisend für empirisch basierte Entscheidungen in der Bildungs- und Sozialpolitik, die den Prinzipien der Chancengleichheit, Selbstbestimmung und Teilhabe entsprechen.



[5] Judith Hollenweger und Kolleginnen (2005), die zu Behinderung und Gesundheit an Schweizer Hochschulen geforscht haben, liefern dazu eine wegweisende Studie, in der auf der Basis der WHO International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) die fördernden und behindernden Faktoren für Studierende in einer repräsentativen Befragung untersucht wurden.

[6] Seit einigen Jahren wirkt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Abstimmung mit den Ländern und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bei der Etablierung eines nationalen Bildungspanels (NEPS) mit. NEPS soll sowohl eine aussagekräftige Datenbasis für die Bildungsberichterstattung (insbesondere aus Lebensverlaufsperspektive) liefern als auch zur Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen für die empirische Bildungsforschung in Deutschland beitragen.

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Quelle

Justin J.W. Powell, Lisa Pfahl: Ein kontinuierlicher deutscher Sonderweg? Zur Schul- und Berufsbildung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf

Erschienen In: Sabine Knauer und Jörg Ramseger (Hg.) Welchen Beitrag leistet die schulische Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt? Ergebnisse eines Expertenhearings. Berlin 2009: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, S. 61–73.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.12.2017

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