Zur Entwicklung der Überrepräsentanz von Migrantenjugendlichen an Sonderschulen in der BRD seit 1991

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam Leben 10 (2002) 2: 66-71
Copyright: © Justin J.W. Powell, Sandra J. Wagner 2002

1. Einleitung

Der Blick auf den Sonderschulbesuch von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bildet einen wichtigen Indikator für ihre Partizipationschancen im deutschen Bildungssystem. Daher beschäftigt sich der Beitrag mit der Frage, ob sich der überproportional hohe Anteil an Kindern nichtdeutscher Herkunft auf Sonderschulen verändert hat und welche regionalen Unterschiede festzustellen sind. Dies wird mit Hilfe der Daten der amtlichen Statistik - insbesondere für die letzten zehn Jahre - untersucht. Die Berechnungen für die deutschen und nichtdeutschen Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Sonderschulen sind der Publikation Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1990 bis 1999 (KMK 2001a) entnommen. Die Analysen des Beitrages zeigen, dass die deutliche Benachteiligung nichtdeutscher Jugendlicher im Bildungssystem auch in den 90er Jahren nicht abgebaut wurden, sondern sich eher noch verschärft hat.

Bevor wir uns dem Phänomen der Überrepräsentanz in quantitativer Weise nähern, muss der Begriff "Ausländer/in" geklärt werden. In der amtlichen Statistik werden alle Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft als "Ausländer" erfasst, unabhängig davon, aus welchem Grund sie in der Bundesrepublik leben. Das heißt, Jugendliche mit deutscher Staatsangehörigkeit, die nicht in der Bundesrepublik geboren wurden oder deren Eltern nichtdeutscher Herkunft sind (wie z. B. Spätaussiedler aus Osteuropa) werden (richtigerweise) nicht als "Ausländer" in der amtlichen Statistik erfasst. Im Unterschied dazu sind Personen, die sich nur vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und über einen eigenen Wohnsitz verfügen (wie z. B. Studierende, Saison- und Werkvertragsarbeitnehmer, Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge) "Ausländer". Damit könnte in den nachfolgenden Analysen die Benachteiligung von Jugendlichen nichtdeutscher ethnischer und regionaler Herkunft unterschätzt werden.

Diese Definition zu Grunde legend hat sich die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit seit Beginn der sechziger Jahre mehr als verzehnfacht. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg in diesem Zeitraum von 1,2% auf heute 8,9% (Jeschek 2001: 1). Im selben Zeitraum hat sich die Zahl der nichtdeutschen Schüler/innen in der Bundesrepublik mehr als verzwanzigfacht. Ende der 90er Jahre hatte fast jede/r zehnte Schüler/in eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit (Statistisches Bundesamt 2001: 56). Im Schuljahr 1999/2000 besuchten 950.490 Schüler ohne deutschen Pass deutsche allgemeinbildende Schulen. Die größten nichtdeutschen Gruppen bilden die Schüler/innen, deren Familien aus der Türkei (44%), Jugoslawien (bzw. Serbien & Montenegro) (7%), Italien (7%), und Griechenland (4%) stammten (KMK 2002). Unter den Sonderschüler/innen waren 42% türkischer, 14% jugoslawischer, 9% italienischer und 3% griechischer Herkunft (KMK 2002).

Einleitend noch ein kurzer historischer Rückblick: Obwohl es seit über 200 Jahren Sonderschulen in Deutschland gibt, wurden diese im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrates von 1970 nicht einmal erwähnt (Rosenberger 1998: 14). Bereits ein Jahr zuvor wurde aber die schulische Integration behinderter Kinder im Rahmen der Gesamtschuldebatte um "Chancengleichheit" gefordert (Preuss-Lausitz 1998: 12). Obwohl der Deutsche Bildungsrat den systematischen Ausbau des gemeinsamen Unterrichts behinderter und nichtbehinderter Kinder in Regelschulen 1973 empfahl (Sander 1998: 54), wurde der integrative Unterricht in Modellversuchen in der Folgezeit nur sehr zögerlich erprobt und realisiert, insbesondere wenn man dies mit anderen Staaten vergleicht (z. B. für die Vereinigten Staaten: Jülich 1996; andere EU-Länder: Hausotter 2000). Damit wurde das deutsche Sonderschulwesen trotz Forderungen nach Durchlässigkeit, organisatorischer Flexibilität und Integration ausgebaut (Opp 1993: 118f.) und entwickelte sich zu einem der kategorial differenziertesten der Welt. Darüber hinaus gibt es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern in den Anteilen von Integrationsschülern an allen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf sowie in der Art der Berechnung dieser Anteile (Preuss-Lausitz 2001). Sonderschulen bilden einen "Extremfall" der Regulierungspraxis und der Kulturhoheit der Länder. Dies zeigen auch die im Folgenden präsentierten Daten.

2. Sonderschulbesuchsquoten von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft

Im Laufe der neunziger Jahre stieg die Zahl der nichtdeutschen Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen um 18% - von 801.587 (1991/92) auf 946.300 (1999/2000). Gleichzeitig erhöhte sich der Prozentanteil dieser Schüler/innen an allen Schülern von 8,8% im Jahr 1991 auf 9,4% (1999). Diese Tendenz zeigt sich auch an den Sonderschulen. Hier stieg ihr Anteil an allen Sonderschülern von 13,5% (1991) auf 14,7% im Jahr 1999 (KMK 2001a: XI, 2, 6).

Es gibt eine deutliche Varianz in der Sonderschulzuweisung nach Nationalitäten. Während nur 3,8% der deutschen Kinder eine Sonderschule besuchen, haben Schüler/innen aus den ehemaligen Anwerbeländern der Bundesrepublik einen deutlich höheren Sonderschulanteil: Mit Italien an der Spitze (7,8%), gefolgt von Portugal und der Türkei mit jeweils 6,1% sowie Griechenland mit 5% und Spanien mit 4,7%. Noch höhere Anteile zeigen sich unter den Kindern, die aus den Kriegsgebieten des Balkans nach Deutschland geflüchtet sind. Diese großen Unterschiede zwischen deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen sowie auch unter nichtdeutschen Jugendlichen können durch sozio-ökonomische Merkmale, durch Altersverschiebungen, bundesländerspezifisch unterschiedlich terminierte Zuzugswellen sowie verschiedene Sprachen und Lebenserfahrungen der Jugendlichen zustande kommen (BBBA 2000). Ebenso spielen Spezifika auf Bundesländerebene eine Rolle (s. u.). Andere Einflussfaktoren sind: ein unterschiedliches Wissen über die Möglichkeiten integrativer Schulpraxis, eine geringe(re) Nutzung des Elternrechts zur integrativen Erziehung, negative Erfahrungen mit der Sonderpädagogik im Herkunftsland, die individuellen Migrationserfahrungen sowie unterschiedliche kulturelle und Religionshintergründe (vgl. Merz-Atalik 1998; Wagner, im Erscheinen).

Damit sind Kinder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in den Sonderschulen noch deutlich überrepräsentiert - und das mit steigender Tendenz. Insofern gilt auch heute noch die Einschätzung der Arbeitsgruppe Bildungsbericht aus dem Jahr 1994: In der BRD stellen die Ausländerkinder eine Gruppe dar, "der im Bildungswesen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muß, wenn sie nicht schulisch erheblich benachteiligt werden soll" (Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994: 364).

Im Folgenden wollen wir untersuchen, in welche Förderschwerpunkte diese Kinder/Jugendlichen überwiesen werden. Auf Grund des ständigen Wandels in der Klassifikation der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte ist hier eine historische Betrachtung nicht unproblematisch, da diese Begriffs- bzw. Definitionsveränderungen zum Beispiel für den rückläufigen Anteil der Schüler/innen an Schulen für "Lernbehinderte" an allen Sonderschülern (von 82% im Jahr 1970 auf 53% im Jahr 1998) mit verantwortlich sein können (KMK 2001a). Daher müssen diese Umverteilungen innerhalb der Förderschwerpunktklassifizierung berücksichtigt werden.

Generell hat sich die Anzahl der Kinder, die an Sonderschulen beschult werden, im Laufe der neunziger Jahre um 21% erhöht. Der Anteil der nichtdeutschen Schüler/innen an allen Sonderschülern im Förderschwerpunkt "Lernen" stieg von 15,8% im Jahr 1991 auf 17,7% im Jahr 1999. Damit besuchen 70% der Sonderschüler/innen nichtdeutscher Herkunft eine Sonderschule für Lernbehinderte und dies in den 90er Jahren mit steigender Tendenz (siehe auch Kornmann et al 1999). 30% der Sonderschüler/innen nichtdeutscher Herkunft besuchen "sonstige" Sonderschulen (vgl. dazu Fußnote 3). Bei den deutschen Schülern/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sank hingegen der Anteil der Sonderschüler/innen im Förderschwerpunkt "Lernen" von 80% in den siebziger Jahren (Trommer/Köhler 1981) auf heute 50% (Powell/Wagner 2001: 16).

Diese historisch gewachsene Ausdifferenzierung und Umverteilung der Kategorien bzw. Förderschwerpunkte verdeutlicht den Charakter der Sonderschulzuweisung als ein "Etikettierungsverfahren": Kinder müssen erst als "behindert" definiert werden, um sonderpädagogische Ressourcen in Anspruch nehmen zu können (Füssel/Kretschmann 1993: 43f.). Zudem zeigt sich darin, wie auch in der regionalen Varianz der Sonderschulzuweisung (s. u.), die Willkür oder zumindest der sehr starke Wandel in diesem Zuschreibungsprozess.

3. Regionale Unterschiede in der Über- bzw. Unterrepräsentanz

In Grafik 1 wird die Über- bzw. Unterrepräsentanz nichtdeutscher Schüler/innen an Sonderschulen differenziert nach Bundesländern dargestellt. Die Überrepräsentanz berechnet sich aus dem Prozentanteil aller nichtdeutschen Sonderschüler/innen geteilt durch den Prozentanteil aller nichtdeutschen Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen. Für 1999 wird eine deutliche Überrepräsentanz nichtdeutscher Kinder an deutschen Sonderschulen im Bundesdurchschnitt mit einem Faktor von 1,56 (Säule D) ausgewiesen.

Unsere Befunde zeigen für die Über- bzw. Unterrepräsentanz (Linie über den Säulen in der Graphik 1), dass Niedersachen (Faktor 2,22), Baden-Württemberg (Faktor 1,96), Saarland (Faktor 1,87) und Rheinland-Pfalz (Faktor 1,76) die Länder sind, in denen 1999 die Überrepräsentanz nichtdeutscher Schüler/innen an Sonderschulen am höchsten war. In diesen Ländern existiert für nichtdeutsche Schüler/innen ein hohes Risiko, von der Regelschule verwiesen zu werden. Hessen (HE), Bayern (BY) und Nordrhein-Westfalen (NW) folgen in der Rangskala der Überrepräsentanz und liegen über dem Bundesdurchschnitt (D) von 1,56. Schleswig-Holstein (SH), Bremen (HB) und Hamburg (HH) zeigen ebenfalls eine Überrepräsentanz, aber unterhalb des bundesdeutschen Durchschnittswertes.

Dies zeigt, dass die Sonderschulzuweisung nicht eindeutig mit dem Anteil nichtdeutscher Schüler in einem Bundesland zusammenhängt. Das Bundesland mit dem höchsten Anteil nichtdeutscher Schüler/innen ist der Stadtstaat Hamburg (HH), mit 20% an allen Schülern/innen und zugleich mit 28% an allen Sonderschülern/innen. Danach kommen Bremen (HB) und Hessen (HE) mit jeweils 15,3% und 15,2% an allen und 22,8% und 25,7% an den Sonderschülern/innen. Berlin (BE) hat Anteile von 14,8% und 14,3% und kann somit als einziger Stadtstaat eine leichte Unterrepräsentanz (Faktor 0,97) vorweisen. Diese "Beinahe"-Parität im Sonderfall Berlin zwischen den Anteilen der nichtdeutschen Kinder an allen Schülern/innen und an Sonderschülern/innen zeigt, dass es auch in einem Stadtstaat möglich zu sein scheint, nichtdeutsche Schüler/innen zumindest repräsentativ in Regelschulen zu integrieren. Auch wenn diese Tatsache zum Teil auf die niedrigen nichtdeutschen Bevölkerungsanteilen der Ostberliner Stadtteile zurückzuführen ist, sind nach Heyer (1998) deutliche Bezirksdifferenzen innerhalb Berlins nicht nur auf eine Ost-West-Dimension

zurückzuführen.

Abbildung 1: Über- bzw. Unterrepräsentanz nichtdeutscher Schüler/innen an Sonderschulen (Bundesländer)

In den neuen Bundesländern gibt es Unterrepräsentanzen. Hier sind die Anteile der Migranten an der Wohnbevölkerung sehr gering - in all diesen Ländern liegen ihre Anteile an der gesamten Schülerpopulation unter 1%.

Diese regionalen Unterschiede im Sonderschulbesuch nichtdeutscher Jugendlicher sind u. a. Ausdruck der Differenzen in der Bildungs- bzw. Schulpolitik der Länder - und deren institutionellen Regelungen von Bildungsinhalten und Strukturen (von Below 2002). Sie weisen darauf hin, dass große Unterschiede in der Akzeptanz integrativer pädagogischer Ansätze und Konzepte, der Ausbildung der Lehrer/innen und in der historischen Entwicklung verschiedener Schulformen existieren.

4. Sprachprobleme als Hindernis zur Integration?

Die mangelnde Sprachkompetenz der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird häufig als die wesentliche Ursache für ihren schulischen Misserfolg verantwortlich gemacht. Zugleich gilt die Sprachkompetenz als "die Voraussetzung" für Integration (Katzenbach de Ramírez 1997: 6). Oft führen mangelnde deutsche Sprachkenntnisse in der Tat zu einer Sonderschulüberweisung, jedoch können wenige Belege dafür gefunden werden, dass Sonderschulen besondere Kompetenzen in der Vermittlung von (Fremd )Sprachen und der Anwendung von Didaktik besitzen, die zur Überwindung von Problemlagen nichtdeutscher Jugendlicher beitragen. Das Gegenteil ist der Fall. Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (2001: 68) belegen, dass die Sonderschule diejenige Schulform ist, in der am wenigsten Fremdsprachenunterricht stattfindet. Zudem wird dort wesentlich weniger muttersprachlicher Unterricht für die großen Bevölkerungsgruppen der nichtdeutschen Kinder angeboten als etwa in den Grund- und Hauptschulen. Während 9,5% der Grund- und Hauptschüler Italienisch wählen können, sind es an den Sonderschulen nur 0,3%. Nur etwa 1% der türkischen Kinder - mit Abstand die größte sprachliche Gruppe - erhält an den Sonderschulen (aber auch an den Grund- und Hauptschulen) muttersprachlichen Unterricht. Und dies, obwohl zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten gerade auf die Beherrschung der eigenen Muttersprache als eine wesentliche Voraussetzung für das erfolgreiche Erlernen einer zweiten Sprache (hier Deutsch) im Zusammenhang mit dem Schulerfolg hinweisen (vgl. z. B. Fishman 1998). Damit sind Kinder, deren Herkunftssprache nicht deutsch ist, gefährdet, durch die frühe Selektion und Allokation auf institutionell-differenzierte Schultypen in Deutschland benachteiligt zu werden. Vor diesem Hintergrund erhöht die Sonderschule wohl nicht die Chance auf Integration, sondern leider das Risiko einer stärkeren Ausgrenzung.

5. Ihr "Bildungserfolg" - ihre Bildungsabschlüsse

Abschließend sei noch ein Blick auf die Schulabschlüsse gerichtet, da diese ausschlaggebend für die Lebens- und Erwerbschancen insbesondere auf Grund des hochstandardisierten und stratifizierten deutschen Bildungssystems sowie der engen Verbindung von Bildungszertifikat und beruflicher Platzierung sind (Allmendinger 1989).

Heute verlassen ca. 9% aller Schulabgänger die Schule ohne einen Schulabschluss, d.h. sie erreichen nicht einmal den einfachen Hauptschulabschluss. Bei den Schulabgängern nichtdeutscher Staatsbürgerschaft sind es ca. 20% (Solga 2002). Das heißt, zwei von zehn nichtdeutschen Schulentlassenen verlassen die Schule ohne Hauptschulanschluss. Zudem kommen sie häufiger als früher von einer Sonderschule: Anfang der 90er Jahre kam ca. ein Viertel dieser nichtdeutschen Schulentlassenen ohne Schulabschluss von einer Sonderschule, 1998 waren es über ein Drittel (Powell/Wagner 2001: 25). Ohne diesen Hauptschulabschluss - der bereits weit unter der vorherrschenden Bildungsnorm eines Realschulabschlusses liegt - und darüber hinaus noch mit ihrem Etikett "Sonderschüler" haben diese Jugendlichen heute nur noch sehr geringe Chancen, im Wettbewerb um einen Ausbildungsplatz erfolgreich zu sein und auf dem deutschen, sehr stark zertifikatsorientierten Arbeitsmarkt langfristig Fuß zu fassen. So besaßen von allen Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag bspw. im Jahre 1995 nur noch 3,4% keinen Schulabschluss (Bauerreiß/Bayer/Bien 1995: 104). Somit erscheinen positive Prognosen für eine berufliche Ausbildung und eine langfristige Eingliederung Jugendlicher mit Migrationshintergrund in die deutsche Gesellschaft äußerst problematisch.

6. Fazit

In der Bundesrepublik findet die Ungleichheit von Bildungschancen ihren Ausdruck in einem hoch spezialisierten, separierten Sonderschulzweig und der Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe. Wie gezeigt wurde, besteht in zahlreichen Bundesländern eine deutliche Überrepräsentanz nichtdeutscher Schüler/innen an Sonderschulen im Verhältnis zu ihrem Anteil an allen Schülern/innen. Dies signalisiert, dass Jugendliche nichtdeutscher Herkunft im deutschen Bildungssystem benachteiligt werden, auch wenn immer noch und immer wieder versucht wird, besonders ihre "Lernbehinderung" - die in nicht unbeachtlichem Maße auch durch eine gesellschaftliche "Behinderung am Lernen" verursacht wird (siehe "Sprachkompetenz") - mittels Sonder- bzw. Förderschulen und damit mittels institutioneller Separierung statt Integration zu lösen. Gerade im Bereich der Sonderschule gibt es deutliche Unterschiede zu anderen Staaten. Während behinderte Kinder und Jugendlichen in Deutschland in speziellen Sonder- bzw. Förderschulen unterrichtet werden, bleiben sie in den USA und vielen europäischen Ländern größtenteils in den Regelschulen integriert (vgl. Powell, im Erscheinen). Zudem widerspricht nicht nur die überproportionale "Verweisung" von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft von den Regelschulen, sondern die Beharrung auf dem deutschen Sonderschulwesen generell der letzten Empfehlung der KMK zum sonderpädagogischem Förderbedarf (1994): "Die Bildung behinderter junger Menschen ist verstärkt als gemeinsame Aufgabe für grundsätzlich alle Schulen anzustreben."

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Quelle:

Justin J.W. Powell, Sandra J. Wagner: Zur Entwicklung der Überrepräsentanz von Migrantenjugendlichen an Sonderschulen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1991

Erschienen in: Gemeinsam Leben 10 (2002) 2: 66-71

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Stand: 13.02.2006

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