Sonderschule behindert Chancengleichheit

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Justin J.W. Powell,Lisa Pfahl: Sonderschule behindert Chancengleichheit. WZBrief Bildung 2008/04.Der WZBrief Bildung erscheint mehrmals im Jahr in unregelmäßigen Abständen. Er bietet knappe Analysen von WZB-Forscherinnen und -Forschern zu einem Thema aus dem Bereich Bildung. Der WZBrief Bildung wird elektronisch versandt. Abonnieren unter: wzbriefbildung@wzb.eu
Copyright: © Justin J.W. Powell und Lisa Pfahl 2008

Zusammenfassung

Gleicher Zugang zu Bildung für alle: Das fordert die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die 2009 verbindlich für Deutschland wird. Mit dem deutschen Sonderschulsystem, das fast alle Schüler mit besonderem Förderbedarf aufnimmt, ist Chancengleichheit nicht gewährleistet. 80 Prozent der Abgänger von Sonderschulen erhalten keinen qualifizierenden Abschluss. Beispiele aus dem In- und Ausland zeigen, dass inklusiver Unterricht erfolgversprechender ist.

Sonderschule behindert Chancengleichheit

Bildung ist Menschenrecht. Aus dieser Formulierung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte leiten die Vereinten Nationen und die Europäische Union die Forderung ab, schulische Bildung möglichst inklusiv zu gestalten. Inklusiv heißt: Alle Kinder werden gemeinsam unterrichtet. Diese Forderung ist in der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die im März 2007 von Deutschland unterzeichnet wurde, festgehalten. Nach der Ratifizierung wird die Konvention in den ersten Monaten des kommenden Jahres für die Bundesrepublik verbindlich. Vertragsstaaten verpflichten sich, Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zu einem hochwertigen, inklusiven Unterricht zu gewährleisten.[1] Um die Bildungschancen von Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu sichern, sollen alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen;[2] keiner soll gegen seinen oder den Willen der Eltern in Sonderschulen ausgegrenzt werden. Inwieweit wird das deutsche Bildungssystem dieser Forderung gerecht?

In Deutschland wird immer mehr Kindern und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert. 1999 waren es 5% aller Schülerinnen und Schüler, heute sind es beinahe 6% oder 484.346 Kinder und Jugendliche. Fast alle diese Kinder besuchen eine Sonder- bzw. Förderschule. Der Anteil der Sonderschüler an allen Schülern liegt bei 4,9% – Tendenz steigend. Im Jahr 2006 wurden 86% der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen unterrichtet. Das Ausmaß der Ausgrenzung nimmt in Deutschland nicht ab.[3]

Eine Bildungspolitik der Inklusion wird durch unterschiedliche Faktoren verhindert. Dazu gehört die institutionelle Trägheit des Bildungswesens, das in seiner Mehrgliedrigkeit gefangen bleibt. Dazu gehören auch das starke Interesse der (sonder-)pädagogischen Lehrer am bestehenden hochdifferenzierten Sonderschulsystem sowie der Mangel an politischem Willen, in gemeinsamen Unterricht ausreichend zu investieren und sonderpädagogische Lehrkräfte in inklusive Schulen zu verlagern. Trotz ihrer beachtlichen lokalen Erfolge bleiben deshalb inklusive Schulen, in vielen Regionen Deutschlands die Ausnahme.

Info: Die Übersetzung des international gebräuchlichen Begriffs „Inklusion“ mit dem deutschen Begriff „Integration“ in der deutschen Version der Behindertenrechtskonvention stiftet Verwirrung. Integration und Inklusion können nicht gleichgesetzt werden. „Integration“ setzt die Klassifizierung eines Schülers mit sonderpädagogischen Förderbedarf voraus; im zweiten Schritt wird dieser Schüler dann in die Regelschule „integriert“. Hingegen gehen „inklusive“ Schulen davon aus, dass die Schule sich an die verschiedenen Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler anpassen muss, nicht umgekehrt. Somit nutzen diese Schulen die in jeder Lerngruppe vorhandene Vielfalt. Gerade behinderte Schülerinnen und Schüler fordern somit größere Bildungschancen für alle heraus.



[1] Bundesregierung (2008): Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll. Berlin. Deutschland, Liechtenstein, Österreich und die Schweiz haben fast ohne Beteiligung behinderter Menschen und ihrer Verbände eine deutsche Version der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen abgestimmt. Alle Bemühungen von Seiten der Behindertenorganisationen in den vier beteiligten Staaten, wenigstens die gröbsten Fehler zu korrigieren, sind gescheitert. Deshalb hat sich das NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. dazu entschlossen, eine sogenannte "Schattenübersetzung" zu veröffentlichen. Siehe: Arnade, Sigrid (2008). UN-Behindertenrechtskonvention - Entwurf einer Schattenübersetzung. Berlin: Netzwerk Artikel 3. http://www.nw3.de/

[2] Im weiteren Verlauf des Texts wird, der besseren Lesbarkeit halber, nur noch Schüler verwendet werden, womit sowohl Schüler als auch Schülerinnen gemeint sind.

[3] KMK (2008): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1997 bis 2006. Bonn: Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.

Bildungs- und Lebenswege von Sonderschülerinnen und -schülern

In der Tendenz führt der Besuch einer Sonderschule nicht zu einem Schulabschluss: Seit Jahrzehnten verlassen um die 80% aller Sonderschulabgänger die Schule ohne qualifizierenden Abschluss.[4] Kinder und Jugendliche, die eine Förderschule mit ihrer jeweils spezifischen Ausrichtung auf einen Förderschwerpunkt (wie beispielsweise Lernen, Sehen, etc.) besuchen, haben weniger (Lern-)Anreize und Vorbilder als ihre Altersgenossen in einer inklusiven Klassengemeinschaft, in der die Heterogenität der Schüler akzeptiert und geschätzt wird.[5] An inklusiven Schulen wird diese Vielfalt für das kognitive wie soziale Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf erfolgreich genutzt.[6] Hingegen erhöht sich die Leistungkluft zwischen Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, je länger die Schüler mit speziellem Förderbedarf auf einer Sonderschule verbleiben, wie Hans Wocken in seiner Hamburger Studie gezeigt hat.[7] Demnach fallen Schüler in ihren Lernleistungen nach der Überweisung auf eine Sonderschule weiter zurück, obwohl sie zuvor mit Hauptschülern vergleichbare Leistungen zeigten.

Die Bildungsverläufe von Haupt- und Sonderschülern zeigen beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung gewisse Ähnlichkeiten auf. Jugendliche und junge Erwachsene mit gering- oder nichtqualifizierenden Schulabschlüssen haben auf dem heutigen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt keine Chancen mehr.[8] Die meisten Sonderschulabgänger befinden sich in einem sogenannten Übergangssystem und nicht in einer Ausbildung. Das System an beruflichen Maßnahmen, Berufsförder- oder Berufsvorbereitungprogrammen vermittelt keinen qualifizierten Ausbildunsgabschluss und sichert damit keine Ansprüche an die Berufsbildung oder an den Arbeitsmarkt.[9] Sonderschulabgänger werden in der Phase ihrer Berufsorientierung häufiger in Rehabilitationsmaßnahmen gelenkt als Hauptschüler oder ehemalige Integrationsschüler. Damit besteht für sie ein erhebliches Risiko, nach einer rehaspezifischen Berufsvorbereitung keine Vollausbildung zu erhalten, wie Antje Ginnold in ihrer Berliner Studie für Sonderschulabgänger deutscher Herkunft zeigt.[10] Prinzipielles Problem der beruflichen Maßnahmekarrieren sind Stigmatisierung und der niedrige Status der Quasi-Ausbildung. Zudem sind die Maßnahmeteilnehmer nach oft mehrmaligem Durchlaufen diverser Berufsbildungsschleifen bei der Bewerbung um Ausbildungsplätze mehrere Jahre älter als Haupt- und Realschulabgänger. Die „schulische Behinderung“ von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf wird damit in den beschriebenen Sondermaßnahmen der Berufsausbildung fortgeführt.

Aufgrund fehlender Unterstützung, Begleitung oder Assistenz und mangelnder Förderpläne brechen Sonderschüler, denen der Zugang zu einem Ausbildungsplatz gelingt, zudem ihre berufliche Ausbildung häufiger ab als andere Schulabgänger. Im weiteren Lebensverlauf bleibt die Erwerbs- und Lebenssituation ehemaliger Sonderschüler zumeist prekär und durch Maßnahmen beruflicher (Wieder ) Eingliederung geprägt. Zusätzliche ausgrenzende Maßnahmen bringen Menschen mit Behinderung nicht langfristig in qualifizierte Arbeitsverhältnisse — zumal der Arbeitsmarkt angespannt ist. Unsere Forschung zur Begleitung von Sonderschullabgängern beim Übergang von der Schule in den Beruf zeigt, dass Jobcoaching durchaus im Einzellfall zum Erfolg führen kann. Es bleibt jedoch eine langjährige, aufwändige individuelle Unterstützung einzelner Betroffener.[11] Reguläre Arbeitsplätze erhalten Schulabgänger von Sonderschulen seit Jahrzehnten nur in Ausnahmefällen. Dies hat zur Folge, dass (chronisch) kranke, behinderte und benachteiligte Personen im späteren Lebensverlauf überdurchschnittlich häufig arbeitslos und abhängig von staatlichen Leistungen und staatlicher Fürsorge sind.[12]



[4] KMK (2008), a.a.O. Vergleichbare Daten für Integrationsschüler sind nicht vorhanden.

[5] U. Preuss-Lausitz (2001): Gemeinsamer Unterricht Behinderter und Nichtbehinderter. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 4, Heft 2, S. 209-224.

[6] Bundesarbeitgemeinschaft Gemeinsam leben – gemeinsam lernen (www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de )

[7] H. Wocken (2000): Leistung, Intelligenz und Soziallage von Schülern mit Lernbehinderungen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 12/2000, S. 492-503.

[8] H. Solga (2005): Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering qualifizierter Personen aus ökonomischer und soziologischer Perspektive. Opladen: Verlag Barbara Budrich.

[9] Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.) (2008): Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag, S. 97.

[10] A. Ginnold (2008): Der Übergang Schule – Beruf von Jugendlichen mit Lernbehinderung: Einstieg – Ausstieg – Warteschleife. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

[11] L. Pfahl (2006): Schulische Separation und prekäre berufliche Integration: Berufseinstiege und biographische Selbstthematisierung von Sonderschulabgängern. In: A. Spies/D. Tredop (Hg.): „Risikobiografien“. Benachteiligte Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Förderprojekten: Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 141-156.

[12] M. Maschke (2008): Behindertenpolitik in der Europäischen Union. Lebenssituation behinderter Menschen und nationale Behindertenpolitik in 15 Mitgliedsstaaten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Das deutsche Sonderschulwesen trennt, was besser zusammengehört

Wieviele und welche Schülerinnen und Schüler als behindert klassifiziert werden, hat sich kontinuierlich, aber nur graduell, verändert. Auch heute gibt es in Deutschland ein ausdifferenziertes Sonderschulwesen, das dem europäischen Standard der schulischen Integration und inklusiven Bildung nicht entspricht.[13] Die deutsche Sonderpädagogik zieht ihre Legitimation weder aus internationaler Anerkennung noch aus den Bildungserfolgen ihrer Schüler. Stattdessen wird die separate Beschulung von Kindern mit Behinderungen und Benachteiligungen in vermeintlich leistungshomogene Lerngruppen an Sonderschulen mit einem besonderen Bildungsanspruch der Schüler und einer Entlastung der „Regel“-Schulen begründet.[14]

An Sonderschulen sollen besondere Hilfsmittel bereitgestellt und „geschützte“ Lernmöglichkeiten für arme, (chronisch) kranke und behinderte Kinder und Jugendliche geschaffen werden. Viele Schüler zum Beispiel mit Sprachentwicklungsverzögerungen benötigen beim Besuch der Schule zusätzliche Unterstützung oder besondere Hilfen. Der Bedarf an zusätzlicher pädagogischer Förderung oder an technischen Hilfsmitteln für Schüler mit Behinderungen wird in diagnostischen Schuleingangsverfahren durch Psychologen und Ärzte erhoben. Die betroffenen Kinder werden dann mehrheitlich an eine der zehn verschiedenen Sonderschultypen überwiesen, die seit 1994 nach bestimmten Förderbedarfsschwerpunkten arbeiten: Emotionale und soziale Entwicklung, Geistige Entwicklung, Hören, Körperliche und motorische Entwicklung, Kranke, Lernen, Sehen, Sprache oder Mehrfach bzw . Nicht klassifiziert. Darüber hinaus können Pädagogen sonderpädagogischen Förderbedarf für „auffällige“ Regelschüler beantragen. Dies ist ein aufwendiges, langwieriges und kostspieliges Feststellungsverfahren.[15]

Unter der größten sonderpädagogischen Kategorie, der „Lernbehinderung“, werden unter anderem Teilleistungs- und Konzentrationsstörung von Kindern verstanden. Definiert wird eine „Lernbehinderung“ als negative Abweichung von den Durchschnittsleistungen der Gleichaltrigen, womit insbesondere Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien und Kinder mit kulturellen Unterschieden klassifiziert und aus Regelklassen ausgesondert werden (können). Infolgedessen sind Kinder aus armen Familien und Kinder mit Migrationshintergrund an den Sonderschulen überrepräsentiert. Darüber hinaus ist der Anteil an männlichen Schülern auffallend hoch.

Das deutsche Sonderschulsystem stellt damit ein räumlich getrenntes und in Inhalt und Umfang reduziertes Angebot an Lernmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit Benachteiligungen und Behinderungen zur Verfügung. Insofern verwundert es nicht, dass Schüler von einer Sonderschule selten wieder auf eine Regelschule wechseln. Da Sonderschüler eine Schulform besuchen, die kaum Aussichten auf Erfolg verspricht, fördert die Trennung der (Sonder-)Schüler den sozialen Status der Anormalität. Dies wirkt nicht nur stigmatisierend, sondern führt oft auch zu einer tatsächlichen Aussonderung der Kinder aus ihrem Wohn- und Lebensumfeld. Langfristige gesellschaftliche Teilhabe kann nicht durch Ausgrenzung erreicht werden. Das deutsche Sonderschulwesen steht damit in der nationalen und internationalen Kritik, die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen zu behindern.[16]

Nicht alle Schüler mit besonderen Bedürfnissen in Deutschland müssen ihre Klasse und ihre Schule verlassen. Zahlreiche Modell- und Integrationsschulen unterrichten teilweise seit Jahrzehnten erfolgreich behinderte und nicht-behinderte Schülerinnen und Schüler im gemeinsamen Unterricht.[17] Manche Bundesländer, wie etwa Berlin und Bremen, beweisen insbesondere im Elementar- und Grundschulbereich, dass die schulische Inklusion aller Kinder möglich ist. Im Bundesdurchschnitt werden jedoch nur 14% aller Schüler mit einem attestierten sonderpädagogischen Förderbedarf in Regelschulen integriert. Diese Integrationsquote variiert zwischen den Bundesländern stark: von 5% in Niedersachsen oder 6% in Sachsen-Anhalt bis zu 32% in Schleswig-Holstein, 34% in Berlin, und 45% in Bremen.[18] Dies signalisiert: Inklusive Bildung ist möglich. Die Gründe für solche Länderunterschiede, etwa das Angebot der existierenden Sonderschulen oder der fehlenden integrationspädagogischen Ausbildung, sind allerdings für die einzelnen Länder noch nicht vollständig erforscht.



[13] Europäische Union (2008): Entschließung des Rates der Europäischen Union und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Situation von Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Union (6941/08). Brüssel: Rat der Europäischen Union.

[14] L. Pfahl (2008): Die Legitimation der Sonderschule im Lernbehinderungsdiskurs in Deutschland im 20. Jahrhundert. Discussion Paper SP I 2008-504. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

[15] B. Kottmann (2006): Selektion in die Sonderschule. Das Verfahren zur Gestaltung von sonderpädagogischem Förderbedarf als Gegenstand empirischer Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

[16] J.J.W. Powell (2007): Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? Die Insitutionalisierung der „schulischen Behinderung“. In: A. Waldschmidt/W. Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielfeld: Transcript, S. 321- 343; V. Muñoz (2007): The Right to Education of Persons with Disabilities. Report of the Special Rapporteur. New York: UN General Assembly.

[17] U. Preuss-Lausitz (2001), a.a.O., S. 209-224.

[18] KMK (2008), a.a.O.

Inklusive Bildung ist möglich

Obgleich Schüler mit Behinderungen auch in anderen europäischen Staaten Benachteiligungen erfahren, zeigen Bildunsgreformen wie beispielsweise in Italien und Norwegen, dass schulische Inklusion aller Kinder und Jugendlichen in gemeinsamen Klassen in allgemeinen Schulen umsetzbar ist, wenn dies gewollt wird. Inklusives Unterrichten fördert den Zugang zu beruflicher Bildung und zum Arbeitsmarkt. Im Jahr 2006 erreichten in Deutschland nur 82 Sonderschulabgänger die allgemeine Hochschulreife. Im Gegensatz dazu erhielten beispielsweise im integrativen Schulsystem der USA die Hälfte der sonderpädagogisch geförderten Schüler einen qualifizierenden High-School-Abschluss.[19] Die Bildungsergebnisse anderer Länder zeigen, dass inklusive Beschulung häufiger zum Erreichen schulischer Zertifikate führt und einen verbesserten Zugang zu tertiärer Bildung ermöglicht.[20]

Die hier dargestellten Befunde verdeutlichen, dass es im deutschen Schulsystem eine große Kluft zwischen den Chancen von Schülern, die inklusiv unterrichtet werden, und den reduzierten Lernmöglichkeiten von Sonder- und Förderschülern gibt. Deswegen stellt die bevorstehende Ratifizierung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen einen Meilenstein dar. Die Konvention macht völkerrechtsverbindlich klar, dass Menschen mit Behinderungen ein unveräußerliches Recht auf ein selbstbestimmtes Leben besitzen. Der Zugang aller zu inklusiver Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Realisierung dieses Ziels. Die UN-Konvention geht über das seit 1994 im Grundgesetz verankerte Prinzip „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” (Art.3, §3) hinaus. Es fordert unmissverständlich die Notwendigkeit inklusiver Bildung für Vielfalt, Toleranz, Respekt und Chancengleichheit als universelle, unverzichtbare Prinzipien des Zusammenlebens behinderter und nichtbehinderter Menschen.

Zu den Autoren

Justin J.W. Powell und Lisa Pfahl sind seit Oktober 2007 wissenschaftliche Mitarbeiter in der WZB -Abteilung „Ausbildung und Arbeitsmarkt“. Sie forschen über schulische Behinderung und sonderpädagogische Förderungssysteme in vergleichender, historischer, diskurs- und biografieanalytischer Perspektive.

Zum Weiterlesen

Lisa Pfahl/Justin J.W. Powell (2005): Die Exklusion von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Ein Beitrag zur Debatte um nationale Bildungsstandards und die Schule für alle. In: Gemeinsam Leben, Zeitschrift für integrative Erziehung, Jg. 18, Heft 2, S. 68-78 (verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/gl10-05-pfahl-exklusion.html ).

Justin J.W. Powell (2007): Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? Die Insitutionalisierung der „schulischen Behinderung“. In: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld: Transcript, S. 321-343.



[19] J.J.W Powell (2006): Special Education and the Risk of Becoming Less Educated. In: European Societies, Vol. 8, No. 4, S. 577-599.

[20] OECD (2004). Equity in Education. Students with Disabilities, Learning Difficulties and Disadvantages. Paris; Powell, J.J.W.; Felkendorff, K. (i. E.): Transitions of People with Disabilities beyond Secondary Education in Austria, Germany, and Switzerland. Background report: OECD.

Anhang:

Am 13. Dezember 2006 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und das dazugehörige Fakultativprotokoll angenommen; es wurde am 30. März 2007 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Das Übereinkommen verbietet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen und garantiert ihnen die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Das Fakultativprotokoll ist ein eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag, der die Kompetenzen des Ausschusses für Menschen mit Behinderungen nach Artikel 34 des Übereinkommens um das Verfahren der Individualbeschwerde und das Untersuchungsverfahren erweitert. Bildung erhält in der Konvention einen eigenständigen Artikel (24), deren erste zwei Paragrafen wie folgt lauten (der gesamte Text kann bei www.behindertenbeauftragte.de heruntergeladen werden):

Artikel 24: Bildung, §§ 1-2

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel, a) die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken; b) Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen; c) Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.

(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden; b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben; c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden; d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern; e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.

Quelle

Justin J. W. Powell; Lisa Pfahl: Sonderschule behindert Chancengleichheit. WZBrief Bildung 2008/04

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.10.2017

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