Direktfinanzierung von Persönlicher Assistenz als Motor für Selbstbestimmung und (mehr) Entscheidungsfreiheit im Alltag von Menschen mit Behinderungen
Bericht zur wissenschaftlichen Evaluation des Pilotprojekts „Persönliches Budget in Tirol“
Bericht zur wissenschaftlichen Evaluation des Pilotprojekts „Persönliches Budget in Tirol“. Lisa Pfahl, Sascha Plangger & Mar_ry Anegg (Universität Innsbruck); Kontakt:lisa.pfahl@uibk.ac.at
Inhaltsverzeichnis
- Abstract:
- 1. Persönliche Assistenz, Persönliches Budget und das Arbeitgeber_innenmodell
- 2. Das Pilotprojekt Persönliches Budget in Tirol
- 3. Entstehungsgeschichte des Pilotprojekts und Vorgehensweise der Evaluation
- 4. Zur Lebenssituation der Budgetnehmer_innen, deren Nutzung des Persönlichen Budgets sowie zu deren Bewertung des Persönlichen Budgets (Ergebnisse der standardisierten Befragung)
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5. Zu den Lebensgeschichten mit Persönlicher
Assistenz und der Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget:
(Ergebnisse der offenen Befragung)
- 5.1 Verwirklichung des Rechts auf Entscheidungsfreiheit durch Persönliches Budget
- 5.2 Selbstbestimmter Alltag durch ein flexibel einsetzbares Persönliches Budget
- 5.3 Einsatz von Assistenzleistungen und Erlernen von Assistenzanleitung als Motor von Selbstbestimmung
- 5.4 Unterstützung von Angehörigen durch Persönliches Budget und Assistenz
- 5.5. Perspektive der Budgetbezieher_innen auf das Persönliche Budget:
- 6. Entwicklungsfelder des Persönlichen Budgets
- 7. Literatur
- 8. Anschrift der Erstautorin
Das Land Tirol ermöglicht mit dem neuen Teilhabegesetz seit 1. Juli 2018 den Einsatz eines Persönlichen Budgets für Menschen mit Behinderungen. Das Persönliche Budget stellt eine direkte Finanzleistung an behinderte Menschen zum Einsatz von Persönlicher Assistenz dar. Eine Gruppe behinderter Menschen hat die Direktfinanzierung zuvor erprobt (Pilotgruppe); die Universität Innsbruck hat die Auswirkungen des Persönlichen Budgets auf die Lebenssituation der Budgetnutzer_innen evaluiert. Die Ergebnisse der Evaluation finden Sie in diesem Bericht. Wir danken der Pilotgruppe und dem Land Tirol für die Zusammenarbeit.
Spätestens seit der Ratifikation der UN Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 hat sich Österreich dem Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen verpflichtet. Dies beinhaltet das Ziel der vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft und schließt die selbstbestimmte Lebensführung von Menschen mit Behinderungen ein. Vor Beginn des hier beschriebenen Pilotprojektes wurde ein selbstbestimmtes Leben durch Persönliche Assistenz in Tirol als mobile Stundenleistung angeboten. Persönliche Assistenz ist eine Unterstützungsform, die sich aufgrund ihrer Ausrichtung von konventionellen Tätigkeiten der Pflege und Betreuung abgrenzt. Das Konzept geht aus der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hervor und beruht darauf, dass behinderte Menschen als Expert_innen ihres Alltags die Persönliche Assistenz anleiten.
„Zu den Zielen, zu deren Verwirklichung persönliche Assistenz beitragen soll, gehören gleiche Chancen und Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilnahme, wie sie nicht-beeinträchtigte Menschen haben, die Kontrolle über Dienstleitungen, die Emanzipation von konkreten Zwängen und die Beseitigung von diesen Zwängen ausübenden Institutionen, der Zugang zu Ressourcen [...] sowie Möglichkeiten, Selbstbestimmung und Emanzipation im Sinne eines Bewusstseinsbildungsprozesses zu erlernen“ (Hirschberg 2017: 227).
Persönliche Assistenz erweitert das Angebot an personenzentrierten Dienstleistungen in der Behindertenhilfe somit deutlich. Sie kann in allen Lebensbereichen eingesetzt werden: in Alltag, Freizeit und Beruf, in der Familie sowie in Aus-, Weiter- oder Fortbildungskontexten. In den verschiedenen europäischen Ländern ist ein Zuwachs an Persönlicher Assistenz zu beobachten. Für Deutschland zeigen die Studien von Metzler, Meyer, Rauscher, Schäfers und Wansing (2007) und von Schlebrowski, Schäfers, Wansing (2009), dass es sich um eine anerkannte und stark verbreitete Form der Unterstützung handelt. Diese Unterstützung wird immer häufiger in Form eines Persönlichen Budgets finanziert. Dies hat zum Ziel die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen auch in dem Einsatz und der Auswahl der Assistenzgeber_innen zu ermöglichen. Die Einführung eines Pilotprojekts zum Persönlichen Budget in Tirol sichert damit einen zentralen Aspekt des in der UN Behindertenrechtskonvention gewährten Rechts auf Inklusion und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen der persönlichen Lebensführung.
Das Persönliche Budget stellt eine direkte Finanzleistung an behinderte Menschen mit Unterstützungsbedarf dar, das von diesen verwaltet und zur Finanzierung der Persönlichen Assistenz eingesetzt wird. Wird das Persönliche Budget dazu genutzt um privatrechtliche Arbeitsverträge mit Assistenzgeber_innen einzugehen, wird vom sogenannten Arbeitgeber_innemodell gesprochen. Bei diesem Modell entscheiden die Menschen mit Behinderungen selbst, wer ihre Persönliche Assistenz ausführt. Eine weitere Variante der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets ist der Zukauf von Leistungen bei Dienstleister_innen der Behindertenhilfe; ermöglicht durch eine Direktfinanzierung.
Aus der allgemeinen Projektbeschreibung des Landes Tirol zur Erprobung des Persönlichen Budgets geht hervor, dass das Pilotprojekt darauf zielt, die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen in Tirol im Sinne der Behindertenrechtskonvention zu verbessern. Einerseits soll das Projekt den teilnehmenden Personen mehr Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, andererseits soll sich ihre konkrete Unterstützungssituation verbessern, z.B. durch bessere Abstimmung der Unterstützungsleistungen auf die individuellen Bedürfnisse, durch bedarfsgerechte und flexibel nutzbare Unterstützung, durch die Entlastung von Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen nicht mehr für Pflege- bzw. Unterstützungstätigkeiten nutzen zu müssen oder durch eine Vereinheitlichung der Unterstützungssituation. An diesem Punkt knüpfen die Zielsetzungen des Pilotprojektes an, welche allgemeine Erwartungen an das Persönliche Budget aufgreifen. Das Projekt versucht die öffentlichen Geldmittel umzulenken; weg von Dienstleistungseinrichtungen, wie SLI – Selbstbestimmt Leben Innsbruck, MOHI Tirol – Sozialintegrative Alltagsbegleitung und slw – Soziale Dienste der Kapuziner, hin zu den Nutzer_innen der Leistungen selbst, mit dem Ziel, die Wahlmöglichkeiten und Einflussnahme von behinderten Menschen zu vergrößern und damit Inhalt, Umfang und Qualität ihrer Unterstützung zu verbessern.
Im Pilotprojekt soll erprobt und evaluiert werden, ob und wie mit einem Persönlichem Budget die beschriebenen Ziele erreicht werden können. Eine wissenschaftliche Evaluation soll klären, ob das Persönliche Budget unter Berücksichtigung der oben genannten Kriterien (Bedarfsorientierung, Flexibilität, Entlastung, Vereinheitlichung und Abstimmung) im Rahmen des Pilotprojektes zu einer verbesserten Unterstützungssituation führt und inwieweit höhere Lebensqualität, Selbstbestimmung und Teilhabe damit verbunden sind. Der vorliegende Bericht schätzt die Maßnahme damit zuvorderst im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und Zielerreichung für die Budget- bzw. Assistenznehmer_innen ein. Die Ergebnisse können Entscheidungs- und Planungshilfen liefern und zur verbesserten Steuerung und Qualität der Maßnahme beitragen.
Das Persönliche Budget ist als Komplexleistung zu verstehen, die verschiedene Leistungen integriert, die von unterschiedlichen Trägern angeboten werden und den Nutzer_innen in Form eines trägerübergreifenden Gesamtbudgets zur Verfügung gestellt wird. Das Persönliche Budget errechnet sich in der Regel aus den vergleichbaren, im Einzelfall erbrachten Personalkosten. Nach Auskunft der Sachbearbeiter_innen werden die Stunden, die von den Amtssachverständigen befürwortet werden, in Geldform überwiesen. Dieser Geldbetrag soll den individuellen Bedarf an Unterstützung im Alltag durch Assistenz decken. Mit dem zur Verfügung stehenden Budget können Dienstleistungen über Träger in Anspruch genommen oder Assistent_innen im Arbeitgeber_innenmodell angestellt werden.
Eine Herausforderung der Landesverwaltung liegt in der Zusammenführung verschiedener Leistungen zu einem Gesamtbudget. In Österreich fallen Leistungen der Behindertenhilfe nicht nur in den Kompetenzbereich verschiedener Dienstleistungsträger, sondern sie liegen entweder im Verantwortungsbereich des Bundes, wie z.B. die Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz oder im Verwaltungsbereich der Länder wie z.B. allgemeine Reha-Maßnahmen der Behindertenhilfe. Im Jahr 2015 hat das Land Tirol in einem Transparenzprozess einen Leistungskatalog für die Behindertenhilfe definiert, der insgesamt 32 Leistungen in den Bereichen Mobile Begleitung, Therapie, Kommunikation und Orientierung, Förderung, Tagesstruktur, Wohnen, Kinder, Arbeit usw. umfasst (vgl. Land Tirol 2015).
In das Pilotprojekt „Persönliches Budget im Land Tirol“ fließen aus diesem Katalog zwei Leistungen ein, welche das Persönliche Budget bestimmen:
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Die Maßnahme der Persönlichen Assistenz richtet sich laut Land Tirol an erwachsene Menschen und Jugendliche in Ausbildung mit körperlichen Beeinträchtigungen und/oder Sinnesbehinderungen, die mit Unterstützung in der Lage sind, in einer eigenen Wohnung zu leben. Sie müssen zudem als Auftraggeber_in der Assistent_innen auftreten können oder dazu befähigt werden können (vgl. Land Tirol 2015: 61). Ausgeschlossen von der Maßnahme sind Personen mit psychiatrischen Diagnosen, Lernschwierigkeiten oder auch Personen, die in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben.
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Die Mobile Begleitung, als zweiter Leistungsstrang, hat die Aufgabe, für erwachsene Menschen und Jugendliche mit Behinderungen ab 16 Jahren, „die für ein selbständiges Wohnen und für die Gestaltung ihres Lebens Anleitung, Unterstützung und Motivation benötigen“, personenzentrierte, individuelle Dienstleistungen bereitzustellen. Die Schwerpunkte liegen hier im psychosozialen Bereich: „Die NutzerInnen werden auf der Basis von aktuellen fachlichen Konzepten der Begleitung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen anleitend unterstützt und motiviert. [...] Die manuellen Tätigkeiten sollen von/mit den NutzerInnen ausgeführt werden“ (Land Tirol 2015: 73). Ausgeschlossen von der Mobilen Begleitung sind Personen, die in einer Pflegeeinrichtung leben.
Da nur diese zwei Leistungen im Rahmen des Pilotprojektes ins Persönliche Budget einfließen, werden für die Nutzer_innen die Möglichkeiten zur Verwaltung des Budgets eingeschränkt, da das Budget nur für die Assistenzleistungen bzw. für private oder professionelle Hilfen im Wohnbereich verwendet werden kann. Gleichzeitig wird durch die Engführung des Budgets auf die beiden Leistungen gezwungenermaßen auch die Zielgruppe der Anspruchsberechtigten reduziert. Bislang können nur Personen, deren Unterstützungsbedarf durch das Reha-Gesetz abgedeckt wird, Persönliche Assistenz beantragen. Personen, die ausschließlich Pflegegeld erhalten, werden nicht berücksichtigt. Die große Heterogenität der Initiativ- und Pilotgruppenmitglieder führte dazu, dass im Pilotprojekt erstmalig auch Personen mit Lernschwierigkeiten und Angehörige als Unterstützer_innen bzw. Budgetasssistent_innen ein Persönliches Budget erhalten.
Für die Zukunft, dies sei hier als Ergebnis der Evaluation vorweggenommen, ist zu klären, wie Persönliche Assistenz und das Persönliche Budget auch für weitere behinderte Personengruppen zugänglich gemacht werden können. Dies benötigt u. A. eine Diskussion und Berücksichtigung unterschiedlicher Leistungs- und Unterstützungsbedarfe sowie Entwicklungsmöglichkeiten in der Verwaltung und Verwendung des Persönlichen Budgets. Außerdem ist es notwendig bei Einsatz des Arbeitgeber_innen-Modells den Aufwand für die Verwaltung und Abrechnung in der Finanzierung zu berücksichtigen.
Die Entstehungsgeschichte des Pilotprojekts wurde über eine Befragung der Beamt_innen und der Initiativgruppe für die Darstellung im Bericht erhoben. Sie spiegelt die Hindernisse und Chancen der gemeinsamen Arbeit im Projekt wider und gibt Aufschluss über partizipativ-politische Gestaltungsmöglichkeiten. Die Idee, das Persönliche Budget in Tirol einzuführen, geht auf einige Teilnehmer_innen der Initiativgruppe zurück, die sich mit diesem Anliegen an die Politik wandten. Die Landespolitik griff ihre Forderung auf und beauftragte die Verwaltung damit, die Möglichkeit der Einführung des Persönlichen Budgets zu erkunden. Zwei Mitarbeiter_innen der Abteilung Soziales im Amt der Tiroler Landesregierung nahmen Kontakt zur Initiativgruppe auf und entwickelten gemeinsam mit der Initiativgruppe das Tiroler Pilotprojekt Persönliches Budget. Die Arbeit ›auf Augenhöhe‹ verlief aus Sicht beider Gruppen nicht ohne Schwierigkeiten, die aber in einem gemeinsamen Prozess konstruktiv bearbeitet wurden; richtungsweisende Lösungen wurden gefunden: Die Initiativgruppe wurde um weitere interessierte Personen erweitert, darunter sowohl behinderte Menschen als auch Angehörige. Die Teilnehmer_innen konnten vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit verschiedenen Behinderungen und Lebenslagen ihre Bedürfnisse und ihre Interessen in die regelmäßig stattfindenden Sitzungen einbringen.
Seit dem 1. April 2016 wird die Umsetzung des Persönlichen Budgets von 9 Personen als Budgetnehmer_innen erfolgreich erprobt. Das Pilotprojekt wird weiterhin von zwei Mitarbeiter_innen der Landesverwaltung begleitet. Sachbearbeiter_innen der Bezirksverwaltungsbehörden und der Bezirkshauptmannschaften Reutte und Kitzbühel sind für die Berechnung und Überweisung der Finanzleistungen zuständig und beraten individuell mit den Budgetnehmer_innen, wie die Finanzen zu verwalten sind.
Der Auftrag der wissenschaftlichen Evaluation erging im Sommer 2016 an die Universität Innsbruck (siehe Inception Report). Der Antrag auf die Durchführung der wissenschaftlichen Evaluierung knüpft an den partizipatorischen Charakter des Pilotprojekts an und sieht eine Erhebung und Befragung der unterschiedlichen Perspektiven aller Beteiligten vor, sowie ein abschließendes Arbeitsgespräch (Workshop) zur Diskussion und Beschreibung der Entwicklungsfelder. Dementsprechend wurden die drei beteiligten Akteure am Pilotprojekt (Politik, Landesverwaltung und Initiativgruppe) in die Befragung systematisch einbezogen. Neben den Expert_inneninterviews mit der Initiativgruppe, den Beamt_innen und der Landespolitik wurden die Budgetnehmer_innen befragt. Dies geschah in einer standardisierten und einer offenen Befragung zu ihrer Lebenssituation, den Veränderungen in Qualität und Umfang der Unterstützung durch das Persönliche Budget und ihrer Einschätzung und Bewertung der Maßnahme. Zudem wurden zwei Sachbearbeiter_innen des Stadtmagistrats Innsbruck zur Umsetzung befragt.
Die Befunde der Befragung werden der Initiativgruppe in einer Ergebnispräsentation vorgestellt und diskutiert. Die Ergebnisse dieser gemeinsam mit der Initiativgruppe und den Mitarbeiter_innen der Abteilung Soziales durchgeführten Diskussion im Rahmen eines Workshops am 14.12.2017 flossen in den vorliegenden Endbericht mit ein mit dem Ziel die Entwicklungsfelder genauer zu skizzieren und gemeinsame Lösungsvorschläge zu erarbeiten (siehe unten; insbesondere Abschnitt 6).
Inhaltsverzeichnis
Alle im Rahmen der standardisierten Erhebung befragten Personen sind Teil der Initiativgruppe. Sechs Personen fanden über ihr behindertenpolitisches Engagement zu der Gruppe und weitere wurden von den beteiligten Akteur_innen vorgeschlagen und dazu eingeladen. In der Pilotphase nahmen 9 Personen ein Persönliches Budget in Anspruch. Mit allen 9 Budgetnehmer_innen wurden zwei standardisierte Befragungen durchgeführt: Zur Einführung des Persönlichen Budgets und zu ersten Erfahrungen damit. Die erste Befragung fand von September bis November 2016 statt, die zweite Befragung von Juni bis August 2017.
Insgesamt haben 7 Budgetnehmer_innen selbst an der Befragung teilgenommen, in zwei Fällen haben Bezugspersonen die Antworten gegeben. Im Zentrum der Befragung steht die Zufriedenheit mit der Nutzung und der Qualität der Persönlichen Assistenz und die Veränderungen, die sich durch das Persönliche Budget für die Budgetnehmer_innen ergeben (Punkt 4.2.). Die Befunde zeigen, dass die meisten Befragten sehr zufrieden mit dem Persönlichen Budget sind. Ein weiterer Gegenstand der Befragung ist die konkrete Nutzung des Persönlichen Budgets, welche in Punkt 4.1.zuerst vorgestellt wird.
Alle Befragten geben als Beweggrund für den Wechsel von der Inanspruchnahme der Stundenleistung zum Persönlichen Budget das Bedürfnis nach selbstständiger Gestaltung der Persönlichen Assistenz an. Bei der ersten Befragung nannten drei Befragte die Flexibilität und sechs Personen die Möglichkeit, ihre Assistent_innen selbst auszusuchen bzw. die Assistenz bedarfsgerecht einteilen und individuell gestalten zu können, als Vorteil.
Die Gruppe ist in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Wohnsituation heterogen aufgebaut: Die Teilnehmer_innen sind zwischen 20 und 66 Jahre alt; fünf Personen sind männlich und vier weiblich. Sie besitzen unterschiedliche Bildungsabschlüsse: zwei der befragten Personen verfügen über einen universitären Abschluss und jeweils eine Person hat eine Sonderschule, allgemeine oder integrative Hauptschule, Berufsschule oder eine Fachhochschule absolviert. Von den Befragten leben 7 Personen in der Stadt und zwei in einer Gemeinde auf dem Land. Drei Personen leben allein, vier gemeinsam mit Familienmitgliedern und zwei teilen sich die Wohnung gemeinsam mit ihren Partner_innen.
Die finanzielle Situation der Initiativgruppenmitglieder ist sehr unterschiedlich: Vier der befragten Personen sind berufstätig; drei Personen in Teilzeit und eine Person in Vollzeit. Eine Person bekommt ausschließlich Sozialleistung und alle 9 Personen erhalten Pflegegeld. Eine Person bezieht eine Invaliditätspension und erhöhte Familienbeihilfe.
In Bezug auf das soziale Umfeld zeigt sich, dass die Teilnehmer_innen soziale Kontakte pflegen: Die meisten Befragten treffen sich nach eigener Einschätzung (sehr) häufig mit Personen, mit denen sie nicht zusammenleben (7 Personen); zwei Personen tun dies eher selten. Alle gehen Hobbies oder Freizeitbeschäftigungen nach. Fünf Personen gehen zivilgesellschaftlichen Tätigkeiten nach. Der Zeitaufwand dafür reicht von 5 Stunden bis zu 80 Stunden im Monat. In Bezug auf den Pflegebedarf zeigt sich, dass die Mehrheit einen hohen Pflegebedarf besitzt: Drei der befragten Personen erhalten Pflegestufe sieben, jeweils zwei Personen Pflegestufe sechs, drei Personen Pflegestufe fünf und eine Person Pflegestufe eins. Bei einer Person hat sich eine Veränderung im Pflegebedarf ergeben; dieser ist im Verlauf der Zeit leicht gestiegen.
Alle Befragten besitzen sogenannte Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates und weitere Beeinträchtigungen. Neben den Schwierigkeiten beim Bewegen geben drei Personen an, Schwierigkeiten beim Sprechen zu haben. Zwei der Befragten geben Schwierigkeiten beim Lernen an und je eine Person beim Sehen, Atmen und mit psychischen Einschränkungen.
Der Großteil der Teilnehmer_innen (8 Personen) nutzte bereits vor dem Pilotprojekt Persönliche Assistenz oder Mobile Begleitung durch die Angebote verschiedener Dienstleister, darunter SLI, MOHI, Heilpädagogische Familien und slw. So hat ein Großteil der Budgetbezieher_innen das Pilotprojekt dafür genutzt, um als Arbeitgeber_innen die Persönliche Assistenz selbst anzustellen (8 Personen). Vier der 8 Personen nutzen dabei ein Mischmodell, d.h. sie stellen Assistent_innen an und nutzen zusätzlich weiterhin Angebote von Dienstleistungseinrichtungen, um dort Persönliche Assistenzstunden einzukaufen. Eine Person ist zwischen der ersten und der zweiten Befragung vom Dienstleistungsmodell auf das Mischmodell gewechselt.
Insgesamt stellen fast alle Befragten (8 Personen) Persönliche Assistenz direkt bei sich an. Die Mehrheit kauft zusätzliche Persönliche Assistenz von Dienstleistungseinrichtungen ein (5 Personen).
Die Budgetbezieher_innen beschäftigen dabei unterschiedlich viele Personen als Persönliche Assistent_innen. Die Anzahl der beschäftigten Assistenzgeber_innen variiert stark: Jeweils zwei der Befragten beschäftigen vier bzw. sechs Persönliche Assistent_innen. Jeweils eine der Befragten beschäftigen eine, zwei, drei, sieben oder zehn Personen als Persönliche Assistent_innen. Die Befragten geben an, die Persönliche Assistenz in unterschiedlichem Zeitumfang zu beschäftigen: Die Persönlichen Assistent_innen sind laut Angabe der Befragten zwischen 13 und 452 Stunden monatlich beschäftigt, um die Unterstützung der Befragten zu gewährleisten. (Fast) alle Befragten beschäftigen die Persönliche Assistenz im Bereich Wohnen (9 Personen) und in der Freizeit (8 Personen). Sechs der Befragten beschäftigen Assistenz für ihre Teilhabe an kulturellen Aktivitäten; vier weitere in anderen Bereichen (Reisen, politische Tätigkeiten, Therapiebegleitung). Die Einsatzbereiche von Assistenz und der Umfang des Einsatzes der Persönlichen Assistent_innen, die im Arbeitgeber_innenmodell beschäftigt sind, unterscheiden sich dabei nicht wesentlich von den Einsatzbereichen der Assistenz, die bei Dienstleistungseinrichtungen eingekauft wird.
Deutlich wird, dass eine Mehrheit der Befragten ihren Unterstützungsbedarf nicht vollständig durch Persönliche Assistenz abdecken kann: Sechs Befragte greifen regelmäßig auf familiäre Unterstützung zurück. Diese reicht von einigen wenigen kurzen Zeitfenstern im Jahr, welche durch einen kurzfristigen Ausfall der Assistenz oder andere Notfälle bedingt sind, bis hin zu allen verbleibenden Stunden, welche nicht durch das Persönliche Budget abgedeckt sind. Zwei befragte Personen geben einen 24/7 Bedarf an, d.h. die Anwesenheit einer Person wird rund um die Uhr benötigt und durch mobile Hilfen, wie die Persönliche Assistenz, nicht vollständig abgedeckt.
Darüber hinaus greift eine Mehrheit der Befragten auf weitere unbezahlte Unterstützung zurück (fünf Personen), welche von Freund_innen, Nachbar_innen und Bekannten geleistet wird. Die Befragten konnten keine genauen Zeitangaben dazu machen, weil dies häufig kurzzeitige und spontan auftretende Hilfestellungen im Alltag sind, wie z.B. ihnen einen Gegenstand reichen, usw. Zwei der fünf Befragten nutzen diese Form der Unterstützung in der Freizeit, vier Personen beim Wohnen, eine Person im Kulturbereich und zwei Personen in anderen Bereichen wie Körperpflege und einkaufen.
Insgesamt schildern alle Budgetbezieher_innen, dass sie durch das Persönliche Budget selbständiger, flexibler und autonomer geworden sind: Sie können mehr Kontrolle ausüben und selbst Chef_in sein: Eine Person teilte mit, dass sie selbst aussuchen kann, wie viele Personen sie einstellt und dies jetzt auch zu Zeiten möglich ist, wo sie vorher keine Persönliche Assistenz nutzen konnte. Eine andere Person schildert, gelassener geworden zu sein. Eine weitere Person berichtet, dass sie jetzt eine stabile Grundsituation hat. Insbesondere positiv hervorgehoben wurde die Tatsache, selbst entscheiden zu können, wer zu ihrer Unterstützung kommt.
Zentrales Ergebnis der standardisierten Befragung zur Lebenssituation ist, dass der Großteil der stark heterogenen Mitglieder der Initiativgruppe das Persönliche Budget nutzt, um Persönliche Assistent_innen selbst zu beschäftigen. Als vorteilhaft wird dabei angesehen, über die Personen, die sie unterstützen selbst zu entscheiden und flexibel über den Zeitpunkt der Unterstützung zu bestimmen. Dies fördert die Selbstbestimmung in der Lebensführung und Flexibilität in der Lebensplanung.
Der Bedarf an Unterstützung wird über das Persönliche Budget jedoch nicht vollständig abgedeckt. Eine Mehrheit der Befragten nutzt familiäre oder freund_innenschaftliche Unterstützung, um bspw. Reisen, Reha-Aufenthalte oder längere Ausflüge zu realisieren. Eine befragte Person benötigt zur Unterstützung ihrer angehörigen Person zu Hause Persönliche Assistenz rund um die Uhr. Durch das Persönliche Budget ist eine 24h Betreuung jedoch nicht möglich, was dazu führt, dass die Maßnahme nicht für alle Beteiligten als ›bedarfsgerecht‹ anzusehen ist.
Bei der ersten Befragung haben auffallend viele Teilnehmer_innen mitgeteilt (vier Personen), dass sie das Persönliche Budget anfangs als schwieriger und aufwändiger empfunden haben, weil sie sich erarbeiten mussten, wie die Lohnverrechnung funktioniert. Auch besteht der Wunsch nach einfacheren Umsetzungen des Arbeitgeber_innenmodells, da sich die vertraglichen Regelungen z.B. für die Einstellung von Ersatzpersonen aufwändig gestalten. Die Budgetnehmer_innen zahlen zudem einen Selbstbehalt, der an ihr Einkommen gekoppelt ist und für die Befragten als nicht tragbar eingeschätzt wird. Die Befragung derjenigen, die ein Mischmodell nutzen macht zudem deutlich, dass die Angebote der Dienstleistungseinrichtungen nicht ausreichend kund_innenorientiert sind. Bei der zweiten Befragung hat eine Person mitgeteilt, dass Ausfälle von Persönlichen Assistent_innen nur zeitlich begrenzt berücksichtigt werden und im Reha-Gesetz noch nicht verankert ist, wie Bereitschaft abgerechnet werden kann.
Inhaltsverzeichnis
- 5.1 Verwirklichung des Rechts auf Entscheidungsfreiheit durch Persönliches Budget
- 5.2 Selbstbestimmter Alltag durch ein flexibel einsetzbares Persönliches Budget
- 5.3 Einsatz von Assistenzleistungen und Erlernen von Assistenzanleitung als Motor von Selbstbestimmung
- 5.4 Unterstützung von Angehörigen durch Persönliches Budget und Assistenz
- 5.5. Perspektive der Budgetbezieher_innen auf das Persönliche Budget:
Im Rahmen der wissenschaftlichen Evaluation wurden mit sechs Personen der Budget-nehmer_innen offene Interviews geführt (zur Methode der offenen Interviewführung und ihrer Auswertung vgl. Witzel 1996, Reichertz/Schröer 1994). In den Gesprächen wurde themen- bzw. problemzentriert nach der Lebenssituation mit Persönlicher Assistenz und nach Umgang und Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget gefragt. Die Befragten wurden angehalten über ihre Erfahrungen zu reflektieren, wobei auch sensible und konflikthafte Punkte erfasst werden können. Die Interviews dienen dazu, ein Verständnis der individuellen Bedürfnisse und Interessen, der Auswirkungen eines Lebens mit Persönlicher Assistenz sowie der realisierten Möglichkeiten und Schwierigkeiten im Umgang mit dem Persönlichen Budget zu erhalten.
Die Ergebnisse der Befragung werden in Form von vier Themenportraits präsentiert, die als „dichte Beschreibungen“ (Geertz 1987) fungieren und Einblicke in Lebenszusammenhänge und ihre unterschiedlichen Dynamiken und Sachverhalte in Bezug auf den Einsatz von Persönlicher Assistenz sowie dem Persönlichen Budget liefern. Alle Befragten sprechen in ihren Berichten zentral über das Thema Selbstbestimmung und persönliche Entscheidungsfreiheiten. Im Folgenden werden unter Rückgriff auf Aussagen der Befragten themenbezogen zentrale Befunde zur Frage nach Einsatz und Zufriedenheit mit dem persönlichen Budget vorgestellt. Dazu gehört die Verwirklichung des Rechts auf Entscheidungsfreiheit durch Zugang zum Persönlichen Budget (5.1.), ein selbstbestimmter Alltag durch ein flexibel einsetzbares Persönliches Budget (5.2.), der Einsatz von Assistenzleistungen und das Erlernen von Assistenzanleitung als Motor von Selbstbestimmung (5.3.) sowie die Unterstützung von Angehörigen durch Persönliches Budget und Assistenz (5.4).
Das Persönliche Budget stellt mit der Möglichkeit, die Persönlichen Assistent_innen selbst auszusuchen und einzustellen eine Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung dar. Dieser zentrale Befund spiegelt sich in allen Interviewgesprächen wider. So wird der Zugewinn durch das Persönliche Budget von einer Befragten mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Also ich habe mehr Freiheiten muss (ich) sagen“ (Interview Frau W., Z. 219).
Über Zeitungsannoncen oder Internetanzeigen (ÖH, AMS) suchen die Befragten interessierte Personen und wählen diese in Bewerbungsgesprächen selbst aus. In persönlichen Absprachen werden Einsatzzeit, Einsatzort und Inhalt der Tätigkeit jeweils individuell abgesprochen und vereinbart. Deutlich wird, dass die Befragten ihr Leben insgesamt flexibler gestalten können, da sie bei Bedarf direkt mit den Assistent_innen kommunizieren können. Ein Befragter hebt dabei das Passungsverhältnis zwischen ihm und den von ihm ausgewählten Assistent_innen hervor: „das muss passen“ (Interview Herr C., Z. 358). In den einzelnen Lebensgeschichten wird deutlich, dass die persönliche Auswahl der Persönlichen Assistent_innen jeweils als äußerst angenehm empfunden wird und auch bei der Verrichtung alltäglicher Aufgaben eine Bereicherung darstellt, weil die Budgetbezieher_innen für bestimmte Tätigkeiten bestimmte Persönliche Assistent_innen einplanen und einsetzen. Je nach Tätigkeit werden verschiedenen Kompetenzen oder der Einsatz von Körperkraft erwartet und benötigt.
Eine Befragte formuliert, dass sie durch die Auswahl der Assistent_innen und durch das persönliche Beschäftigungsverhältnis selbst darauf achten kann, dass die Assistent_innen für die Beschäftigung wichtige Eigenschaften, wie ein Gefühl für Nähe und Distanz, mitbringen. Dies schafft ein besseres Verhältnis zu den Personen:
„Durch die direkte Anstellung bei mir, fühle ich mich mehr wertgeschätzt und erhalte mehr Anerkennung. Zudem gibt mir das Persönliche Budget ein gutes Gefühl und die [zuvor] fehlende Stabilität für meine Weiterentwicklung als Arbeitsgeberin“ (Interview Frau F., Z. 27f.).
Frau F. hebt zudem hervor, dass ihr wichtig ist, dass die bei ihr angestellten Assistent_innen verantwortungsbewusst und offen sind, sowie „Toleranz für [ihre] Lebensweise“ mitbringen und sich bewusst sind über den Unterschied von betreuen und assistieren (Z. 19f.).
Die Budgetbezieher_innen können sich über die Wahlfreiheit genau die Unterstützung verschaffen, die sie für die Tätigkeit benötigen. Manche Befragten lassen sich auf Reisen begleiten und nutzen die Persönliche Assistenz als Begleitung für kulturelle oder politische Tätigkeiten. Sie empfinden gerade bei der Ausübung von persönlichen Belangen die Freiheit darüber zu bestimmen, wer sie unterstützt als Zugewinn an Selbstbestimmung.
Die Befragten erleben durch den selbst gewählten Einsatz von Persönlichen Assistent_innen Freiheit der persönlichen Entscheidung und reflektieren, dass nicht ihre Beeinträchtigung, sondern eine unzureichende und unflexible Unterstützung zur Behinderung führen: „Man ist nicht be_hindert, wir werden ver_hindert“ (Frau W., Z.486).
Allerdings schildern verschiedene Befragte, dass das Persönliche Budget bzw. der behördlich bewilligte Unterstützungsbedarf in Form von Persönlichen Assistenzstunden nicht ausreicht, um ihren Unterstützungsbedarf vollständig abzudecken. Die Befragten berichten, wie sie darauf angewiesen sind über Familie, Freund_innen und Nachbar_innen Hilfsnetzwerke aufzubauen um ergänzend private Unterstützung in Anspruch nehmen zu können.
Im Alltag macht es für die Befragten einen großen Unterschied, ob die Persönliche Assistenz über eine Dienstleistungseinrichtung bezogen wird, oder durch das Persönliche Budget von den Budgetbezieher_innen selbst eingesetzt wird. Erst das Persönliche Budget erlaubt es, die Assistenz passgerecht und zeitlich flexibel auf die eigenen, im Alltag zum Teil unvorhersehbaren persönlichen Bedürfnisse und Gegebenheiten abzustellen. Besonders deutlich wird dies, wenn die Befragten über ihre Ausbildungszeit oder Studium berichten und bei Befragten, die einer Beschäftigung nachgehen und Arbeitsassistenz nutzen, welche durch den Bund finanziert wird. So meint bspw. Herr D., der selbst erwerbstätig ist und einen vielseitigen (Arbeits-)Alltag bestreitet:
„Der Grund, warum ich mich für ein persönliches Budget einsetzen möchte, [...] weil man eben nicht ständig Betreuter sein möchte oder Kunde sein möchte. Sondern man möchte einfach wirklich selbstbestimmt leben. Sein Leben umsetzen“ (Interview Herr D., Z. 100ff.).
Der Einsatz von Persönlichen Assistent_innen, die über eine Dienstleistungseinrichtung zur Verfügung gestellt werden ist für ihn mit der Erfahrung verbunden „sich [...] wieder in einer Art Betreuungsschiene“ (Z. 88f.) zu befinden, weil die Planung des Einsatzes der Persönlichen Assistent_innen über die Dienstleistungseinrichtung innerhalb der Öffnungszeiten des jeweiligen Vereins zu vereinbaren ist und nicht persönlich und flexibel abgesprochen werden kann.
Aufgrund der gesetzlichen Regelung der getrennten Finanzierung von Persönlicher Assistenz im Privatbereich durch das Land und Persönlicher Assistenz am Arbeitsplatz durch den Bund kann Herr D. das Persönliche Budget nicht in Anspruch nehmen, da dies für die Gestaltung seines alltäglichen (Arbeits-)Lebens nicht praktikabel ist. Vielmehr benötigt der Befragte neben einer Gesamtfinanzierung von Persönlicher Assistenz ein budgetäres Mittel um seinen (Arbeits-)Alltag zu bewältigen und alltagspraktische Lösungen zu finden. Zudem unterbindet das Pilotprojekt bislang den flexiblen Einsatz der Mittel jenseits der Beschäftigung von Persönlichen Assistent_innen und schafft (noch) nicht die benötigte individuelle Gestaltungsfreiheit um auf unvorhersehbare Alltagssituationen reagieren zu können, wie z.B. „die Notfallnummer eines Fahrdienstes anrufen“ und dadurch den „Lebensfluss“ (wieder) herstellen zu können (Z. 812f., 826f. und 833f.). Aus der Perspektive der Befragten hat dies mit der Einstellung und Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen zu tun, die sich in den gesetzlichen Regelungen einer strengen Zweckgebundenheit von Sachmittelleistungen zeigt. So ist Herrn D. „beim Konzept des persönlichen Budgets auch wichtig [...] dass man halt ein bisschen noch ein Stück mehr Vertrauen auch in die Leute setzt, die persönliches Budget in Anspruch nehmen“. Der Befragte verweist mit dem Beispiel der Finanzierung kurzfristiger Fahrdienste darauf, dass das Persönliche Budget erst dann einen wirklichen Handlungsspielraum und Selbstbestimmung schafft, wenn Menschen mit Behinderungen die Mittel flexibler einsetzen können, um ihren (Arbeits-)Alltag gestalten zu können.
In den Gesprächen wurde wiederholt deutlich, welche aufwändige biographische Arbeit notwendig ist, um sich aus institutionalisierten Strukturen der Behindertenhilfe zu lösen und über mobile Unterstützungsformen eine selbstbestimmte Lebensführung aufzunehmen.
Dies führt die Befragten dazu, in den Gesprächen auf die potentiellen Möglichkeiten von Persönlicher Assistenz als Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sowie deren Familien einzugehen. Es wird die Frage gestellt: „Wie kann vermieden werden [...] dass Menschen ins Heim kommen müssen? Vor allem, [...] wenn die Eltern nicht mehr können?“ (Interview Herr C., Z. 438f.). Der Befragte zeigt an seiner Biographie schmerzvolle Erlebnisse der Heimunterbringung von Kindern mit Behinderungen auf und ist der Ansicht, „das was ein Heimplatz kostet [...] das sollte auch möglich sein, [...] dass das Geld auch zur Verfügung gestellt wird“, um Kindern das Aufwachsen in der Familie zu ermöglichen.
Personen, die in Kindheit, Jugend oder jungem Erwachsenendasein nicht schrittweise an Persönliche Assistenz als Unterstützungsform herangeführt wurden, müssen die Kompetenz zur Anleitung von Persönlichen Assistent_innen erlernen. Auch bei Personen, die in ihren Familien aufwachsen, fällt der Umgang mit Persönlicher Assistenz oft in das (junge) Erwachsenenalter, wenn sie sich von Eltern lösen und eine eigene Existenz aufbauen. Persönliche Assistenz besitzt dementsprechend für das Wohnen eine besondere Bedeutung. So auch für Frau B., die als junge Erwachsene den Wunsch äußert, in einer eigenen Wohnung zu leben. Sie berichtet über die Zeit des Umzugs in eine eigene Wohnung in der sie auch erstmals die Unterstützung von Persönlicher Assistenz nutzt. Die ihr zunächst zugeteilten Persönlichen Assistent_innen erweisen sich als unzureichend, da diese Frau B. bereits in der Wohngruppe betreuten und den Haushalt nicht nach ihrer Anleitung führten. Erst als Frau B. diesen Personen kündigt, wird sie von Persönlichen Assistent_innen unterstützt, die sie selbst anleitet. Sie berichtet über ihre damalige Situation folgendes:
„Also das Anleiten habe ich mir erst selber beibringen müssen [...]. Und das war wirklich eine Herausforderung; was ich will und was ich nicht will haben und so. Das war für mich wirklich eine richtig schwierige Sache“ (Frau B., Z. 81ff.).
Die errungene Selbstbestimmung über ihre Wohn- und Lebenssituation ermöglichen es der Befragten, auch ihre Arbeits- und Beschäftigungssituation grundlegend zu verändern. Die Selbstbestimmung im Bereich Wohnen stellt die Voraussetzung dafür dar Verantwortung über weitere Bereiche des eigenen Lebens zu erlangen. Wieder Frau B.: „Ich [habe] mich auf die Füße gemacht eine Richtige [Arbeit] zu finden, wo man richtig verdient und versichert ist.“ (Z. 176ff.). In Rücksprache mit ihrem Sachverwalter und mit Unterstützung durch einen Jobcoach findet Frau B. eine Halbtagstätigkeit und verlässt die Werkstatt, in der sie zuvor ganztags beschäftigt war. Sie beginnt ein betriebliches Praktikum und wird anschließend vom Betrieb übernommen. Sie verliert diese Arbeit jedoch als die Firma Konkurs geht. Nach einer Phase der Erwerbslosigkeit erfährt sie von der Möglichkeit als Zukunftsplanerin zu arbeiten. Frau B. bewirbt sich erfolgreich und beginnt dieser neuen Tätigkeit nachzugehen. Die Persönliche Assistenz, die ihr eine selbstbestimmte Lebenssituation ermöglicht, wirkt hier wie ein Motor zur Erlangung von Selbstbestimmung in weiteren Lebensbereichen. Ihre Berufstätigkeit verschafft der Befragten Sicherheit und Selbstvertrauen.
Das Persönliche Budget, also die Möglichkeit, ihre Persönlichen Assistent_innen selbst auszuwählen, einzustellen und anzuleiten, stellt für Frau B. eine weitere Stärkung der Selbstbestimmung in der alltäglichen und beruflichen Lebensführung dar: „Also seit ich persönlich Geld habe, läuft es gut für mich“ (Z. 347f.). Sie besitzt den Anspruch, nicht nur die Tätigkeiten der Persönlichen Assistent_innen anzuleiten und zu bestimmen, sondern auch die finanziellen Belange ihrer Lebensführung in die Hand zu nehmen, um über ihr Leben als Ganzes zu bestimmen: „Ich mache Bewerbungsgespräche alleine, suche mir die Leute selber aus. Ich habe eigentlich alles soweit im Griff und im Blick“ (Z. 251-362).
Frau M., die Mutter von Herrn M., spricht im Interview über ihre Lebenssituation mit ihrem Sohn Herrn M. der aufgrund einer komplexen Behinderung rund um die Uhr Unterstützung benötigt. Sein Assistenzbedarf ist durch das Persönliche Budget, das in der Regel höchsten 250 Stunden in der Woche umfasst, allerdings nicht voll abgedeckt. Daher sorgt sich die Befragte um sich, sowie um die Zukunft von Herrn M., der nicht (wieder) in einem Heim leben soll und will:
„Dass halt die Eltern irgendwie machen und machen und machen und machen [...] und dann steht man irgendwann da und sagt, jetzt habe ich dich irgendwie 30 Jahre lang gehabt. Jetzt bin ich fertig [...] jetzt krieg ich keine Rente“ (Interview 1, Frau M., 70 Jahre, Zeile 147-155).
Im Zentrum ihrer durchweg positiven Bewertung des Einsatzes des Persönlichen Budgets steht die Tatsache, dass sie direkten Einfluss auf die Auswahl der Persönlichen Assistent_innen hat. Sie wählt diese mit Bedacht im Hinblick auf die Bedürfnisse ihres Sohnes aus und versichert sich, dass sie ihren Sohn gut unterstützen. Zudem rechnet sie die geleisteten Stunden der Persönlichen Assistent_innen selbst ab und besitzt den Überblick über die Finanzen, so dass keine bewilligten Stunden (mehr) an eine Dienstleistungseinrichtung verloren gehen. Die Einarbeitung in die Abrechnung hat Frau M., ähnlich wie die anderen Befragten, einiges an Zeit und Kraft gekostet, doch trotzdem lohnt sich das Arbeitgeber_innen-Modell aus ihrer Perspektive. Die Einschätzung der befragten Angehörigen deckt sich mit der Meinung von Herrn C., der in der Persönlichen Assistenz und einem Persönlichen Budget auch für pflegende Familienangehörige die Chance sieht „eine Familienhelferin oder zwei bis drei Leute [anzustellen]. Dass die Eltern sozusagen eine Chance haben für sich Freizeit zu erleben nicht unbedingt alles fürs Kind aufgeben müssen“ (Interview Herr C., Z. 438f.). Die Möglichkeit, über das Persönliche Budget auch an Angehörige monetäre Mittel zur Unterstützung ihrer Familienmitglieder zu geben, schafft eine Entlastung in der Pflegetätigkeit und eine Rückkehr zur eigentlichen sozialen Rolle als Mutter, Vater, usw.
Damit stellt Persönliche Assistenz im Arbeitgeber_innen-Modell auch für Angehörige eine Möglichkeit dar, Unterstützung für Familienmitglieder zu gewährleisten und durch die Passgenauigkeit und gewonnene Flexibilität ihren alltäglichen Aufgaben nachzukommen.
Von den Befragten wird als überaus positiv empfunden, dass ihnen das Persönliche Budget ermöglicht, selbst zu entscheiden, wer für sie arbeitet und wann und, dass sie ihre finanziellen Belange selbst in der Hand haben. Auch im Mischmodell und im Dienstleistungsmodell können die Teilnehmer_innen darauf Einfluss nehmen, wer die Assistenz ausführt, da sie die Assistenzleistung selbst bei den Dienstleistungseinrichtungen einkaufen und dadurch Einfluss auf die Auswahl der Assistent_innen nehmen können und auch direkt mit den Dienstleistern die Stunden abrechnen und so einen genaueren Überblick über die Assistenzleistung haben. Durch das Persönliche Budget können sie die Assistenz ihrem Bedarf entsprechend gestalten, da sie direkter mit den Assistent_innen kommunizieren können und die Ausführung der Arbeit mit ihnen gestalten. Dies ermöglicht auch eine genaue Anleitung der Ausführung der Unterstützungstätigkeiten und wann und mit wem diese geschehen. Durch das Persönliche Budget können die Teilnehmer_innen ihren Alltag flexibler und individueller und dadurch auch selbstbestimmter gestalten, und bekommen dadurch Einflussnahme und Kontrolle über ihr eigenes Leben.
Fast alle Teilnehmer_innen schildern einen Mehraufwand in der Abwicklung der Anstellungen und Abrechnung, da sie anfangs mit ihren Steuerberater_innen vertragliche Rahmenbedingungen klären mussten. Da die Assistent_innen aktuell nach dem Hausangestelltengesetz angestellt sind, bestehen noch Unsicherheiten darüber, welche Tätigkeiten in das Persönliche Budget fallen und ob die Assistenz außerhalb des Wohnraumes noch im rechtlichen Rahmen liegt. Auch ist für Teilnehmer_innen das Durchführen von Bewerbungsgesprächen und Anlernen von Personen neu, hier besteht teils Bedarf an Beratung und Weiterbildung für die Assistenznehmer_innen. Einige Teilnehmer_innen schildern, dass das Stundenausmaß nicht ihrem Bedarf entspricht und sie weitere Stunden aus privaten Mitteln finanzieren müssen oder ihre Assistent_innen etwas länger bleiben. Hier wird von einigen Teilnehmer_innen geschildert, dass längere Reisen oder Urlaub schwierig umsetzbar sind, da die Gesetzeslage und die Finanzierungssituation dies erschweren und viele Teilnehmer_innen bemängeln, dass mit dem Persönlichen Budget keine Assistenz am Arbeitsplatz abgedeckt werden kann, was ihnen in dem Bereich ihres Lebens die Entscheidungsfreiheit der Gestaltung einschränkt.
Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass erstens das Recht auf Entscheidungsfreiheit durch Persönliches Budget gefördert wird. Weiter ausbaufähig ist die Finanzierungsleistung; so ist z.B. zu überlegen, ob eine integrierte Gesamtleistung zur Verfügung gestellt werden kann. Darüber hinaus nimmt zweitens die Selbstbestimmung im Alltag der Budgetbezieher_innen zu. Zusätzlich gesteigert würde dies durch ein flexibel einsetzbares Persönliches Budget. Drittens stellen der Einsatz von Assistenzleistung und das Erlernen von Assistenzanleitung einen Motor von Selbstbestimmung in weiteren Lebensbereichen dar. Hierfür bedarf es einer Peer-Beratung. Viertens stellt das Persönliche Budget eine Möglichkeit dar, pflegende Angehörige zu unterstützen. Um den Mehraufwand der Verwaltung des Budgets zu bewerkstelligen, braucht es eine Information und Unterstützung durch ausgewiesene Steuerberater_innen.
Im Folgenden werden zentrale Entwicklungsfelder abgebildet; es handelt sich um eine Beschreibung der Aufgaben, die von Seiten der Landesverwaltung zu bewältigen sind, um das Persönliche Budget einer möglichst heterogenen Gruppe an Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen. Grundlage der Beschreibung bilden die Ergebnisse aus der standardisierten und offenen Befragung der Budgetbezieher_innen, der Diskussion in den Workshops am 14.12.2018 beim Land Tirol sowie Befunde aus den Expert_innengesprächen mit Politik, Verwaltung und Sachbearbeitung. Die Entwicklungsfelder liefern Hinweise zur Gestaltung und Umsetzung des Persönlichen Budgets im Land Tirol.
a) Erweiterung der Gruppe der Anspruchsberechtigten & Integration anderer Leistungen
Mit Ende des Pilotprojekts steht die Einführung des Persönlichen Budgets für viele Leistungsberechtigte in Tirol bevor. Auf der Grundlage der vorliegenden Ergebnisse ist zunächst festzuhalten, dass das Persönliche Budget eine Option unter anderen darstellen sollte, d.h. es sollten ausreichend Informationen dazu vorliegen, um sich bewusst für das Modell entscheiden zu können. Insbesondere Personen, die (noch) in Einrichtungen leben, sind dabei zu unterstützen, mit Hilfe von Persönlicher Assistenz allein zu wohnen. Aus den Erfahrungen der Budgetbezieher_innen geht hervor, dass die Entscheidungsfreiheit darüber, wer die Assistenzleitung ausführt, eine zentrale Rolle spielt. Menschen, die damit noch keine Erfahrungen gemacht haben, sollten an diese Möglichkeit herangeführt werden.
Zudem ist aufgrund der positiven Erfahrungen im Pilotprojekt eine Erweiterung der Zielgruppe zu empfehlen und auch Personen mit Lernschwierigkeiten, psychischen Behinderungen oder Angehörige stellvertretend in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufzunehmen. Dies steht im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Integration weiterer Dienstleistungen, aus denen sich das Gesamtbudget speist. Als Komplexleistung ist das Modell des Persönlichen Budgets nicht in erster Linie als zielgruppenorientiert zu betrachten, sondern stellt ein Finanzierungsmodell dar, das verschiedenen Gruppen von Anspruchsberechtigten die Möglichkeit gibt, individuelle und flexible Unterstützungsmaßnahmen selbst zu organisieren. Diese Möglichkeit sollte ausgeschöpft werden und macht es notwendig, den Leistungskatalog, der im Pilotprojekt zur Finanzierung des Persönlichen Budgets genutzt wurde, zu öffnen – um eine heterogene Gruppe von Budgetbezieher_innen zu erzielen.
Wissenschaftliche Ergebnisse zur Begleitforschung eines trägerübergreifenden Budgets in Deutschland zeigen, dass die Integration unterschiedlicher Leistungen in ein Persönliches Budget dazu führt, dass verschiedene Personengruppen erfolgreich zu Bezieher_innen werden. Eine der größten Gruppen von Budgetnehmer_innen in dieser trägerübergreifenden Studie bilden z.B. Menschen mit psychischen Erkrankungen (42%); gefolgt von Menschen mit Lernschwierigkeiten (31%) sowie Menschen mit Körperbehinderungen (19%). 7% der Budgetnehmer_innen sind Personen mit Sinnesbeeinträchtigungen und/oder chronischen Erkrankungen (vgl. Metzler et al. 2007).
Aus den Interviews mit der Initiativgruppe, aber auch mit den Vertreter_innen aus Politik und Verwaltung im Rahmen der Evaluation geht hervor, dass sowohl weitere Leistungen aus dem Leistungskatalog des Landes Tirol als auch Leistungen des Bundes, hier vor allem die Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, ins Persönliche Budget integriert werden sollten.
b) Individualisierung der Finanzierungsmodelle zur Deckung des Unterstützungsbedarfs
Ein Entwicklungsfeld stellt die Justierung eines Finanzierungsmodells dar, welches die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen noch besser berücksichtigt. Von Seiten der befragten Mitglieder der Initiativgruppe wird insbesondere Kritik gegenüber dem Selbstbehalt geäußert, der im Widerspruch zum Persönlichen Budget steht, da Budgetbezieher_innen, die zusätzlich Pflegegeld beziehen, einen Teil dessen für die Deckung des Selbstbehaltes aufwenden. Es wird angeregt, das Pflegegeld als Leistung in das Gesamtbudget zu integrieren. Zudem ist durch die gesetzliche Regelung über die Finanzierung der in dem Persönlichen Budget integrierten Leistungen eine Deckelung von bis zu 250 Stunden monatlich vorgesehen, welche für Einzelfälle bei Vorliegen von bestimmten definierten Kriterien überschritten werden kann (vgl. Land Tirol 2015, S. 64).[1] Insbesondere bei hohem Unterstützungsbedarf entspricht dies nicht dem Anspruch des Persönlichen Budgets, eine bedarfsgerechte Form von Unterstützung zu gewährleisten. Auch die Perspektive von Angehörigen, deren behinderte Familienmitglieder jeden Alters (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) nicht im Heim, sondern in der Familie leben, macht den Bedarf einer individualisierten Form der Finanzierung des Persönlichen Budgets deutlich. Das Persönliche Budget sollte auch für Menschen mit umfangreichem Unterstützungsbedarf Persönliche Assistenz in privater Unterbringung ermöglichen und Angehörige von Pflegetätigkeiten im familiären Kontext entlasten.
c) Peer-Beratung, Finanz- bzw. Steuerberatung & Ombudsstelle
Die Ergebnisse der Befragung der Budgetbezieher_innen und der Sachbearbeiter_innen weisen darauf hin, dass zum Erfolg einer breiten Umsetzung des Persönlichen Budgets in Tirol die Einrichtung einer unabhängigen Peer-Beratungsstelle notwendig ist. Durch eine Peer-Beratung können Anspruchsberechtigte sich über das Modell informieren und aus erster Hand erfahren, worin die Qualität des Persönlichen Budgets, aber auch sein Mehraufwand liegen. Personen, die in das Persönliche Budget wechseln, können über einen kompetenten Umgang mit dem Persönlichen Budget informiert werden und von Budgetbezieher_innen lernen, wie die Anleitung von Persönlichen Assistent_innen gestaltet werden kann und beim Ansuchen für das Persönliche Budget unterstützt werden. Eine solche Peer-Beratungsstelle, die sich vor allem den organisatorischen Herausforderungen widmet, sollte unabhängig agieren und nicht im Einflussbereich von Interessensverbänden angesiedelt werden. Hierfür können Personen, welche bereits Erfahrungen in der Nutzung des Persönlichen Budgets haben, mittels Werkverträgen als Peer-Berater_innen tätig sein. Die Peer-Beratung soll regional erfolgen und kann durch die Abteilung für Soziales und die Beratungsstellen an den Bezirksverwaltungsbehörden koordiniert werden.
Die Befunde der Evaluation weisen zudem auf einen deutlichen Mehraufwand für die Budgetnehmer_innen durch die Verwaltung der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel hin. Um die Anspruchsberechtigten bei diesem Mehraufwand zu beraten und zu unterstützen, sollte eine Finanz- und Steuerberatung geschaffen werden, die die Verwaltung der Gelder und der Steuer unterstützt. Eine ausgewiesene Finanz- und Steuerberatung kann der Tendenz entgegenwirken, dass vor allem (hoch-)gebildete Budgetbezieher_innen das Arbeitgeber_innenmodell nutzen, weil sich diese Personengruppe selbst informieren und auch ohne oder nur mit wenig Unterstützung das Budget bezieht bzw. beziehen kann). Jede_r Budgetbezieher_in soll hierbei ihren_seinen eigene_n Steuerberater_in zu Rat ziehen können, welche wiederum durch Steuerberater_innen, die mit dem Persönlichen Budget erfahren sind, geschult werden. Auch kann über die Implementierung einer Budgetassistenz gewährleistet werden, dass die Finanzkompetenz bei den Budgetnehmer_innen bleibt. Dies ist insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten, oder anderweitig erschwerten Bildungszugängen wichtig. Zudem ist über die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle nachzudenken, um mögliche Konfliktfälle zu schlichten und zu lösen.
Das maximale Stundenausmaß beträgt für PA 250 Stunden pro Monat. Eine Überschreitung des Stundenausmaßes ist nur im Einzelfall bei Vorliegen folgender Kriterien möglich:
-
Vorliegen Pflegestufe 5–7 plus eines der folgenden Kriterien
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Wegfall der Funktionalität der oberen Extremitäten oder
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Vorliegen eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes im Sinne des § 6 Einstufungsverordnung zum BundespflegeG oder
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zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen im Sinne des § 7 Einstufungsverordnung zum BundespflegeG.
[1] Das maximale Ausmaß für Mobile Begleitung sind 75 Stunden im Monat.
Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp Verlag.
Hirschberg, Marianne (2017) Fragilität des Körpers. Ein menschenwürdiges Leben durch Assistenz. In: Caroline Welsh, Christoph Ostgathe, Andreas Fewer und Heiner Bielefeldt (Hg.) Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Bielefeld: transcript, S. 223-236.
Land Tirol (2015) Transparenz in der Tiroler Behindertenhilfe. Qualitätsstandards und Leistungskatalog. Stand 7. Mai 2015. Online siehe: www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/gesellschaft-soziales/soziales/Sonstiges/Qualitaetsstandards-Leistungskatalog/Qualitaetsstandards_und_Leistungskatalog_Stand_7_Mai_2015.pdf
Metzler, Heidrun; Meyer, Thomas; Rauscher, Christine; Schäfers, Markus; Wansing, Gudrun (2007) „Begleitung und Erprobung trägerübergreifender Persönlicher Budgets.“ Universität Tübingen, Universität Dortmund, PH Ludwigsburg. Online siehe: http://www.budget.bmas.de/MarktplatzPB/SharedDocs/Publikationen/DE/begleitung_auswertung_erprobung_traegerübergreifenders_persoenliches_budget.pdf?__blob=publicationFile (15.01.2017)
Reichertz, Jo/Schröer, Norbert (1994): „Erheben, Auswerten, Darstellen. Konturen einer hermeneutischen Wissenssoziologie“. In: N. Schröer (Hg.), Interpretative Sozialforschung. Auf dem Weg zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie, Opladen: Leske & Budrich, S. 56–84.
Schlebrowski, Dorothée; Schäfers, Markus; Wansing, Gudrun (2009) „Abschlussbericht der Technischen Universität Dortmund zum Forschungsprojekt Persönliches Budget im Leistungsmix.“ Technische Universität Dortmund Online siehe: http://www.budget.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/StdS/www.budgetaktiv/2011_07_15_abschlussbericht_perle_3.pdf?__blob=publicationFile (15.01.2017)
Witzel, Andreas (1996): Auswertung problemzentrierter Interviews: Grundlagen und Erfahrungen. In: Strobl, Rainer; Böttger, Andreas (Hg.): Wahre Geschichten? Baden-Baden: Nomos, S. 49–76.
Prof. Dr. Lisa Pfahl
Disability Studies und Inklusive Bildung
Institut für Erziehungswissenschaft
Universität Innsbruck
Liebeneggstr. 8
A-6020 Innsbruck
Quelle
Lisa Pfahl, Sascha Plangger, Mar_ry Anegg: Direktfinanzierung von Persönlicher Assistenz als Motor für Selbstbestimmung und (mehr) Entscheidungsfreiheit im Alltag von Menschen mit Behinderungen. Bericht zur wissenschaftlichen Evaluation des Pilotprojekts „Persönliches Budget in Tirol“. Lisa Pfahl, Sascha Plangger & Mar_ry Anegg (Universität Innsbruck); Kontakt: lisa.pfahl@uibk.ac.at
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Stand: 17.07.2019