"Brauchen wir eine neue Pädagogik?"

Pädagogische Konzepte für integrative Einrichtungen

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 95 - 112
Copyright: © Ursula Heinze-Nießner 1996

Pädagogische Konzepte für integrative Einrichtungen

Als ich meine allerersten Überlegungen über die Inhalte und den Aufbau dieses Referates anstellte, kamen mir sofort die Anfänge unserer eigenen "Integrationsgeschichte" - nämlich die des Kindergartens Cantate Domino in Frankfurt am Main - in den Kopf. Dieser Kindergarten war damals - Ende der 70 der Jahre - bereits ein offener, stark am Situationsansatz orientierter Regelkindergarten. Als an die Kolleginnen von Seiten des Pfarrers der Gemeinde die Idee der Integration behinderter Kinder herangetragen wurde, begann eine zunächst sehr vorsichtige Auseinandersetzung im Team. Aus den Reihen sonderpädagogischer Fachkreise war damals für unsere Ohren Beunruhigendes zu hören: Behinderte Kinder, die brauchen aber ...

  • ganz starke und überdeutliche Strukturen,

  • ge- oder gar verschlossene Türen,

  • einen stark strukturierten, sich wiederholenden Tagesablauf,

  • vom Erwachsenen angeleitete Beschäftigungen.

Nein! sagten damals die Kolleginnen. Wenn das der Preis ist, daß alle anderen Kinder sozusagen wegen der Behinderten ihre Freiheiten aufgeben müßten, dann wollen wir keine integrative Erziehung. Erst als diese Sorge in Gesprächen mit den Mitarbeiterinnen der damals im Bundesgebiet sehr rar gesäten, bereits integrativ arbeitenden Einrichtungen teilweise abgebaut werden konnte, aber - vor allen Dingen - das Team sich traute, einen eigenen, eventuell sogar neuen Weg zu beschreiten, konnte eine Teamentscheidung für die Integration getroffen werden. Das war, wie gesagt Ende der siebziger Jahre - 1982 kam in unsere Einrichtung das erste behinderte Kind!

Und durch diese kleine Vorgeschichte sind wir auch schon mitten drin im Thema: Welche pädagogischen Konzepte taugen denn für die gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in Kindertageseinrichtungen? Müssen wir eine neue, sogenannte integrative Pädagogik entwickeln? Und ist dies dann eine Summe aus Sonderpädagogik und Regelpädagogik? Und die sogenannte Regelpädagogik hält ja auch verschiedene Konzepte bereit. Ich will hier den Situationsansatz, die psychoanalytische Pädagogik, die Montessoripädagogik nennen. Ist es möglich, diese in die neue Situation zu übertragen? Das ist eine sehr spannende Frage, und sie zu beantworten wird Aufgabe dieses Referates sein.

Doch bevor ich mich ins Thema stürze, möchte ich noch einige Vorbemerkungen machen: Meine eigene integrative Geschichte währt jetzt elf Jahre. Elf Jahre Erfahrungen mit Kindern, behinderten und nicht behinderten, mit deren Eltern, mit meinem eigenen Team, aber auch in der Beartung und Fortbildung von Erzieherinnen. So sind Erkenntnisse, die ich heute hier vortragen kann, unter anderem natürlich ein Ergebnis dieser Zeit. Ich kann sicher Hilfe geben, aber ich möchte niemanden davon entbinden, sich auf eigenen Weg zu machen.

"Integration ist kein statischer Zustand, der irgendwann einmal erreicht ist. Ständig finden soziale und persönliche Entwicklungen statt und greifen ineinander. Deshalb muß Integration als ein Prozeß verstanden werden." (vgl. Hess. Min. für Jugend ...1986, S. 17) So Gabriele Klein und ihre Kolleginnen, die damals gemeinsam mit Professor Reiser die wissenschaftliche Begleitung integrativer Kindergärten übernahmen.

Ich glaube die Frage, ob die Integration behinderter Kinder mehr Sinn macht als die Aussonderung in Sondereinrichtungen, stellt sich heute so nicht mehr. Es geht um das "wie". Und dieser Frage sollten wir genügend Sorgfalt widmen. Jede Situation vor Ort unterscheidet sich von der anderen. Erzieherinnen sind unterschiedlich, ebenso die Kinder, deren Eltern, die Träger, das Einzugsgebiet. Dennoch, oder besser gesagt gerade deshalb, kommen wir nicht umhin, pädagogische Konzepte zu entwickeln, die in der Lage sind, alle diese Besonderheiten zu integrieren. Wir Fachleute sind verpflichtet, uns mit pädagogischen Haltungen erkennbar zu machen. Die notwendige Individualisierung, bzw. der Anspruch, den eigenen Weg zu finden, ist nicht Gleichzusetzen mit der Unmöglichkeit, verbindliche Grundaussagen zu machen. Es ist sogar notwendig, solche zu treffen und ebenso ist es möglich, damit auch Wertungen vorzunehmen. Und dies möchte ich im folgenden versuchen.

Aufgebaut habe ich dieses Referat anhand von vier Thesen. Diese stellen gleichzeitig eine Gliederung dar.

These 1: Integration benötigt keine "Sonderkonzepte"

Sie gelingt durch konsequente Umsetzung des Situationsansatzes

Diese Aussage, auch das habe ich durch meine Eingangsgeschichte deutlich zu machen versucht, ist nicht nur pädagogische Theorie. Sie ist bereits - und das nicht nur im Kindergarten Cantate Domino - erprobte und bewährte Praxis. Weiterhin gehe ich davon aus, daß Sie alle im Laufe ihrer fachlichen Qualifizierung mit dem Situationsansatz in irgendeiner Form in Berührung gekommen sind. Dennoch möchte ich Ihnen an dieser Stelle die pädagogischen Grundaussagen desselben noch einmal ins Gedächtnis rufen. Entnommen habe ich diese dem Buch von Armin Krenz "Der Situationsorientierte Ansatz im Kindergarten". Herr Krenz bezieht sich in seiner Darstellung natürlich häufig auf die Grundlagen der siebziger Jahre.

Vielleicht gelingt es Ihnen, während Sie diese Sätze hören, sich eine integrative Gruppe oder einer Gruppe mit einer Einzelintegrationsmaßnahme Ihrer eigenen Berufspraxis dazu vorzustellen.

Grundsatz 1: "Der situationsorientierte Ansatz möchte helfen, daß 'Kinder verschiedener sozialer Herkunft und mit unterschiedlicher Lerngeschichte (ich ergänze Entwicklungsgeschichte) befähigt werden, in Situationen ihres gegenwärtigen und künftigen Lebens möglichst kompetent denken und handeln zu können´." (vgl. Krenz 1994, S.76)

Was bedeutet das? Steckt hier nicht schon das Wort unterschiedlich drin? Kinder sollen lernen, sich mit ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Aufgabe der Erzieherin ist es, sie in ihrer Selbständigkeit und in ihrer Eigenaktivität zu unterstützen, sodaß sie selber Erfahrungen machen.

Grundsatz 2: "Dabei ist 'also von Situationsanlässen auszugehen und das Lernen und Erfahren der Kinder nach Möglichkeit in den Situationen selbst zu organisieren'."(vgl. Krenz 1994, S.77)

Hierbei geht es selbstverständlich nur um solche Situationen, die von den Kindern als bedeutsam erlebt werden. Nicht wir Erwachsene wissen, was für die Kinder gut ist, sondern wir müssen lernen wahrzunehmen, was für die Kinder selbst von Bedeutung ist.

Grundsatz 3: "Der Situationsorientierte Ansatz ... 'versucht die einzelnen zu fördernden Bereiche und Funktionen wie Sprache und Motorik, Intelligenz und Kreativität durch den Rückbezug auf die Anforderungen der jeweiligen Situation im sozialen Zusammenhang zu fördern. Er mißt dem sozialen Lernen... eine besondere Bedeutung bei´."(vgl. Krenz 1994, S.77)

Ein Kind ist ein Kind - und nicht die Summe verschiedener Funktionsbereiche. Kinder lernen und durch Erleben in für sie bedeutsamen Situationen und nicht durch sinnentleertes, lebens- und realitätsfernes Üben einzelner Funktionen.

Grundsatz 4: "Der Situationsorientierte Ansatz ... 'wendet sich gegen Beschränkungen des Lernens auf den abgeschlossenen Raum Kindergarten und versucht Lernen an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen sozialen Bezügen zu organisieren´." (vgl. Krenz 1994, S.78)

Das bedeutet nichts weiter, als daß der Kindergarten kein soziales Inseldasein führen sollte.

Grundsatz 5: "Weil der situationsorientierte Ansatz.... wie kein anderer vergleichbarer Arbeitsansatz in der Elementarpädagogik die Interessen, Bedürfnisse und Schwierigkeiten jedes einzelnen Kindes zu berücksichtigen versucht, ist er ein Ansatz zur ´Individualisierung der Arbeit´." (vgl. Krenz 1994, S. 79)

Der so gelebte pädagogische Alltag bringt also den Abschied von normierten Entwicklungs- und Erziehungszielen mit sich. Er bedeutet gleichermaßen den Abschied von den Großgruppenveranstaltungen früherer Kindergartenpädagogik. Er bevorzugt differenzierte Angebote und die Möglichkeit zu sozialer Erfahrung gegenüber angeleiteten, für alle verbindlichen Beschäftigungen.

Grundsatz 6: "Der Situationsorientierte Ansatz ist keine pädagogische Technik oder didaktische Methode." (vgl. Krenz 1994, S.80)

Der Situationsansatz ist vielmehr eine pädagogische Grundhaltung, auf die ich mich als Erzieherin einlassen muß. Erzieherinnen trennen sich dadurch von ihrem herkömmlichen Rollenverständnis und entwickeln neue Kompetenzen.

Grundsatz 7: "Der situationsorientierte Ansatz wird nur dort Realität werden, wo gemeinsam mit Kindern Projekte über einen längeren Zeitraum erlebt werden. Er hat nichts zu tun mit dem "Aneinanderreihen von Situationen bei dem jegliches Handeln aus dem bloßen Reagieren der Mitarbeiterinnen besteht." (vgl. Krenz 1994, S. 81)

Grundsatz 8: "Der situationsorientierte Ansatz lehnt altersgleiche Gruppen, rollenspezifisches Förderverhalten von seiten der Erzieherinnen, die Benachteiligung von Mädchen Jungen gegenüber (oder umgekehrt), sowie die Ausgrenzung von Kindern mit besonderen Problemen oder Behinderungen ab." (vgl. Krenz 1994, S. 81)

Wir sehen, der situationsorientierte Ansatz hält einige Antworten bereit, die helfen, die Arbeit mit einer Kindergruppe, die sich durch Heterogenität auszeichnet, zu gestalten. Nun stellt sich uns die Frage, ändert sich denn dann überhaupt etwas aufgrund der Aufnahme eines behinderten Kindes? Sicher hat in allen Einrichtungen, in denen die angemessene pädagogische Betreuung eines sozial hoch belasteten, in seiner Entwicklung gefährdeten Kindes gelungen ist, Integration bereits statt gefunden. Dennoch möchte ich an dieser Stelle vor einer Art Gleichmacherei warnen in dem Sinne "wir sind doch alle ein bißchen behindert". Die Aufnahme eines im engeren Sinne behinderten Kindes wird neue Probleme aufwerfen. So werden Kinder und Erwachsene mit dem Phänomen Behinderung konfrontiert. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meine zweite These ins Spiel bringen:

These 2: Der Situationsansatz erfährt durch die Integration eines behinderten Kindes eine neue Bewertung

Meine Kollegin Elise Weiss-Zimmer und ich haben in einem Artikel über Integration - veröffentlicht in der "Welt des Kindes" - einen Abschnitt folgendermaßen überschrieben: "integrative Erziehung lehrt uns die Verschiedenheit des Lebens und fördert erzieherische Bescheidenheit" (vgl. Weiss u. Heinze-Nießner 1993, S. 17). Aus diesem Satz möchte ich eines der grundsätzlichsten Themen situationsorientierter integrativer Erziehung herauslesen. Absolute Voraussetzung für diese Form pädagogischer Arbeit ist ein verändertes Rollen- und Personenverständnis von Erzieherinnen. Dieser Neuorientierung möchte ich mich im folgenden etwas ausführlicher widmen. Es ist mir sehr wichtig.

Was Erzieherinnen nicht mehr sollen, haben wir schon gehört:

  • Bitte keine normierten Angebote mehr, möglichst noch unter zuhilfenahme einer Bastelschablone, zur gleichen Zeit das Gleiche tun.

  • Bitte keine Handlungs- und Produktorientierung mehr - auch nicht, weil wir denken, daß die Mütter mittags beim Abholen Wert auf ein Bastelprodukt legen.

  • Bitte keine normierten, sogenannten altersgemäßen pädagogischen Zielsetzungen mehr.

  • Bitte keine isolierten, den Lebenssituationen entfremdete Übungen, wie z.B. Schuhe binden für alle sechsjährigen an der Übungsmappe.

So weit, so gut. Aber was ist denn statt dessen? Erzieherinnen, die sich von der eben beschriebenen Arbeitsform getrennt haben, beschreiben oft anfangs das Gefühl, zwar turbulenten Kindergartentag hinter sich zu haben, aber dennoch "nichts getan" zu haben. An dieser Stelle möchte ich uns den ersten Teil unseres Satzes noch einmal ins Gedächtnis rufen : "Integration lehrt uns die Verschiedenheit des Lebens ..." und dazu zwei Beispiele aus der Praxis erzählen. Sie beschreiben zwei Kinder in der gleichen Situation, nämlich als dreijährige am Beginn ihrer Kindergartenzeit, beschäftigt mit der Ablösung von zu Hause.

Zunächst Mara: Der Beginn von Maras Kindergartentag ist immer gleich; sie bleibt im Flur stehen, behält ihren Mantel an und ihre Tasche um den Hals. Alle Versuche ihrer Mutter und der Erzieherinnen, sie zu "bewegen", läßt sie schweigend an sich abprallen. Mara spricht nicht mit dem Erzieherinnen, kommt nicht mit ins Zimmer - aber sie macht keinen unglücklichen Eindruck. Die Erzieherinnen lernen zu verstehen, daß Mara zunächst eine vorsichtige beobachtende Haltung einnimmt - sie lassen sie in Ruhe. Dies ist auch Modell für die anderen Kinder in der Gruppe - sie verhalten sich ähnlich. Doch eines Tages reißen die Kinder bei dem Nachlaufspiel im Flur Mara einfach mit. Der Bann ist gebrochen, Mara wirkt zunehmend integriert. Was Mara durch die Kinder annehmen konnte, wäre sicher von Seiten der Erzieherinnen als Überwältigung erfahren worden.

Ganz anders verhält sich Timmi: Morgens kommt er ganz aufgeregt in den Kindergarten. Man kann ihm ansehen, daß er unter großer Anspannung steht. Timmi hat zwei "Ablösefiguren": seine gleichartige Freundin Rebecca und eine Erzieherin, die am Anfang überhaupt nicht austauschbar war. An beiden schloß er sich ganz dicht - am besten Körperkontakt - an. Es ging sogar so weit, daß Timmi ganz fürchterliche Wutanfälle bekam, sobald sich seine Freundin oder seine Erzieherin einem anderen Kind zuwandten. Seiner Erzieherin folgte er überall hin. Timmi konnte diese Symbiose nur langsam auflösen, aber er schaffte es: es gab Zwänge von außen, mit denen er sich auseinandersetzen mußte - Rebecca spielte nämlich auch gerne mit einem anderen Mädchen. Timmi war darüber sehr gekränkt, aber mit Hilfe seiner Erzieherin lernte er, diese Distanz zu ertragen. Auch die symbiotische Beziehung zu seiner Erzieherin konnte er langsam lösen. Da sie nicht immer in der Gruppe war, lernte er, sich anderen Erwachsenen zuzuwenden. Nach einem halben Jahr schließlich kann auch Timmi im Kindergarten seiner Wege gehen.

Was haben die Erzieherinnen dabei getan, welche Rolle haben sie gespielt?

Zunächst einmal haben sie genau wahrgenommen, wie beide Kinder ihren Eintritt in den Kindergarten gestalten wollten. Dabei waren sie völlig frei von einer normierten Vorstellung, die da heißt: "3jährige Kinder brauchen bei der Ablösung von zu Hause immer ..." Die Position des Kindes zu sehen und seine eigene Aktivität in der Gestaltung von Situationen zu erkennen, ist der erste Schritt. Das Kind auf dem Weg, für den es sich entschieden hat, zu begleiten, ist der zweite. Der dritte Schritt kann darin bestehen, dem Kind Vorschläge zu machen oder auch Impulse zu setzten, wie es seine Schwierigkeiten besser bewältigen kann.

Erzieherinnen der situationsorientierten integrativen Pädagogik begleiten Prozesse. Was bedeutet das? Kommen wir zurück zu unserem Beispiel. Im Fall von Mara ist diese Begleitung nicht als Handlung erkennbar. Vielmehr wird hier von Bedeutung, nichts zu tun. Aber - ganz wichtig - Mara ist dennoch auf die innere Aufmerksamkeit ihrer Erzieherinnen angewiesen. Eine hohes Maß an innerer und natürlich auch äußerer Präsenz bildet für Mara den sicheren Rahmen, in dem sie ihren Weg finden kann. Diese Präsenz ist auch notwendige Grundlage für die nun langsam wachsende Beziehung von Mara zu den Erwachsenen. Dennoch wird Mara in ihrer ganzen Kindergartenzeit von den Erzieherinnen als distanziert erlebt. Im Fall von Timmi war es Aufgabe der Erzieherin, die hilfreiche Symbiose zunächst einzugehen. Im zweiten Schritt mußte der richtige Moment gefunden werden, die enge Beziehung ein wenig zu lösen und ihm bei der Bewältigung von Trennung und der dadurch für ihn entstehenden Kränkungen zur Seite zu stehen. Dabei wurde auch das Wissen um Timmis Situation zu Hause von Bedeutung, der das Leben mit einem zwei Jahre älteren schwermehrfachbehinderten Bruder und die Geburt seiner zwei Monate alten Schwester zu verkraften hat. Timmi bietet viel Energie auf, sich die notwendigen Hilfen zu holen und das wird von den Erzieherinnen auch so verstanden. Auch Timmi kann inzwischen seiner Wege gehen, braucht aber immer wieder die Nähe seiner Erzieherinnen - innerlich wie auch äußerlich.

Ich möchte noch einmal die wichtigsten Grundpfeiler des veränderten Erzieherinnenbildes benennen:

  • die Wahrnehmung, d.h. Augen und Ohren auf, um zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein und das richtige zu tun.

  • ein hohes Maß an innerer Präsenz, um den unterschiedlichen Kindern angemessene und haltende Beziehungsangebote machen zu können.

  • Prozeßorientierung und -begleitung, sowohl in Bezug auf das einzelne Kind, als auch im Hinblick auf Interaktions- und Gruppenprozesse.

Sicher erleben viele Erzieherinnen dies zunächst als überwältigend hohen Anspruch, weil sie glauben, sie sollten diese Kompetenzen aus sich selber schöpfen. Können sie allerdings die Entwicklung dieser Berufsidentität als einen Prozeß erleben, der zum Beispiel in Fortbildungen oder berufsbegleitenden Supervisionen stattfindet, so kann sie als Kompetenzerweiterung und schließlich auch als Entlastung empfunden werden. Doch dazu an anderer Stelle ein wenig mehr.

Nun habe ich aber immer noch nicht konkret davon gesprochen, was die Aufnahme eines behinderten Kindes an besonderen Anforderungen an die Erzieherinnen stellt. So kann Integration - wie bei G. Klein u.a. beschrieben - auch bei Erzieherinnen als innerpsychischer Prozeß gesehen werden. Und aus eigener Erfahrung kann ich diese Sichtweise bestätigen. Die Begegnung mit einem behinderten Menschen produziert die unterschiedlichsten Gefühle. Unter anderem verunsichert sie und macht auch Angst. Was ist das für eine Verunsicherung? "Angst machen nicht die behinderten Kinder selbst, sondern die eigenen Anteile, die im Zusammensein mit ihnen angesprochen werden und das psychische Ungleichgewicht, das daraus erwächst." (vgl. Kron 1988, S. 123ff) So Maria Kron. Milani Comparetti macht die Aufdeckung der üblichen innerpsychischen aber auch gesellschaftlichen Spaltung in kranke und gesunde Teile zur Grundlage seiner "Medizin der Gesundheit" (vergl. Beitrag von Milani in diesem Band)

Für Pädagoginnen in der Integration erwachsen daraus die widersprüchlichsten Gefühle und Empfindungen. Sie sollten diese sich eingestehen können und ihren Umgang mit diesen Gefühlen reflektieren. Wenn der erste Impuls einer Erzieherin, dem behinderten Kind distanziert oder gar mit Abwehr zu begegnen, sofort der inneren Zensur zum Opfer fällt, wird dieses Gefühl garantiert an anderer Stelle in verschobener Form wieder zum Vorschein kommen. Zitat Klein u.a.: "In den Beziehungen zu den Kindern können nämlich viele gegensätzliche Momente eine Rolle spielen, z.B. Verunsicherungen durch behinderte Kinder, evtl. sogar Versagensängste und die Idealvorstellung, sicher auftreten zu müssen; Bemutterungsimpulse und ablehnende Bestrebungen; Sympathien, Antipathien, evtl. aggressive Gefühle gegenüber den Kindern und der Anspruch, sich allen Kindern gleichermaßen liebevoll zuwenden zu können, keine negativen Gefühle ihnen gegenüber haben zu dürfen; ursprüngliche und spontane Bedürfnisse im Spiel mit den Kindern ausleben zu wollen und die Angst davor, solche Impulse zu zeigen. Solange solche Empfindungen uneingestanden gegeneinander stehen, werden sie selbst in starkem Maße die Energie der Erzieherin beanspruchen. Die Erzieherin kann solche Situationen jedoch auch als Möglichkeit begreifen, mehr über sich selbst zu lernen, auch ,verpönte' Anteile zuzulassen und andere, positiv bewertete Elemente schätzen zu lernen. Sie kann die neu ,entdeckten' eigenen Anteile bewußt akzeptieren und damit umgehen, oder sie kann sie, wenn sie als unbefriedigend erlebt werden, bearbeiten und verändern."(vgl. Hess. Min. für Jugend ...1986, S. 18)

Da es immer noch um uns Pädagoginnen geht, möchte ich noch ein Wort über die "erzieherische Bescheidenheit" verlieren: Behinderte Kinder lehren uns deutlicher als alle anderen Kinder die Grenzen pädagogischer Machbarkeit. Die Vorstellung pädagogischer Allmacht hat in der situationsorientierten integrativen Pädagogik nichts verloren. Helmut Reiser drückt es in einem Aufsatz über den Sinn kindlicher Entwicklungsstörungen so aus: "Sicher gibt es keine ... Maßnahmen, die die Lebensverhältnisse und Persönlichkeitsstrukturen von Kindern ... grundlegend ändern können. Wir sprechen immer von Maßnahmen und übersehen dabei, daß es hier in erster Linie nicht um das Therapieren, das Heilen, das Korrigieren geht, sonder um das Tragen. Nicht nur um das Ertragen - um dieses sicher auch, aber grundlegender um das Tragen." (vgl. Reiser 1993, S. 262)

Nachdem ich mich nun ausführlich der Rolle und dem professionellen Selbstverständnis der Erzieherinnen gewidmet habe, möchte ich mich den Kinder zuwenden - denn die Kinder sind ja die, um die es geht bei all unseren Überlegungen.

Was ich über die innerpsychischen Integrationsprozesse bei Erzieherinnen gesagt habe, gilt natürlich gleichermaßen für die Kinder. So können, zum Beispiel, die großen, starken sechsjährigen Jungs mit den eigenen schwachen und verletzlichen Anteilen ihrer Persönlichkeit besser umgehen lernen, wenn sie die Akzeptanz erleben, die ein behindertes Kind in seiner Hilfsbedürftigkeit erlebt. Von größer Wichtigkeit ist es aber auch, die Distanz zu akzeptieren, die ein behindertes Kind gegenüber einem behinderten Kind einzunehmen muß. Ein dreijähriger, der gerade gelernt hat, sauber zu essen, empfindet vielleicht die Nachbarschaft eines behinderten Kindes, das beim Essen "rumwutzt", während der Mahlzeit als äußerst bedrohlich. Haben sich Erzieherinnen ihre eigenen Wünsche nach Distanz verboten, wird es ihnen schwerfallen, diese bei den Kindern zu akzeptieren. Distanz gehört notwendigerweise genau wie Nähe zu allen menschlichen Beziehungen auch in der Integration.

Nach diesen Überlegungen möchte ich zum Kindergartenalltag zurückkommen: Viel Aufmerksamkeit wird im Rahmen des Situationsansatzes der Planung und Durchführung von Projekten gewidmet. Dem möchte ich etwas entgegenhalten (obwohl ich auch gerne Projekte mit Kindern mache): ich denke, Kinder lernen mehr im Miteinander des ganz normalen Alltags. Deshalb möchte ich der Bewertung des Freispiels in der situationsorientierten integrativen Pädagogik einige Überlegungen widmen:

Den Kindergarten als freien Spielraum zu sehen, räumt dem sogenannten Freispiel viel Raum, Zeit und Bedeutung ein. In diesem Raum haben die Kinder die Möglichkeit, ihren Kindergartentag selbst zu gestalten und ihren Platz in der Gruppe zu finden. Sie können lernen, sich selbständig zu orientieren, ihre eigenen Wünsche nach Spiel und Beziehung zu erkennen und ihnen nachzugehen. Das bedeutet nicht, daß alle machen können, was sie wollen. Denn notwendig sind dabei verbindliche Regeln für alle. Aber - Regeln bestehen nicht zum Selbstszweck, sondern haben den Sinn, Zusammenleben im Kindergarten für alle sicher und angenehm zu machen. Sie helfen den Kindern, Verantwortung zu übernehmen für Spielmaterial und andere Kinder und natürlich für sich selbst.

Ebenfalls bedeutet Freispiel nicht, daß Kinder allein gelassen sind. Über die haltende und prozeßbegleitende Rolle der Erwachsenen dabei habe ich mich bereits ausführlich geäußert. Sie sollten die Autonomie der Kinder achten - ganz besonders die von Kleingruppen. Günstig hierfür sind im Kindergarten offene Türen, aber auch Rückzugsbereiche, die von Erzieherinnen geachtet und nicht pausenlos eingesehen werden können.

Im Rahmen dieser Freispielphasen können Erzieherinnen natürlich den Kindern Angebote und Vorschläge machen.

Wie könnte ein solcher Vormittag aussehen? Vier fünfjährige ziehen sich in einen Nebenraum zurück, knallen die Tür zu und vertiefen sich in ihr Rollenspiel. Nach einer halben Stunden fordern sie die Hilfe eines Erwachsenen bei der Lösung eines äußerst heftigen und lautstarken Konfliktes. Als dies gemeinsam gelungen ist, schließt sich wieder die Tür. Zwei dreijährige trauen sich alleine in den Garten, brauchen aber jemanden, der Schuhe bindet. Schnell kommen sie wieder und wünschen sich doch die Begleitung der Praktikantin. Das körperbehinderte Kind möchte den Frühstückswagen in die Küche schieben - das geht nicht ohne Hilfe. Und wer liest den beiden sechsjährigen Mädchen endlich etwas vor - sie verkünden lautstark, daß sie ja schon sooo lange warten. Und schließlich braucht ein autistischer Junge die nahtlose Begleitung seines Zivildienstleistenden durch den ganzen Vormittag. So, oder ähnlich könnte es gewesen sein. Entstehende Ähnlichkeiten sind nicht zufällig.

These 3: Integrative, situationsorientierte Pädagogik muß sonderpädagogische und therapeutische Kompetenzen nutzen

Zur Einstimmung in dieses Thema möchte ich wieder eine kleine Geschichte aus dem allerersten Jahr unserer integrativen Arbeit berichten:

Eines der ersten behinderten Kinder, das wir aufnahmen, war ein 3jähriges blindes Mädchen - ich möchte sie Manuela nennen. Manuela war aufgrund einer extremen Frühgeburt im Brutkasten durch hohe Sauerstoffzufuhr erblindet. Als sie zu uns kam war sie ein ausgesprochen zartes Kind, sprach einzelne Worte und konnte nur relativ weiche Nahrung zu sich nehmen. Unsere damalige Beschäftigungstherapeutin nahm sich Manuela vor und kam zu folgendem Ergebnis: angesagt sei unbedingt eine mit Eis durchzuführende Desensibilisierungstherapie, die aber nur Sinn hätte, wenn wir und Manuelas Mutter diese konsequent vor jeder Mahlzeit durchführten. Durch diesen Vorschlag waren wir damals sehr verunsichert. Gefühlsmäßig hatten wir einen großen Widerstand gegen diese Maßnahme. Wir wußten aber nicht, ob sie vielleicht doch ihren Sinn hätte und Manuela helfen würde. Recht schnell jedoch gaben wir unseren widerstrebenden Gefühlen nach. Wir haben es nicht getan.

Heute sind wir uns sicher! Solche aggressiven, ausschließlich auf den isolierten Defekt gerichtete Therapieformen haben in der Integration nichts zu suchen! Was ist schließlich aus Manuela geworden? Sie hat sich mit Unterstützung und Begleitung im Rahmen unseres Kindergartenalltags bald altersgemäß entwickelt. Bereits als fünfjährige war sie ein richtiges Quatschmaul geworden, sodaß es uns schon fast auf die Nerven ging. Tja, und krümelige Salzstangen oder gar Eis mochte sie bis zum Schluß nicht - na und?

Nach diesem Beispiel aus meiner Praxis möchte ich Sie auf einen kleinen Exkurs entführen und mit Professor Milani-Comparetti bekannt machen. Professor Milani galt als einer der führenden Neuropädiater und Sozialmediziner. Er war Italiener. Leider starb er 1986 viel zu früh, ein Jahr, nachdem wir ihn in Frankfurt auch persönlich kennenlernten. Milani entwarf einen Arbeitsansatz, dessen Inhalt es ist, notwendige therapeutische Hilfen so zu gestalten, daß sie die Ausgrenzung aus dem alltäglichen Leben verhindern, bzw. die Integration in dieses fördern. Es ist ganz klar - haben wir uns entschieden integrativ zu arbeiten, werden wir uns mit der Vergrößerung unseres Teams, aber vor allen Dingen mit irgendeiner Form interdisziplinärer Zusammenarbeit auseinandersetzen müssen. Teamarbeit zwischen Therapeutinnen und Pädagoginnen kann im integrativen Sinne nicht so aussehen, daß alle unter dem Spezialblick ihrer Disziplin am Kind hantieren. Anna Gidoni - eine nahe Mitarbeiterin Professor Milanis - warnte uns Fachleute immer wieder: "Don´t touch the child!"

Integrative Teamarbeit besteht vielmehr darin, auf der Grundlage der Ganzheitlichkeit des Menschen die fachspezifischen Sichtweisen von ein und demselben Kind auf der Ebene der Phantasien zunächst zu besprechen. Hier sind die unterschiedlichen Kompetenzen z.B. der Krankengymnastin, der Logopädin, der Erzieherin und natürlich der Eltern von größtem Wert. Ausgegangen wird dabei immer von den Fähigkeiten des Kindes und nicht von seinen Defiziten. Milani selbst meint es so: "Der Therapeut ist nicht Handlanger einer fiktiven Normalität, sondern Mittler bestimmter fachlicher Kenntnisse zur Förderung der je eigenen Möglichkeiten des Kindes, u.a. zur Entwicklung von Autonomie." (vgl. Vorwort in diesem Band)

Kommt ihnen dies bereits bekannt vor? Sicherlich! Sie sehen die Gedanken Professor Milanis greifen wie ein Zahnrad in die Überlegungen des situationsorientierten Ansatzes.

Hören wir weiter Milani im Originalton: "Das Leben kann nicht in Therapie verwandelt werden, ohne seine Qualität als Leben zu verlieren." (vgl. Vorwort in diesem Band) Umgekehrt muß es eben sein: Therapie und sonderpädagogische Unterstützungen müssen helfen, das Leben, das dem jeweiligen Kind entspricht (und nicht das, das wir Erwachsene gemessen an irgendeiner Norm für das Kind für richtig halten!) zu meistern. Und genau dazu brauchen wir Therapeutinnen in unserem integrativen Alltag. ich möchte Ihnen dazu wieder ein Beispiel aus der Praxis erzählen:

Philipp - damals vier Jahre alt - ist ein sogenanntes schwermehrfachbehindertes Kind. Neben seiner Gehörlosigkeit und einer damals noch nicht einschätzbaren geistigen Behinderung ist er von einer halbseitigen Lähmung betroffen. Philipp konnte sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Boden seitwärts rollend fortbewegen. Ebenso konnte er mit starker Unterstützung unter beiden Armen aufrecht stehen, was ihm immer besonders gut gefiel. In Philipps Gruppe befand sich eine Kinderspüle, wo er, die Unterarme auf den Ablauf gestützt, stand. Ein anderes Mädchen kam sich die Hände waschen und vergaß - vielleicht aus Bequemlichkeit - den Wasserhahn zuzudrehen. Das Wasser lief und Philipp entwickelte plötzlich eine heftige Tendenz nach rechts in Richtung Wasserhahn. Sein Blick fixierte den Wasserstrahl und die Lust stand ihm im Gesicht geschrieben. Langsam rutschte er am Rand der Spüle entlang in die Schräglage. In diesem Moment war die Krankengymnastin zur Stelle und unterstützte ihn mit dem richtigen Griff am rechten Bein und Philipp machte den ersten Gehschritt seines Lebens - und zwar in Richtung des begehrten Wassers. Philipp quietschte vor Begeisterung. Hinterher stand das ganze Zimmer unter Wasser, aber das hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung.

Was ist passiert? Zunächst, diese Form der therapeutischen Unterstützung ist nur möglich, wenn die Therapeutin am Alltag des Kindes entweder direkt oder vermittelt durch die Erzieherin beteiligt ist. Um in der Sprache Milanis zu bleiben: Philipp hat seiner Therapeutin einen Vorschlag gemacht, der in einer für ihn selber sehr bedeutungsvollen Situation entstanden ist. Sein Vorschlag heißt: ich möchte jetzt mit Wasser spielen, hilf mir! Die Therapeutin hat dies verstanden und reagiert mit einem Gegenvorschlag: du könntest mit meiner Hilfe einen Schritt nach rechts versuchen. Erst dann hat sie ihr krankengymnastisches Handwerkszeug im Sinne des Kindes eingesetzt. Milani hat für dieses System von Vorschlag und Gegenvorschlag das Bild einer dreidimensionalen offenen Spirale entwickelt. Es ist das Bild eines offenen Dialoges.

Hätte diese Therapeutin nun mit demselben Kind in einer isolierten Therapiesituation "Schritte machen" geübt, wäre ihr Blick sicher hauptsächlich auf Philipps Beine gerichtet gewesen. Und vor allen Dingen wäre das Entwicklungs- oder Lernziel nicht Philipps, sondern das ihre gewesen.

Milani hält für diese Form von Therapie das zweidimensionale Bild eines geschlossenen Kreises bereit, der nur aus Reiz und Reaktion besteht. Der Nutzen für das Kind bleibt gering. Denn Milani lehrt uns auch den Respekt vor der Eigenaktivität des Kindes. Er bezeichnet das Kind als Protagonisten seiner eigenen Entwicklung. Ich zitiere: "Der Respekt vor der Eigenaktivität des Kindes in dem Bewußtsein, daß nur das Kind allein sich selbst aufbauen kann, bestimmt die Therapie" (und auch die integrative Pädagogik U. H.). Milani weist ausdrücklich darauf hin, daß ein Kind sich nur dann aufbaut, wenn es dies auch selbst will. Fehlt ein solcher Wille, so gibt es kein Mittel, die Entwicklung des Kindes voranzutreiben. Keine einzige Übung vermag dies zu leisten. Im Gegenteil: Milani betont, daß isoliertes Üben die sicherste Methode sei, den Wunsch des Kindes, sich selbst aufzubauen, zu zerstören. An die Stelle von solchen Übungen müssen die Erfahrungen des Kindes treten. Damit sind Vorschläge gemeint, die innerhalb seiner emotionalen Beziehungen angesiedelt sind und infolgedessen für das Kind bedeutsam werden. Milani Comparettis Slogan für die Behandlung wurde somit: "nicht Übung, sondern Erfahrung!" (vgl. Teil 1, Milani Comparetti in diesem Band) Auch hier fühlen wir uns sicher erinnert an pädagogische Grundlagen, die ich an anderer Stelle bereits dargelegt habe.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, es geht nicht darum, therapiefeindliche Haltungen einzunehmen. Vielmehr übernimmt Therapie eine äußerst wichtige Funktion. Aber niemals sollte der Alltag durch Therapie ersetzt werden. "Es handelt sich vielmehr darum, in der normalen Tätigkeit des Kindes die therapeutischen Qualitäten zu erspüren und sie so zu leiten, daß sie zu Gewohnheiten werden." (vgl. Teil 1, "Einige Konsequenzen für die Praxis" in diesem Band)

These 4: Integrative Pädagogik ist gleichzusetzen mit einer guten Pädagogik für alle Kinder

Was bedeutet der Begriff integrieren denn im wörtlichen Sinne? Schauen wir ins Wörterbuch, so steht da: "zum Ganzen bilden, wieder herstellen". Also setzt das Wort integrieren doch voraus, daß vorher eine Trennung oder Spaltung stattgefunden hat. Milani Comparetti bevorzugte deshalb bei seinen Vorträgen immer den Begriff Nichtaussonderung. Nun hat aber die Trennung vorher tatsächlich stattgefunden. So zum Beispiel notwendigerweise in unseren Köpfen. Denn schauen wir uns zum Beispiel die Finanzierungsmodalitäten von Einrichtungen an, so sind wir ja wirklich gezwungen, Kinder in behinderte und nichtbehinderte, ausländische und deutsche, entwicklungsgefährdete und normale zu sortieren. Und Erzieherinnen soll dann der Spagat gelingen, aus diesen Teilen wieder ein Ganzes zu bilden? - soweit der Anspruch.

Nun wissen auch alle Praktikerinnen, welche Kinder ihre Kraft am meisten beanspruchen. Es sind häufig weniger die behinderten, als vielmehr die entwicklungsgefährdeten Kinder, die aufgrund sozialer oder psychischer Probleme zu aggressivstem Verhalten neigen und oft große Schwierigkeiten haben, sich in den Ablauf eines Kindergartentages einzufügen. Ein solches Kind erfordert größten pädagogischen Aufwand und treibt uns manchmal bis an den Rand unserer inneren Kraft. Dabei ist es gleichgültig, ob es als behindertes oder nichtbehindertes, ausländisches oder deutsches Kind gilt.

Warnen möchte ich an dieser Stelle vor einer entstehenden Konkurrenz zwischen diesen Kindern und den im engeren Sinne nach dem Bundessozialhilfegesetz behinderten Kindern. Glauben wir, bedingt durch die Aufnahme eines behinderten Kindes müßte der "Rest" der Gruppe pflegeleicht sein, so droht uns eine neue Spaltung. Natürlich ist es legitim, bei den ersten Gehversuchen in Richtung integrative Pädagogik, sich das Leben nicht allzuschwer zu machen. Als Grundhaltung sollte dieses Prinzip jedoch nicht beibehalten werden.

Kinder bringen heute eine ungeheuere Vielfalt der verschiedensten Lebenszusammenhänge mit - unterschiedliche Familienstrukturen, materielle, soziale und kulturelle Hintergründe. Und ist integrative Erziehung nicht eine Pädagogik der Vielfalt? Genauer gesagt eine Pädagogik der Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Rahmen der Gemeinsamkeit einer Gruppe in der Kindertageseinrichtung. Erzieherinnen, die sich für Integration entschieden haben, gerieten in einen gewaltigen Widerspruch, würden sie das scheinbar entlastende Mittel der Ausgrenzung eines auffälligen Kindes benutzen.

Deshalb möchte ich den Begriff der integrativen Erziehung ausweiten. Das integrative Recht auf Ungleichheit steht allen Kindern zu. Und genau dies halte ich für die bedeutendste pädagogische und gesellschaftliche Aufgabe unserer Zeit.

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, daß die Kinder selbst den Begriff Behinderung sowieso ganz anders auffassen, als wir Erwachsene. So sagt zum Beispiel eben jenes blinde Mädchen Manuela, von dem wir schon gehört haben, zu Sonja, die auf den Rollstuhl angewiesen war: ich bin nicht behindert, denn ich habe ja Beine zum Laufen. Und ein kleiner Junge, der in einen integrativen Kindergarten ging, wurde aufgefordert, die behinderten Kinder seiner Gruppe aufzuzählen. Unter anderem nannte er einen türkischen Jungen, weil der, anders als er selbst, kein Schweinefleisch aß. So steht das Wort "behindert" bei den Kindern eher für so etwas wie "anders sein als ich", und vor allen Dingen ist es zunächst frei von den Wertungen, die wir Erwachsene damit verbinden.

Behinderte Kinder sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen - aber nicht alle Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind behinderte Kinder. Erzieherinnen, die Kompetenzen im Sinne integrativer Pädagogik entwickelt haben, können allen Kindern angemessene Erziehungs- und Beziehungsangebote machen. Sie haben einen Blick für die individuellen Besonderheiten aller Kinder - und ihr Ziel ist deren Integration in die Gemeinsamkeit, nicht in eine wie auch immer definierte Gleichheit.

Nun möchte ich an dieser Stelle nicht verschweigen, daß der Druck auf die Erzieherinnen aufgrund der veränderten Umstände von Kindheit wächst. Auch das weiß ich aus eigener Anschauung. So soll und kann Integration nicht verstanden werden als zusätzlicher Anspruch an Erzieherinnen, die sowieso schon aufgrund der zunehmenden Schwierigkeiten von Kindern am Rande ihrer Kraft sind. Vielmehr habe ich zu zeigen versucht, daß integrative situationsorientierte Pädagogik die angemessene, richtige und auch entlastende Antwort auf diese Schwierigkeiten ist.

Aber natürlich benötigen wir dazu auch Rahmenbedingungen, die gut genug sind, diese Form der Arbeit zu realisieren - und dies ist ein Wort nicht nur an Erzieherinnen, sondern an Trägervertreter und an diejenigen, die Gelder verwalten und politische Entscheidungen treffen.

Ich möchte im folgenden - und damit komme ich dann schon bald zum Schluß - einige dieser Rahmenbedingungen nennen, die mir als wichtige Voraussetzung erscheinen, pädagogische Qualität in den Einrichtungen zu schaffen und zu erhalten:

  • Erzieherinnen sollten die Möglichkeit einer berufsbegleitenden Supervision haben, um persönliche und pädagogische Prozesse besprechen zu können. Hierin sehe ich sowohl einen Anspruch an Erzieherinnen, die bereit sein müssen, sich auf diese Form der Reflektion auch persönlich einzulassen, als auch eine Bringschuld der Träger, die Finanzierung und Zeitrahmen absichern müssen.

  • Erzieherinnen sollten die Möglichkeit zu Fortbildungen bekommen und diese auch nutzen. Dabei ist besonders auf Fortbildungsinhalte bezüglich integrativer und situationsorientierter Pädagogik zu achten.

  • Erzieherinnen sollten genügend kinderfreie Besprechungszeiten haben. Meiner Erfahrung nach sind das zwei Stunden pro Woche im Gesamtteam, plus drei einzelne Stunden für die in den Gruppen zusammenarbeitenden Kleinteams. Schwerpunkte in diesen Besprechungen sollten weniger akribische Planungen sein, als vielmehr die Auseinandersetzung mit Entwicklungs- und Gruppenprozessen, Absprachen bezüglich der Zusammenarbeit, interdisziplinäre Gespräche, Elterngespräche.

Sicher gibt es noch weitere Stichworte hinsichtlich der Rahmenbedingungen, wie z.B. Gruppengröße, räumliche und personelle Ausstattung usw. Da mein Thema heute aber die inhaltlichen und pädagogischen Konzepte für integrative Einrichtungen war, möchte ich es bei der bloßen Erwähnung belassen.

Schließen möchte ich mein Referat mit einem Zitat von Prof. Manfred Gerspach, das ich einem bis jetzt unveröffentlichten Referat entnommen habe, und das mich, als ich es hörte, besonders beeindruckt hat:

"Wenn wir solcherart (so wie heute und gestern auf dieser Tagung besprochen U. H.) die gleichwertigen Lebenschancen und doch so unterschiedlichen Lebensweisen aller Kinder ins Auge fassen, dann kann die logische Folge nur heißen: Entwicklung eines ebenso gemeinsamen wie individuellen Erziehungsbegriffes ohne jede Ausnahme. Mit anderen Worten: ungeteilte integrative Erziehung." (vgl. Gerspach 1995, S. 12)

Literatur

Gerspach M (1995) Warum integrieren wir? Vortrag gehalten auf dem Trägertag "Warum integrieren wir?" in Darmstadt am 5.9.1995 (erscheint demnächst in TPS)

Heinze-Nießner U, Skubski A (1993) Integration, so kann's gehn. Interne Schriften des Kindergarten Cantate Domino, Ernst-Kahn-Str. 18, 60439 Frankfurt am Main

Heinze-Nießner U, Weiss-Zimmer E (1993) Chancen für Kinder, Eltern und Erzieherinnen. Welt des Kindes, Heft 2, S. 17-19

Klein G, Kreie, Kron M, Reiser H (1992) Miteinander leben, behinderte und nichtbehinderte Kinder im Kindergarten. Hrsg. Hess. Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit

Krenz A (1991) Der situationsorientierte Ansatz im Kindergarten. Freiburg

Kron M (1988) Integrative Prozesse im Kindergarten - Theorie und Erfahrungen aus der Praxis. In: Eberwein H (Hrsg.) Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam. Weinheim, Basel (S. 123-127)

Reiser H (1993) Entwicklung und Störung - vom Sinn kindlichen Verhaltens. Behindertenpädagogik 32(3):254-263

Anmerkung

Ursula Heinze Nießner und ihre Kollegin Christel Noll (Integrative Kindertagesstätte der Kirchengemeinde Cantate Domino in Frankfurt am Main) leiteten im Rahmen der hier dokumentierten Fachtagung eine Arbeitsgruppe zum Thema "11 Jahre integrativer Kindergarten - 9 Jahre Milani-Arbeitskreis". Ihr Einführungsreferat zu dieser Arbeitsgruppe basierte im Wesentlichen auf Überlegungen, die Ursula Heinzer-Nießner im September 1995 in Erfurt während einer Tagung zum Thema "Gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder - eine gemeinsame Aufgabe" vorgestellt hatte. Dieser Vortrag wurde in der Zeitschrift "Gemeinsam Leben", Heft 1 (1996) veröffentlicht. Wir danken der Autorin für die Erlaubnis, diesen Beitrag auch in unserer Dokumentation zu veröffentlichen. Redaktion und Verlag danken wir für die Abdruckgenehmigung.

Quelle:

Ursula Heinze-Nießner: "Brauchen wir eine neue Pädagogik?" - Pädagogische Konzepte für integrative Einrichtungen

Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti.

Herausgegeben von Edda Janssen und Hans von Lüpke im Auftrag des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband e. V., Frankfurt; Dez 1996.

(1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 95 - 112

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2005

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