Zur Pragmatik der Vision einer Schule für alle - Teil 4b

Integrative Unterrichtsgestaltung im Spiegel von Theorie und Alltagspraxis am Beispiel der ersten Hauptschulintegrationsklassen in Vorarlberg

Autor:in - Claudia Niedermair
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Dissertation
Releaseinfo: Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, eingereicht bei a.o. Univ.-Prof. Dr. Volker Schönwiese am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, Innsbruck, März 2002. Zurück zur Indexseite
Copyright: © Claudia Niedermair 2002

Zur Pragmatik der Vision einer Schule für alle - Teil 4b

4.2 PROJEKT-UNTERRICHT / PROJEKTORIENTIERTES LERNEN

4.2.1 Begriffsbestimmung

Projektlernen und Projektunterricht gehören zu den gegenwärtig höchst eingeschätzten methodischen Konzepten, »(...) oft hat man den Eindruck, es handle sich hier gleichsam um eine didaktische Wunderwaffe, mit der man alle Übel in Schule und Unterricht wirksam bekämpfen könne« (Peterssen 97, 126) und auch Gudjons (1994) spricht von einer inflationären Verwendung des Begriffs. Für die integrative Arbeit werden Projektunterricht und Freiarbeit als der Schlüssel angesehen, lehrerzentrierte Formen vorschnell abgetan. Häufig wird von Projektlernen gesprochen, dies jedoch weder definiert noch gegen andere Unterrichtskonzeptionen hin abgegrenzt. LehrerInnen neigen meiner Meinung nach dazu, nahezu alles als Projektunterricht zu bezeichnen, was in irgendeiner Form die herkömmlichen schulischen Strukturen kurzfristig überwindet und Abwechslung schafft. Nach Köbberling/Schley (2000), die die Integrationsklassen in Hamburg wissenschaftlich begleitet haben, nimmt auf Basis eigener Einschätzung der Lehrerinnen denn auch der Projektunterricht im Rahmen der Strategien der Unterrichtsgestaltung in Integrationsklassen in Hamburg den ersten Rang ein. (Vgl.Köbberling/Schley 2000, 178) »In vielen Teams wurde aber bedauert, dass nur wenig Projektarbeit realisiert wird. Für die wichtigste Form integrativen Unterrichts gibt es nur begrenzt Umsetzungsmöglichkeiten.« (Köbberling/Schley 2000, 179) Projektunterricht als wichtigste Umsetzungsform integrativen Unterrichts, aber nur begrenzt zu verwirklichen, so könnte man den Befund zusammenfassen.

Was versteht man unter Projektunterricht? Wie unterscheidet er sich von anderen Unterrichtskonzeptionen? Die eingangs beschriebene Unschärfe bestätigt sich auch beim Durchsehen der Literatur nach der Frage: »Was eigentlich ist Projektunterricht?« In der Regel werden Merkmale dieses Unterrichts beschrieben, die sich in wesentlichen Bereichen decken, jedoch nicht völlig übereinstimmen und unterschiedlich breit in den Ansprüchen sind. (Vgl. Frey 1996, 14)

Die Projektmethode im engeren bildungsrelevanten Sinn geht auf den amerikanischen Professor für Philosophie, Dewey (1859 - 1952) zurück, der in Chicago eine Grundschule übernommen hat, die als »Laboratory School« berühmt wurde. Dewey entwickelte dort die Idee des Projektlernens, die von seinem Schüler William Kilpatrick weiterentwickelt wurde. Die Grundannahme war, dass Erkennen und Bewusstsein aus der planvollen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt, im Prozess der Tätigkeit erfolgt und die Schule diese Form der planvollen Auseinandersetzung ermöglichen müsse. Mit »Der Weg zum bildenden Tun« als Untertitel zu seinem Buch »Die Projektmethode« fasst Frey diese Gedanken zusammen. (Frey 1996) In Europa entstand rund um den französischen Reformpädagogen Freinet in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine ähnliche Konzeption von Unterricht, wobei das Hauptinteresse Freinets dem freien Ausdruck und nicht so sehr dem Projekt an sich galt. In Deutschland wurde die Idee der Projektmethode besonders von Hartmut von Hentig rezipiert und in der Laborschule Bielefeld - der Name verweist auf die Verbindung zu Dewey - in die Praxis umgesetzt (vgl. Hänsel 1992, 15f). Die Laborschule Bielefeld arbeitet noch immer auf der Grundlage der Projektmethode, viele Projektvorschläge wurden dort modellhaft entwickelt und die Erfahrungen an andere Schulen weitergegeben. Für alle genannten Pädagogen - Dewey, Kilpatrick, Freinet und von Hentig - ist die Projektmethode eng mit dem Begriff der Demokratie verbunden, verstanden als Möglichkeit der Partizipation und des Aushandelns von Regeln des Zusammenlebens.

Die folgende Merkmalsbeschreibung des Projektunterrichts von Gudjons (vgl. Bastian/Gudjons 1994, 16ff) entspricht im Wesentlichen auch den Kriterien, die von einer konstruktivistischen Lerntheorie eingefordert werden:

  • Situationsbezug

Gegenstand des Projektlernens sind Fragen, die sich aus dem »Leben«, der Lebensumwelt der Schüler ergeben. Ihr Bezug ist also nicht die Systematik einer Fachwissenschaft oder eines Schulfaches - durch den Situationsbezug werden Fachgrenzen überschritten.

  • Orientierung an den Interessen der Beteiligten

Man kann nicht davon ausgehen, dass Interessen ganz einfach da sind. Interessen zeigen sich häufig erst bei der Diskussion einer Projektinitiative (Frey 1994) - durch Zustimmung, Modifikation oder Ablehnung. Diese Diskussion ist als wichtiger Aushandlungsprozess zu verstehen.

  • Selbstorganisation und Selbstverantwortung

Organisation und Planung werden den SchülerInnen übertragen, SchülerInnen damit in ihrer Eigen-Kompetenz als Lernende respektiert - dabei werden sie jedoch nicht allein gelassen. Für die Realisierung von Selbstplanung und Eigenverantwortung sind regelmäßige Reflexions- und Koordinationspunkte einzuplanen, die Frey als Fixpunkte bezeichnet.

  • Gesellschaftliche Praxisrelevanz

Ziel des Projektunterrichts ist nicht das Verstehen und Speichern von Information (Symbolvorräte), sondern das Schaffen von Wirklichkeit, sei dies, dass Jugendliche in lokale Ereignisse eingreifen oder vielleicht auch nur eine Projektpräsentation machen.

  • Zielgerichtete Projektplanung

Projektunterricht ist immer zielgerichtetes Tun. Allerdings werden die Lernziele nicht durch Lehrer ausschließlich fremdbestimmt, sondern gemeinsam ausgehandelt und plangeleitet verfolgt.

  • Produktorientierung

Traditioneller Lehrgangsunterricht begnügt sich damit, Lernerfolg in den Köpfen der Jugendlichen als Lernzuwachs festzustellen. Projektunterricht begnügt sich nicht damit, vielmehr sollen die Ergebnisse der Lernanstrengung für andere sichtbar und damit auch relevant werden.

  • Einbeziehung vieler Sinne

«Denken und Handeln, Schule und Leben, Konsumption und Produktion, Verstand und Sinnlichkeit, Arbeiten und Genießen, Theorie und Praxis rücken wieder zusammen und werden im Idealfall ganzheitlich erlebt.« (Gudjons 1994, 23)

  • Soziales Lernen

Projektunterricht ist in jeder Phase auf Aushandeln angelegt: bei der Planung, Umsetzung und Präsentation; Diskussionen und Konflikte über z. B. Vorgangsweisen, Formen der Präsentation usw. Daneben findet im Projektunterricht sehr viel Kleingruppenarbeit mit vielfältigen Lernmöglichkeiten statt.

  • Interdisziplinarität

Projektunterricht überschreitet Fächergrenzen, die Problemstellung ist in ihrem komplexen Lebenszusammenhang zu begreifen, ist jedoch auch in der Struktur des Fachunterrichts prinzipiell vorstellbar.

Diese ‹einkreisende Umschreibung‹, (Gudjons 1994, 15) wie er es nennt, ist nicht vollständig. Projektunterricht ist seiner Meinung nach nicht an die Einhaltung aller Merkmale gebunden, umgekehrt kann ein Unterricht, in welchem wesentliche Merkmale fehlen, auch nicht Projektunterricht genannt werden. Auch er weist auf die Gefahren durch den inflationären, sehr unpräzisen Gebrauch des Begriffes Projektunterricht hin, der die ursprüngliche Idee verwässert und teilweise nichts anderes ist als die »Überwindung des grauen Unterrichtsalltags durch irgend etwas, machmal recht diffus ›Alternatives‹ zum herkömmlichen Unterricht.« (Gudjons 1994, 14) Dass dadurch die Skepsis vieler Lehrer und auch Eltern wächst - bis hin zum Vorwurf, dass da doch nichts Rechtes gelernt werde, ist nicht ganz unverständlich.

Ein zweiter Antworttypus bietet anstelle von Merkmalen Komponenten, wobei diese auch als Stufen oder Schritte bei der Bearbeitung des Projektgegenstandes betrachtet werden können. (Vgl. Frey 1996) Der ‹idealisierte Projektablauf‹ unterscheidet sieben Stufen:

  • Projektinitiative

  • Auseinandersetzung mit der Projektinitiative (Projektskizze)

  • Gemeinsame Entwicklung des Betätigungsgebietes (Projektplan)

  • Projektdurchführung

  • Beendigung des Projekts

  • Fixpunkte (organisatorische Schaltstellen des Projekts, Pausen zum Innehalten und Koordinieren)

  • Metainteraktion (Reflexion während und nach der Projektarbeit, die dazu beiträgt, das Handeln zu einer pädagogischen Aktivität zu machen.)

Frey unterscheidet neben Projekten, in denen alle genannten Komponenten vorhanden sind, ‹projektartiges Lernen‹, wenn nur wenige Komponenten entfaltet sind. Um den Projektbegriff nicht zu einem unbrauchbaren Klosterfrau-Melissengeist-Begriff verkommen zu lassen, sollten nach Peterssen (1997, 126) jedoch folgende Projekt-Phasen berücksichtigt werden:

- Initiativphase

- Planungsphase

- Produktionsphase

- Präsentationsphase

Soweit die Bestimmung von Projektunterricht. Egal, aus welcher Perspektive diese Unterrichtskonzeption beschrieben wird, sei es mittels Merkmalen, Stufen oder Lernaktivitäten - es wird mehr als deutlich, dass diese Form den konstruktivistischen Lerntheorien - und auf diesen baut ja auch die Inklusion in der Schule auf - am nächsten kommt.

4.2.2 Grenzen des Projektunterrichts

Obwohl Projektunterricht mit konstruktivistischen Lerntheorien offensichtlich weitgehend übereinstimmt, halte ich eine Überbewertung und eine Generalisierung von Projektunterricht als die Unterrichtsmethode im Sinne des eingangs zitierten ›Wundermittels‹ in Regelschulen für verfehlt, ja sogar für kontraproduktiv und realitätsfern - und finde mich in dieser Haltung auch von Gudjons oder Frey, den Methodikern und Vertretern der Projektmethode im deutschsprachigen Raum, bestätigt. (Vgl. Gudjons 1994, 25f; Frey 1996, 206ff)

Die Projektmethode - und das ist aus den Merkmalsbeschreibungen sehr deutlich hervorgegangen - kann geradezu als Gegenpol zum lehrgangs- und lehrerzentrierten Unterricht bezeichnet werden. Lehrgänge sind schließlich genau dadurch gekennzeichnet, dass sie sich eben nicht am Leben orientieren, sondern Komplexität reduzieren, sich der Systematik der Wissenschaften bedienen, um Orientierungs- und Ordnungsstrukturen in die Vielfalt des zu Lernenden zu bringen. Sachverhalte werden vereinfacht, zerlegt in Teileinheiten, didaktisch vom Einfachen zum Anspruchsvollen organisiert. Lehrgänge beinhalten klare Vorentscheidungen über anzustrebende Ziele. All diese Grundannahmen sind nicht grundsätzlich abzulehnen, hätten sie nicht zu einer völligen Entfremdung zwischen Schule und Leben geführt und Schüler auf Lernobjekte, deren Aufgabe im Wesentlichen die Rezeption von vorgegebener Information statt der Aneignung von Werkzeugen (tools) ist, reduziert. Allein eine schlechte Praxis darf nicht dazu führen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Frey und Gudjons stehen keineswegs für Ausschließlichkeit der Projektmethode, sondern für ein Verbundsystem von Projekt und Lehrgang, wobei die Antwort darauf, »wie dieses ›Verbundsystem‹ theoretisch und praktisch allerdings aussehen könnte, zu den großen, noch ungelösten Problemen der Didaktik gehört«. (Gudjons 1994, 26) Integrationsklassen versuchen diesen Verbund über das Einbeziehen von Wochenplanarbeit und lehrerzentrierten Einführungsstunden zu erreichen.

Ziel der Projektmethode ist es, »die Distanz zwischen Schule und Leben, Wissenschaft und Beruf, Theorie und Praxis zu verringern. Die Studenten und Schüler sollen die Möglichkeit haben, die Prinzipien und Kenntnisse, die sie im Lehrgang erworben haben, im Projekt eigenständig und schöpferisch auf den konkreten Fall anzuwenden.« (Frey 1996, 33) Allerdings entstehen ja Schulen und andere pädagogische Einrichtungen als Institutionen nur in derart entwickelten Gesellschaften, in denen das Lernen in der natürlichen Lebensumwelt, im beiläufigen Miteinander von Kindern und Erwachsenen nicht mehr ausreicht, um die in der Kultur gesammelten Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu übermitteln, wobei Übermitteln nicht vorschnell und unbedingt im Sinne von Wissenstransfer misszuverstehen ist. Historisch gesehen ist also die Trennung von Leben und Schule konstitutives Merkmal der Schule, der Lehrgangsunterricht ein Kernstück der Schule, um Werkzeuge zu erhalten, sich in der Komplexität zurechtzufinden und diese auch verändern zu können. Jeder Praktiker weiß, dass es Inhalte gibt, die sich für Projektunterricht nicht eignen, dass das unmittelbare Eigeninteresse der Schüler nicht allein maßgeblich sein kann für die Auswahl dessen, was an Lehrzielen angestrebt und auch vorgegeben wird. Und auch radikale Konstruktivisten meinen, zwar eher beiläufig, dass es Kulturgüter gäbe, die sich anzueignen außer Frage stehe. Es ist meiner Meinung nach naiv, die Grenzen nicht zu sehen und in einer Pendelbewegung die Projektmethode als die Unterrichtsform zu stilisieren und den Lehrgangs- oder Kursunterricht abzuqualifizieren, nur weil die eigenen Erfahrungen und die Praxis schlechte sind. Gudjons: »Darüber hinaus muss grundsätzlich bezweifelt werden, ob alles, was in der Schule gelernt werden soll, in Projekten vermittelbar ist. Dies wird besonders in Fächern wie Mathematik oder Fremdsprachen deutlich, die u. a. durch systematischen Aufbau und die Notwendigkeit von Übung und Fertigkeitstraining gekennzeichnet sind. Es wäre illusionär, hier alles auf dem Erfahrungshorizont der Schüler und ihren unmittelbaren Interessen aufbauen zu wollen. Darüber hinaus gibt es auch Probleme oder Fragen, die sich in Projektform gar nicht oder nur sehr gekünstelt erarbeiten lassen. Schon von daher ist der Projektunterricht auf die Ergänzung durch den Lehrgang angewiesen.« (Gudjons 1994, 26)

Insgesamt scheint projektähnlicher Unterricht ungeeignet zu sein, »wenn durch Stoffvorgabe, Lernschrittanordnung (bzw. Algorithmen) oder vorab genau festgelegten Fertigkeitserwerb stark vorstrukturierte (und folglich intellektuell einfache) Lernprozesse ablaufen sollen, (...)«. (Frey 1996, 208) Er beschreibt die Grenzen wie folgt: »Die Projektmethode ist kein optimales Lernverfahren für den raschen Erwerb vorgegebener Objekte (z. B. Formeln, Daten, Gerätemanipulation, Namen). Sie ist kein ökonomisches Verfahren, Feinziele zu erfüllen. (...) Bei eng gefassten Lernaufgaben mit unverrückbaren Lerngegenständen in reduzierter Zeit ist die Projektmethode fehl am Platz.« (Frey, 210)

Um nicht missverstanden zu werden: Projektunterricht als subjektive Aneignung von Wirklichkeit ist eines der Kernelemente (integrativer) Unterrichtsgestaltung und muss verstärkt Eingang in die Schulen finden. Lehren im Sinne von lehrgangsorientiertem Lernen muss reduziert werden, ist aber dennoch als Ergänzung und nicht als Gegensatz zum Projektunterricht zu sehen. Ich meine auch, dass eine gute Balance zwischen diesen Formen gewährleistet, dass Eltern den Weg der Schulveränderung mitgehen können, denn es ist eine Grundregel systemischer Sicht, dass eine Veränderung für die anderen Systeme, also auch das Elternsystem ›viabel‹ sein muss. An jenem Standort, an welchem der Lehrgangsunterricht zugunsten von Wochenplanarbeit und Projektarbeit am stärksten reduziert wurde und dementsprechend eine alternative Leistungsbeurteilung mittels Pensenbuch erfolgte, entstand in der Öffentlichkeit laut Evaluationsergebnis der Universität Innsbruck teilweise die Meinung, »(...) dass die Schule eine Integrationshauptschule sei, in der besonders schwache Schüler gut betreut werden könnten, da es keine äußere Differenzierung in Leistungsgruppen (= keinen Leistungsdruck) gibt«. (Engstler/Schratz 2001, 81) Ob die Abwanderung leistungsstarker Kinder ins Gymnasium auch damit im Zusammenhang steht, kann aus der Evaluation nicht abgeleitet werden. Das Ergebnis führte jedoch zum Beschluss, dass begabte Kinder zwei Stunden mehr Kursunterricht auf Kosten von offenen Lernformen erhalten.

4.2.3 Projektorientiertes Arbeiten in den Vorarlberger Pionierklassen

Auch in den Vorarlberger Integrationsklassen wird der Terminus Projektunterricht sehr unterschiedlich verwendet und unscharf definiert. Was bei einem Team als Projekt bezeichnet wird, nennen andere die Arbeit an einer thematischen Einheit.

Eine ausgesprochen hilfreiche Übersicht zur Bestimmung und Bewertung von Unterrichtsvorhaben im Zusammenhang mit Projektunterricht hat Wilfried Prammer anlässlich einer Enquete[1] zur Sekundarstufe I vorgelegt, die ich etwas verkürzt wiedergebe. Einzelne Elemente des Projektunterrichts können demnach unterschiedlich ideal realisiert werden.

Prammer, nach: Matthias Ludwig 1996

Element

ideal

Erste Reduktion

Zweite Reduktion

 

Projektunterricht

Projektorientierter Unterricht

Fachbezogenes Unterrichtsprojekt

Thema

S bestimmen Thema und Inhalte

S und L legen gemeinsam ein Thema fest

S wählen aus Themenvorschlägen aus

Ziele

S formulieren Ziele

S und L formulieren Ziele gemeinsam

S wählen aus Zielkatalog

Material

S beschaffen Material

S und L beschaffen Material

S wählen aus vorgegebenem Material

Methode

freie Wahl des Lernweges

Auswahl aus einem Angebot

Lernwegempfehlung

Fächer

ohne Bindung an Fächer

teilweise Realisierung im Fachunterricht, Zuordnung zu Fächern

ein Fach

Beurteilung

Selbstkritik des Verlaufs und des Ergebnisses

S und L bewerten gemeinsam

Bewertung durch L wird diskutiert

"Produkt"

Ausstellung, Modell, Protokoll, Verhaltensänderung, neues Interesse

   

Versucht man die Praxis mit oben beschriebenen Kriterien zu betrachten, muss zunächst zwischen Projekt und projektorientierten Arbeitsweisen unterschieden werden. Das wohl wichtigste Kriterium der Unterscheidung liegt meiner Meinung nach im Bereich der Einbeziehung der SchülerInnen in Zielsetzung und Planung (Initiativphase, Planungsphase): Es ist ein unabdingbares Merkmal von Projektunterricht, SchülerInnen möglichst intensiv an der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung und Planung eines Projektes zu beteiligen. In den Pionierklassen wird Projektunterricht häufig von Lehrpersonen initiiert, Themen vorgeschlagen, das Grobziel definiert, der Weg abgesteckt, grob strukturiert. Die ›Projekt‹-Ideen (Projektinitiativen) entstanden bereits im Rahmen der Jahresplanung, nämlich dann, wenn Unterricht koordiniert und zwischen den verschiedensten Lehrplaninhalten der einzelnen Fächer Querverbindungen sichtbar wurden. Für mich, mit dem Hintergrund als VS-Klassenlehrerin, die für die Koordination aller Fächer verantwortlich ist, war es zum einen mehr als überraschend zu sehen, wie wenig die Lehrplaninhalte zwischen den einzelnen Fächern abgestimmt sind, wie sehr sie einer immanenten Fachlogik folgen, zum anderen, wie wenig die HS-LehrerInnen selbst über Lehrplan wie auch Inhalte der anderen Fächer Bescheid wissen. Innerhalb dieser Struktur müssen dann die Schüler die Schritte planen, eigene Ziele definieren, es wird interdisziplinär (fächerübergreifend) gearbeitet, viele Sinne einbezogen, verschiedenste Methoden und Techniken verwendet, sehr viele Inhalte auf der handelnden und erlebnishaften Ebene angeboten, in unterschiedlichen Sozialformen kooperatives Lernen eingeübt, das Ergebnis in unterschiedlichster Form präsentiert.

Für diese Art des projektorientierten Unterrichts eignen sich besonders die Realienfächer als Ausgangspunkt, die dann mit Themen anderer Fächer verbunden werden. Häufig erfolgt eine Kombination mit Deutsch und evtl. Englisch, mit anderen Realien und vielfach auch mit musisch-kreativen Fächern. Mathematik lässt sich nach Meinung der Teams weniger gut integrieren.

Team C beschreibt seine Arbeitsweise wie folgt:

»Beim gemeinsamen Einstieg im Sitzkreis werden die zum Thema mitgebrachten Gegenstände (Bücher, Bilder, Geschichten usw.) von den Kindern vorgestellt, dabei kann jedes Kind sein derzeitiges Wissen zeigen. Dann werden, wieder gemeinsam von LehrerInnen und SchülerInnen die wissenswerten Elemente des Themas herausgearbeitet. Auch die Sozialform, ob in Gruppen oder mit einem Partner oder alleine gearbeitet wird, sollte gemeinsam besprochen werden. Bei der darauffolgenden Arbeitszeit (Produktivphase Anm. d. V.) tritt der Lehrer in die Rolle des Assistenten. Die Kinder beschaffen sich durch Lexika, Fachliteratur, praktische Experimente, Gespräche mit Fachleuten oder aus Fachzeitschriften neues Wissen und bringen dies nach einer Konzeptphase in eine ansprechende Form (Konzeptphase, Produktionsphase). Die Präsentation der Ergebnisse, meistens wieder im Sitzkreis, ist dann der Höhepunkt für die ganze Klasse. Das neue Wissen wird auf verschiedenste, sehr einfallsreiche Arten präsentiert, die Mitschüler fragen nach und im Anschluss daran erfolgt auch eine verbale Beurteilung der ›Leistung‹ durch die MitschülerInnen. Manchmal erstellen die Arbeitsgruppen auch Lernzielkontrollen für ihre MitschülerInnen. Die Ergebnisse der Projektarbeiten werden meist in ›Büchern‹ festgehalten, die in der Klasse aufliegen und jederzeit auch ergänzt werden können.« (Modellbericht C, 1997)

Im strengen und engen Sinn der Definition wurde in den Vorarlberger Klassen kaum Projektunterricht angeboten, jedoch sehr viel projektorientiertes und vor allem fächerübergreifendes bzw. -verbindendes Lernen, besonders in jenen Teams, die auch die fächerübergreifende Wochenplanarbeit praktizierten. Innerhalb dieser Struktur war es organisatorisch ein Leichtes, den SchülerInnen die Freiarbeitszeit für die Bearbeitung ihres selbstgewählten Themas zur Verfügung zu stellen, statt Wochenplanaufgaben für die einzelnen Fächer zu formulieren.

Im folgenden Abschnitt habe ich einige Beispiele von good practise aufgearbeitet, die modellhaft zeigen, wie sehr sich diese Arbeitsweise für den gemeinsamen Unterricht eignet. Bei der Darstellung verwende ich die von Frey vorgeschlagene Struktur.

4.2.3.1 Große Welt - kleine Welt: Beispiel aus einer 1. Klasse

Hauptschule Lustenau-Kirchdorf

Im Geographie-Unterricht der 1. Hauptschule ist das Kennenlernen verschiedener Lebensräume ein wichtiges Lehrziel, im Lehrplan von ASO-SchülerInnen finden sich Anknüpfungspunkte auf der 8. Schulstufe.

Dies nahm das Team zum Anlass, eine Latein-Amerika-Ausstellung für Kinder zu besuchen, die museumspädagogisch professionell aufgebaut war und den Kindern viele Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeiten bot. Außerdem lud das Team eine Frau ein, die den Kindern Dias über ein Dorf in Nicaragua zeigte, in welchem sie einige Monate gelebt hatte und welches von der Gemeinde und dem örtlichen Welt-Laden unterstützt wurde (= bridging - Anknüpfen an außerschulische Angebote). Dabei erfuhren die Kinder, wie wenig selbstverständlich der Schulbesuch in diesem Dorf ist und dass man mit einem Beitrag von 400 ATS einem Kind den Schulbesuch für ein Jahr ermöglichen kann. Aus diesen beiden Erlebnissen entstand spontan und ohne Zutun der Lehrer die Idee, Geld zu sammeln, um Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen.

Projektinitiative

Die Projektinitiative ging in diesem Fall von den Schülern aus - Eigeninitiative, Selbstbestimmung

Ziel des Projektes: Geld bereitstellen für den Schulbesuch mehrerer Kinder

Auseinandersetzung mit der Projektinitiative - Projektskizze

Nachdem im Sitzkreis mehrere Ideen gesammelt, auf Vor- und Nachteile überprüft wurden, einigte sich die Klasse darauf, anlässlich des Elternsprechtags einen Verkaufsbasar zu organisieren. Für den Verkaufsbasar am Elternsprechtag entschieden sich die SchülerInnen, weil sie dort in kurzer Zeit viele Erwachsene ansprechen konnten.

Projektplanung

Zuerst wurden Ideen gesammelt und auf einem Plakat festgehalten, wobei überlegt wurde, wofür Eltern Geld ausgeben würden, was sie tatsächlich brauchen könnten. Zur Realisierung wurden folgende Vorschläge ausgewählt:

  • Geschenkspapier herstellen mit verschiedenen Techniken (z. B. marmorieren, Kartoffeldruck,)

  • Obstkisten herstellen

  • Kuchen und Kekse verkaufen

  • Aufbau eines Gruselkabinetts gegen einen kleinen Eintritt, vor allem für kleine Geschwister, die am Elternsprechtag oft mitkommen und auf die Eltern warten müssen.

Weiters sollten die Eltern am Elternsprechtag über das Vorhaben informiert werden.

Produkte für den Basar

Außerdem wollten die Kinder mit Kindern aus dem Dorf Kontakt aufnehmen und sich selber vorstellen. Ein Junge der Klasse, der zweisprachig deutsch/spanisch aufgewachsen ist, übersetzte die Briefe ins Spanische.

In einem weiteren Schritt wurde der organisatorische Rahmen festgelegt, die Zeiten definiert, die den SchülerInnen zur Umsetzung zur Verfügung standen. Für die Herstellung der Kisten wurden die technischen Werkstunden genützt; die Kinder lernten die Techniken zur Gestaltung von Geschenkpapier in Bildnerischer Erziehung, die Ausführung erfolgte sowohl im Zeichenunterricht, war aber auch als Angebot im Wochenplan (Kreativecke mit Materialien zur Herstellung von Geschenkspapier). Für die anderen Themen (Gruselkabinett ausdenken und herstellen; Information der Eltern am Eltersprechtag sowie die Kontaktaufnahme mit den Kindern in Nicaragua) schlossen sich die Kinder zu Kleingruppen zusammen und erhielten eine bestimmte Anzahl von Stunden aus dem Freiarbeitspool zur Verfügung gestellt. Die Kekse wurden zum größten Teil von den Kindern mit erhöhtem SPF und der Sonderpädagogin und noch jeweils ein/zwei Kindern im Rahmen ihrer individuellen Fördereinheiten gebacken (Figur des Aufeinander-Bezogen-Seins). Im Rahmen einer Koordinationsrunde (Fixpunkt) wurde der Ablauf des Elternsprechtags geplant und organisiert.

Projektdurchführung

Zur Projektdurchführung gehörte die Vorbereitung, die Herstellung der diversen Verkaufsartikel, die Zusammenstellung des Informationsmaterials für Eltern und die Kontaktaufnahme mit den Schülern in Nicaragua.

Beendigung des Projekts - Präsentation

Der Elternsprechtag kann als Ort der Präsentation verstanden werden. Anlässlich des Elternsprechtags erwirtschafte die Klasse 6000 ATS, die sie dem Projekt zukommen ließen. Es entstand ein Briefkontakt mit den SchülerInnenn der Schule in Nicaragua über die gesamte Hauptschulzeit, Manuel fungierte als Übersetzer der ein- und ausgehenden Post. Jährlich bis in die 4. Klasse HS wiederholte die Klasse den Verkaufsbasar und versorgte die Klasse in Nicaragua dadurch mit notwendigen Schulmaterialien. Besonders beeindruckend für die Schüler war die Freude der Kinder in Nicaragua über Wasserfarben, die diese zuvor nicht gekannt hatten. Auf den relativ großen Bericht in einer lokalen Zeitung waren die Kinder ausgesprochen stolz.

Zeitungsartikel: Basteln für nicaraguanische Kinder

Resümee

Dieses Vorhaben war von den LehrerInnen nicht geplant, das Thema 3. Welt auch nicht in der Jahresplanung vorgesehen. Durch das Aufnehmen außerschulischer Angebote entstand bei den Kindern selbst die Idee, aus einem direkten Situationsbezug. Innerhalb der vier Jahre Briefpartnerschaft, die daraus entstand, erfuhren alle Kinder sicherlich mehr, vor allem aber Authentischeres über das Leben von Gleichaltrigen in einem anderen Land. Im Hinblick auf integrative Arbeitsformen eignen sich solche Langfrist-Vorhaben ganz besonders für sog. behinderungsspezifische Förderung. Während für HS-Kinder die Zeit zum Basteln und Werken begrenzt ist (Projekt-Zeit), können die Kinder mit erhöhtem SPF innerhalb der Wochenplanstruktur langfristig auf den Basar hin arbeiten (Kreativ-/Werk-Ecke), manchmal alleine, manchmal mit HS-Kindern gemeinsam. In die Produktherstellung können eine Reihe von Zielen verwoben werden: Funktionelle Förderung der Handmotorik; Einüben des Umgangs mit Geräten des täglichen Lebens, Arbeitshaltungen - wie etwa: über einen längeren Zeitraum ohne Unterstützung an einer Arbeit bleiben, mehrere Arbeitsschritte selbständig bewältigen und vieles mehr. Das Basteln, das ab einem bestimmten Alter ›kindisch‹ wird, auch für Jugendliche mit Behinderung, wird so zu etwas Anderem: zu einer sinn- und bedeutungsvollen Tätigkeit, die von den HS-Schülern ehrlich wertgeschätzt wird.

4.2.3.2 Lebensräume: Das Indianer-Projekt

Hauptschule Bürs, 1. Klasse HS

In Bürs wird die Form des projektorientierten Lernens regelmäßig praktiziert. Dabei wird der Schwerpunkt nicht so sehr auf große, spektakuläre Vorhaben gelegt. Neben einem großen Projekt, in welches die ganze Schule eingebunden war, sind es eher kleine »Projekte«, die aber mehrere relevante Aspekte der Projektmethode beinhalten. Dies sind vor allem die selbständige Auswahl der Lerninhalte und die Bestimmung des Lernziels innerhalb eines vorgegebenen Rahmens, die eigenständige Planung und Organisation des Lernprozesses, die Absprache und Kooperation mit anderen Kindern und die Präsentation der Ergebnisse in unterschiedlicher Form. Ein Beispiel für die projektorientierte Bearbeitung des Themas Lebensräume ist das folgende.

Projektinitiative

Anlässlich des Tages der offenen Tür entschied sich der Lehrkörper der HS Bürs, das Thema »Lebensräume« in Projektform zu bearbeiten. Ziel war es, Eltern sowie SchülerInnen das Schaffen der HS Bürs vorzustellen. Eine Präsentation der Ergebnisse in Form einer Ausstellung sollte die vielfältigen Lernprozesse und Lernformen sichtbar machen. Die Rahmen-Themen wurden in Übereinstimmung mit dem Lehrplan schulstufenbezogen präzisiert:

1. Klassen: Lebensräume:

1.a: Indianer

1.b: Eskimos - Leben im Eis

2. Klassen: Die nähere Umgebung von Bürs

3. Klassen: Leben im/am Wasser

4. Klassen: Leben in der Stadt (im Zusammenhang mit der Wien-Fahrt)

Auseinandersetzung mit der Projektinitiative - Projektskizze

Den Kindern wurde das Gesamtprojekt - nämlich die Präsentation der Schule anlässlich eines Tages der offenen Tür vorgestellt, das Thema damit in den Gesamtzusammenhang der Schule gestellt. Hier erfolgte ein erstes Brainstorming sowohl über Inhalte als auch Präsentationsformen, erste Fragen wurden geklärt.

Projektplanung/Projektverlauf

  • Kinder sammeln alles, was zum Thema Indianer passt; stellen die Materialien im Sitzkreis vor; während der Projektdauer bleiben alle diese Dinge in der Mitte des Sitzkreises (Bücher, Bilder, Videos, Federschmuck, Mokassins,Waffen ...)

  • Wochenplanaufgabe - Deutsch: Lesen des Buches »Fliegender Stern«; Bearbeitung des Textes mit einer Kartei mit dem Ziel der Erstinformation über das Leben der Indianer, Herausarbeiten von Themen und Interessensschwerpunkten.

  • Jedes Kind überlegt sich drei Themenbereiche, die es interessieren und die es gerne bearbeiten würde. Gruppenbildung und verbindliche Entscheidung über das Thema (Gruppen zu drei Kindern, sieben Themenbereiche, wie Zeichensprache, Tiere,Wohnformen, Ernährung, Rituale); diese Gruppen sind von jetzt an für diesen Themenbereich verantwortlich.

  • Genaue Zeitplanung (wie viele und welche Stunden stehen den Kindern zur Verfügung).

  • Ständige Reflexion (Fixpunkte) über den Verlauf im Sitzkreis: Vorstellen der Teilergebnisse bzw. Ergebnisse; Besprechen der Schwierigkeiten, Anregungen; Unterstützung der LehrerInnen sowohl bei inhaltlichen Fragen als auch bei konflikthaften Situationen innerhalb einer Gruppe.

Durchführung

Die Durchführung erfolgte zur Gänze in der Freiarbeitsphase mit regelmäßigen Besprechungen im Sitzkreis mit der gesamten Gruppe.

Präsentation

Die Ergebnisse verdeutlichen, wieviel Kreativität, Ideenreichtum, Wissen und Leistungswille in den Kindern steckt und wie wichtig es ist, dieses Potential zur Entfaltung zu bringen. Anlässlich des Tages der offenen Tür wurden die Ergebnisse präsentiert.

  • Eine Gruppe gestaltete eine überraschend umfangreiche Indianerausstellung (Schmuck, Perlenwebereien, Musikinstrumente, Nahrungsmittel, Bekleidung - teilweise aus einem 3.Welt-Laden organisiert);

  • Zwei Mädchen schrieben ein Theaterstück, das mit einer Gruppe erarbeitet, geprobt und aufgeführt wurde;

  • Eine Gruppe von Buben bastelte Modelle verschiedener Wohnformen (Hütten aus Zahnstochern, eine Behausung aus Lehmziegeln, Zelte);

  • Bändchen wurden geknüpft und verkauft;

  • Mehrere Gruppen gestalteten Plakate zu ihrem Thema, wie etwa: Zeichensprache der Indianer, Tiere der Indianer;

  • In Bildnerischer Erziehung gestalteten alle gemeinsam Donnervögel und Totempfähle als Dekoration für die Ausstellung;

  • Projektbegleitend erstellten die Kinder eine Klassenzeitung. Diese gibt einen guten Einblick in die Vielfalt und Buntheit der Beiträge. Auch hier wird wiederum sichtbar, wie Kinder am gemeinsamen Gegenstand auf völlig unterschiedlichen Niveaus in einem gemeinsamen Verband arbeiten können.

Präsentation am Tag der offenen Tür

4.2.3.3 Projektorientiertes (themenzentriertes fächerverbindendes) Lernen »Am Anfang war das Feuer« (Steinzeit)

(vgl. Niedermair 1998)[2] 6. Schulstufe (HS Lustenau Kirchdorf)

Entstehungszusammenhang und Ziele

Auf der 6. Schulstufe werden die SchülerInnen erstmals mit dem Fach Geschichte und Sozialkunde konfrontiert. Sowohl der Lehrplan der Hauptschule als auch der Lehrplan der ASO fordern, den SchülerInnen Einblick in die Vergangenheit zu vermitteln. Sie sollen Einsichten in das Typische bedeutender Zeitabschnitte gewinnen.

Das Thema »Wie Menschen in der Steinzeit lebten« war für projektorientiertes Lernen besonders geeignet. Von den LehrerInnen wurden folgende Grobziele formuliert:

  • Den SchülerInnen soll ein erlebnishafter Einstieg in das neue Unterrichtsfach ermöglicht werden, um so Interesse und Freude am Gegenstand zu vermitteln;

  • sie sollen Einblick in das Typische dieses Zeitabschnitts erhalten;

  • sie sollen sich selbständig Wissen über diesen Zeitabschnitt erarbeiten;

  • sie sollen fächerübergreifend zum Thema »Steinzeit« lernen und handeln;

  • sie sollen Ideen für die Gestaltung der Projekttage sammeln und sich an der Planung beteiligen;

  • in Projekttagen am Ende der Unterrichtseinheit sollen die SchülerInnen ›mit allen Sinnen‹ erfahren und erleben, was sie vorher gelernt haben;

  • sie sollen das Erfahrene dokumentieren und präsentieren.

Vorstellung des Projekts durch die LehrerInnen - Projektinitiative und -planung

Der gemeinsame Einstieg in das Thema erfolgte mit Ausschnitten aus dem Film »Am Anfang war das Feuer«. Die Idee, herauszufinden wie Menschen in der Steinzeit gelebt haben und dies dann in ›Steinzeittagen‹ auch selber erleben zu können, stieß - wie könnte es wohl anders sein - auf helle Begeisterung.

In einem ersten Schritt wurde der grobe Ablauf und Rahmen festgelegt: Die Schüler sollten möglichst vielseitiges Wissen zusammentragen, wie die Menschen in der Steinzeit gelebt haben. Am Ende des Lernens aus Büchern, Filmen, dem Internet sollten die Projekttage stehen, die SchülerInnen und LehrerInnen gemeinsam gestalten sollten. Selbsterarbeitetes der Schüler sowie Fachunterrichtsstunden sollten zu einem Ganzen verbunden werden.

Planung/Ablauf im Überblick

Sammeln und Bereitstellen von Materialien durch Schüler und Lehrer (Bücher, Bilder, Videos, Gegenstände), die während der Projektdauer gut sichtbar für alle zugänglich waren. Die Präsentation der Arbeitsmaterialien ist gleichzeitig Arbeitsgrundlage und eine wichtige Orientierungshilfe für die Kinder mit schweren Behinderungen als ständiger visueller Hinweis zum Arbeitsthema.

  • Festlegung der groben Zeitstruktur (Terminisierung der Projekttage, Arbeit mit dead-lines, z. B. für Materialbeschaffung).

  • Nach einer ersten Orientierung wurden wichtige Themen/Themenbereiche festgelegt, um arbeitsteilig möglichst vielfältiges Wissen über die Steinzeit zu erlangen; je nach Interesse entschieden sich die Kinder für einzelne Bereiche und legten ihre Arbeitsschwerpunkte und auch die Sozialform, in welcher sie arbeiten wollten (Einzel-, Partner- oder Kleingruppenarbeit), fest. Ziel: Referat/Präsentation des Erarbeiteten vor der Klasse.

  • Festlegung einer genauen Zeitstruktur: Stunden ausweisen, die für die Bearbeitung in der Freiarbeit zur Verfügung stehen, Liste mit Präsentationsterminen.

  • Während der Arbeit: Sammlung von Vorschlägen für die Projekttage, die sich aus der Beschäftigung mit dem je eigenen Thema ergab. Festhalten der Vorschläge auf einem Plakat (z. B. Schilfwand bauen, Feuer mit Feuersteinen machen, Schmuck herstellen, Feuertanz inszenieren).

  • Präsentation der Schülerergebnisse, in der Regel Referate mit Bildern

  • Planung der Projekttage

  • Durchführung der Projekttage

  • Reflexion der Projekttage - Präsentation in Form einer Ausstellung

Durchführung

Die Durchführung erfolgte sowohl in der Freiarbeitsphase wie auch in lehrerzentrierten Unterrichtseinheiten. Im Sitzkreis wurde der Projektverlauf regelmäßig koordiniert.

Beteiligte Fächer - Lehrplanbezüge

Geschichte

Leben in der Steinzeit

(siehe Entstehungszusammenhang und Ziele)

Deutsch

Sinnerfassendes Lesen, exzerpieren, Referate halten, präsentieren

Die SchülerInnen lasen in der Freiarbeit erlebnishafte Texte oder Sachtexte über das Leben in der Steinzeit, z. B. Jagd auf den Riesenhirsch; das Zerlegen eines Rentiers; Fischfang in der Steinzeit usw. und erarbeiteten Referate zu von ihnen selbst ausgewählten Themen: Jagen, Essen und Kochen, Waffen und Werkzeuge, Bauen und Wohnen, Tiere, Pflanzen u.ä. Die Kinder mit SPF erhielten bei der Ausarbeitung ihrer Referate besondere Unterstützung der LehrerInnen. Auch die Kinder mit Behinderung stellten Themen vor - Tiere der Steinzeit.

Werken:

Vom Rohstoff zum Gebrauchsgegenstand:

Die Klasse fuhr mit dem Fahrrad nach Wolfurt ins Eulentobel, um Ton zu graben. Durch Trocknen, Einweichen, Mixen und Sieben wurde der Ton aufbereitet, um schließlich Gebrauchsgegenstände damit formen zu können. Die Kinder stellten Daumenschalen und Gefäße in Aufbaukeramik her, die bei den Projekttagen im Grubenbrand gebrannt wurden.

Für die SchülerInnen mit erhöhtem SPF bot dieser Bereich vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten: Elementare Erfahrungen mit dem Werkstoff Lehm/Ton, Funktionstraining für die Handmotorik (kneten, sieben, formen), Erleben einer Handlungskette

Bildnerische

Erziehung

Höhlenmalerei - was könnte das heute bedeuten?

Ausgehend von der Kunst der Höhlenmalerei (Dias) suchten die SchülerInnen moderne Darstellungen. Wo gibt es heute Zeichnungen und Bilder (Zeichen) für andere Menschen? Dias von Keith Haring inspirierten sie. Was würde man wohl heute zeichnen? Als Thema wurden Autos ausgewählt. Als 'moderne Höhlenmalerei' malte die Klasse einen Autofriedhof mit lebensgroßen Autos auf einen Brückenpfeiler.

Musikerzie-hung

Kennenlernen von Instrumenten - Rhythmik

Die Kinder lernten Instrumente aus der Urzeit kennen und machten vor allem rhythmische Übungen damit, was ein vielfältiges Einbeziehen der Kinder mit erhöhtem SPF ermöglichte. Die Kinder lernten einen Feuertanz und gleichzeitig die Bedeutung von Ritualen kennen.

Biologie

Hier boten sich eine ganze Reihe von Inhalten an, die zum Thema passten: Entstehung des Ackerbaus, die Domestikation der Haustiere, Tiere der Urzeit, Pflanzen der Urzeit -die von SchülerInnen bearbeitet und vorgestellt wurden.

Projekttage

Drei Projekttage in einem Pfadfinderheim bildeten den Abschluss und Höhepunkt der Unterrichtseinheit. Hier sollten die SchülerInnen selbst - zumindest teilweise - erfahren, wie Menschen in der Steinzeit gelebt haben. Die Ideen für die Gestaltung der Tage wurden im Laufe des Unterrichts gemeinsam mit den Kindern entwickelt. Zudem sollte gemeinsames Leben praktiziert werden: Das Mittagessen wird von Müttern zubereitet, für Frühstück und Abendessen waren die Kinder selbst zuständig. Neben gemeinsamen Aktivitäten der gesamten Klasse wurden Gruppen gebildet, die in einer Art Stationsbetrieb verschiedene Steinzeit-Aufgaben zu erledigen hatten.

Projekttage Steinzeit - 2.a Klasse

   

Montag

Dienstag

Mittwoch

Vormittag:

Zimmer beziehen

Burg besichtigen

Orientierungslauf

Vormittag:

Gruppe B - Frühstück

9.15 Museum

Waldkundlicher Spaziergang

Vormittag:

Gruppe D - Frühstück

gemeinsames Aufräumen

Wettbewerbsschießen

Schmuckprämierung

Nachmittag:

14 -15.00 Stationsbetrieb

A: Holz sammeln

B: Korn mahlen

C: Pfeil und Bogen

D: Schilfwand

15 - 16.00 Gruppenwechsel

A: Korn mahlen

B: Holz sammeln

C: Schilfwand

D:Pfeil und Bogen

Nachmittag:

wie Montag:

C: Holz sammeln

D: Korn mahlen

A: Pfeil und Bogen

B: Schilfwand

15 -16.00 Gruppenwechsel

A: Schilfwand

B: Pfeil und Bogen

C: Korn mahlen

D: Holz sammeln

zusätzliche Möglichkeiten während der gesamten Woche:

Schafwolle weben;

Mammut basteln

Bogen schießen

Nachmittag ab 16.00

verschiedene Angebote:

Grubenbrand

Spatzöseckla

Schneckenhaus-Kultstätte

Rindenabdrücke aus Ton

Nachmittag ab 16.00

verschiedene Angebote

Grubenfeuer

Felsenmalerei

Brotteig aus dem selbstgemahlenen Mehl

 

Gruppe A: Abendessen

19.00: Dokumentation

Schmuckstücke basteln

Gruppe C: Abendessen

19.00: Dokumentation

Sketche, Theater, Singen,

Steinzeitdisco

 

Erster Tag:

Am Morgen fuhren die Kinder mit einem Bus ins Pfadfinderheim. Während zwei LehrerInnen mit den Kindern die Matratzenlager bezogen, bereiteten zwei andere einen Orientierungslauf vor. Danach besichtigten alle gemeinsam die Burg. Anschließend wurden vier Gruppen gebildet, wobei darauf geachtet wurde, dass die Gruppen ausgeglichen waren und jede Gruppe die Verantwortung für eines der I-Kinder übernahm. Als erste Gruppenaktivität fand im umliegenden Gelände der Orientierungslauf mit den verschiedensten Aufgaben statt.

Der erste Teil des Nachmittags wurde als Stationsbetrieb organisiert. Eine Gruppe musste Holz für den Grubenbrand am Abend sammeln, bei dem die Gefäße aus dem Werkunterricht gebrannt werden sollten. Die zweite Gruppe mahlte mit Mahlsteinen Korn, aus dem am nächsten Abend Brot gebacken werden sollte. Eine einprägsame Erfahrung für alle Kinder war, wie mühsam das ist und wie wenig Mehl nach einer Stunde gemahlen ist. Die dritte Gruppe errichtete eine Schilfwand, um das Feuer gegen Wind zu schützen, während die vierte Gruppe Pfeil und Bogen für die Jagd herstellte.

Am späten Nachmittag wurde der Grubenbrand gemeinsam gemacht. Daneben standen verschiedene zusätzliche Aktivitäten, die die SchülerInnen frei wählen konnten:

  • ›Spatzöseckla‹ - ein sehr altes, lokal bekanntes Geschicklichkeitsspiel mit Stecken;

  • Rindenabdrücke aus Ton herstellen;

  • eine Kultstätte aus Schneckenhäusern errichten.

Eine Gruppe bereitete das Abendessen für die Klasse zu.

Nach dem Abendessen schrieb jede Gruppe einen kurzen Bericht über den Ablauf des Tages. Diese Berichte und Fotos sollten die Grundlage der Präsentation in der Schule werden. Jede Gruppe hatte auch noch Zeit, die gesammelten Gegenstände zu einem Schmuckstück zu verarbeiten.

Mammut jagen

Korn mahlen

Grubenbrand

fertige Schalen

Schilf sammeln

Schilfwand bauen

Moderne Höhlenmalerei

Zweiter Tag:

Eine Gruppe richtete das Frühstück. Nach dem Frühstück stand ein Museumsbesuch im Steinzeitmuseum Koblach mit einer Führung auf dem Programm. Im Anschluss daran gab es eine waldkundliche Wanderung rund um das Pfadfinderheim: Stockwerkbau des Waldes, Baumarten erkennen, Heckensträucher, essbare Pflanzen u.ä. waren die Inhalte. Am Nachmittag fand dasselbe Programm wie am ersten Tag statt, nur mit Gruppenwechsel. Gegen Abend wird mit dem gesammelten Holz wiederum ein Feuer gemacht, aus dem Mehl wurde ein Brotteig hergestellt und die Kinder erfuhren, wie wenig Brot aus dieser mühseligen Arbeit des Mahlens hergestellt werden konnte. Felsen bemalen oder an den Schmuckstücken weiterarbeiten waren die Angebote bis zum Abendessen, für das wiederum eine andere Gruppe verantwortlich war. Der zweite Abend wurde von SchülerInnen und LehrerInnen als geselliger Abend gestaltet: Steinzeitsketche, Pantomimen, Musik. Interessierte SchülerInnen konnten sich daneben im Weben mit Schafwolle versuchen oder ein Mammut basteln. Eine Steinzeitdisco durfte anschließend nicht fehlen.

Dritter Tag:

Nach dem Frühstück fand ein Wettbewerbsschießen mit Pfeil und Bogen und die Prämierung des schönsten Gruppenschmuckes statt. Jede/r SchülerIn erhielt eine Urkunde, die ihn/sie zum ›Aufsteigen in die nächste Epoche‹ berechtigte.

Präsentation und Lernzielkontrolle

Zurück in der Schule gestalteten die SchülerInnen gruppenweise eine Plakatwand über die Steinzeittage, die in der Schule ausgestellt wurde. Die Plakatwand wurde collageartig gestaltet, sodass nach der Ausstellung eine Steinzeitmappe daraus gestaltet werden konnte, die den Kindern im Unterricht als Freiarbeitsmaterial zur Verfügung steht.

Eine Lernzielkontrolle am Ende des Unterrichtsabschnitts zeigte ein erstaunliches Wissen der SchülerInnen über die Steinzeit, wie das nach Ansicht der LehrerInnen in vergleichbaren Klassen bei traditionellem Unterricht nicht erreicht wird.

Dass diese Form des Lernens vielfältige Möglichkeiten für die Kinder mit erhöhtem SPF bietet, muss nicht eigens erwähnt werden. Die Frage von D. »Wann gehen wir wieder in die Steinzeit?« ist Ausdruck für die hohe emotionale Beteiligung dieser Jugendlichen am Steinzeitprojekt.

Resümee

Dieses Unterrichtsgestaltung ist ein typisches Beispiel für projekt- und handlungs- orientierten Unterricht. Die Themenauswahl erfogt durch die LehrerInnen, um möglichst viele Inhalte des HS-Lehrplans berücksichtigen zu können. Innerhalb dieses groben Rahmens bieten sich für die SchülerInnen jedoch eine Reihe von Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Ohne im Detail auf die Beteiligung der I-Kinder eingehen zu wollen, dürfte klar sein, wie vielfältig bei dieser Organisation die Möglichkeiten sind, auch die Integrationskinder ihrem Niveau entsprechend zu unterstützen.

›Steinzeit‹ am Standort Egg

Auch hier nutzten die LehrerInnen die Steinzeit, um über einen erlebnishaftganzheitlichen Zugang in das neue Unterrichtsfach Geschichte einzuführen. Die SchülerInnen bauten ein »Steinzeithaus«. Ziel war, erste Erfahrungen zu sammeln, wie das Leben in der Steinzeit war und Geschichte als spannendes und interessantes Fach zu erfahren.

Zuerst wurden Steine geklopft, um nötiges Werkzeug - Speerspitzen, Faustkeile - herzustellen. Dann fällten die Lehrer Bäume, die die Kinder ›ablängen‹ und an den Waldrand transportieren mussten. Gänzlich ohne Nägel wurde mit diesen Stämmen die Hütte aufgebaut und die Wände mit Weidenruten, die die Kinder aus den Achauen holten, geflochten. Die Kinder holten Lehm, vermischten ihn mit verhäckseltem Stroh und machten damit die Wände winddicht. Diese »Steinzeithütte« blieb das ganze Jahr über stehen. Zusätzlich fertigten die Kinder Gebrauchsgegenstände und Schmuck aus Ton. Im Unterricht der Klasse wurden unterschiedlichste Inhalte bearbeitet - sowohl als Wochenplanaufgabe wie auch in lehrerzentrierten Fachstunden.

Die Fotos vermitteln einen Eindruck über die Erfahrungen, die Freude und die

Lust, die Schule bedeuten kann.

Bau eines Steinzeithauses, HS Egg

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Quelle

Claudia Niedermair: Zur Pragmatik der Vision einer Schule für alle. Integrative Unterrichtsgestaltung im Spiegel von Theorie und Alltagspraxis am Beispiel der ersten Hauptschulintegrationsklassen in Vorarlberg. Teil 4b

Dissertation am Institut für Erziehungswissenschften der Universität Innsbruck, Innsbruck, März 2002.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.08.2006



[1] Enquete Sekundarstufe I: Integration am Boden der Realität, 12. - 13. 11. 2001 in Spital am Pyhrn, organisiert vom Pädagogischen Institut des Bundes in Steiermark.

[2] Diese Unterrichtseinheit wurde von mir bereits 1998 dokumentiert und in einer Handreichung des BMUK publiziert. Aufgrund ihrer Modellhaftigkeit möchte ich sie an dieser Stelle jedoch nochmals darstellen. (BMUK 1998 b)

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