Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis

Innere und äußere Integration von Menschen mit Behinderung

Textsorte: Buch
Releaseinfo: Herausgegeben von Volker Schönwiese und Gabriele Rath. Internet-Volltext-Bibliothek BIDOK:http://bidok.uibk.ac.at/
Copyright: © 2003 Dietmut Niedecken, Irene Lauschmann, Marlies Pötzl, Beltz Verlag

Inhaltsverzeichnis

Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis

Dietmut Niedecken, Dr., analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Hamburg, Universitätsdozentin.

Irene Lauschmann, qualifizierte Behindertenbetreuerin, Leiterin des ambulant begleiteten Wohnbereichs sowie einer Wohngemeinschaft des Vereines W.I.R.

Marlies Pötzl, lehrt an einer berufsbegleitenden Schule im Pflege- und Sozialbereich.

Vorwort des Herausgebers

Inhaltsverzeichnis

Stark beeinflusst von der italienischen Psychiatriereform (vgl. Basaglia 1971) gibt es im deutschsprachigen Raum seit Beginn der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts eine intensive Diskussion um eine mögliche Ausgliederung von Langzeitpatientinnen aus großen stationären Einrichtungen, die sich nur sehr langsam in konkreten Maßnahmen umsetzte. Die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie veranstaltete 1983 eine Tagung unter dem Titel »Der Mythos vom harten Kern«, in deren Mittelpunkt die in Anstalten, Heimen und psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachten sog. chronisch psychisch kranken, behinderten und älteren Menschen standen. Die vielfach vertretene These der Nichtintegrierbarkeit eines kleinen Teils besonders schwer betroffener bzw. hospitalisierter Personen wurde entschieden abgelehnt. Wie langsam die Entwicklung trotz dieser Feststellungen und jahrzehntelanger Bemühungen verläuft, zeigt die drängende Forderung von Klaus Dörner aus dem Jahr 1999: »Wir müssen die Heime abschaffen – und die »Insassen« endlich in ihrer Menschenwürde ernst nehmen. Kein chronisch psychisch Kranker und kein schwieriger geistig Behinderter muss dauerhaft in einer Anstalt leben. Das klingt wie eine Provokation und wie eine Spinnerei – aber es ist der fachliche internationale Standard. Deutschland hinkt in diesem Prozess hinterher. ...« Es gibt beachtliche Beispiele an Ausgliederung (vgl. Bradl/Steinhardt 1996), Dörner meint dennoch, es gäbe in Deutschland viel zu selten echte De-Institutionalisierung. In der Schweiz (vgl. Hattinger/Egli 1994) und in Österreich ist die Situation ähnlich (obwohl in Österreich durch ein Unterbringungsgesetz seit 1991 geistig behinderte Personen von einem längerfristigen Aufenthalt in psychiatrischen Krankenhäusern ausgeschlossen sind).

Dazu ist zu befürchten, dass manche sozialpsychiatrische Maßnahme einer gesundheits- und sozialpolitischen Logik der Dezentralisierung als systemisch gedachter Effizienzsteigerung folgt und Fragen der Qualität weiterhin nachrangig behandelt werden. Umso wichtiger ist es aufzuzeigen, wie die Umsetzung der so lange geforderten äußeren Integration auch mit einem Prozess der inneren Integration aller beteiligter Personen verbunden werden kann und muss. Das vorliegende Buch ist in der Reihe »Beiträge zur Integration« nach den Büchern von Niedecken, Sinason und Becker ein weiteres herausragendes Beispiel für die Entwicklung und Umsetzung eines psychoanalytischen Verständnisses von Behinderung, indem hier die Bedeutsamkeit dieses Ansatzes für den pädagogischen Alltag der Unterstützung von sog. schwerst geistig behinderten Personen beeindruckend aufgezeigt werden kann.

Literatur

Basaglia, Franco: Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Ein Experiment der psychiatrischen Klinik in Görz. Frankfurt 1971

Becker, Maria: Begegnung im Niemandsland. Musiktherapie mit schwermehrfachbehinderten Menschen. Weinheim/Basel/Berlin 2002.

Bradl, Christian/Steinhart, Ingmar (Hrsg.): Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung. Kritische Analysen und neue Orientierungen für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Bonn 1996

Der Mythos vom harten Kern. In: Sozialpsychiatrische Informationen 13 (1983) 1, Nr. 73/74

Dörner, Klaus: Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe. Umgang mit Kranken und Behinderten. In: Publik-Forum Nr. 15; 1999 und im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/bib/grundlagen/doerner-schutzhaft.html (Stand: 27.03.2002)

Haitiner, Ruedi/Egli, Jakob (Hrsg.): Dezentrale Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. Eine Alternative zur Anstalt. Luzern 1994

Niedecken, Dietmut: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. 4., erweiterte Auflage. Weinheim/Basel/Berlin 2003

Sinason, Valerie: Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins. Deutschsprachige Erstausgabe von »Mental Handicap and The Human Condition«. Neuwied/Berlin 2000

Innsbruck, im November 2002

Volker Schönwiese

Vorwort

Dietmut Niedecken/Irene Lauschmann/Marlies Pötzl

Im Laufe unserer langjährigen Zusammenarbeit sprachen wir (Marlies Pötzl und Irene Lauschmann) oft darüber, wie bedauerlich es sei, dass die gemeinsamen Erfahrungen und »Beziehungsgeschichten« mit unseren Klientinnen mit der Zeit immer mehr verblassen und letztendlich verloren gehen. Wir hatten aber keine Vorstellung, wie wir diese Erfahrungen aufarbeiten und weitergeben konnten.

Durch die Begegnung mit Dietmut Niedecken lernten wir eine Betrachtungsweise der Arbeit mit Menschen mit Behinderung kennen, die uns neu war. Psychoanalytische Theorie und Szenisches Verstehen waren uns bis dahin in der integrationspädagogischen Arbeit fremd geblieben. Es wurde uns schnell klar, dass uns und unseren Klientinnen diese Art zu denken neue Entwicklungsräume öffnen könnte. Das motivierte uns, diesen Ansatz in der täglichen Arbeit mitzudenken und umzusetzen. Es zeigte sich bald, wie sehr sich dadurch unser Handlungsspielraum erweiterte.

Auf Grund dieser Erfahrungen entstand eine zunächst informelle Zusammenarbeit mit Dietmut Niedecken, in Form interner Fortbildungen des Vereines W.I.R., dem wir beide damals angehörten. Das waren keine Workshops im üblichen Sinne. Vielmehr besuchte Dietmut vor einem Seminar immer eine der Wohngruppen und lernte Bewohnerinnen und Teammitglieder kennen. Aus diesen Besuchen ergaben sich dann die Themen der Fortbildungen.

Nach einigen Jahren fruchtbarer Zusammenarbeit machte Dietmut Niedecken uns den Vorschlag, die gemeinsamen Erfahrungen zusammen aufzuschreiben. Daraus entstand die Arbeit an diesem Buch – eine Zusammenarbeit über die große Distanz zwischen Innsbruck und Hamburg, zwischen pädagogischer Praxis und psychoanalytischer Reflexion hinweg.

Auf Grund der besonderen Voraussetzungen des Schreibens an diesem Buch ist unsere Form der Darstellung nicht gerade gewöhnlich, und wir müssen sie erläutern. Wir haben eine Dialogform gewählt – oder vielmehr hat sie sich im Verlauf der Zusammenarbeit ergeben. So haben etwa Marlies Pötzl und Irene Lauschmann ihre Berichte über Gudrun, Mark und Karin verfasst, oder aber einfach Ihre Gedanken zu irgendetwas in einem Gespräch erörtert, dieses Gespräch dann aufgezeichnet und ausgetippt. Solche Texte schickten sie mir dann zu, ich schrieb meine Kommentare einfach in den Text hinein und schickte ihn zurück. Nach und nach entstand daraus dann der Gesamttext. Wir haben die jeweiligen Beiträge durch unterschiedliche Schriftformen kenntlich gemacht: Der Grundtext ist immer in Normalschrift, der Kommentar kursiv gehalten. Entsprechend sind wir mit den Namen der jeweiligen Autorin verfahren.

Im Falle der Einzelgeschichten von Gudrun, Mark und Karin empfiehlt es sich vielleicht, zunächst einmal die Geschichte im Zusammenhang zu lesen und auf sich wirken zu lassen, und dabei meine Kommentare zu überspringen, um erst beim zweiten Lesen diese mit hineinzunehmen. Zu Anfang mögen meine Kommentare sonst vielleicht störend wirken.

Diejenigen, die mit der von mir verwendeten psychoanalytischen Begrifflichkeit nicht vertraut sind, können sich dadurch helfen, dass sie auf Standardwerke zur Einführung in diese Begriffswelt zurückgreifen[1]. Wo ich eigene Begriffe geprägt habe, sind sie entweder aus meinem Buch „Namenlos“ bekannt, oder sie werden hier ausdrücklich eingeführt.

Der Text ist also einesteils praxis- und erfahrungsnah, zu andern Teilen theoretisch elaboriert und anspruchsvoll, also unter Umständen nicht immer leicht zugänglich. Auch Marlies und Irene hatten beim ersten Lesen dessen, was ich aus ihren Erfahrungen (insbesondere mit Mark und Fritz) machte, zunächst ihre Schwierigkeiten. Wenn sie sich auch inzwischen eine Menge psychoanalytisches Wissen und Können angeeignet haben, so haben sie doch keine ausdrückliche Ausbildung hierin erhalten, und so konnten sie sich manche der von mir verwendeten und zum Teil neu eingeführten Begriffe erst nach und nach erschließen. Dies mag die Leserinnen ermutigen, ein Gleiches zu tun.

Oft war die Auseinandersetzung und Erarbeitung psychoanalytischer Theorie und der dazugehörigen Begriffe für uns wirklich mühsam und frustrierend. Unzählige gemeinsame Diskussionen sowie reger Austausch mit anderen Interessierten halfen uns dann über diese Hürden hinweg. Manchmal ließen wir schwierige Textpassagen auch einfach nur liegen, um sie später wieder aufgreifen und mit Bekanntem und Erfahrenen verknüpfen zu können. So lernten wir nach und nach, anhand einfacher praktischer Beispiele komplexe Zusammenhänge zu begreifen. Mit der Zeit wurde es regelrecht lustvoll, zu fantasieren, zu verwerfen und neu zu konstruieren und irgendwann in der Tagesarbeit dann ein Aha-Gefühl zu spüren.

Aber es gab auch andere Schwierigkeiten zu bewältigen. Viele Kommentare von Dietmut mussten wir mehrmals lesen, nicht immer nur aus inhaltlichen Gründen, sondern nicht selten auch wegen ihrer Neigung, endlose Bandwurmsätze zu bilden. Besonders erheitert hat uns eine Ausführung über 16 Zeilen mit einigen Doppelpunkten und unzähligen Beistrichen. Sie ist als »der Niedeckensche Sechzehnzeiler« in unsere gemeinsame Geschichte eingegangen.[2] Manche dieser Ungetüme haben wir mit ganz normalen Punkten versehen, andere mussten wir ihr auch durchgehen lassen – wir konnten sie ja nicht ganz umkrempeln!

In der Endphase des Schreibens verbrachten wir Stunden und Tage gemeinsam am Schreibtisch und durchschritten alle Höhen und Tiefen, die ein Schreibprozess mit sich bringt. In dieser Phase bedauerten wir die große räumliche Distanz am meisten, da wir die so intensive Zeit nur allzu gerne mit Dietmut geteilt hätten.

Vieles von dem, was ich aus der Theorie heraus darstelle, wird von Marlies und Irene in ihren Beiträgen in einfachen Worten und in Bezug auf ihre konkrete berufliche Erfahrung noch einmal gesagt; oder aber ich greife ihre unmittelbar an der Praxis orientierten Reflexionen einfach nur auf und stelle sie in den systematischen Zusammenhang der psychoanalytischen Begrifflichkeit.

Dieser doppelte Zugang erscheint uns wichtig, ja unverzichtbar. Ohne Bezug auf den konkreten Alltag würde das Theoretisieren unlebendig, spröde, leere Abstraktion; ohne die Abstraktionen der theoretischen Ebene und ohne das feine Werkzeug der psychoanalytischen Begrifflichkeit würden wir uns die Chance nehmen, aus den Zwängen des Alltags aussteigen und sozusagen in den Schnürboden des Geschehens steigen zu können. Nur dort können wir beobachten, welche Mechanismen am Werk sind und wie wir deren Gesetz mit unserem integrativen Wollen vermitteln können, anstatt von ihm bewusstlos beherrscht zu werden.

Wer zunächst Schwierigkeiten hat, meinen Ausführungen zu folgen, mag ruhig dem Beispiel von Irene Lauschmann und Marlies Pötzl folgen, über das zunächst allzu Widerständige meiner Gedankengänge hinweglesen und sich zunächst mehr an den Texten meiner Coautorinnen orientieren, um etwas anfangs unzugänglich Scheinendes später einfach noch einmal zu lesen.

Das psychoanalytische Verstehen in der pädagogischen Arbeit ist für uns beide nach wie vor ein ständiger Prozess der Auseinandersetzung und eine spannende Herausforderung. Wir glauben, dass unser gemeinsames Buch erst einen Anfang darstellt, und wünschen, dass er andere ermutigt, da weiterzumachen, wo wir erst einmal innehalten müssen.

Ein wenig ungewohnt mag auch wirken, dass wir uns im Text gegenseitig beim Vornamen nennen. Wir wollen uns damit nicht den Leserinnen aufdrängen – aber die freundschaftliche Atmosphäre, die uns die gemeinsame Arbeit an diesem Buch ungewöhnlich leicht gemacht hat, gehört zum Ergebnis dazu, und so haben wir beschlossen, hier nicht verfremdend einzugreifen.

An dieser Stelle müssen wir noch kurz auf eine Frage der von uns verwendeten Worte eingehen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass uns vorgeworfen wird, wir unterstützten jene Tendenzen, die pädagogische Betreuung mit dem Recht, die Betreuten zu entmündigen, verwechseln. Es ist heute eine gängige Sprachregelung, Betreuung mit Entmündigung gleichzusetzen (wie es in der psychiatrischen Praxis in der Regel geschah) und stattdessen von Begleitung zu sprechen.

Wir treffen jedoch im Weiteren keine solche wertende Unterscheidung zwischen den Begriffen Betreuung und Begleitung, da uns in der Arbeit mit den uns anvertrauten Personen beide Begriffe wichtig erscheinen. Mit Betreuung lässt sich einerseits die reale Angewiesenheit auf Hilfe, die Notwendigkeit versorgt zu werden, benennen.

Die reale Ungleichheit zwischen denen, die auf Betreuung und Versorgung angewiesen sind, und denjenigen, die sich in professioneller Treue dieser Angewiesenheit zur Verfügung stellen, wird mit diesem Wort angesprochen, mit dem Wort »Begleitung«, so scheint mir, jedoch tendenziell geleugnet.

Begleitung beschreibt eher Situationen, oder Momente, wo die Versorgung keinen besonderen Stellenwert mehr hat und sich dieses Gefälle eher aufhebt; Dietmut hat das einmal sehr schön als das Gehen eines gemeinsamen Weges, der sich dann trennt, beschrieben. Ein gutes Beispiel dazu ist Benjamins Sterbeprozess, der im Epilog beschrieben wird. Leider wurde und wird Betreuung oft mit Entmündigung verwechselt und die Angewiesenheit auf Hilfe der Betroffenen entsprechend missbraucht.

Volker Schönwiese sei Dank dafür, dass er mir die Gelegenheit vermittelte, am Innsbrucker Fachbereich für Integrationspädagogik zu lehren und mich dort schließlich zu habilitieren; und auch für seine hilfreich-kritischen Anmerkungen anlässlich unserer letzten gemeinsamen Arbeitssitzung.

Zu danken habe ich auch Marlies Pötzl und Irene Lauschmann selbst zunächst für ihre Initiative, mich in den Verein W.I.R. einzuladen, und für die anregende, spannende, anstrengende, aber immer konstruktive Zusammenarbeit, auf der dieses Buch gründet. Die gemeinsame Arbeit an diesem Buch war, denke ich, für uns alle Drei ein großer Gewinn.

Der ganzen Familie Sailer-Lauschmann danke ich dafür, dass sie mir mit ihrer Gastfreundschaft (und mit Helis wunderbaren Bildern, die ich bei solchen Gelegenheiten immer in seinem Atelier betrachten durfte) die Arbeitswochenenden in Rum bei Innsbruck immer wieder angenehm, anregend und trotz aller schweren Arbeit auch hinreichend erholsam zu gestalten wusste.

Wir beide möchten Dietmut Niedecken danken für die Idee, dieses Buch zu schreiben. Vermutlich hätten wir ohne ihren Impuls unsere gemeinsamen Arbeitserfahrungen in dieser Form nicht aufgearbeitet. Auch ihre Bereitschaft, sich aufzwei im Schreiben ganz unerfahrene Mitarbeiterinnen und sich noch dazu aufeine ganz unkonventionelle Form der Zusammenarbeit einzulassen, finden wir bemerkenswert. Diese Art der Auseinandersetzung im Schreiben warfür uns etwas Lustvolles und Schönes, das uns sehrfehlen wird.

Gemeinsam danken wir auch Maria Klaus, unserer engsten Mitarbeiterin aus der MIM-Gruppe, für ihre unterstützende Begleitung während der Arbeit an diesem Buch.

Irene: Meinem Mann Helmut Sailer und meiner Tochter Natalie danke ich für viel Geduld, Zuspruch und fertiges Essen. Außerdem danke ich meinen Eltern für ihr Verständnis und Interesse an meiner Arbeit. Auch möchte ich Volker Schönwiese für die vielen Stunden der Reflexion, Auseinandersetzung und die sehr kritischen inhaltlichen Diskussionen danken. Nicht zuletzt schulde ich auch der Geschäftsführung des Vereins W.I.R. Dank für ihre Unterstützung.

Marlies: Mein besonderer Dank ergeht an meine beiden Kinder, Helmut und Verena Pötzl, die mich auf verschiedene Weise unterstützten und auch an meine Katzen, die in der Zeit des Schreibens auf viele Streicheleinheiten verzichten mussten.

Wir gemeinsam möchten unseren Dank an die Andreas-Tobias-Kind-Stiftung aussprechen, die uns mit ihrem großzügigen und so unkompliziert vergebenen Stipendium, und deren Stifter und seine Eltern, Andreas-Tobias, Gabriele und Helmut Kind, uns auch mit ihrem persönlichen Interesse – und mit dem Vorleben einer Hoffnung machenden Form von Integration – viel Mut gemacht haben für die Arbeit an dem hier vorgelegten Buch.

Zum Abschluss wollen wir alle gemeinsam noch die große Dankbarkeit aussprechen, die wir gegenüber Gudrun, Mark, Fritz, Alexandra, Karin und auch den anderen, die hier im Buch vorkommen (und auch so manchen Anderen, die nicht namentlich genannt werden), empfinden. Ohne ihre Bereitschaft, unser Nichtverstehen zu ertragen und sich doch auch immer wieder unserem Verstehen zu öffnen, hätten wir dieses Buch nie schreiben können.



[1] Hier wäre „Das Vokabular der Psychoanalyse“ von Laplanche/Pontalis (Frankfurt 1972) hilfreich; sodann ist besonders auch das als Einführung lesbare Buch von Hinshelwood, „Wörterbuch der Kleinianischen Psychoanalyse“ (1993) zu empfehlen. Schließlich gibt es als leichte Einführung in die psychoanalytische Behandlungspraxis das Buch „Die Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie“ (Sander et. al. 1979) – zwar ist die pädagogische Praxis eine grundsätzlich andere, bestimmte Vorgänge jedoch, wie Übertragung und Gegenübertragung, Agieren etc., finden auch hier statt.

[2] Diesen Satz wird man im Buch vergeblich suchen – ich habe ihn nach den Vorschlägen der beiden aufgeteilt.

Unsere gemeinsame Geschichte: Vom Kennenlernen bis zur Projektarbeit

Irene Lauschmann/Marlies Pötzl/Dietmut Niedecken

Im Rahmen unseres Studiums suchten wir, Irene und Marlies, nach geeigneter Literatur für unsere Diplomarbeiten. Das Buch »Namenlos« von Dietmut Niedecken beeindruckte uns besonders. Bald darauf beschloss Volker Schönwiese (Professor für Behinderten- und Integrationspädagogik an der Universität Innsbruck) Dietmut zu einem Vortrag und einem Lehrauftrag an der Universität Innsbruck einzuladen.

Wir arbeiteten zu dieser Zeit in einem Ausgliederungsprojekt, das bedeutet, wir waren Gründungsmitglieder eines Vereins und bereiteten acht Menschen mit geistiger Behinderung auf eine Ausgliederung aus der Psychiatrie in eine Wohngemeinschaft vor. Bald nach der Übersiedelung dieser acht Personen in das neue Haus kam es zu unlösbaren inhaltlichen Differenzen im Team, die schließlich zu unserem Ausstieg aus diesem Projekt führten. Nach ca. einem Jahr bekamen wir beide eine Arbeitsstelle in einem psychiatrischen Krankenhaus. Kurze Zeit später lernten wir Dietmut im Rahmen ihres ersten Seminars an der Universität Innsbruck kennen. In diesem Seminar ergab sich die Gelegenheit, in einem Rollenspiel Benjamin vorzustellen, einen Teilnehmer jener Gruppe, die wir vor Kurzem abgegeben hatten. Er beschäftigte uns noch immer sehr.

Marlies: Irene spielte Benjamin und ich die »genervte Betreuerin«. Das passte sehr gut, da er Irenes »Liebling« war, und ich fast keinen Zugang zu ihm fand. Benjamin war für mich eine große Belastung, ich konnte ihn in seiner »Tätigkeit«, seinem ewigen Reden und Fragen kaum ertragen. Obwohl wir nicht mehr mit ihm arbeiteten, waren wir auf verschiedene Weise gefühlsmäßig noch sehr besetzt von seiner Person.

Das Rollenspiel und das darauf folgende Gespräch hat uns enorm viel gebracht und wir konnten beide das, was Benjamin in uns ausgelöst hatte, besser verstehen, und von der Arbeit mit ihm nun auch innerlich Abschied nehmen. Ähnlich ging es uns mit der Geschichte einer weiteren Gruppenteilnehmerin. Dietmut bot uns auch zu ihrem Verständnis eine Fantasie an, und diese war geeignet, unsere innere Bindung an die junge Frau zu lösen, sie gehen zu lassen.

Dieses Seminar war so hilfreich für uns und unsere weitere Arbeit, dass wir sofort beschlossen, uns mehr mit Dietmuts Arbeitsweise und Theorie zu beschäftigen. Bei der nächsten Gelegenheit, die sich uns bot, Dietmut zu sehen, nahm Irene ihren ganzen Mut zusammen und fragte, ob sie in unserem Arbeitsbereich eine Fortbildungsveranstaltung anbieten könnte.

Wir arbeiteten inzwischen in unserem nächsten Projekt. Unser Arbeitsauftrag bestand darin, eine tagesstrukturierende Gruppe für sieben Menschen mit Behinderung aufzubauen, um die damals noch sehr großen, nach traditioneller Psychiatriestruktur geführten »Behindertenstationen« zu entlasten. So entstand die MIM-Gruppe, nicht nach der Hexe benannt, sondern nach Maria, Irene und Marlies, den Betreuerinnen der Gruppe. Dies war wiederum eine Gruppe von geistig behinderten, erwachsenen Psychiatrie-Insassinnen, die in weiterer Zukunft in Wohngruppen ausziehen sollten. Wir übernahmen die pädagogische Begleitung der betreffenden Personen, die alle langzeithospitalisiert und verhaltensauffällig waren.

Unser integrationspädagogischer und entwicklungsorientierter Arbeitsansatz sollte nicht nur in dieser Gruppe zur Geltung kommen, sondern auch die Mitarbeiterinnen der Stationen langsam sensibilisieren. Am Anfang war die Arbeit mit der Gruppe chaotisch, denn wir mussten einerseits erst Räume finden und diese adaptieren, andererseits die Gruppenmitglieder kennen lernen und sie uns. Der Aufbau einer sinnvollen, den Personen angepassten Tagesstruktur schien uns damals am notwendigsten. Drei Mitglieder aus der MIM-Gruppe werden im Weiteren des Buches einigen Raum einnehmen: Gudrun, Mark und Karin. Zunächst möchten wir kurz darstellen, wer sonst noch mit Gudrun, Mark und Karin in der MIM-Gruppe war.

Marianne war Mitte 40, als sie in die Gruppe kam. Sie war eine verbitterte, unbewegliche, unterwürfige Frau, ohne Lebensfreude und mit ungepflegtem Äußeren. Ihre Fähigkeit, sich verbal gut auszudrücken, war der Ansatzpunkt unserer Beziehungsarbeit mit ihr. Heute wirkt sie selbstbewusst und gepflegt, ist viel beweglicher und nimmt mit Interesse am Leben teil.

Josef war Mitte 30, er hatte sich durch einen Unfall schwere Hirnverletzungen zugezogen und war der Einzige in der Gruppe ohne Langzeithospitalismus-Schäden. Er war ein meist freundlicher, aber oft abwesend wirkender Mann, der keine Bedürfnisse äußerte. Mit ihm arbeiteten wir vorwiegend daran, die Verbindungen und Verknüpfungen zu seinem Leben vor dem Unfall zu finden und zu erhalten. Bis heute gibt es in seiner Entwicklung keine gravierenden Veränderungen.

Otto, Mitte 50, wirkte in der Gruppe wie ein verlorenes, großes Baby, das recht freundlich war und ständig mit einem Band oder einem Tuch spielte. Er war der »Sonnenschein« in unserer Gruppe. Sein Verlorensein war uns Anlass, dafür zu sorgen, dass er einen stabilen Platz und Rhythmus finden konnte. Otto hat gelernt, sich zu behaupten, und heute steht das Bild vom Baby nicht mehr im Vordergrund.

Andrea, Mitte 20, verhielt sich in der Gruppe aufgeweckt, freundlich, aber unheimlich anstrengend. Ihr hohes Aggressionspotenzial zwang uns zu ständigen Gratwanderungen, die kaum Spielraum für etwas anderes ließen. Nach einem Mordversuch an Gudrun, von dem noch die Rede sein wird, wurde Andrea in die forensische Psychiatrie eingewiesen. Heute geht es ihr gut, seit 2 Jahren lebt sie in einer Einrichtung in einer anderen Stadt.

Für alle Gruppenmitglieder haben sich die Lebensbedingungen durch die Ausgliederung in Wohngemeinschaften enorm verbessert. Auch dies trug letztendlich zu weiteren Entwicklungsschritten bei.

Es ließ sich organisieren, dass Dietmut von der Trägereinrichtung der MIM-Gruppe eingeladen wurde. Das Seminar an der Universität und diese Einladung bildeten den Ausgangspunkt unserer Zusammenarbeit.

Auch ich erinnere mich an diese Anfänge nur vage. Dass es Mut gekostet haben soll, mich anzusprechen, erfuhr ich erst, als ich es hier las. Mir selbstging es natürlich damit anders. Ich war von der Intensität und dem Mut beeindruckt, mit denen Marlies und Irene sich auf die Inszenierung ihrer Geschichte mit Benjamin einließen, und als ich sie bei Gelegenheit eines Workshops in einer anderen Stadt zum zweiten Male traf, freute ich mich, da mir diese Begegnung mit bereits vertrauten Gesichtern die Arbeit sogleich leichter machte. Die Einladung nach Innsbruck freute und ehrte mich, und vollends gewonnen war ich, als ich mit Irene darüber sprach, wie sie sich meine Arbeit vorstellten. Die Vorgaben, die mir gemacht wurden, waren denkbar offen, und so war ich von Anfang an frei, mich auf das einzulassen, was mir in der konkreten Situation entgegenkam. Es ergab sich eine zwanglose und fruchtbare Zusammenarbeit, die immer getragen war vom gemeinsamen Wunsch, mehr über die Schwierigkeiten des integrativen Prozesses zu erfahren, der unser Anliegen war. Dass aus diesen Anfängen einmal ein gemeinsames Buchprojekt werden sollte, hätte wohl keine von uns Dreien am Anfang gedacht.

Irene: Dietmut anzusprechen und sie einzuladen forderte mich vor allem deshalb, weil mir bewusst war, dass sie unsere Arbeit sehr genau kennen lernen würde, besonders auf der Ebene unserer Gefühle und der so sensiblen Mechanismen, die als Übertragung und Gegenübertragung beschrieben werden können. Einerseits war diese intensive Auseinandersetzung mein Wunsch, andererseits hatte ich Angst davor und fragte mich, ob wir dem auch gewachsen sein würden. Jemandem von außen Einblick in unsere Arbeit zu geben, hieß für uns, sich einer entsprechend kritischen Beobachtung zu stellen und auszusetzen. Damals waren wir oft sehr unsicher, was die Qualität unserer Arbeit anbelangte, und wir hatten kaum Möglichkeiten, diese zu überprüfen.

Zudem wusste ich nicht, wie Dietmut auf die teilweise schrecklichen Arbeitsbedingungen in der psychiatrischen Anstalt reagieren würde, in der wir damals noch arbeiteten.

Unsere Zusammenarbeit stand unter dem begünstigenden Zeichen eines Anfanges, der allgemeinen Aufbruchssituation im Gefolge einer neuen gesetzlichen Situation. Auf Grund dieser neuen Regelung wurde geistig behinderten Menschen, die bis dahin in Psychiatrien – und dies auf meist menschenunwürdige Weise – untergebracht worden waren, ein Recht auf eine ihnen angemessenere Wohnsituation zugesprochen. Diese Aufbruchssituation haben wir als Chance nutzen können. In heutigen Zeiten, da vieles wieder der Erstarrung zu verfallen droht, der anfängliche Enthusiasmus vielerorts einer Resignation weicht; da auch die materiellen Bedingungen der integrationspädagogischen Arbeit wieder zunehmend in Frage stehen, können diese Erfahrungen vielleicht dennoch nützlich sein. Sie können, so hoffen wir, denjenigen zu Hilfe kommen, die unter wieder erschwerten Bedingungen Ähnliches verwirklichen wollen.

Eine der ersten Veranstaltungen, zu der ich von der Trägereinrichtung der MIM-Gruppe eingeladen war, erscheint mir im Nachhinein als Grundlegung all dessen, was nachher kam. Es ging um Gudrun, um deren Integration sich die Pädagoginnen der Gruppe Sorgen machten. Sie wurde mir gezeigt – vorstellen verbot sich von selbst, da Gudrun deutlich signalisierte, dass ich ihr nicht zu nahe kommen sollte - und ich ließ mich von der Situation mit ihr gefangen nehmen.

Marlies: Ich kann mich noch an eine unserer ersten Begegnungen mit Dietmut in der MIM-Gruppe erinnern. Wir hatten sie darum gebeten, ein besonderes Augenmerk auf Gudrun zu haben, mit der wir damals sehr beschäftigt waren. Dietmut saß auf der großen Couch und Gudrun war einige Meter weit entfernt von ihr. Dietmut hat sie beobachtet und ihr etwas später Tischtennisbälle zugeworfen. Gudrun hat die Bälle nicht gefangen, schien irgendwie teilnahmslos – trotzdem hat sie aber, aus den Augenwinkeln, immer wieder in die Richtung von Dietmut gesehen.

Irene: Ich dachte mir, das ist ganz schön vermessen, wir schicken Dietmut in diesen öden, schrecklichen Tagraum – verweisen sie auf Gudrun. Sie soll sich dann irgendwas einfallen lassen und wir warten alle gespannt darauf, dass etwas Tolles dabei herauskommt. Mein Gefühl dabei war, das ist eine Zumutung, eigentlich müsste sie aufstehen und gehen. Umso mehr waren wir dann alle erstaunt, dass Dietmut auch in dieser Situation so viel sehen konnte.

Es war wohl genau diese Offenheit, die Bereitschaft von Marlies und ihrem Team (Marlies war Teamleiterin in der MIM-Gruppe), sich auf eine möglicherweise schwierige Auseinandersetzung bedingungslos einzulassen, die es mir leicht machte, einen Zugang zu finden. Die Umstände, unter denen ich Gudrun begegnete, waren für sie und mich durchaus günstig. Die abstoßende Atmosphäre der Räumlichkeiten sorgte dafür, dass ich eigentlich nur wünschte, mich zurückziehen zu können. Dies konnte ich mit Gudrun sehr leicht tun. Sie wirkte in all dem Getriebefremd, zart, eine Art Fee, die anscheinend unberührt von allem, was um sie herum geschah, wie isoliert, auf den Füßen wippend herumstand. Ich erspürte leicht die Distanz, die sie brauchte (und die auch ich brauchte), damit sie mit mir in eine Art schwebenden Austausches kommen konnte, und wir in der Innigkeit dieses Kontaktes, voneinander ganz eingenommen, uns gegenseitig vor der Wahrnehmung all dessen, was um uns war, schützen konnten.

Nun war es wohl auch nicht ganz zufällig, dass Marlies und Irene mir Gudrun ans Herz gelegt hatten. Gudrun erinnerte mich an Wilfried, einen autistischen Mann, von welchem ich in »Namenlos« berichtet habe. Die beiden müssen beim Lesen gespürt haben, dass ich mich auf die Wilfried und Gudrun gemeinsame tranceartige Isolation besonders leicht einlassen kann. Es wiederholte sich hier die gleiche Leichtigkeit des Einfindens in eine Art gemeinsamen Schwebezustand.

Die Tischtennisbälle waren sozusagen meine Reminiszenzen an die Innigkeit der therapeutischen Begegnung mit Wilfried, und Gudrun verfolgte sie ebenso wie damals Wilfried verstohlen-gespannt mit den Augen. Mehr geschah nicht – es ging ja nicht um meine Begegnung mit ihr, sondern darum, diese Möglichkeit einer dyadischen Verschmelzung zwischen ihr und denen, die täglich für sie da waren, zu benennen und fruchtbar werden zu lassen. Die Geschichte, die Marlies über Gudrun geschrieben hat, ist wohl nicht ganz zufällig eine Art Liebesgeschichte geworden.

Marlies: Ja, was hat sich dadurch gelöst, haben wir danach darüber geredet? Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass es für uns sehr wichtig war, einen weiteren Ansatzpunkt zu finden. Wir hatten das Gefühl, dass Gudrun noch kaum in unsere Gruppe eingebunden ist – wir wollten damals mit aller Gewalt sie noch enger einbeziehen.

Nachdem ich eine Weile im Tagraum der Gruppe damit verbracht hatte, die Situation auf mich wirken zu lassen, schlug ich vor, dass wir uns irgendwo zusammensetzen sollten. Dabei fiel mir auf, dass es eigentlich keinen Raum gab, in welchem die Gruppe in einer Artgeschützten Atmosphäre hätte zusammensitzen, in der sie sich als Gruppe hätte wohl fühlen können. Der Tagraum war viel zu groß, eine Art Bahnhofshalle, von der Gesamtanlage her sehr hässlich und zudem in einer Weise eingerichtet, die mir keinerlei Vorstellung von Lebensraum vermittelte. Es gab kleinere Räume, in die man vom Tagraum aus gehen konnte, die aber ganz offenbar nicht in Gebrauch waren, und die daher nicht etwa einladender wirkten. In einem der Räume standen ein paar Sitzmöbel herum, und da ich nicht »auf Durchgang« sitzen mochte und auch auf eine beschütztere Atmosphäre für das Gruppengespräch bedacht war, fragte ich, ob wir uns dort zusammensetzen könnten. Es war dies eine Notlösung, denn obgleich der Raum durchaus die Voraussetzungen dafür bot, darin eine wohnliche Situation zu gestalten, so war er doch überaus karg und lieblos eingerichtet. Dies erschien mir bedeutungsvoll, ein Ausdruck für das, was bei all dem Aufbruchsoptimismus auf der Strecke zu bleiben drohte. Da die räumliche Situation für mein Erleben so vordringlich war, sprach ich sie zuallererst an.

Marlies: Im Gespräch mit Dietmut wurde uns erst klar, wie erdrückend die Atmosphäre auf unserer Station war. Diese alte, aufgelassene, mit vielen schrecklichen Geschichten behaftete Station bewirkte, dass wir sehr viel von unserer Kraft aufwenden mussten, um es dort überhaupt aushalten zu können. Die Veränderungen unserer Räumlichkeiten hat dann viel gebracht.

Das Team fing an, die Räume zu verändern, zu verschönern, ein eigenes Wohnzimmer gemütlich und liebevoll einzurichten. Diese Tätigkeit verlangte sehr viel Aufmerksamkeit von uns, wir mussten planen, gestalten, Möbel und Vorhänge einkaufen, putzen usw. Diese manuelle Arbeit machte uns den Kopf frei, und wir konnten danach wieder »lustvoll« und mit großem Einsatz Weiterarbeiten. Die veränderten Räume erinnerten uns nicht mehr so sehr an die Schrecken der psychiatrischen Unterbringung.

Unser neu entdeckter Elan steckte die Gruppe an, einige arbeiteten auch begeistert mit. Die meisten freuten sich über die neuen Räume, auch das Wohnzimmer wurde von der Gruppe sofort in Beschlag genommen.

Nachdem das Zimmer fertig war, ergab es sich schnell, dass wir dort zusammen einen Teil des Vormittags mit Kaffee trinken und Gesprächen über »Gott und die Welt« verbrachten. Da Vorlesen bei allen sehr beliebt war, entstand so etwas wie eine gemütliche Märchenstunde. Bald war das Vorlesen bekannter Märchen nicht mehr ausreichend und wir begannen, Geschichten zu erfinden, in denen unser Alltag vorkam. Dies ermutigte insbesondere zwei Frauen aus der Gruppe, selbst Märchen zu kreieren, in denen alle Anwesenden zu Protagonistinnen wurden. So entstand ein Raum, wo sie von sich selbst erzählen konnten, ohne als Person zu sehr in Erscheinung treten zu müssen, und wir bekamen in einer indirekten Form viele wichtige Hinweise über ihr Leben, ihre Sorgen und Nöte.

Hier ist etwas entstanden, was wir im Folgenden als »dyadisches Feld« beschreiben wollen: ein Ort, in welchem das Subjekt seine Impulse zum Ausdruck bringen kann, ohne noch mit der vollen Verantwortlichkeit dafür konfrontiert zu sein. Dieses »dyadische Feld« bestimmt, meist ohne dass es besonderer Beachtung teil wird, vielfach die pädagogische Arbeit.

Als Nächstes sprach ich die Situation Gudruns an. Ich hatte den Vorschlag gemacht, dass alle Teilnehmerinnen der Gruppe beim Gespräch dabei sein könnten, und dies übte, wie ich schnell merkte, einen nicht unerheblichen Druck auf die Betreuerinnen aus, die nun versuchten, Gudrun in den Raum mit reinzuholen – was Gudrun natürlich boykottierte. So griff ich denn ein und schlug vor, es Gudrun selbst zu überlassen, ob sie dazukommen wolle oder nicht, und dafür die Tür des Raumes offen zu lassen. Im Verlauf des Gesprächs fiel mir dann auf, dass Gudrun hinterm Eingang hin und herging, und ich spürte sehr deutlich, dass dieses ihre Art war, an der Gruppensituation teilzunehmen. Dies sagte ich im Gespräch, und damit entspannte sich die Situation spürbar. Es musste nun nicht mehr zwanghaft überlegt werden, wie Gudrun eingebunden werden könne.

Marlies: Dietmut hat uns klar gemacht, dass Gudrun schon in die Gruppe eingebunden ist, dass wir nicht mehr versuchen müssen, sie noch mehr einzubinden. Die Entlastung setzte sofort ein, und unser Wunsch, etwas Besonderes für Gudrun zu vollbringen, verschwand.

Irene: Was auch total wichtig war für uns – wir hatten Schwierigkeiten mit Gudruns Sicherheitsabstand, den wir zwar gezwungenermaßen respektierten und akzeptierten, aber gefühlsmäßig verändern wollten, wir wollten mehr Nähe zu Gudrun herstellen. Das hat uns damals sehr belastet. Dietmut hat diesen Abstand ja erst als Sicherheitsabstand definiert, als Abstand, den sie braucht und der für sie lebensnotwendig ist. Als sie dies sagte, war es für uns nicht mehr so schlimm, denn unsere Ängste, Gudrun zu wenig anzubieten oder etwas komplett falsch dabei zu machen, wurden entkräftet.

Seit diesem ersten Mal sind fahre vergangen, und vieles ist in der Erinnerung nur mehr verschwommen gegenwärtig. Wir wurden mit der Zeit immer mutiger und trauten uns immer mehr, in den Seminaren und Workshops auch Geschichten vorzustellen, in denen wir uns völlig hilflos fühlten, oder deren wir uns sehr schämten (die Geschichte von Mark besonders, und auch die von Andrea; später dann die Geschichten von Fritz und von Alexandra).

Als ich ein nächstes Mal kam, stand die Gruppe der Mitarbeiterinnen unter Schock: Kürzlich hatte eine andere Besucherin der MIM-Gruppe, Andrea, abends auf der Psychiatrie-Station versucht, mit Glasscherben Gudrun den Hals aufzuschneiden. Andrea, eine leicht geistig behinderte junge Frau, wurde daraufhin in den psychiatrischen Vollzug verlegt, und alle, die mit ihr zu tun gehabt und versucht hatten, einen integrativen Prozess mit ihr zu initiieren, waren von einem lähmenden Gefühl des Versagens befallen. Das Gespräch in der Gruppe der Mitarbeiterinnen, welches ich in dem inzwischen neu dekorierten Raum, wiederum unter Teilnahme derjenigen Gruppenmitglieder, die dies wollten, anregte, drehte sich erst einmal nur um das entsetzliche Gefühl, versagt zu haben.

Irene: Folgendes hat uns sehr viel weitergebracht: die Befreiung durch die räumlichen Veränderungen und die Befreiung aus unserer Erstarrtheit nach dem Mordversuch von Andrea.

Dietmut, das gesamte Team und alle Gruppenmitglieder setzten sich zusammen und redeten über diesen Vorfall. Für unsere weitere Arbeit war dieses Gespräch existenziell, da wir uns zu dieser Zeit in einem Schockzustand befanden und dadurch fast handlungsunfähig waren. Wir konnten ja kaum unter uns darüber reden, und noch viel weniger mit der Gruppe. In diesem Gespräch mit Dietmut haben wir geklärt, was da wirklich Schlimmes passiert war, welchen Anteil wir und welchen Andrea dabei hatte. Warum suchte sie sich ausgerechnet Gudrun als Opfer aus?

Gudrun war natürlich bei dem Gespräch auch dabei, sie stand im Türrahmen und beobachtete uns. Auch das Abschiednehmen von Andrea, die nicht mehr in unsere Gruppe kam, war ein wichtiger Teil dieser Sitzung.

Wir hatten vorher keine Vorstellungen mehr davon, in welcher Form wir diese Situation bearbeiten könnten. Es tat uns im Team allen einfach gut, mit Dietmut darüber zu sprechen; auch bei den Gruppenmitgliedern löste sich die Spannung merklich.

Es wird an dieser Darstellung deutlich, welche Funktion ich zuallererst zu übernehmen hatte: Die der Entlastung von Überich-Druck. Das hehre Ideal, »wir integrieren, wo bisher Ausschließung und psychiatrische Stigmatisierung geherrscht haben«, setzte die Gruppe der Betreuerinnen unter einen erheblichen Druck. Dieser Druck ließ die Mühsal der alltäglichen Arbeit, das scheinbare Stagnieren, die Unmöglichkeit, bestimmte Interaktionsmuster, die dem Ideal widersprachen, aufzulösen, schier unerträglich werden. Dabei war damals das Gefälle zwischen mir und den vor Ort Arbeitenden in der Tat erheblich – die idealisierenden Übertragungen auf mich sorgten dafür, dass meine Worte fast wie Offenbarungen aufgenommen wurden. Dies konnte natürlich so nicht bleiben, sollte nicht unter der Hand eine neue Herrschaftsstruktur und damit eine neue Unbewusstheit und Abhängigkeit eingeführt werden. So führte ich irgendwann einmal die scherzhafte Formulierung von der »Frau Doktor aus Hamburg« ein. Sie half uns, zu der idealisierenden Übertragung Distanz zu gewinnen, auch dort, wo sie noch gebraucht wurde. Mir konnte daraufhin noch deutlicher werden, eine welch komplexe Arbeit die Betreuerinnen zu bewältigen hatten. Wie schwer musste es sein, zugewandt zu bleiben, wie schwer, das alltägliche Ringen um ein Miteinander mit den so schwer von jahrelanger Hospitalisierung traumatisierten Gruppenmitgliedern zu bestehen. Zunächstfreilich hatte die idealisierende Übertragung auch stabilisierende Funktion – in einem Arbeitsalltag, der von so viel seelischem Elend geprägt war, war es von großer Wichtigkeit, dass es wenigstens in der Fantasie eine Verkörperung des Nur-Guten gab – und diese Rolle hatte ich in den Anfängen unserer Zusammenarbeit, so gut es eben ging, zu übernehmen.

Marlies: Für uns war »Frau Doktor aus Hamburg« wie ein Synonym der Entlastung – da gibt es eine, die uns und unsere Arbeit ernst nimmt und versteht. Diese Person ist dazu noch fachlich sehr kompetent und inhaltlich auf unserer Linie. In der Schrecklichkeit des Arbeitsalltags innerhalb der Psychiatrie brauchten wir dringend einen Rettungsanker. Im Laufe unserer Zusammenarbeit gelang es uns jedoch, von dieser Idealisierung durch Kritik und Distanz zu einer gleichwertigen Ebene zu finden.

Marlies und Irene waren mir zunächst mit der Aufgabe, mich Gudrun zuzuwenden, einfühlsam entgegengekommen. Diese Einfühlung entsprang deutlich dem Bedürfnis, sich das Gute, das ich zu verkörpern hatte, zu erhalten. Bald jedoch konfrontierten sie mich mit dem oft so schwer Erträglichen ihres beruflichen Alltags. Sie taten dies zunächst notgedrungen, denn Andreas Mordversuch an Gudrun ließ ihnen keine Wahl. Zunehmend jedoch wurden die Einladungen jetzt auch zu Prüfungen – ich sollte zeigen, ob ich mir nicht nur schöne psychoanalytisch-pädagogische Konzepte am Schreibtisch ausdachte, sondern auch bereit war, mich der Arbeitswirklichkeit der Betreuerinnen ernsthaft zu stellen. Einer Herausforderung besonderer Art fand ich mich bei einer nächsten Einladung ausgesetzt.

Irene: Dietmut sollte u.a. gemeinsam mit mir eine ehemalige Psychiatriestation, die gerade ihre ersten Entwicklungsschritte in eine neue Richtung machte, besuchen und anschließend mit dem dortigen Team seine Arbeit reflektieren. Dies war eine besonders heikle Aufgabe, da ich nicht vorausahnen konnte, wie die Mitarbeiterinnen dieser Station auf Dietmuts Arbeitsweise und ihren Ansatz reagieren würden. Ein Misslingen hätte gravierende Auswirkungen auf die ohnehin sehr schwache Position von uns Pädagoginnen im psychiatrisch dominierten Umfeld gehabt.

Trotz dieser Bedenken und Fantasien hatte ich aber das Gefühl, Dietmut einiges zumuten und zutrauen zu können. Mir war auch klar, dass eine gewisse Risikobereitschaft unsererseits nötig sei, um in der Psychiatrie mit inhaltlicher Arbeit ein Stück weiterzukommen. Dies waren u.a. die Gründe, weshalb der Arbeitsauftrag an Dietmut sehr offen formuliert war. Das Team sollte durch diese Offenheit die Möglichkeit haben, seine Bedürfnisse, Nöte etc. der »Expertin« gegenüber selbst zu formulieren und zu bestimmen, wo Unterstützung nötig war. Da Marlies und ich ja an einigen Seminaren von Dietmut teilgenommen hatten, konnte ich davon ausgehen, dass sie auf unterschiedliche Fragestellungen ohne fachliche Überheblichkeit einzugehen verstand.

Was diese Aufgabe besonders prekär machte, und was ausdrücklich auch Irenes Überlegung, mich genau zu diesem Team zu schicken, angeregt hatte, war die latente Spaltung zwischen den »guten neuen pädagogisch-integrativen« und den »bösen alten psychiatrisch-pflegerischen« Ansätzen. Durch diese Spaltung drohte die Atmosphäre zwischen dem oft ungelernten und jedenfalls in aller Regel nichtakademisch ausgebildeten Psychiatrie-Personal und den »Studierten«, die für das neue integrative Engagement angestellt worden waren, immer wieder vergiftet zu werden.

Der Spaltungsmechanismus wird uns im Folgenden häufiger begegnen. Wir kennen ihn in der Psychoanalyse als Abwehr gegen archaische Impulse und Ängste; und gegen solche richtet er sich auch hier: Er dient der Abwehr aggressiver, ja mörderischer Fantasien, die sich in der »institutionellen Gegenübertragung« derjenigen, die in Einrichtungen für geistig behinderte Menschen arbeiten, unweigerlich einstellen. Solche Fantasien sind ein Ausdruck dessen, was ich in »Namenlos« als »Institution Geistigbehindertsein« beschrieben habe.[3] Wie ich dort ausgeführt habe, stellen Tötungsfantasien das zentrale Konstituens der »Institution Geistigbehindertsein« dar. Sie richten sich gegen alle Menschen, die durch ihre Existenz die Grundlagen unserer Kultur - Autonomie, Effizienz, klare Subjekt-Objekt-Trennung, den »rationalen Mythos«[4] – in Frage stellen. Als »gesellschaftlicher Mordauftrag« vermitteln sie sich all jenen, die mit diesen Menschen beruflich oder privat in Berührung kommen, auf mehr oder minder durchgreifende Weise. Sie begründen hauptsächlich die besondere institutionelle Gegenübertragung, die in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen vorherrscht.

Die alte psychiatrische Unterbringung kann nun als kaum verhüllte Umsetzung eines »gesellschaftlichen Mordauftrages« in seelenmörderische Praxis gelten. Die Lebensbedingungen der Insassinnen waren dort nur zu sehr dazu angetan, den Gedanken an ein menschenwürdiges Dasein, an »lebenswertes Leben«, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die extrem schlechten Arbeitsbedingungen der dort Arbeitenden trugen ein Übriges dazu bei, dass Tötungsfantasien reichlich Nahrung bekamen. Die pflegerische Sorge in der Psychiatrie hatte sich, zugleich mit der Abwendung der realen Gefahr, immer auch gegen diese Fantasie richten müssen. Wenn es der alten psychiatrischen Versorgung zugefallen war, den »gesellschaftlichen Mordauftrag« als ausführendes Organ der »Institution Geistigbehindertsein« bewusstlos zu verwalten, so ist nun die integrative Pädagogik angetreten, ihn aufzuheben. Diese Aufgabe ist freilich nicht allein durch die Schaffung einer besseren äußeren Situation zu bewältigen. Immer besteht die Gefahr, durch äußerliche, quasi kosmetische Veränderungen die Tötungsfantasien, welche von der psychiatrischen Unterbringung auf so unverhüllte Weise zum Ausdruck gebracht wurden, lediglich unsichtbar, also erneut unbewusst zu machen.

Der wesentlich schwerere Weg ist der, die Tötungsfantasien aufzulösen, indem die ihnen zu Grunde liegenden institutionellen Mechanismen bewusst reflektiert und damit überwunden werden. Der ersteren, kosmetischen Lösung diente und dient bis heute die Spaltung.[5] Ihr gilt alles Frühere nun als böse und schlecht – was die psychiatrische Unterbringung als solche ja auch gewesen war. Dabei wird gerne vergessen, wie viel Bemühen um Menschlichkeit es selbst unter solch unmenschlichen Bedingungen noch gegeben hatte. Integration, die sich auf dieser Spaltung gründet, muss sich an den sichtbaren Unterschieden orientieren, und die Gefahr ist groß, dass sich unter den äußerlich definierten Merkmalen integrativer Praxis im Verborgenen die alten Mechanismen doch wieder durchsetzen.

Mein neuer Auftrag entsprang einem Wunsch, dieser Spaltung entgegenzuwirken und damit einen Prozess der inneren Integration zu fördern. Es wurde eine Prüfung, die zu bestehen mich Einiges an Selbstüberwindung kostete, und die mir daher einigen Respekt vor der Arbeit meiner »Prüfer« abforderte, die solcherart Erleben seit Jahren alltäglich zu bewältigen hatten.

Irene: Als Dietmut das erste Mal auf diese Station kam, war – das anschließende Seminar betreffend – eigentlich gar nichts geplant. Sie verließ sich auf mich, und ich verließ mich auf sie.[6] Klar war nur, dass das Team ziemlich am Ende war, weil es mit einer sehr schwierigen Gruppe (sechs Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ohne verbale Sprache), arbeitete, und dass sie sich vermutlich eine Person aus der Gruppe aussuchen würden, mit der alle Schwierigkeiten hatten. Das war dann auch so, Dietmut kam, und bald darauf erzählte ein Betreuer von Hans und schilderte ihn in den schillerndsten Farben. Er ruminierte[7] fast andauernd, manche vom Team ekelten sich schon so vor ihm, dass es ihnen kaum mehr möglich war, ihn zu betreuen. Hans saß viel in seinem Bett unter der Bettdecke, er hat sich da eine Höhle gebaut. Dietmut nahm Kontakt mit der Gruppe auf, besuchte Hans auch in seinem Zimmer.

Ich fand in der Tat eine sehr merkwürdige Situation vor. Als ich kam, wurde ich zunächst höflich (und mit verhaltenem Misstrauen) begrüßt. Dann jedoch begaben sich alle schnell an ihre Arbeit und verschwanden aus meiner Sichtweite, auch Irene war plötzlich weg, lediglich ein Pfleger setzte sich noch eine Weile zu mir, um mir von Hans zu erzählen. Auch er verschwand dann bald, und als auch Hans noch den Raum verließ, blieb mir nichts anderes, als mich in den Fluren der seltsam verlassen wirkenden Station umzusehen und ihn schließlich in seinem Zimmer aufzusuchen. Dort ergab sich dann eine bemerkenswerte Begegnung, die ich andernorts in einiger Ausführlichkeit dargestellt und analysiert habe[8]. Als ich danach mit der Gruppe der Mitarbeiterinnen des Teams das Gespräch suchte, war die misstrauische Atmosphäre schnell dadurch aufgelöst, dass ich davon berichtete, wie schwer mir die Begegnung mit Hans zunächst geworden war.

Irene: Danach gab es eine gemeinsame Besprechung mit dem Team. Dietmut sprach dem Team ihre ehrliche Anerkennung aus, dass sie diese Situation überhaupt aushalten können, und jeden Tag zu ihrer Arbeit gehen. Dies brachte für das Team eine unheimliche Entlastung, denn es wurde endlich einmal klar gesagt, dass in dieser Arbeitssituation alle sehr viel leisten. Dietmut benannte es als eine Leistung, dass das Team unter den gegebenen Bedingungen mit den Gruppenmitgliedern freundlich und bemüht war und sich auch noch über Verbesserungen Gedanken machte. Es wurde für alle deutlich, dass mit einer solchen Gruppenzusammenstellung weitere Ansprüche nicht erfüllbar sind.

Dietmut sprach auch an, wie bemerkenswert es sei, dass viele vom Team eine gute Beziehung zu Hans hatten, ihn gerne mochten, obwohl er ständig ruminierte. Sie erklärte ihnen weiter die Funktion/Bedeutung des Ruminierens. Wichtig war, dass sie dem eine Bedeutung gab, da sich niemand erklären konnte, wieso Hans das so oft tun musste. Für viele waren Dietmuts Deutungen wohl nicht oder nur schwer verständlich, aber es war ausreichend, dass es eine gab, die das verstehen konnte. Die Deutung war stimmig genug, dass alle sie annehmen konnten.

Kurze Zeit später hielt Dietmut an der Universität Innsbruck einen Gastvortrag über ihre Begegnung mit Hans. Viele aus dem Team hörten sich dieses schwierige Referat an, obwohl es sicher auf der intellektuellen Ebene eine Überforderung war. Trotzdem brachte es ihnen etwas, allein, dass jemand versteht, dass manche Menschen sehr verrückte Sachen machen (müssen), und dass sich hinter all dieser Verrücktheit ein Sinn verbirgt.

Wenn es gelingt, ein Erleben genau aufzugreifen und zu formulieren, dann stellen Abstraktionen offenbar nicht notwendig ein Verständnishindernis dar. Solche Dinge benennen zu können verlangt allerdings, dass ich mich ganz auf dieses Erleben einlasse, dass ich die Distanz, die sich aus der Rolle der »Frau Doktor aus Hamburg« ergibt, und die dazu verführen könnte, ex cathedra zu sprechen und eine Art »höheres Wissen« für mich zu reklamieren, immer wieder aufzuheben bemüht sein muss. Dass ich etwa zu der Gruppe, in welcher ich Hans kennen lernte, einen guten Zugang fand, lag daran, dass ich von meiner relativ kurzen Begegnung mit Hans bereits schweißgebadet war – ich hatte ein Wechselbad an Gefühlen durchgemacht, welches mir nur zu eindringlich vor Augen führte, wie schwer es zu ertragen sein musste, mit solcherart Interaktionsgeschehen alltäglich und auf verschiedenste Weise (Hans war ja nicht der einzige Bewohner) konfrontiert zu sein. Ich machte keinen Hehl daraus, dass die mir gestellte Aufgabe mich in die Nähe meiner persönlichen Grenze gebracht hatte.

Marlies: Wir haben uns die Frage gestellt, warum es auch etwas bewirkt hat, wenn Dietmut da war, aber nicht alle betroffenen Betreuerinnen anwesend waren, wieso war trotzdem eine Veränderung möglich? Es sind ja immer Veränderungen passiert nach einem »Besuch« von Dietmut. Oder wie war es möglich, Dinge in Bewegung zu bringen, ohne dass sie jemals in der Gruppe war, und ohne dass sie die betroffenen Personen kennen gelernt hatte – wie nach manchen ihrer Uni-Seminare?

Zum Beispiel Alexandra: Hier waren nur wenige bei der Besprechung im Workshop anwesend, und Irene hat bei der nächsten Teambesprechung darüber erzählt, sehr fragmentarisch, so wie sie es verstanden hatte, und alle haben es annehmen und verstehen und auch umsetzen können.

Ich glaube, dass die Geschichten, welche Dietmut alleine, aber manchmal auch mit uns zusammen erarbeitet hat, bei uns nicht so sehr im Kopf, sondern viel mehr im emotionalen Bereich zu Veränderungen geführt haben. Sie führten zu einer spürbaren Entlastung, wir waren wesentlich ruhiger und auch voll Elan bei der Arbeit nach einem Seminar mit ihr. Unsere Grundstimmung änderte sich immer sehr zum Positiven, und das spürten auch die Menschen, die wir betreuten, die ihrerseits wieder positiv darauf reagierten.

Es wird hier, nach der vordergründigeren Funktion einer Entlastung von Überich-Druck, eine weitere Funktion meines Eingreifens deutlich: das Einbinden des alltäglich Erlebten in szenische Sinnzusammenhänge. Der pädagogische Alltag mit seinen konkreten Anforderungen kann allzuleicht dazu verführen, in sinnleere Routine zu verfallen, auch und gerade, wenn die emotionalen Anforderungen unbewältigbar erscheinen. Im Rahmen solcher Routine werden sich immer wieder jene Fantasmen durchsetzen können, die ich in »Namenlos« als Grundlage der »Institution Geistigbehindertsein« beschrieben habe – allen voran die Fantasie, dass »diese Menschen« so ganz anders seien als wir, fremd und unverstehbar. Das Einbinden in szenische Erlebnisfiguren ermöglicht demgegenüber, in dem uns oft so fremd erscheinenden Gebaren der geistig behinderten Menschen etwas Eigenes wiederzuerkennen: Lebensentwürfe für Extremsituationen, auf die wir zwar im Allgemeinen nicht zurückgreifen müssen, die wir aber durchaus von uns selbst kennen.

Irene: Das Team der MIM-Gruppe war von Anfang an ein Team, das bereit war, die eigene Arbeit kritisch zu reflektieren und alle hatten auch entsprechende Ausbildungen absolviert. Der Wunsch, mit Dietmut zu arbeiten und sich auf eine Reflexion dieser Art einzulassen, kam ja nicht von ungefähr. Entsprechend groß war natürlich auch unsere Bereitschaft, uns mit ihren Ansätzen auseinander zu setzen. Dennoch gelang es auch Teams, die sich zum Teil noch nie mit solcher Thematik beschäftigt hatten, Dietmuts Deutungen anzunehmen und sich ernsthaft darauf einzulassen und ihren Nutzen daraus zu ziehen. Hier ist der Schlüssel vielleicht der, dass Tätigkeiten/Verrücktheiten der Betreuten (auch der Betreuerinnen, wohlgemerkt) von Dietmut als bedeutungsvoll erkannt werden, auch wenn die Bedeutung vom Team oft noch gar nicht verstanden wird. Häufig war schon das Wissen darüber, dass jemand den Verrücktheiten Bedeutung geben kann, ausreichend, um Blockaden abbauen zu können.

Marlies: Ich kann mich noch an ein Gespräch mit ihr erinnern – es war an der Uni – sie hat uns sehr darin bestärkt, Geschichten zu unseren Klientinnen zu entwickeln. Ich erzählte ihr, dass ich Angst davor habe, Geschichten zu fantasieren, da ich ja nicht wissen kann, ob sie zutreffen oder nicht. Was passiert, wenn wir Geschichten nachgehen, die nicht real sind, oder nicht passen? Ihre Antwort darauf war, dass wir auf unsere Gefühlsebene gehen müssen. Wenn wir eine Person mit einer Geschichte besetzen, und die ist für uns und im Kontakt stimmig, dann ist es nicht so wichtig, ob diese Geschichte real ist oder nicht – wenn die Geschichte für die Person nicht stimmt, wird sie es uns nämlich schon zeigen. Und wenn sie doch irgendwie passt, dann löst sich etwas in uns, und das ist entscheidend. Also, einerseits geht es darum, zu versuchen, irgendwelche Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensweisen zu verstehen, in dem wir für diese einen Sinn finden, und andererseits die Personen mit Geschichten zu besetzen.

Irene: Ich denke mir, dadurch werden die Personen erst bedeutsam. Sie werden in dem Moment zum Subjekt, wenn das, was sie tun, als bedeutungsvoll gilt, und nicht als eine dubiose Verrücktheit abgetan wird.

Im Verlauf dieses Buches wird uns dieses Bedeutung-Geben, Mit-Geschichten-Besetzen, immer wieder beschäftigen, auf verschiedenen Ebenen. Wir werden Geschichten erzählen, von Menschen, denen wir je einzeln oder gemeinsam begegnet sind. Dies sind dann sozusagen erfundene Geschichten, nämlich solche, mit denen wir unserer Beziehung zu ihnen einen Sinn geben konnten. Wir werden versuchen zu verstehen, was es mit diesen Geschichten, mit den Bedeutungen, die wir erfinden odergenauer: konstruieren, aufsich hat – warum es oft so viel hilfreicher ist, die Fantasie auf diese Weise spielen zu lassen, als Methoden zu erlernen und sie nach gelerntem Schema anzuwenden. Es gilt dann allerdings, solche Geschichten mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie einzuholen, um solche Fantasiegebilde als Lebensentwürfe begreißar und einem allgemeinen Verständnis zugänglich zu machen.

Irene: Die Zusammenarbeit mit Dietmut hat uns gerade deshalb gut gefallen, weil sie keine komplexen Anleitungen gegeben hat. So fühlten wir uns in verschiedenen Kursen und Fortbildungen, in denen wir methodische Anweisungen erhielten, häufig unverstanden in unserer Arbeit und dem Schweren, was sie an sich hat, oft auch entwertet. Das gemeinsame Geschichten-(Er)finden mit Dietmut hingegen bestärkte und entlastete uns, denn es pfropfte uns nicht irgendwelche Programme auf.

Es waren die Kleinigkeiten, die viel bewirkt haben. Wir haben gelernt, unsere Arbeit ernst zu nehmen, zu wissen, wie schwierig es ist, eine nette und entspannte Kaffeerunde zu machen. Außenstehende haben ja oft das Gefühl: »Ist das fein bei euch, so gemütlich!« Sie sehen nicht, dass es knochenharte Arbeit ist, etwas so zu gestalten dass es nicht nur gemütlich wirkt, sondern tatsächlich entspannt ist.

In der Tat habe ich bei meinen Besuchen in integrativen Wohngruppen, auch andernorts, inzwischen manche Kaffee-Runde miterlebt; gelegentlich gelingen sie, nicht selten sind sie auch voller Spannung und Anstrengung. Ein Gradmesser, ob eine solche Runde wirklich »fein und nett«, wirklich entspannt ist, ist für mich, mir vorzustellen, wie es wäre, in genau dieser Wohngruppe selbst zu leben – nicht als Betreuerin, wohlgemerkt, sondern als Betreute. Gelegentlich hatte ich in einer solchen Runde das Gefühl, ich, als Betreute, müsste auf alle meine Äußerungen Acht haben. Ich dürfte nichts spontan tun, da es die so angestrengt und »methodisch richtig« dargestellte Gemütlichkeit zerstören und »meine Betreuerinnen« kränken könnte, denen ich für ihr großes Bemühen doch so dankbar zu sein hatte. Solcherart dargebotene Gemütlichkeit erschien mir wie ein Prokrustesbett, das lediglich dazu diente, alles einem von außen vorgeschriebenen Bild von »Integration« gefügig zu machen. Ganz anders waren solche Runden, an denen etwa Gudrun teilnahm, indem sie vor der Tür des Raumes hin- und herging und hin und wieder einen verstohlenen Blick hineinwarf – und damit bemerkt wurde; an denen Alexandra teil nahm, indem sie sich mit ihren Keksen wegsetzte in eine Ecke, wo sie das Geschehen aus den Augenwinkeln beobachten konnte, ohne sich beteiligen zu müssen; wo nicht verkrampft und peinlich berührt versucht wurde, darüber hinwegzusehen, dass Mark wieder einmal onanierte, sondern Marlies oder andere ihm deutlich zeigen konnten, dass sie sich davon belästigt fühlten; oder wo Platz war dafür, dass Karin den ganzen Raum einnahm, um sich ausführlich mit Irene über ihren Wunsch, eine ehemalige WG besuchen zu können, und über die (von ihr selbst geschaffenen) Gründe von dessen Unerfüllbarkeit auseinander zu setzen.

Nicht, dass solche Tendenzen der Betreuten, sich selbst oder andere auszuschließen, für die verantwortlichen Pädagoginnen leicht hinzunehmen wären; es gehört dazu eine in immer neuen Auseinandersetzungen mit den eigenen Gefühlen zu erarbeitende Gelassenheit, damit daraus nicht eine gleichgültig-achselzuckende (oder im Falle von Mark gar eine sich in Straffantasien ergehende aggressive) Komplizenschaft mit solchen Tendenzen wird. Allein in solcher gelassenen Atmosphäre, so scheint mir, würde auch ich mich nicht nach vorgeschriebenen Regeln »integriert« benehmen müssen, Regeln, vor denen ich ohnehin nur versagen könnte, sondern meinen mir eigenen Platz finden können.

Dass schwere Arbeit dazugehört, solch ein entspanntes Bei- und Miteinander entstehen zu lassen, ist in der Tat nicht leicht zu sehen. Es liegt ihm ja nicht ein konsequentes und damit sichtbares Festhalten an pädagogischen Ritualen und Methoden zur Gestaltung einer als »Integration« missverstandenen Gemeinsamkeit zu Grunde – vielmehr ein inneres Loslassen, die Fähigkeit, zu ertragen, dass Gudrun, Alexandra, Mark, Fritz oder Karin ihre je eigenen Vorstellungen im Gesamt zur Geltung bringen und dabei die Gemeinsamkeit über lange Strecken verweigern. Solche Gelassenheit ist schwer zu finden, gerade weil sie leicht mit Gleichgültigkeit oder gar mangelnder Integrationsbereitschaft zu verwechseln ist und u.U. von außen kommende Vorwürfe hervorruft. Sie ist jedoch unerlässlich dafür, dass nicht nur ein äußeres Bild von Integration, sondern ein inneres Erleben davon möglich wird – und sie beruht entscheidend darauf, dass die Pädagogin Raum dafür hat und die innere Freiheit, sich mit ihrem eigenen Erleben, ihren eigenen, besonders auch mit den aggressiven oder entwertenden Gegenübertragungsreaktionen ehrlich auseinander zu setzen.

In unserem bisherigen pädagogischen Handeln hatten wir eine tragfähige theoretische Grundlage in der Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Milani-Comparetti, Gidoni u.a. gefunden. An den dort vorgestellten Konzepten orientierten wir uns in unserer konzeptuellen Gestaltung der MIM-Gruppe und auch danach weiterhin. Die psychoanalytische Herangehensweise, die den unbewussten Prozessen Beachtung schenkt, erscheint uns allerdings als eine unbedingt notwendige Ergänzung zu diesem Konzept, welches zwar durchaus auch schon zur Psychoanalyse hin offen ist und im Ansatz deren Konzepte zu integriert, jedoch insgesamt mehr sozialpsychologisch orientiert ist.[9]

Marlies: Die Mark-Geschichte, mit dem Onanieren, war sehr wichtig für uns. Ich habe erzählt, dass wir es nicht mehr aushalten können und Dietmut hat uns den Druck genommen. Es gelang ihr, uns in unserem Entsetzen aufzufangen. Gemeinsam konnten wir die Machtstruktur, in der wir gefangen waren, erkennen und verstehen, wie sehr Mark darum kämpfte, als »ganzer Mann« gesehen und empfunden zu werden. Es wurde uns klar, dass wir ihn bis dahin nicht als Mann angenommen hatten, und schon gar nicht als ein sexuelles Wesen.

In mir brannte ein Gedanke wie Feuer: Was bildet sich dieser schwerstbehinderte Mann eigentlich ein, mich auf so grausige Art zu provozieren, dass ich handlungsunfähig werde. Meine Wut auf ihn, aber auch meine Wut auf mich selbst, dass ich mir das gefallen lasse, war enorm. So schwer es für mich auch war, diesen Gedanken laut, vor der ganzen Gruppe auszusprechen (ich war ja eine gute, fortschrittliche Pädagogin), es war heilsam, im wahrsten Sinne des Wortes! Wirklich augenblicklich ging es mir besser, es fiel eine Last von mir ab. Es war aber auch für die ganze Gruppe befreiend, dass auch einmal offen über Sexualität gesprochen wurde.

Anfangs waren unsere Begegnungen mit Dietmut davon geprägt, dass sie die Aufgabe einer Feuerwehr hatte. Mittlerweile holen wir sie in dem Vertrauen, in dem Wissen, wir können konstruktiv mit ihr arbeiten und alle profitieren davon.

Seither geht es auch mir anders: ich stehe nicht mehr so sehr unter dem Erwartungsdruck, als »Feuerwehr« ganz schnellgroße Veränderungen bewirken zu müssen. Die »Frau Doktor aus Hamburg« konnte menschlich werden, auch einmal etwas nicht sogleich, gar nicht oderfalsch verstehen.

Inzwischen kommt es vor, dass die Geschichten nicht mehr von mir vorgeschlagen, sondern von den betreuenden Pädagoginnen selbst, oder auch mit mir gemeinschaftlich erfunden werden, unter selbstbewusstem Einbezug der eigenen emotionalen Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit den Betreuten. Fast das wichtigste Ergebnis meiner Eingriffe und unserer Zusammenarbeit erscheint mir, etwas pointiert gesagt, dass Irene und Marlies heute nicht viel anders arbeiten als früher; aber dass sie jetzt wissen, warum es gut und wichtig ist, so zu arbeiten, und dass die Hauptarbeit die an der eigenen Emotionalität ist, an den oft so belastenden Gegenübertragungen, welche die Arbeit mit geistig behinderten Menschen auslösen kann – Gefühlen, die sie früher mit sich allein meinten ertragen und ins private Aus wegsperren zu müssen.

Irgendwann, auf einem gemeinsamen Spaziergang zwischen Rum und Absam hin zu Völker Schönwiese, hatten Dietmut und Irene die spontane Idee, dass es gut wäre, das bisher Erlebte und Erarbeitete aufzuschreiben und als Buch zugänglich zu machen.

Wir erzählten dann Volker davon, und er war gleich sehr angetan und versprach, das Projekt nach seinen Möglichkeiten zu begleiten. Am nächsten Tag rief Irene Marlies an und fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, bei diesem Projekt mitzuarbeiten.

Ebenfalls nur einen oder zwei Tage später erfuhr ich von der Existenz der Andreas-Tobias-Kind-Stiftung, und kurz darauf hatten wir, nach meinem ersten Telefonat mit Professor Helmut Kind, bereits Aussicht auf eine mögliche finanzielle Förderung unseres Projekts.

Und so begann die Zusammenarbeit an diesem Buch.



[3] Niedecken 2003

[4] vgl. Becker 2002

[5] Ein typischer Ausdruck einer solchen Spaltung kann die Einführung neuer Sprachregelungen sein: Wenn etwa heute das Wort »Betreuung« gerne durch »Begleitung« ersetzt wird, liegt nahe, dass die Verwendung des neu eingeführten Terminus als gut und progressiv, die des alten als verwerflich betrachtet wird.

[6] Die Arbeitsform war damals – und ist es in etwa bis heute geblieben – lose in zwei Einheiten organisiert: Zuerst sollte ich die Station besuchen und das, was ich dort antraf, auf mich wirken lassen. Am nächsten Tag war dann ein Workshop geplant, an welchem die dort Arbeitenden, aber auch andere Interessierte teilnehmen konnten. Da diese Arbeitsform sich in ihrer Offenheit sehr bewährt hat, haben wir sie, nur wenig modifiziert, bis heute beibehalten.

[7] Ruminieren ist der Vorgang des Heraufwürgens von bereits verdauter Nahrung, die dann wieder gekaut und geschluckt wird.

[8] Die Geschichte, die hier angesprochen ist, wurde von mir in dem Aufsatz »Das kindsmörderische Introjekt« dargestellt und analysiert, der in die vierte Auflage (2003) von »Namenlos« mit aufgenommen wurde.

[9] siehe Milani-Comparetti, Gidoni 1996

Die Herstellung des dyadischen Feldes und das pädagogische »Nebenbei«

Marlies Pötzl/Dietmut Niedecken

Vorbemerkungen

Während unserer Vorbereitungsgespräche zu diesem Buch sprachen Marlies und Irene immer wieder von »Nebenbeigeschichten«; sie meinten damit Neuerungen, Entwicklungen, die sich in ihrer Arbeit ergaben, ohne dass sie von ihnen geplant oder in irgendeiner Weise bewusst intendiert waren, die jedoch in der Regel sich als besonders bedeutungsvoll erwiesen. Wir haben uns gefragt, was das Besondere an diesem »Nebenbei« sei, woraus es sich ergeben könnte, wie eine Situation beschaffen sein muss, damit »Nebenbeigeschichten« in ihr Platz haben, und schließlich, was es bedeutet, wenn ein solches »Nebenbei« aus irgendwelchen Gründen misslingt.

Wir haben als erste hier zu berichtende Geschichte die von Gudrun ausgewählt, weil wir an ihr in besonderer Klarheit zeigen können, was das »Nebenbei« der pädagogischen Arbeit ausmacht. Es geht dabei zuallererst um die Herstellung eines dyadischen Feldes – einer szenischen Anordnung bzw. eines Beziehungsfeldes, an welchem zwei oder auch mehrere Personen beteiligt sein können, ohne dass eine davon als handelndes Subjekt des Geschehens im Fokus steht. Dieses dyadische Feld soll der auf Hilfeleistung angewiesenen Person ermöglichen, mit den ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten, seien sie gestischer oder sprachlicher Art, die Hilfeleistung zu bestimmen, die zur Verwirklichung ihres je eigenen Impulses von ihr gebraucht wird, und zwar insbesondere dann, wenn ihr zu dieser aktiven Verwirklichung wenig oder keine eigene Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Einrichtung eines solchen dyadischen Feldes hilft zu verhindern, dass die auf Hilfeleistung angewiesene Partnerin der Interaktion von dem betreuerischen Geschehen bevormundet oder gar überwältigt und zur Abhängigen gemacht wird. Sie ist dazu da, dafür zu sorgen, dass Angewiesenheit nicht Abhängigkeit bedeuten muss, indem der autonomen Verfügung des aufHilfestellung angewiesenen Subjekts eine Stütze geboten wird.

Allzu leicht wird die betreuerische Situation von Vorstellungen dominiert, wie »pädagogisch wertvolle betreuerische Arbeit« auszusehen habe. Damit aber gerät die Betreuerin selbst in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit: Sie wird sich dann an einem fraglichen Ideal messen, anstatt in der Dezentrierung des Fokus der Aufmerksamkeit weg von der eigenen Aktivität die gestischen Impulse der Betreuten wahrzunehmen und zur Geltung bringen zu können. Damit aber ist das dyadische Feld zerstört.

Damit das »Nebenbei« gelingt, das dyadische Feld bereitet ist, muss die betreuende Person in sich eine Art Rezeptivität herstellen, die als containing function[10] in der Psychoanalyse bekannt ist. Diese Haltung wird immer dort gebraucht, wo das Individuum seinen Impulsen nicht aus Eigenem hinreichend Ausdruck verleihen kann. Modell dafür ist die Situation des Neugeborenen, das seinen Bedarfnahezu ausschließlich über die Hilfeleistung einer haltenden Umwelt zur Geltung bringen kann, während die Art des Haltens sich aus seinen lautlichen und gestischen Äußerungen her bestimmt. Indem solche Impulse aufgegriffen und gehalten werden, bestärken sie die Autonomie und Eigenart derer, von denen die Impulse ausgehen. Wenn hingegen die Äußerungen der Betreuten als »typisch geistigbehindert« klassifiziert und zum Anlass genommen werden, pädagogische Vorstellungen und Normen umzusetzen, reproduzieren sie die Dominanz der Primärobjekte und richten eine infantile Abhängigkeit der Betreuten ein – und dies durchaus auch dann, wenn, wie es heute üblich ist, solche Klassifizierungen gar nicht mehr ausgesprochen werden dürfen, da sie als »politisch unkorrekt« gelten. Damit, dass sie mit einem Tabu belegt sind, sind sie nicht weniger wirksam – dies hat Valerie Sinason eindrücklich gezeigt.[11] Solches aktiv-dominierende, von Vorstellungen über »richtiges« Verhalten bestimmte Vorgehen ist häufige Ursache von Störungen in der betreuerischen Interaktion. Es dient, wie wir noch sehen werden, immer der Abwehr, und zwar in den hier berichteten Geschichten einer Abwehr im Sinne der »Institution Geistigbehindertsein«: Das Fremde, verunsichernde am Gebaren der Betreuten wird dann klassifiziert und eingeordnet und kann nicht mehr im Sinne ihrer eigenen Bedeutungsgebung verstanden werden.

Dass der Fokus im dyadischen Erleben auf dem liegt, was zwischen den Beteiligten geschieht, und nicht darauf, was die Einzelnen aktiv-verantwortlich dazu beitragen, ist eine entscheidende Bedingung dafür, dass sich das »Nebenbei« herstellen kann, dass sich Bedeutungen zeigen und entfalten können. Damit freilich werden Prozesse ermöglicht, die nicht immer einfach zu handhaben sind. Es kann ja nicht ausbleiben, dass in der pädagogischen Betreuungssituation infantile Übertragungen der Betreuten ausgelöst werden. Wenn diese nicht mit den entsprechenden institutionellen Gegenübertragungs-Schablonen abgewehrt, sondern in ihrer Bedeutung erfasst werden sollen, dann wird es in der pädagogischen Arbeit immer wieder auch um jene Bedeutungen gehen, die die Betroffenen ihrem Behindertsein gegeben haben. Die besondere Schwierigkeit der integrationspädagogischen Arbeit liegt dann darin, dass sie sich mit den Mechanismen der »Institution Geistigbehindertsein« aktiv und bewusst auseinander zu setzen hat.

Dies sind Mechanismen, welchen die psychiatrische Unterbringung automatisiert und bewusstlos als ausführendes Organ gedient hatte und welche sich auch im pädagogischen Handeln allzu leicht hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzen können.

Wenn solche Bedeutungen Raum erhalten, dann kann und muss die Seite der Tötungsfantasien, die von den Betroffenen selbst verinnerlicht wurde, zum Ausdruck kommen. Die »Institution Geistigbehindertsein« hat nämlich ihre besondere Wirkungsmacht darin, dass sie in denjenigen, die ihr als Opfer ausgesetzt sind, eine entsprechende seelische Konfiguration erwirkt, mit welcher die Betroffenen in ihrer Umweltfortan immer wieder die entsprechenden Gegenübertragungen hervorrufen müssen. Sie erwirkt einen Wiederholungszwang, der weit unvermittelter und mit viel größerer Wucht auftritt als der neurotische, der in der psychotherapeutischen Praxis bekannt ist. Wenn mit den von ihm ausgelösten Gegenübertragungen nicht bewusst umgegangen wird, geraten die Betreuerinnen in eine Art unbewusste Kollusion mit den Betreuten, mit nicht selten fatalen Folgen.

Den Tötungsfantasien auf Seiten der institutionellen Gegenübertragung steht oft eine Art Totstellreflex auf Seiten der Betroffenen gegenüber; auch Fluchtreflexe etc. können hier eine Rolle spielen. Solcherart seelische Konfigurationen bilden sich von früh an in den Betroffenen aus, und sie bringen sich als vegetative Symptome – dies in besonderem Ausmaß im Falle von schwer mehrfach behinderten Menschen[12] – oder, in ihrer reiferen Version, als stereotype Verhaltensmuster, zum Ausdruck. Damit erzeugen sie immer wieder von Neuem die Tötungsfantasien, die schon zu ihrer Entstehung geführt hatten. Valerie Sinason schlug einmal in diesem Zusammenhang vor, von einem »infantocidal introject«[13] zu sprechen, und ich möchte diesen Ausdruck – übersetzt als »kindsmörderisches Introjekt« – im Folgenden verwenden. Es handelt sich um verinnerlichte Strukturen, in welchen unverzichtbare Lebensimpulse mit Totstell- oder Fluchtrefiexen auf eine Weise verquickt sind, die deren Weiterentwicklung zu symbolischen Gebilden verhindert oder zumindest schwer beeinträchtigt.

Insofern es nun freilich genau die symbolischen Konfigurationen sind, die, als unmittelbar physischen Zwängen enthobene, die unabdingbare Voraussetzung aller geistigen Entwicklung darstellen, hat eine solche Introjektbildung zur Folge, dass zentrale Bereiche des Erlebens der relativen Autonomie der geistigen Entwicklung entzogen sind und reflexhaft leibgebunden bleiben.[14] Die Geistige Behinderung selbst – nicht etwa nur mit ihr verbundene »Verhaltensstörungen« – ist damit als Produkt einer seelischen Entwicklung unter Extrembedingungen aufzufassen. Wenn wir sie als angeborenen Defekt ansehen und ihr keine eigene Bedeutung zugestehen, dann unterliegen wir dem »rationalen Mythos«, dessen Auswirkungen Maria Becker (2002) in ihrer Arbeit mit schwer mehrfach behinderten Menschen intensiv erfahren und beschrieben hat.

Wenn es das Schicksal solcher seelischen Konfigurationen ist, im rationalen Mythos als »bedeutungslos«, »sinnlos«, »überwiegend vegetativ gesteuert« zu gelten, dann hat integrationspädagogische Arbeit die Aufgabe wahrzunehmen, dem Erleben der Betreuten einen Raum zu schaffen, in welchem es seine Bedeutungen »im Nebenbei« entfalten kann. Diesen Raum beschreiben wir als das »dyadische Feld«, und wir werden im nun folgenden Beispiel zeigen, wie dieses entstehen kann.

Gudrun

Meine erste Begegnung mit Gudrun fand vor zehn Jahren statt. Sie lebte zusammen mit 38 Mitpatientinnen auf einer Psychiatriestation. Dort musste sie sich den ganzen Tag im Tagraum, der kärglich mit Holzstühlen, Bänken und Tischen eingerichtet war, aufhalten. Ab 16 Uhr 30 wurde sie mit fünf anderen schwerstbehinderten Frauen im Schlafraum »verwahrt«, oft auch eingesperrt. Gudrun machte damals einen ganz unnahbaren Eindruck und hatte stark autistische Züge. Wir hatten nur spärliche Informationen über Gudruns Biografie und wussten lange Zeit nur das Wenige aus den dürftig geführten Krankenakten des Psychiatrischen Krankenhauses. Erst nachdem wir Kontakt zu einer ihrer Schwestern aufgenommen hatten und diese uns einen Bericht über Gudruns Kindheit schrieb, wurden uns einige ihrer Verhaltensweisen verständlicher.

Gudrun kam 1961 als drittes von vier Mädchen auf die Welt. Ihre Entwicklung verlief das erste halbe Jahr ganz normal. Als sie etwa 6 Monate alt war, erkrankte ihre Mutter an einer schweren Virusinfektion. Vermutlich steckte sich Gudrun an und zu dem Infekt kamen häufige Krampfanfälle hinzu. Sie kam erstmals für eine Woche in ein Krankenhaus, wo Epilepsie diagnostiziert wurde, obwohl bei den Untersuchungen die Ergebnisse negativ waren.

Trotz Behandlung hatte Gudrun bis zu sechs Krampfanfälle täglich und wurde nach kurzer Zeit in ein anderes Krankenhaus aufgenommen. Wochenlang war sie dort völlig apathisch, die Krämpfe wurden mit starken Medikamenten zum Stillstand gebracht. Es gab eine kurze Zeit zu Hause, in der Gudrun wieder zu lachen und zu reagieren begann.

Bald darauf bekam sie aber wieder Krämpfe und wurde zu einem Professor in eine bekannte Kinderklinik in ein anderes Bundesland gebracht. Nach kurzer Zeit wurde sie ohne Behandlung wieder nachhause geschickt. Zehn Tage später erlitt sie einen besonders schweren Krampfanfall und wurde abermals ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einigen Monaten wurde sie entlassen, und endlich schien sie sich positiv zu entwickeln. Sie lernte gehen, spielte mit Gegenständen und nahm Kontakt zu ihrer Umgebung auf.

Ein halbes Jahr später erkrankte sie an einer Grippe, bekam erneut Krampfanfälle und lag oft stundenlang apathisch im Bettchen. In ihrer Entwicklung wurde sie wieder weit zurückgeworfen. Zur selben Zeit starb Gudruns Großmutter. Ihre Mutter, die sich von der anfänglichen Viruserkrankung nie wirklich erholt hatte, brach unter all diesen Belastungen zusammen und wurde nach einem Selbstmordversuch für viele Wochen in ein Nervenkrankenhaus aufgenommen. Gudrun wurde inzwischen in einem Kinderspital untergebracht. Nachdem sich ihre Mutter etwas erholt hatte, durfte sie wieder nach Hause. Ihre körperliche und motorische Entwicklung verlief sehr gut, die emotionale und geistige Entwicklung hingegen verlangsamt und schwierig. Gudruns aufwändige Betreuung zuhause war für die Mutter auf Grund einer neuen Schwangerschaft und der fortwährenden psychischen Belastung kaum mehr zu bewältigen. Auf Dauer wurde es für ihre Mutter untragbar, sie weiterhin zuhause zu behalten.

Kurz nach der Geburt ihrer vierten Tochter brach die Mutter mit einer schweren depressiven Psychose zusammen und wurde monatelang in einem Nervenkrankenhaus behandelt. Für Gudrun wurde ein Heimplatz in einem anderen Bundesland gefunden, sie verlor dadurch den Kontakt zu ihrer Familie fast gänzlich. Kurze Zeit später verübte ihre Mutter Selbstmord.

Gudrun blieb bis zur Pubertät im Heim und wurde dann auf Grund ihres aggressiven Verhaltens 1974 ins Psychiatrische Krankenhaus eingewiesen. Ab ihrem dreizehnten Lebensjahr wurde Gudrun auf einer psychiatrischen Station verwahrt, jahrelang wurden Zwangsmaßnahmen (Fixierungen über mehrere Tage, massive Sedierungen, Bestrafungen durch teilweise tagelanges Einsperren, usw.) angewendet. 1995 wurde Gudrun in die tagesstrukturierende MIM-Gruppe aufgenommen, Nächte, Feiertage und Wochenenden verbrachte sie in einer psychiatrischen Station. 1997 übersiedelte Gudrun mit der MIM-Gruppe für ca. drei Monate nach G. Nach der Auflösung dieser GruppekamsieineineneueGruppeundesbeganndieVorbereitungaufeinLebenin einer Wohngemeinschaft außerhalb des Psychiatrischen Krankenhauses.

1999 übersiedelte sie in eine der Wohngemeinschaften des Vereines W.I.R., in der siebisheutelebt.Ich übernahm für einige Zeit die pädagogische Leitung dieser Wohngruppe und konnte so Gudruns Prozess des Sich-Einlebens nach der Auflösung der MIM-Gruppe noch ein Stück weiter begleiten.

Wer war Gudrun, als wir sie kennen lernten?

Mit Gudrun in Kontakt zu kommen, war, als wir sie kennen lernten, nur durch mechanische Pflegehandlungen möglich, ansonsten brauchte sie immer einen Sicherheitsabstand von ca. einem Meter. Wenn jemand ihr zu nahe kam, wich sie aus; wenn sie nicht ausweichen konnte, stieß sie die Person weg. Sie konnte oder wollte keinen Augenkontakt halten, niemand wusste, was sie wollte oder nicht wollte, sie konnte nicht sprechen und ihre nonverbale Kommunikation war kaum verständlich.

Gudrun schien, als ich sie später dann kennen lernte, in einer eigenen Welt zu sein, ohne Wünsche an die unsere, und schien, wenn man sie »vergaß«, mit sich selbst in einer Art Frieden zu leben. Dies verlieh ihr jene Aura des »Feenhaften«, welche ich bereits in der Einleitung beschrieben habe. Es waren denn auch nicht ihre – durchaus gravierenden – Symptomhandlungen, »Verhaltensauffälligkeiten«, aus welchen die Motivation, sich mit ihr zu befassen, hauptsächlich erwuchs. Vielmehr war es diese ihre eigenartige Aura, das Unberührbare und scheinbar Unendliche ihrer omnipotenten Welt, womit sie faszinieren und den Wunsch wecken konnte, daran Anteil zu haben. Es scheint mir, dass darin sich eine anfänglich durchaus »hinreichendgute« Mutter-Kind-Beziehung[15] Gudruns zum Ausdruck brachte, die durch die katastrophischen Einbrüche von der zweiten Hälfte ihres ersten Lebensjahres an einer durchgreifenden Zerstörung anheim gefallen war. Diese Faszination trug über das schwer Erträgliche mancher ihrer Angewohnheiten hinweg und verhalf ihr und Marlies, und auch den anderen, die mit ihr zu tun hatten, dazu, dass sie auch durch schwierige Auseinandersetzungen hindurch die Hoffnung an ein Gutes bewahren konnten.

Diese Interpretation Dietmuts können wir unterstreichen, möchten dem aber noch etwas hinzufügen. Immer wieder machten wir die Erfahrung, dass diese »leisen Impulse«, wie z.B. Gudruns ständiges Wippen oder Ottos unaufhörliches Spiel mit einem Band, in uns viel dauerhafter präsent waren als gravierende Symptomhandlungen oder Verhaltensauffälligkeiten, auf die wir im Alltag oft sofort reagieren mussten. Gerade das Spüren, Wahrnehmen und (Be)Achten dieser »leisen Impulse« macht die Qualität unserer pädagogischen Arbeit aus. Nicht umsonst wählten wir für Workshops und Reflexionen gerne auch diese so unscheinbaren Beispiele aus.

Doch nun zurück zu Gudruns Geschichte: Der Bereich »Essen« war sehr problematisch. Gudrun bekam nur Breikost, da sie als erstickungsgefährdet eingestuft war, und sie stopfte in Sekunden mit beiden Händen das Essen in sich hinein. Sie aß alles, was sie irgendwie in die Hände bekam und »stahl« das Essen der anderen. Aus diesen Gründen wurde Gudrun auf der psychiatrischen Station mittags meistens gefüttert und abends im Schlafsaal am Klostuhl angebunden und bekam Teller und Löffel in die Hand. Gudrun fügte sich durch Schlagen und Kratzen im Gesicht häufig massive Selbstverletzungen zu. Da sie sich das Gesicht regelrecht blutig kratzte, wurden ihre Hände oft am Stuhl festgebunden. Daher brauchte sie damals sehr viele Zusatzmedikamente.

Es zeichnen sich hier zwei Erlebnisformen Gudruns ab, mit denen die pädagogische Arbeit im Folgenden sich zu befassen, die sie aufzugreifen hatte: zum Einen die unendliche Leere eines zeitlos-ewigen, omnipotenten, eines vollkommen bedürfnislosen Seins; zum Andern abrupt einbrechende panikartige Zustände, derer sie sich durch hastiges Schlingen, das »Stehlen« von Essbarem und ihre Ausbrüche von Autoaggression zu erwehren sucht. Solche Zustände schienen eine Art Sog zu haben, dem sie dann vollkommen ausgesetzt war, gegen den es keinerlei Halt, keinerlei Gegengewichtgab. Sie ergaben sich, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Essenssituation auftraten, vornehmlich dann, wenn irgendetwas die Gleichförmigkeit ihres Daseins aufstörte und sie zwang, zu erleben, dass da etwas außerhalb ihrer omnipotent-gleichförmigen Welt existierte und sich verändern konnte.

Hier drängt sich das Bild der sich schlagenden und kratzenden Gudrun in unser Gedächtnis – sie kratzt sich ihr Gesicht nicht nur blutig, sondern versucht es förmlich herunterzureißen. Dies löste schon damals in uns die Fantasie aus, sie wolle zuallererst ihr Gesicht zerstören, um sich unsichtbar und damit nonexistent machen.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Schlingen zu verstehen: Auch das Hungerbedürfnis war ein Einbruch in die unendliche Gleichförmigkeit und musste damit unbedingt und auf der Stelle vernichtet werden, als stelle es eine aufs Äußerste bedrohliche und unerträgliche Störung des »unendlichen Nichtseins« dar, in welches sie sich stunden-, ja tage-, monate- jahrelang hineinwippte, hineingewippt hatte (sie pflegte in ihren Abwesenheiten auf der Stelle stehend aufden Füßen zu wippen).

Die Unendlichkeit ihres Nichtseins kann als Ausdruck einer Selbstvernichtungsfantasie Gudruns gewertet werden; sie und die zeitvernichtende, bedürfnis-erstickende Katastrophik der Einbrüche von Bedürftigkeit stellten zwei Kehrseiten einer Medaille dar, die in der pädagogischen Arbeit zueinander in Bezug gestellt und ausbalanciert werden mussten, damit zwischen ihnen sich Zeit und Raum zum Leben für und mit Gudrun herstellen konnte.

Gudrun wurde gewindelt, obwohl dies gar nicht immer notwendig gewesen wäre. Sie wurde bei Ausflügen nicht mitgenommen, kannte von Spaziergängen her nur das Psychiatriegelände, durfte auch nicht alleine gehen, sondern wurde fest gehalten. Gudrun war ein Bestandteil dieser psychiatrischen Station, aber sie war als Person eigentlich nicht sichtbar. Was ist in den Jahren, in denen ich sie kannte und mit ihr arbeiten konnte, geschehen?

Zwei Jahre, nachdem ich Gudrun kennen gelernt hatte, wurde sie in die neu gegründete MIM-Gruppe aufgenommen. Wir betreuten dort tagsüber sieben Personen; eine davon war Gudrun. Der Anfang war chaotisch, denn wir mussten einerseits erst Räume finden und diese adaptieren, andererseits die Gruppenmitglieder kennen lernen und sie uns. Der Aufbau einer sinnvollen, den Personen angepassten Tagesstruktur schien uns damals am notwendigsten.

Vom Stopfen bis zum genussvollen Essen

Für Gudrun war der tägliche Wechsel zwischen zwei Stationen kein Problem, denn wir hielten uns in einer alten, aufgelassenen Station auf, in der sie früher viele Jahre untergebracht gewesen war. Gudrun ist ohne Weiteres mit uns mitgegangen, sie war einfach da, war irgendwie im Raum, stand fast den ganzen Tag wippend auf einem Platz. Sie forderte nichts, war selten autoaggressiv.

Das Essen war ihr einziges und wichtigstes Anliegen. Wir konnten nichts Essbares liegen lassen, sie nahm sich in Sekunden das Essen der anderen, stopfte und schlang es in sich hinein, wurde unruhig und schlug sich, wenn sie nicht pünktlich und als Erste ihre Mahlzeit bekam. Dieses Verhalten brachte viel Stress in die Gruppe. Unser primäres Bedürfnis war, ihr zu zeigen, dass sie nicht mehr so schlingen musste, da sie bei uns genug zu essen bekam.

An dieser Formulierung wird jene Neigung zur Spaltung deutlich, die bereits in der Einleitung angesprochen wurde. Sie wird uns im Weiteren noch häufiger begegnen und beschäftigen müssen: Hier »bei uns« bekam Gudrun genug zu essen, während dort, in der bösen alten Psychiatrie, dies – so die Fantasie – nicht der Fall war. Nun ist gewiss an der alten Situation nicht das Zu-Wenig an Nahrung das vordringlichste Problem gewesen; es ist zwar anzunehmen, dass in der von extremem Mangel an Personal und von auch sonst unzumutbaren Bedingungen geprägten früheren Situation nicht alle Insassinnen immer ihrem Hunger gemäß versorgt wurden und manche gelegentlich zu kurz kamen; das Entscheidende an diesem Ringen um das Essen jedoch war wohl weniger Gudruns reale Erfahrung, in der Psychiatrie zu wenig zu Essen bekommen zu haben (sie war ja nicht unterernährt, als Marlies sie kennen lernte), sondern die seelische Bedeutung, die das Essen in Gudruns Erleben hatte. Diese galt es im betreuerisch-pädagogischen Handeln aufzugreifen. Hierbei spielte freilich die Spaltung in »gute Integration – böse Psychiatrie« zunächst eine hilfreich-strukturierende Rolle, die, anders etwa als wir es im Falle von Mark oder besonders Fritz sehen werden, nicht zu konfrontativen Entwicklungen führte, da sie von Marlies und ihren Kolleginnen immer wieder zu einer differenzierter reflektierenden Haltung hin überschritten werden konnte.

(Natürlich war mir und meinen Kolleginnen klar, dass auch früher in der Psychiatrie niemand verhungern musste und dass dies sicher nicht Gudruns vordergründiges Problem war. Ich erinnere mich aber noch sehr genau an eine Essenssituation, die ich bei einem Besuch auf einer psychiatrischen Station Anfang der 90er-Jahre, erlebt habe: Um einen großen Tisch saßen acht Insassinnen, ein Pfleger stand mit einer großen Schüssel und einem Löffel dabei und schöpfte Essen in die offenen Münder. Wer nicht schnell genug war, kam erst in einer nächsten Runde wieder dran oder bekam zu wenig. Zwei Jahre später kam das Erlebnis einer anderen Essenssituation hinzu: Wiederum saßen mehrere Patientinnen an einem Tisch, jeder hatte seinen eigenen Teller und Löffel vor sich, die Portionen waren sehr groß und es wurde oft nachgereicht. Zwischen den Mahlzeiten gab es viel Süßes und Obst. Gudrun war gerade zu dieser Zeit stark übergewichtig. Auch Irene kann von ähnlichen Erfahrungen berichten. Diese Erlebnisse waren für uns und unseren späteren Umgang mit Essen in der MIM-Gruppe prägend. Es ist nahe liegend, dass wir uns bemühten, besonders diesen Bereich zu verändern und neu zu gestalten. Die gemeinsamen Mahlzeiten sollten zu einem Ort der Kommunikation sowie des sozialen Lebens für die gesamte Gruppe werden. Jenseits dessen ging es auch darum, längst verschüttete Wahrnehmungen wieder zu aktivieren, wie z.B. das Erkennen von Geruch und Geschmack, oder die sinnliche Erfahrung des Kauens und Schluckens.)

Ich habe als Erstes angefangen, mich zu Gudrun zu setzen, wirklich dabei zu sein, während sie aß. Zunächst hat sie mich immer gestupst, weil sie das nicht wollte – es war ihr zu viel Nähe – aber Tag für Tag konnte sie davon etwas mehr aushalten. Sehr wichtig dabei war, dass ich während der ganzen Mahlzeit mit ihr geredet habe: »Gudrun, lass dir Zeit, das gehört alles dir, du brauchst keine Angst zu haben, es nimmt dir niemand was weg, das kannst du ganz alleine aufessen, ich passe auf, dass dir niemand etwas wegnimmt, du kannst noch etwas haben, wenn du nicht genug hast«. Diese beruhigenden Sätze, ja man kann fast sagen Formeln, übernahm das ganze Team, denn alle sagten in ihren Worten dasselbe.

Am Anfang hat das nicht so gefruchtet, wie wir es uns vorgestellt hatten; und so überlegten wir, was wir noch tun könnten. Gudrun hat nur mit dem Löffel gegessen und wir haben einen etwas kleineren Löffel gekauft, damit sie nicht so viel auf einmal in den Mund stecken konnte. Somit aß Gudrun schon ein bisschen langsamer, da sie mehr aufpassen musste, um den Bissen in den Mund zu bekommen. Zugleich fingen wir damit an, ihr eine Gabel für die Hauptmahlzeit zu geben. Sie hat sie sofort angenommen, es war überhaupt kein Problem. Von Anfang an hat sie mit der Gabel genauso gut gegessen wie mit dem Löffel. Sie hat allerdings in ihrer Eile oft die Hälfte über den Rand des Tellers geschoben, weshalb wir Gudrun einen am Rande hochgezogenen Suppenteller gekauft haben. Von da an ging es eigentlich immer besser mit dem Essen.

Zu dieser Zeit bekam Gudrun noch Breikost, und wir brauchten eine ganze Weile, bis wir uns die Frage stellten, warum wir für sie nicht normales Essen bestellen sollten. Wir redeten zuerst mit dem Stationspfleger, seine Antwort war, dass Gudrun – durch ihr hastiges Schlingen – extrem erstickungsgefährdet sei, und da das Personal keine Zeit habe, auf sie beim Essen aufzupassen, sei die Breikost ungefährlicher und auch bequemer. Wir haben aber dennoch beschlossen, für Gudrun normales Essen zu bestellen, obwohl wir uns dieser Gefahr bewusst waren.

Es wird hier an der Essenssituation mehr deutlich, als der erste Blick erfassen kann. Im »Nebenbei«, indem sich die Betreuerinnen der Angewiesenheit der Betreuten zur Verfügung stellen, gelingt es, Gudruns zerstörerische Lebensentwürfe aufzugreifen, ihre Bedeutung zu erfassen, und dadurch Spielraum für Veränderungen zu schaffen. Mit dem Dazusetzen wurde dem Essen eine erste Bedeutung (wieder)gegeben: Es wurde zum sozialen Miteinander.

In diesem Sinne war auch die »Formel« wichtig, die ansonsten noch ein wenig hilflos wirkt, weil sie so wenig das Panikartige von Gudruns Agieren zu erfassen vermochte und zunächst lediglich das Gute beschwor, was Marlies ihr bieten wollte. Mit dieser Formel wurde auf die Notwendigkeit der oralen Beziehungsaufnahme hingewiesen, die über den konkreten Akt des Essens hinaus eine metaphorisch-symbolische Ebene herstellt: Indem sie das Essen in sich aufnahm, so mögen wir es formulieren, nahm Gudrun auch das Beziehungsangebot der Betreuerin, das Gute, das diese ihr bieten wollte, in sich auf.

Wir sehen hier, wie sich das dyadische Feld zwischen Marlies und Gudrun dadurch herstellt, dass nicht Gudrun im Fokus der Aufmerksamkeit von Marlies steht, sondern die gemeinsam gestaltete Situation; dass Marlies nicht an Gudrun etwas zu ändern sucht (und damit Gudrun auch nicht in eine Verantwortlichkeit für ihr Agieren einsetzt, der sie noch gar nicht gewachsen wäre), sondern an der Situation, an der beide beteiligt sind und wohl auch beide leiden.

Wenn Marlies oder die anderen bei Gudrun sitzen, während diese isst, dann geht es nicht darum, Gudrun in ihrer Gier zum Thema zu machen, sondern um die Herstellung einer Situation, in welcher ein hinter dieser Gier erahntes Bedürfnis nach oraler Kontaktaufnahme, nach Einverleibung, Verinnerlichung eines Guten, das dann zum guten Selbst werden kann, Raum bekommt. Dieses ist jedoch noch lange nicht etwa als Gudruns Bedürfnis auszumachen – es ist vielmehr Inhalt eines Lebensentwurfes, den die Betreuerin ihrem eigenen Erleben entnimmt und nach Art einer Messlatte an die mit Gudrun erlebte Szene anlegt; mit dem sie also probeweise die gemeinsam gestaltete Situation »vermisst« und ihr so eine Bedeutung verleiht. [16]

Es ist nun nicht erstaunlich, dass das »Nebenbei« dieser dyadischen Situation besser mit Hilfe der Gegenstände – des Tellers mit hochgezogenem Rand, der Gabel – darzustellen ist, als mit den Worten allein. Die betreuerischen Eingriffe sind sprechend, ohne sich überdeutlich aufzudrängen, ohne Gudrun in die sie überfordernde Position eines verantwortlichen Subjekts zu zwingen. Nur auf den ersten Blick wirken sie wie Banalitäten, nicht wert, über den praktischen Nutzen hinaus erwähnt zu werden. In ihnen zeigt sich bereits ein zentrales Charakteristikum des »Nebenbei«. Das alltägliche Tun, jeder verwendete Gegenstand, besitzt eine verborgene Dimension des Bedeutens – und diese gilt es im pädagogischen Eingreifen zu verstehen, aufzugreifen, mit ihr umzugehen. Dies gelang hier intuitiv.

Die Geschichte vom hochgezogenen Tellerrand hat mit jener grundlegenden Entdeckung zu tun, die irgendwann im Zuge der Sozialisation als Differenz von »Innen und Außen« konzeptualisiert wird. Der Teller sorgt dafür, dass etwas im Innern gehalten bleiben kann. Er stellt damit dar, was wir in der Psychoanalyse als Beziehung »container-contained« aufzufassen gelernt haben: Jene Funktion des dyadisch-haltenden Beziehungsobjekts, die darauf eingerichtet ist, den haltenden Rand der dyadischen Beziehung abzusichern und dem Kind als bestimmte Kontur erlebbar zu machen. Es kann dann schließlich das Kind sich diese Kontur durch Verinnerlichung als Grenze des eigenen Innern gegen seine Außenwelt zueigen machen.

In diesem Zusammenhang fällt auf, dass in der psychiatrischen Versorgung Gudruns all jene Körperfunktionen, die mit dem Verhältnis Innen und Außen zu tun haben, also sowohl die Nahrungsaufnahme als auch die Ausscheidungsfunktionen, durch die pflegerischen Maßnahmen weitgehend der Wahrnehmung entzogen worden waren. (Zugleich wurden sie aber akribisch kontrolliert – sie wurden zum Beispiel immer genauestens in der Akte dokumentiert; M.P.) Indem ihr jetzt nicht mehr länger Breikost vorgesetzt und sie mit Windeln versorgt wird, wird Gudrun eine Wahrnehmung ihrer Körpergrenzen überhaupt erst wieder zugänglich. Nun war es gewiss Zeit sparend, Gudrun Windeln, oder auch Breikost zu geben. Beides jedoch sorgte dafür, dass die Erfahrung, etwas in sich aufzunehmen bzw. etwas aus sich auszuscheiden, sich Gudrun entziehen musste. Breikost setzt keinen Widerstand, sie muss nicht gebissen und gekaut werden; Windeln sorgen auf ihre Weise dafür, dass die Ausscheidungsfunktion ein weitgehend vegetatives Vorkommnis bleibt. Beide Maßnahmen bewirkten also, dass das Nichtsein, in welches Gudrun sich einspann, nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern noch weiter gefördert wurde. Ähnliches kann für den Löffel gelten. Damit war die pflegerische Aktivität, indem sie die Bedeutungsebene ihres Tuns ignorierte, eine Art Komplizenschaft mit der Selbstvernichtungstendenz der Insassin Gudrun eingegangen. Die Unterscheidung von Innen und Außen ist Grundlage für das Gefühl, sich als Subjekt von einer im Außen wahrgenommenen Objektwelt zu unterscheiden; wo sie fehlt, ist die Wahrnehmung der eigenen Existenz noch vollkommen abhängig vom Wahrgenommen-Werden. Diesem jedoch entzog sich Gudrun ja nach Möglichkeit. Es war, als versuche sie so, sich selbst auf diese Weise in eine Art »schwebendes Nichtsein« zu manövrieren: daher der Eindruck, sie agiere eine Selbstvernichtungstendenz aus. Dieser war die Breinahrung und die Verwendung von Windeln noch entgegengekommen. In der integrationspädogischen Arbeitgalt es nun, diese Kollusion wieder aufzulösen.

In diesem Zusammenhang erhält nun auch die Gabel ihre Bedeutung: Wenn Gudrun - aus der Motivation heraus, sie zu langsamerem Essen zu zwingen – eine Gabel an Stelle des Löffels gegeben wird, dann transportiert dieser Wechsel vom Löffel zur Gabel, wie schon der von der Breikost zur normalen Nahrung, die vordergründige Bedeutung, dass Gudrun fortan nicht mehr wie ein Kleinkind essen wird, sondern als eine Erwachsene.

Die Bedeutung gehtfreilich erheblich tiefer. Die Kollusion mit der Selbstvernichtungsfantasie Gudruns konnte nur aufgelöst werden, wenn diese Fantasie irgendeinen Ausdruck fand. Die Sorge des Stationspflegers, Gudrun könnte am Essen ersticken, ist als die Gegenübertragungsfantasie zu entziffern, Gudrun könnte an schlechter Pflege sterben; wer ihr zu essen gab, könnte ihren Erstickungstod bewirken und ihr Mörder werden. In dieser Sorge kann der psychoanalytische Blick eine Reaktionsbildung als Anzeichen einer abgewehrten Tötungsfantasie entziffern; war Gudruns Gebaren beim Essen doch nur allzu geeignet, eine solche zu erwecken. Es ist nicht sonderlich überraschend, hinter der Inszenierung der lebensfeindlichen Bedingungen, unter welchen Gudrun jahrzehntelang ihr Dasein gefristet hatte, die Tötungsfantasie auftauchen zu sehen, die im Falle von Gudrun heißen könnte, sie möge an ihrer Gier ersticken. Diese Fantasie muss nun, wenn im Rahmen der integrativen Bemühungen Gabel undfeste Kost eingeführt werden, wieder virulent werden. Auch in der pädagogischen Maßnahme, sich beim Essen zu Gudrun zu setzen, können wir noch Spuren der Reaktionsbildung vermuten – schließlich ist Gudruns Essverhalten höchst geeignet, aggressive Impulse zu wecken.

Nun schafft die Gabel auch einen Ausdruck von konstruktiver Aggression. Als aktives Zupacken-Können, Greifen-Können spielt Aggression im ersten Lebensjahr eine wichtige Rolle bei der Ausdifferenzierung des kindlichen Selbst aus der dyadischen Einheit mit der Mutter. Dafür, dass Gudrun solche Impulse »im Nebenbei« gefahrlos erleben kann, kann hier die Gabel stehen. Der Teller mit hochgezogenem Rand zeigte im Übrigen, dass die Impulsivität Gudruns, mit welcher sie das, was sie brauchte, seines Haltes (der Nahrung aufdem Teller) beraubte, nun eine Fassung, einen Halt bekam. Das Dabeisitzen schließlich hieß: »Ich habe das für dich so Bedrohliche deiner Impulse im Sinn, ich helfe dir, es zu halten, und damit kann es dich nicht länger bedrohen.« In diesem Sinne bedeutet nun auch der Teller: Gudrun ist zusammengehalten, wie ihre Speise von ihrem Teller zusammengehalten ist. All dieses sind alltagspraktische Maßnahmen, die aber hier die Bedeutungskraft von sinnlich-symbolischen Interaktionsformen[17] erhalten.

Dies alles gelang freilich, ohne Marlies und den Andern wirklich bewusst zu sein – erst im Nachhinein haben wir begriffen, welche Rolle die pädagogische Arbeit hier gespielt hat. Solcherart intuitive Einfühlung ist in der pädagogischen Arbeit allenthalben von entscheidender Bedeutung. Sie muss indes immer dort scheitern, wo die je individuellen Einfühlungsmöglichkeiten an ihre Grenzen kommen. Solche Grenzen sind menschlich und unvermeidlich, und wo wir auf sie stoßen, wird das nötig, was wir hier versuchen: Eine Reflexion auf das Beziehungs- und Rollengeflecht von Übertragung und Gegenübertragung, in welchem Betreute und Betreuerin sich miteinander befinden und nur allzu leicht sich verheddern können.

Die »Nebenbeigeschichten«, welche die Essenssituation mit Gudrun enthält, erlauben es nun, dass wir uns einem Verständnis des »kindsmörderischen Introjekts« annähern, welches Gudruns Leben beherrschte. Gudruns »unendlich schwebendes Nichtsein« und ihr panikartiges Vernichten aller möglichen Bedürfnisspannung bringen in polar entgegengesetzter Weise eine Selbstvernichtungsfantasie zum Ausdruck. Wenn wir uns nun Gudruns Lebensgeschichte ansehen und die psychoanalytische Erfahrung hinzunehmen[18], dass epileptische Anfälle häufig im Zusammenhang mit als vernichtend erlebten (oral)aggressiven Impulsen entstehen, so können wir einerseits vermuten, dass Gudrun aus ihren ersten Lebensmonaten immerhin so viel Gutes hat sich bewahren können, dass sie in frühesten Erlebensformen eine Zuflucht finden kann. Sie sucht immer wieder das auf, was wir mit Michael Balint die »primären Substanzen« nennen können. Balint beschreibt ein »philobatisches« Erleben[19]: eine Art objektlos-schwebendes Dasein, in welchem die »freundlichen Weiten« gesucht und Objektwahrnehmung nach Möglichkeit gemieden wird. Diese Beschreibung wollen wir verwenden, um Gudruns »schwebendes Nichtsein« besser nachvollziehen zu können.

Es war die Erlebnisform der primären Substanzen, die es ihrer Umgebung, sofern sie sich darauf einlassen konnte, ermöglichte, mit ihr in jene dyadisch-verschmolzene, tranceartige Einheit zu finden, die meine erste Begegnung mit ihr prägte. Sie liegt auch Marlies’ Geschichte von ihr zu Grunde. In der von katastrophischen Einbrüchen heimgesuchten Mutter-Kind-Beziehung der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ergab sich ein circulus vitiosus von Impuls und Impulsvernichtung. Gudruns altersgemäße Impulse zu mehr Aktivität und oral-aggressiver Zuwendung mussten sozusagen als Auslöser der Krankheit und schließlich der tödlichen Depression der Mutter erscheinen. Wir können hinter den uns zugänglichen knappen biografischen Angaben uns vorstellen, wie dieser circulus vitiosus einen vernichtenden Sog entwickelte, dem die Mutter schließlich ganz zum Opferfiel, während Gudrun zwar physisch überlebte, sich jedoch in ihr »Nichtsein« weitest möglich zurückzog, als müsse sie sich selbst als Unheilsursache ausschalten. Jeden Impuls zu eigener Aktivität musste sie fortan als todbringend erleben und im Keim zu ersticken suchen – durch »Wegwippen«, oder, wenn dies nicht half, durch epileptische Anfälle; schließlich auch durch autoaggressive Ausbrüche, die ihre Umwelt dazu zwangen, sie einzusedieren. Es galt nun, im pädagogischen »Nebenbei« dieser Fantasie so Ausdruck zu verschaffen, dass ihre lebensbestimmende und d.h. lebensvernichtende Qualität für Gudrun aufgehoben wurde.

Um unsere Ängste in Grenzen zu halten und Gudrun den Übergang zu erleichtern, haben wir zuerst das Fleisch und die größeren Stücke von Gemüse oder Beilagen vor dem Servieren in der Küche klein geschnitten. Da Gudrun damit kein Problem hatte, fingen wir an, das Essen etwas größer zu schneiden, bis wir bei normalen Bissen anlangten. Wir trauten uns das nur zu machen, weil immer jemand bei Gudrun saß, sie daher niemals alleine aß. Wenn sie zu viel auf den Löffel oder die Gabel genommen hat, habe ich ihr mit einer zweiten Gabel etwas heruntergestreift und ihr aber dabei erklärt, dass sie nicht so viel aufladen darf, weil sie sonst ersticken könnte. Durch diese Maßnahmen brauchte sie mehr Zeit zum Essen.

Gudrun hat gelernt, länger sitzen zu bleiben, es hat dazwischen immer wieder Phasen gegeben, wo sie während des Essens aufgesprungen ist. Der Aufforderung, sich bitte wieder hinzusetzen, folgte sie dann doch meistens, da sie noch Essen auf dem Teller hatte. Wir waren alle sehr froh, dass Gudrun ohne Zwang unsererseits und ohne große Rebellion ihrerseits diese Entwicklungsschritte mitmachte. Die Esssituation entspannte sich immer mehr, und so beschlossen wir, einen Schritt weiter zu gehen und ihr Essen nicht mehr in der Küche vorzubereiten, sondern als Ganzes am Esstisch zu servieren, d. h. dass wir Gudrun genau so wie allen anderen das Schnitzel auf den Teller gelegt haben. Sie hat jetzt auch schon warten können, bis ich ihr Schnitzel aufgeschnitten hatte, und fing dann an zu essen. Es war nur mehr wenig Hilfe erforderlich.

Eine gute Erfahrung für Gudrun war auch, dass sie am selben Tisch saß wie Mark. Er versuchte genauso wie sie, von den anderen das Essen zu nehmen. Sie hat mitbekommen, wie ich ihr Essen verteidigt habe, wenn Mark sich etwas von ihrem Teller holen wollte. Ich glaube einfach, dass das bei Gudrun viel bewirkt hat. Sie hat gemerkt, dass auch noch jemand anderer ihr hilft, auf ihr Essen aufzupassen, sie hatte dadurch etwas weniger Stress, ob ihr das Essen auch bleibt.

Hier zeigt sich eine Schwierigkeit und zugleich das besondere Potenzial der pädagogischen im Vergleich zur psychotherapeutischen Arbeit. Während das psychotherapeutische Setting einen Rahmen hat, innerhalb dessen die Arbeit sich auf die individuelle Problematik konzentrieren kann, muss die pädagogische Arbeit sich immer im Kontext eines zu bewältigenden Alltags abspielen und dort bewähren. Was mit Mark passiert, hat Auswirkungen auf Gudruns Erleben, wenn die Interaktion mit dem Einen misslingt, kann die Andere sich davon empfindlich gestört fühlen. In diesem Rahmen sollen die Bedeutungen eingeholt werden, welche sich durch die Symptomhandlungen hindurch Geltung zu verschaffen suchen. Dies hat nun zweierlei Aspekt, und wir werden, auf Grund der Begrenztheit unserer gemeinsamen Erfahrung, im Folgenden nur den einen ausführlicher verfolgen können. Der Erste, der von uns nur gelegentlich gestreift werden soll, während er ansonsten für weitere Reflexionen und praktische Untersuchungen aufgehoben bleiben muss, betrifft die jeweilige Gruppenkonstellation der Wohngruppen, in welcher integrationspädagogische Arbeit immer stattfindet. Es kann ja kein Zweifel daran sein, dass auch unter den Bewohnerinnen von integrativen Wohngemeinschaften die Sympathien und gegenseitigen Verträglichkeiten ungleich verteilt sind, und dass eine wichtige Aufgabe der Arbeit die Sorgfalt betrifft, mit welcher solche Gruppenkonstellationen eingerichtet und beobachtet werden.

Diesen Gedanken möchten wir aufgreifen, da die Gruppenzusammenstellung wirklich immer sehr entscheidend für die weitere Qualität der Arbeit ist. Ein uns wichtiges Kriterium war, die betreffenden Personen zunächst im »Nebenbei« kennen zu lernen. Wir arbeiteten vorerst auf den Psychiatriestationen mit, lernten so dieses Lebensumfeld, das Pflegepersonal sowie alle Insassinnen kennen. Unsere einzige Vorgabe war die Gruppengröße von sieben bis acht Personen, ansonsten waren wir völlig offen. Durch diese Mitarbeit konnten wir, ohne den Focus auf bestimmte Personen richten zu müssen, uns ein Gesamtbild machen. Ein weiteres Kriterium war, eine möglichst heterogene Gruppe zu bilden, da das Heterogenitätsprinzip wesentlicher Bestandteil der Integrationspädagogik ist. Auf Grund der Verschiedenheit eröffnen sich Entwicklungsräume, die unerwartete Lernmöglichkeiten bieten. Dies fordert ein hohes Maß an Sensibilität und Offenheit der Betreuenden, denn sie müssen die unterschiedlichsten Impulse aufnehmen und daraus ein entsprechendes Angebot (das veränderbar sein muss) entwickeln.

Der zweite Aspekt, den wir im Folgenden ausführlicher betrachten können, liegt dem allerdings zu Grunde, und er beruht auf komplexeren Überlegungen, die ich hier nur kurz skizzieren kann. [20]

Wie Alfred Lorenzer dargestellt hat, ist alles Erleben in Szenen, Lebensentwürfen eingerichtet[21]. Dabei haben die Szenen, so unterschiedlich sie ausfallen mögen, ihre Wurzeln in der biologischen Grundausstattung des Menschen, in den Reiz-Reaktions-Kreisen der biophysischen Anlage; insbesondere die das szenische Erleben bestimmenden Affekte gehören zur natürlichen Ausstattung des Menschen. Zugleich sind Szenen immer auch soziale Phänomene, und als solche werden sie von der kulturellen und gesellschaftlichen Situation der in ihnen engagierten Individuen bestimmt. Über die biologisch-physische Grundlage und über die je gemeinsame kulturelle und gesellschaftliche Bestimmung des Erlebens besteht die Möglichkeit, sich in selbsterlebten Szenen ebenso wie in beobachteten wiederzufinden, sich also sowohl aus der Beobachtung heraus als auch im Agieren mit der Subjektposition in den Szenen zu identifizieren. So kann die Szene, die von Mark und Marlies vorgespielt wird, von Gudrun beobachtend als mögliche eigene identifikatorisch erlebt werden. (Auf dieser Organisierung unseres Erlebens in »Lebensentwürfen«, Szenen, beruht auch das »Geschichtenerzählen«, das »Vermessen« des aktuellen Geschehens mit eigenen Lebenswentwürfen, welches bei der Herstellung eines dyadischen Feldes wesentliche Hilfe leistet.)

Damit beinhaltet, was auf den ersten Blick wie eine heillose Überforderung in der pädagogischen Arbeit aussieht, bei aller Schwierigkeit ein großes Potenzial an Eingriffsmöglichkeiten. Im beiläufigen Miteinander der Wohngruppen entstehen sehr häufig jene Situationen, die wir untereinander die »Nebenbeigeschichten« genannt haben (und es ist kein Zufall, dass diese Benennung von Irene und Volker Schönwiese aus einer gemeinsamen Reflexion über die pädagogische Arbeit in der MIM-Gruppe stammt und von mir nur aufgegriffen wurde, denn wenigerfür meine, als vielmehrfür die professionelle pädagogische Erfahrung sind die »Nebenbeigeschichten« kennzeichnend). Wenn Gudrun erlebt, wie Mark daran gehindert wird, das Essen von ihrem Teller zu stehlen, so erlebt sie daran nicht nur, dass ihr Essen geschützt wird. Dieses ist lediglich ein, wenn auch gewiss sehr wichtiger Aspekt der Situation. Der andere, der nicht nur ebenso wichtig ist, sondern in seinen Implikationen noch weit darüber hinaus geht, liegt darin, dass hier Gudrun eine Szene ihres Erlebens vorgeführt bekommt, ohne dass sie in diese Szene agierend eingebunden, ohne dass sie von ihr »ergriffen« ist. Es wird ihr etwas vor Augen geführt, was sie aus der Innenperspektive kennt. Diesem Geschehen bleibt sie, solange sie Subjekt der Inszenierung ist, in ihrer »Ergriffenheit« vollkommen ausgeliefert: Sie kann ja zunächst gar nicht anders als schlingen und Essen stehlen – sie kennt keine Alternative, hat über ihre Impulse keinerlei Verfügung. Nun aber kann sie das an Mark beobachten, was sie sonst nur als Ausgeliefertsein kennt. Dies verschafft ihr erstmalig die »dritte Position«[22], aus der heraus sie ihr eigenes Tun und Erleben betrachten und ansatzweise begreifen kann. (Im Kapitel über Fritz werden wir diese »dritte Position« später auch als die Position des »Fremden« kennen lernen.) Mark, der schlingt und Essen stiehlt, führt ihr ihre eigene Geschichte vor Augen.

Damit haben wir nun schon zweierlei Prinzipien pädagogischen Handelns an Gudruns Geschichte kennen gelernt. Zum Einen finden in ihm Gegenstände immer auch als Bedeutungsträger Einsatz, können als solche begriffen werden und damit zum besseren Verständnis der mit ihnen gestalteten Situation dienen. Zum Andern werden, indem Erlebnisszenen nicht nur erlitten, sondern auch quasi als Zitate beobachtet werden können, erste Abstraktionen und symbolische Formen ermöglicht, die die Unmittelbarkeit der reflexgebundenen Interaktionsformen, des »kindsmörderischen Introjekts«, aufzuheben geeignet sind. Anders als in der Psychotherapie ist diese symbolische Ebene nicht diejenige, auf der das Hauptaugenmerk liegt, und so kann sie auch nicht in Allem durchgehalten werden. Das, was in der psychoanalytischen Psychotherapie »Agieren« genannt und möglichst durch Deutungen schon im Ansatz aufgehoben wird, ist und bleibt zentrales Moment der pädagogischen Arbeit im »Nebenbei«[23]. Allerdings ist die genaue Beachtung der Bedeutungsdimension der Gegenstandswelt wichtig; diese Bedeutungsdimension nämlich ist geeignet, die oft schmale Grenzlinie zwischen einem reinen Ausagieren und bewusstem pädagogischen Handeln zu markieren. Indem ihr Beachtung geschenkt wird, wird die Festlegung der Betreuten auf infantile Abhängigkeit aufgehoben und die pädagogische Aufgabe erfüllt, die darin besteht, sich der Angewiesenheit der Betreuten zur Verfügung zu stellen, indem ihre eigenen Bestimmungen als »spontane Geste«[24] aufgegriffen und umgesetzt werden.

Manchmal hat Gudrun sich trotz unserer Vorsorge verschluckt und wir mussten sie auf den Kopf stellen. Das war zum Einen sehr schwierig und anstrengend, weil sie sich natürlich vehement dagegen wehrte, zum Andern forderten uns diese lebensbedrohenden Situationen über unsere Grenzen hinaus. Dies waren die Momente, wo wir uns auch immer schuldig fühlten, da wir zu wenig achtsam gewesen waren und uns gleichzeitig unsere große Verantwortung zu erdrücken drohte. Wir entdeckten dann bald, dass Gudrun, wenn sie zum Beispiel trockenen Reis aß, Körner in die Luftröhre einatmete und dadurch einen Erstickungsanfall bekam. (Dies liest sich fast wie ein »vegetativgesteuerter« Suizidversuch.) Es wäre viel einfacher gewesen, Gudrun keinen Reis mehr oder überhaupt wieder Breikost zu geben, aber das wäre einer Beschneidung ihrer Persönlichkeit gleichgekommen. Seither bekommt Gudrun immer viel Sauce zum Reis.

Wir versuchten, so gut es möglich war, stressige Situationen zu vermeiden. Dies gelang uns nicht immer, da eine Betreuerin bei Gudrun, eine weitere bei Mark (der ebenso erstickungsgefährdet war) saß, und die Dritte für fünf andere Gruppenmitglieder, die auch nicht immer problemlos waren, zuständig war. Manchmal ging es schon ganz schön rund!

Noch ein Faktum hat viel dazu beigetragen, dass wir die schwierige Situation beim Essen entschärfen konnten. Wir hatten die Möglichkeit, ein eigenes Speisezimmer einzurichten. Das bot einen geschützteren Rahmen als der große Tagraum.

Für alle verbesserte sich die Stimmung beim Essen zusehends. An Wochenenden und Feiertagen war unsere Gruppe geschlossen und Gudrun musste auf ihrer Station bleiben. Dort konnte unser Essensprogramm nicht durchgeführt werden, sie bekam vor den anderen zu essen und wurde dann in ein Zimmer eingesperrt und schaute durch das Glas der Türe den anderen Personen beim Essen zu. Es war damals nicht anders möglich, weil drei Pflegerinnen ca. 25 »Patientinnen« zu versorgen hatten, dadurch niemand bei Gudrun sitzen konnte und ohne diese Maßnahme Gudrun wieder in das alte Verhalten zurückfiel.

An dieser Stelle wollen wir wieder auf die oben bereits erwähnte gut-böse-Spaltung zwischen alter psychiatrischer und neuer integrationspädagogischer Versorgung zurückkommen. Wir können nun schon genauer erkennen, wie Marlies in ihrer Beziehungsarbeit mit Gudrun auf diese zurückgriff. Um sich auch dann ganz auf Gudrun einlassen zu können, wenn die Gemeinsamkeit durch deren höchst problematische Art zu essen (und andere Aktionen, von denen noch die Rede sein wird) in Gefahr geriet, machte sich Marlies passager diese Spaltung durchaus zu Nutze.[25] Das Störende an Gudruns Verhalten konnte sie damit projizieren – es richtete sich, so die Fantasie, nicht gegen die gemeinsam gestaltete Situation, sondern war Reaktion aufdie alten, zerstörerischen Strukturen, die abzuschaffen die integrative Arbeit antrat. Damit war Freund-Feind, Gut-Böse, Innen- Außen klar getrennt. Im guten Innen konnte das zarte Gebilde der dyadischen Innigkeit, welche Gudrun und Marlies miteinander finden konnten, erhalten und vor dem Bösen geschützt bleiben; denn außen war die »böse Psychiatrie«, und mit ihr die Tötungsfantasie. Hier bekam Gudrun genug zu essen und die Situation war nur-gut, denn ihr panisches Schlingen kam von außen. So konnte die Fantasie, Gudrun zu töten, indem man sie an ihrer Gier ersticken ließ – realisiert darin, dass man ihre Impulse mit pflegerischen Maßnahmen erstickte – im Außen untergebracht und projektiv abgewehrt werden. Marlies musste nicht das Gefühl haben, dass das Schlingen sich etwa gegen sie und ihre Bemühungen richtete, und konnte sich damit ihre innige Zuneigung zu Gudrun erhalten. Gudruns Verhalten erschien sinnvoll in Bezug auf ein gemeinsam bestimmtes Außen. Es gab eine Schuld, und die war zunächst im Außen lokalisierbar.

Solche Spaltung ist nun gefährlich, weil sie, wenn sie als dauerhafte Abwehr eingerichtet werden muss, die Pädagogin unter einen massiven Erfolgszwang setzt. Sie muss dann ja immer »nur-gut« bleiben, auch dann, wenn in der Gegenübertragung massiv aggressive Impulse auftauchen, was nicht ausbleiben kann, sobald sich das kindsmörderische Introjekt zur Geltung bringt. Es wäre dies also ein Anspruch, vor dem sie in der betreuerischen Realität auf Dauer bei allem Bemühen kläglich versagen müsste. Die Spaltung ist jedoch, und das können wir hier sehen, wichtiges Durchgangsstadium aufdem Weg zu einer Ausdifferenzierung des Subjekts. Wenn ein gutes Innen gegen ein böses Außen abgegrenzt werden kann, dann können darin erste Ansätze einer Selbstwahrnehmung gelingen, die nicht mehr – wie in Gudruns »kindsmörderischem Introjekt«, ihrem katastrophischen Erleben bei jedem Aufbrechen eigener Impulsivität – als unmittelbar vernichtend erlebt werden müssen. Wichtig ist freilich, dass diese Spaltung immer wieder überwunden wird, wie es in der Beziehung von Marlies und Gudrun auf erfreuliche Weise gelang.

Indem die Beobachtung an der Szene mit Mark ins Spiel kam, wurde ihr Raum gegeben, insofern das »Böse« im Ansatz schon reintegriert werden konnte: Was Mark tut, das tue auch ich, Gudrun. Dies war ein wichtiger Schritt. Und obzwar Marlies im Umgang mit der Problematik beim Essen auf den Spaltungmodus zurückgriffund die Psychiatrie mit dem Bösen, die MIM-Gruppe mit dem Guten identifizierte, verlor sie doch nie das Bewusstsein dafür, dass ihre in der Psychiatrie arbeitenden Kolleginnen nicht mit diesem Bösen zu identifizieren waren. Beides sorgte dafür, dass die Spaltung wieder überwunden werden konnte. Dies wurde besonders wichtig, als es darum ging, dass auch Gudruns aggressive Seite Platz bekommen sollte, mehr Platz, als die Gabel in ihrer Bedeutsamkeit allein ihr verschaffen konnte. Eine Fortsetzung der Spaltung hätte Marlies dazu gezwungen, Gudrun nur immer als ein Opfer der Umstände anzusehen – und dann wäre das, was beiden noch bevorstand, die Auseinandersetzung über Gudruns autoaggressives Verhalten, zum Scheitern verurteilt gewesen.

Drei Jahre später wurde die MIM-Gruppe aufgelöst und ich arbeitete auf der Station von Gudrun weiter. So konnte Gudrun wenigstens in der Zeit, in der ich arbeitete, mit den anderen zusammen am Tisch essen. Ein halbes Jahr später wurden weitere »Patientinnen« in eine Wohngemeinschaft ausgegliedert; es blieb nur mehr die Gruppe übrig, die dann gemeinsam in eine Wohngemeinschaft in ein benachbartes Dorf übersiedeln sollte. Gudrun und ich waren Teil dieser Gruppe. Nach dem Auszug der anderen Gruppe gab es viel mehr Platz auf der Station. Daher konnten wir einen eigenen Essraum einrichten. Während meiner Anwesenheit hat es recht gut funktioniert, sonst war es oft schwierig; einige Mitarbeiterinnen bemühten sich, es mir nachzumachen, andere sperrten Gudrun wieder ins Zimmer. Es dauerte eine ganze Weile, bis so viel Verständnis aufgebaut war, dass das ganze Team zu einer gemeinsamen Orientierung fand. Von nun an konnte Gudrun beim Essen immer am Tisch sitzen und eine Betreuerin begleitete sie. Das »Problem« Essen löste sich langsam auf. Heute kann man darüber nur noch staunen, es käme niemandem mehr in den Sinn, Gudrun vor den anderen ihr Essen zu geben und sie danach wegzusperren!

Noch eines wird an diesem Bericht deutlich: die Notwendigkeit einer qualifizierten Ausbildung, die es den pädagogischen Betreuerinnen ermöglicht, solche Inszenierungen in ihrer Bedeutung zu erkennen und das eigene Beteiligtsein zu reflektieren. Unverstanden, könnten solche Entwicklungen, wo nicht so viel glückliches Zusammenfinden im Spiel ist wie zwischen Gudrun und Marlies, leicht scheitern und sich in den typischen unendlichen Wiederholungen eines Zusammenspiels von »Fehlverhalten« und pädagogischen Maßnahmen einspielen.

Für dieses Spiel der Bedeutungen Raum zu schaffen, dies verlangt zuallererst die Bereitschaft, eigene aggressive Fantasien nicht projektiv zu verarbeiten, sondern sie als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Inszenierung der »Institution Geistigbehindertsein« auch am eigenen Leib, als Gegenübertragungen, zu begreifen. Dies mag als ein hoher Anspruch erscheinen. Letztlich freilich heißt es nicht mehr, als der eigenen Menschlichkeit und Fehlbarkeit angesichts von Extremsituationen ins Auge zu schauen, sie zu ertragen und zu akzeptieren und ihrer Bedeutung nachgehen zu lernen. Später habe ich anlässlich eines meiner Besuche einmal eine Essens-Szene mit Gudrun beobachten können, die zeigte, wie sehr sich die dem Essen zu Grunde liegende Interaktionsstruktur hatte verändern können: Es wurde von einer Betreuerin ein großer Obstsalat für die gesamte Gruppe zubereitet, einige der Bewohnerinnen halfen mit beim Putzen und Schneiden des Obstes, andere waren mehr oder minder aktiv-beobachtend beteiligt. Gudrun tänzelte in der Nähe der Betreuerin umher, und von Zeit zu Zeit näherte sie sich ihr. Sie erhielt dann beiläufig, d.h. ohne dass die Betreuerin von ihrer Arbeit aufblickte oder gar Gudrun ansprach, einen Obstschnitz und entfernte sich wieder tänzelnd, um diesen aufzuessen.

Diese Szene berührte mich sehr, und gerade das Beiläufige – es war dies wiederum eine Art »Nebenbeigeschichte« – erschien mir daran wichtig: Indem sie in ihrer feenhaften Art den Kontakt zugleich suchte und in der Schwebe hielt, konnte Gudrun die omnipotente Geschlossenheit ihrer philobatischen Welt aufrechterhalten, und zwar mit Hilfe der Betreuerin, die nicht von ihr verlangte, dass sie im Blickkontakt sich ihren Wunsch (der im Zusammenhang mit der Angewiesenheit ihre noch immer lebenswichtige omnipotente Welt zerstört hätte) eingestehen musste. Es ging in dieser Situation nicht darum, Gudrun zu ändern, ihren Autismus in Frage zu stellen; vielmehr war die Situation eine, in welcher Gudrun in ihrer Eigenart einfach dazugehören konnte. Sie hatte ihren Anteil an der Herstellung des Obstsalates, indem sie dessen Zutaten erschmeckte – so wie andere aus der Gruppe mit Zuschauen, oder wieder andere damit, dass sie beim Putzen und Schneiden des Obstes halfen.

In dieser Szene mit dem Obstsalat wird klar, was Integrationspädagogik sein kann. Es geht nicht darum, dass irgendwer lernen muss, einen Obstsalat herzustellen oder dass der Obstsalat in ein Förderprogramm zum Schneiden Lernen umfunktioniert wird. In der oben beschriebenen Szene geht es vielmehr darum, das bestehende Gefälle zwischen Betreuerin und Betreuten aufzulösen und im ganz normalen Alltag ein Miteinander entstehen zu lassen. Der Obstsalat, der in Anwesenheit aller und mit ganz unterschiedlicher Beteiligung hergestellt wird, wird zum Symbol für dieses Miteinander.

Der Versuch, Kontakt aufzunehmen

Wie anfangs beschrieben, brauchte Gudrun immer einen großen Sicherheitsabstand. Ich fing damit an, dass ich sie jedes Mal im Vorbeigehen angesprochen habe. Ich bin nicht zu ihr hingegangen, sondern habe sie gegrüßt, oder sie gefragt, ob sie etwas brauche. Sie hat mir verbal nicht antworten können, aber ich habe sie dadurch in die Gruppe miteinbezogen.

Gudrun hat mich sehr angerührt, von Anfang an, sie hat in meinem Inneren einfach etwas ausgelöst und ich hab’ ihr emotionale Wellen geschickt – ich kann es nicht anders benennen. Ich habe versucht, ihr gefühlsmäßig zu zeigen, dass ich sie wahrnehme, und das war für mich das Wichtigste. Gudrun ist immer vergessen worden.

Marlies’ Erzählung berichtet von einem pädagogischen Balanceakt. Ich lese sie, bei allem Schweren, was sie und ihre Kolleginnen mit Gudrun durchgemacht haben, als die Geschichte einer zarten Annäherung zweier Menschen, als eine kostbare Liebesgeschichte, wenn auch nicht mit happy end – denn die schweren Traumatisierungen, die Gudrun im Laufe ihres Lebens erfahren hat, dürften ihre Narben für immer hinterlassen haben, auch wenn es ihr heute unvergleichlich viel besser geht als damals, als Marlies sie kennen lernte. Gudruns Schlingen und Essenstehlen, oder ihre autoaggressiven Ausbrüche konnten, obzwar sie zuzeiten sehr belastend für ihre Umwelt waren, nie ernstlich den Wunsch von Marlies und ihren Kolleginnen gefährden, Gudrun zur Teilhabe an unserer Welt zu gewinnen.

Auf den Stationen wurden die »Patientinnen« fast ausschließlich mit ihren Nachnamen angesprochen, z.B. »die Meier«, in einem sehr abwertenden harten Ton; es wurde auch nicht »Frau Meier« gesagt. Ich habe mich als »Marlies« vorgestellt und sie gefragt, ob ich sie auch beim Vornamen nennen dürfe.

Obwohl ich wusste, dass sie mir nicht antworten konnte, war es für mich sehr wichtig, trotzdem zu fragen. Ich dachte mir, ich rede sie ab jetzt einfach immer mit Gudrun an und sie wird sich schon wehren, wenn sie es nicht will. Ich bemerkte, dass sie auf ihren Vornamen reagierte, nicht nur wenn jemand sie direkt angesprochen hat, sondern auch in anderen Situationen. Meine Stimme war ihr schnell vertraut, sie hat auch zum Beispiel vom Essen aufgeschaut, wenn ich etwas gesagt habe. Das war am Anfang alles, was an Kontakt möglich war.

Hier finden wir als Eingangsmotivation wieder die Spaltungsabwehr. Die Psychiatrie war böse, wir sind gut. Dort wurde Gudrun »vergessen«, wir aber lieben und beachten sie. Für Gudrun und Marlies war diese Spaltung in den Anfängen ihrer Beziehung wohl essenziell, insofern sie ihnen erlaubte, einen beschützten Ort des Nur-Guten einzurichten, gegen eine Welt, die von Gudrun in der langen Zeit ihrer psychiatrischen Unterbringung nur als böse und vernichtend hatte erlebt werden können.

Indem sie diese Spaltung vornahm, griff Marlies das auf, womit Gudrun sich zu retten versucht hatte – die Flucht in das zeitlos-ewige Nichts, in welchem es keine verletzenden Objekte gibt. In dieses »philobatische« Dasein hatte Gudrun sich fast vollkommen zurückgezogen, und indem Marlies in ihrer Fantasie nun einen Ort des Guten klar gegen das böse Außen abgrenzte, konnte sie sich in Gudruns objektlose Welt einfinden, ohne zunächst selbst als Objekt störend zu wirken. Wenn es für die philobatische Welt kennzeichnend ist, dass diese sich nicht aus Objekten, sondern aus »primären Substanzen« konstituiert; wenn in ihr nur Platz hat, was als unendlich und unzerstörbar fantasiert werden kann, dann galt es, diesem Erleben der »primären Substanzen« entgegenzukommen[26], anstatt abrupt in diese Welt einzubrechen. Nur so konnten in dem unendlichen Nichts von Gudruns Welt Marlies und ihre Kolleginnen nach und nach als wohl tuende und beschützende Bestandteile Kontur gewinnen. Wäre Gudrun zu schnell zu viel Kontakt aufgezwungen worden, dann hätte dies das einzige Gute, das ihr zur Verfügung stand, allzu sehr bedroht. Auf diese Weise jedoch konnte das zeitlose Nichts Gudruns sich zu der kostbaren dyadischen Innigkeit verdichten, die allenthalben aus dem Bericht von Marlies herauszulesen ist.

An dieser Stelle musste freilich die anfangs so wichtige Spaltung zwischen gut und böse in Gefahr geraten: Wenn Gudrun immer »vergessen« worden war, aber ihr auch jetzt niemand nahe kommen durfte, dann konnte die Unterscheidung zwischen dem bösen Vergessen und dem guten Sich-Einlassen verschwimmen. Wenn nun die Pädagoginnen als Bestätigung des Guten ihrer integrativen Arbeit es gebraucht hätten, dass Gudrun mehr Kontakt zuließ, hätte hier leicht eine höchst problematische Entwicklung ihren Ausgang nehmen können. Es war an dieser Stelle wohl essenziell, dass das Team sich mein Kommen zu Nutze machen und mir Gudrun ans Herz legen konnte. Indem ich nach meiner Begegnung mit ihr von dem nötigen »Sicherheitsabstand« sprach und dabei versuchte, mit meinen Bildern Marlies und ihre Kolleginnen von Schuldgefühlen zu entlasten, ihnen Gudruns »philobatisches« Erleben, ihr »schwebendes Nichtsein« als etwas Wertvolles und zu Schützendes vorstellbar und begreiflich zu machen, konnte ich ihnen eine Formel in die Hand geben, die über die Schwierigkeiten des Kontaktfindens hinwegzutragen geeignet war.

In meinem Wunsch, mehr an Kontakt aufzubauen, habe ich versucht, mich ihr zu nähern, aber sie ist dann einen Schritt zurückgegangen. Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, wie viel Abstand sie braucht und wie viel Nähe sie zulassen kann. Der Impuls zum Näherkommen ist meines Erachtens daraus entstanden, dass Gudrun erlebt hat, dass es da Menschen gab, die den ganzen Tag über sie mitgedacht haben, und dass das Kontaktaufhehmen mit ihr bei uns wirklich zu so etwas wie einem innerlichen Gebot wurde.

Dieses »innerliche Gebot« ist wichtig, aber zugleich natürlich auch gefährlich. Wichtig ist es, weil es den gelegentlich schwer wahrnehmbaren Unterschied zwischen einfachem »Vergessen« und dem Respektieren des »Sicherheitsabstandes« markierte: Hier wurde sie nicht einfach, unter Ausnutzung ihrer autistischen Züge, stehen gelassen, sondern ausdrücklich in ihrem »schwebenden Nichtsein« wahrgenommen. Die Gefahr jedoch bestand darin, dass es galt, eine höchst prekäre Balance zu halten: Gudrun nämlich könnte an einem Zu viel dieses Kontaktangebotes »ersticken« wie an der zu schnell hinuntergeschlungenen Nahrung, an der sich aufdrängenden Objekthaftigkeit der Welt, wie auch am zu warmen Wasser (sie konnte es auch nicht ertragen, wenn sie zu warm geduscht wurde – als erlebte sie schon Wärme als objekthaft). Es galt also, das philobatische Gleichgewicht auszubalancieren, anstatt sie einfach stehen zu lassen. Nur so konnte aus dem zeitlos »schwebenden Nichtsein« das dyadische Feld entstehen, und in dessen Schutz zarte Anfänge einer Objektwahrnehmung.

(Mir wäre niemals in den Sinn gekommen, dass dieser Vorgang der Kontaktaufnahme ein gefährliches Moment enthielt. Das hat mit meiner vollkommenen Achtsamkeit auf meine und Gudruns Gefühle zu tun. Ich war davon überzeugt, ihre Warnsignale zu bekommen und verstehen zu können, und hatte das sichere Gefühl, dass zwischen uns schon so viel Vertrauen aufgebaut war, dass sie sich gegen einen Übergriff meinerseits hätte wehren können. Im Nachhinein erscheint dies allerdings wie die Sicherheit einer Traumwandlerin.)

Niemand ging bei Gudrun vorbei, ohne die Hände auszustrecken und »hallo Gudrun« zu sagen. Sie hat dann ihre Hände auf die Hände der Betreuerin gelegt – zuerst nur ein paar Sekunden, dann hat sie sich umgedreht und ist ein paar Schritte weggegangen. Allmählich hat sie von sich aus, Sekunde um Sekunde, den Händekontakt verlängert. Wir sind auch sofort weitergegangen, wenn sie den Kontakt unterbrochen hat, wir haben ihr gezeigt, dass wir ihren Willen respektieren. Am Anfang war auch kein Augenkontakt möglich; sie hat immer an uns vorbeigeschaut, aber mit der Zeit schaute sie uns beim Händekontakt für wenige Sekunden in die Augen. Ich glaube, wir hätten gar keine Chance gehabt, wenn sie das nicht von sich aus gewollt hätte.

Da wir auch alle Aktivitäten, sei es nun Wäsche waschen, putzen oder spielen, sprachlich benannten und Gudrun erklärten, obwohl wir zu dieser Zeit noch nicht wussten, ob sie das überhaupt verstehen konnte, bekam sie die Bestätigung, dass wir sie sehen, dass wir sie beteiligen und dass wir sie als ein den anderen ebenbürtiges Gruppenmitglied behandeln.

Auch dies eine Art, wie die philobatische Schwebe sich langsam mit freundlichen Substanzen füllen und zum dyadischen Feld verdichten konnte. Hier wurden Worte zu »freundlichen Substanzen«, die nach und nach objekthaften Charakter gewinnen konnten – bis zu dem Punkt, an dem, später dann, Gudrun deutlich werden lassen konnte, dass sie ein durchaus differenziertes Sprachverständnis besaß.

Wenn jemand von uns zu lange bei ihr stehen blieb - das hat sie nicht aushalten können. Der nächste Schritt war dann, ein Händeklatschspiel zu probieren. Mit einem Sicherheitsabstand von ca. einem Meter habe ich ihr meine Hände hingestreckt und sie hat ihre Hände draufgelegt. Sobald sie ihre Hände wegnahm, habe ich in die Hände geklatscht und sie ihr wieder hingestreckt. Sie hat dann neuerlich ihre in meine gelegt. Dieses Spiel konnten wir dann alle mit ihr spielen, manchmal nur kurz, manchmal auch etwas länger. Wenn es ihr zu viel war, ging sie einfach weg. Wenn man ihr zu nahe war, ging sie einen Schritt zurück.

Dies ist ein Spiel von inniger Verschmelzung, die sich mit einer Darstellung von Trennung abwechselt, und die daher erste Konturen in das objektlose Nichts von Gudrun einbrachte. Das In-die-Hände-Klatschen markiert den Bruch, den Gudrun selbst hergestellt hat, und schafft damit eine Überbrückung zur nächsten Kontaktaufnahme. Mit der klaren Kontur, die das Klatschen akustisch schafft, kann eine erste Öffnung des dyadischen Feldes gelingen, in das sich das »zeitlose Nichts« nun mehr und mehr verwandelt.

Gudrun hat uns genau gezeigt, wie viel Abstand sie braucht, es lag an uns, so sensibel zu sein, diese Zeichen zu erkennen und zu respektieren. Gudrun war die Akteurin und hat selbst gesteuert. Um herauszufinden, was sie mag und was sie nicht mag, haben wir ihr sehr viele verschiedene Aktivitäten oder Gegenstände zum Angreifen angeboten. Es war oft schwierig zu verstehen und einiges ging auch schief. Wichtig für uns war, egal was wir gemacht haben, dass wir sie mit Worten und Erklärungen einbezogen haben. Auch wenn sie abseits war und nicht aktiv mitmachte, war sie irgendwie in die Gruppe eingebunden.

Von der ständigen Bewegung bis zum Ausruhen

Wir machten jeden Tag, nachdem wir die Gruppenmitglieder von den Stationen abgeholt hatten, eine Begrüßungsrunde und eine Tagesbesprechung, in der alles geplant wurde, was an diesem Tag zu tun war und wie wir den Tag gestalten wollten. (Marlies muss heute den Dienstplan für nächsten Monat erstellen, Irene geht heute mit Karin in die Stadt einkaufen und kocht dann etwas Italienisches, Maria geht mit einigen spazieren, außerdem muss noch Wäsche gewaschen werden, usw.). Alle in der Gruppe konnten mitgestalten. Es wurde Kaffee getrunken, gesungen und geplaudert. Am Anfang hatten wir nur den großen Tagraum zu Verfügung, später richteten wir uns ein Wohnzimmer ein, in dem es natürlich viel gemütlicher war.

Im Tagraum war Gudrun immer ein paar Meter entfernt von unserer Tischrunde, sie weigerte sich auch, sich zum Kaffeetrinken zu uns zu setzen. Als wir dann im Wohnzimmer saßen, war Gudrun nicht zu bewegen, in dieses Zimmer zu gehen, sie blieb im Tagraum und schaute manchmal durch die offene Tür zu uns herein. Dort war ihr Platz, dort konnte sie alles sehen und von dort wollte sie auch nicht weg. Zuerst haben wir immer wieder zu ihr herausgerufen, dann haben wir angefangen, sie wie ein kleines Küken zu locken. Nach zwei, drei Monaten ist sie dann doch zu uns ins Wohnzimmer gekommen, sie ist immer in der Nähe der Türe gestanden und hat gewippt. Die Türe war immer offen und sie konnte wieder gehen, wenn sie wollte. Zuerst war sie nur ein paar Minuten da, und ging sofort wieder hinaus; sobald sie wieder draußen war, lockten wir sie wieder und sie kam dann auch sehr oft für ein paar Minuten herein. So haben wir sie in mühevoller Kleinarbeit so weit gebracht, dass sie nach einiger Zeit sich auch auf die Couch gesetzt und ihren Kaffee getrunken hat. Zuerst nur ein paar Minuten, später dann eine Stunde und mehr.

Dies ist nun eine neue Version des Spieles mit dem Hände-Berühren und Klatschen. Auch das »Locken« ist als ein Spiel zu verstehen. Es bringt zum Ausdruck: »Wenn du weggehst, dann gibt es dich noch immer«, so wie der Kontakt von Marlies im Händeklatschen fortgesetzt, die Unterbrechung überbrückt wurde, wenn Gudrun ihre Hände entzogen hatte. In solchen spielerischen Interaktionen zeigen sich die Anfänge eines symbolvermittelten Interagierens, an Stelle der vorher vorherrschenden Reiz-Reaktions-Mechanismen in der Kollusion von institutioneller Gegenübertragung und »kindsmörderischem Introjekt«, die Gudrun mit Autoaggression und gierigem Verschlingen hatte reagieren lassen, wo sie sich den Reizen nicht hatte entziehen können.

Nachdem sie sich nun gern im Wohnzimmer aufhielt, versuchte ich, mit Gudrun im Wohnzimmer Mittagspause zu machen. Sie war praktisch den ganzen Tag in Bewegung und wir suchten nach einer Möglichkeit, wie sie »gefahrlos« eine halbe Stunde rasten konnte.

Diese ständige Bewegung entstammte dem Versuch, gegen die allenthalben andrängende objektale Welt das »schwebende Nichtsein« zu behaupten, und war somit zugleich Ausdruck der Selbstvernichtungsfantasie Gudruns und Lebenszeichen.

Nach dem Mittagessen bin ich mit ihr alleine ins Wohnzimmer gegangen, habe die Tür zugemacht, mich auf die Couch gesetzt, gestrickt und Geschichten von mir erzählt, Gudrun stand in der Nähe der Türe und wippte. Zuerst wollte sie immer hinausgehen, deshalb habe ich eine Woche lang das Zimmer hinter uns zugesperrt. Sie probierte häufig, die Türe aufzumachen, reagierte aber nicht aggressiv, ansonsten hätte ich sofort aufgesperrt.

Das Stricken hatte zweierlei Funktionen: Zum einen musste ich mich darauf konzentrieren, war mit meinen Gedanken auch beim Strickmuster, und zum anderen hatten die gleichmäßigen Bewegungen und das dazugehörige Klappern der Nadeln eine sehr beruhigende Wirkung. Ich spürte, dass das Wippen von Gudrun und mein Stricken zu einem Gleichklang in der Bewegung und somit zu einer Einheit verschmolz. Das Geschichten-Erzählen war wichtiger Bestandteil, um eine ruhige Atmosphäre herzustellen. So konnte Gudrun im »Nebenbei« die Sicherheit gewinnen, im Raum bleiben und meine Nähe auszuhalten zu können, ohne fliehen zu müssen. Um diese Situation herstellen zu können, war unglaublich viel Gespür, Aufmerksamkeit und Kraft meinerseits erforderlich. Anschließend war ich oft ausgelaugt und erschöpft.

Hier ergibt sich eine Fortsetzung der ersten Symbolisierungen mit dem hochrandigen Teller, der symbolisch Halt bietet; mit dem Händeklatschen, dem Locken, welches Trennung überbrückt und zugleich erhält, und damit wiederum Halt schafft. Hier ist es nun die verschlossene Tür, die Gudrun hält. Sie probiert aus: »Hält sie (die Tür = Marlies) mich wirklich?«, und Marlies ist bereit zu öffnen, sollte das Spiel konkretistisch entgleisen und Gudrun sich nicht mehr gehalten, sondern eingesperrt fühlen. Die prekäre Balance gelingt auch hier. Nun gibt es ein Zimmer, das Gudrun hält, während sie schläft oder ruht – und so sind schlafen und ruhen nicht mehr der tödliche Gegenpol zur ewigen Bewegung, in welcher Gudrun sich einzig als lebendig hat behaupten können. Damit entstehen erste Selbstgrenzen, eine räumliche Begrenzung als Kontur, die Gudrun zunächst äußerlich von Marlies unabhängig machte, die aber von ihr durch Verinnerlichung auch zur inneren Abgrenzung von ihren Betreuerinnen verwendet werden konnte. Auch der Aspekt, dass Marlies in diesem Zusammensein mit Gudrun ihr von sich selbst erzählte, verdient Beachtung. Es war dies eine Möglichkeit, Gudrun und sich selbst darzustellen, dass sie bei ihr war, ohne ihr einen Kontakt aufzwingen zu müssen. Sie konnte sich bei diesem Erzählen ganz auf ihr eigenes Erleben der Situation ein-, sich von ihren spontanen Einfällen leiten lassen, und erfasste damit wahrscheinlich mehr von dem Gudruns, als es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie versucht, letzteres direkt anzusprechen.

Dass Schlafen für Gudrun Tod, die realisierte Selbstvernichtung, bedeutet haben muss, können wir nicht nur ihrem ständigen Bewegungsdrang entnehmen. Daraufweist auch die mörderische Inszenierung mit Andrea hin, von der wir in der Einleitung berichtet haben. Sie fand ja statt, als Gudrun bereits zum Schlafen im Bett lag. Auch dies ist ein Aspekt der gruppendynamischen Prozesse und des »Nebenbei«, das es in der pädagogischen Arbeit zu beachten gilt. Immer wieder kommt es vor, dass die Betreuten unter Übernahme der jeweils ihnen »auf den Leib geschriebenen« Rolle ihre Problematik untereinander in Szene setzen. Dies kann eine Chance sein, kann aber auch dem integrativen Prozess unter Umständen erhebliche Widerstände entgegensetzen. Andrea hat, so dürfen wir vermuten, in Gudruns Wiederholungszwang eine Rolle übernommen, die sich mit einem ihrerseits virulenten Wiederholungszwang zur Deckung bringen ließ.[27]

(In unseren ersten Versuchen, die mörderische Inszenierung Andreas zu begreifen, kam uns auch der Gedanke, dass sie, indem sie Gudrun auswählte, uns Betreuerinnen am schwersten treffen konnte. Das war nahe liegend, da Gudrun (zumindest in unserer Fantasie) die »schwächste« und bedürftigste Person in der Gruppe war, die wir ständig beschützen mussten. Gudruns Art, nicht wirklich anwesend zu sein, löste in uns uneingeschränktes Wohlwollen ihr gegenüber aus. Eine weitere Überlegung dazu ist, inwieweit Gudruns Fähigkeit in einer »anderen Welt« in Frieden sein zu können, Andreas immensen Neid schürte.)

In derselben Woche setzte sie sich dann auch auf die Couch und schlief sogar zwei Mal ein. Sobald ich aufstand, erwachte sie und ging mit mir wieder hinaus. Nach dieser Woche brauchte ich das Zimmer nicht mehr zuzusperren, Gudrun blieb bei mir und schlief eine halbe Stunde lang. Nach einer weiteren Woche blieb ich nur mehr solange bei ihr, bis sie eingeschlafen war, sie wachte nicht mehr auf, als ich den Raum verließ. Etwas später musste ich sie nur mehr hineinbegleiten, sie setzte sich nieder und ruhte sich aus. Die Türe ließ ich einen Spalt offen. So konnte ich mit ihr zusammen einen weiteren Raum erobern und ihr dadurch mehr Handlungsspielraum geben. Dieser Prozess konnte nur gelingen, weil ich wichtige Unterstützung im Team hatte. Zum einen konnte ich mich kontinuierlich ungestört und ohne Schuldgefühle (und das wirklich täglich) mit Gudrun zurückziehen, zum anderen bekam ich auch Verständnis und den nötigen emotionalen Halt für diese Arbeit entgegengebracht.

Von der mechanischen bis zur gefühlvollen Berührung

Gudrun und ich hatten mittlerweile einen intensiven Kontakt zueinander aufgebaut. Deshalb habe auch ich sie fast immer gebadet. Das war eine eigenartige Situation, denn sie ließ alles wie automatisiert über sich ergehen. Wir gingen ins Bad und sie hat sich sofort mit dem Rücken zu mir gestellt, um sich die Hose ausziehen zu lassen, danach hat sie zum Ausziehen der »oberen Kleidungsstücke« die Hände in die Höhe gestreckt. Sie hat nichts selbst gemacht, aber sie hat sich so hingestellt, dass ihr gewohntes Auskleidungsritual nicht verändert wird. Sie stieg in die Wanne und ich musste sie sehr schnell waschen. Wenn ich nicht schnell genug war, stieg sie unter dem Waschen wieder heraus.

Wir überlegten, was wir anbieten könnten, damit Gudrun etwas länger in der Badewanne blieb. Wir probierten es erst mit Musik, dann kauften wir Badespielzeug, das sie sofort wieder aus der Wanne warf. Durch Zufall entdeckte ich dann das »Heilmittel«. Gudrun blieb solange in der Wanne, wie das Wasser lief.

Auch hierfinden wir wieder das typisch »Philobatische« von Gudruns Seinsweise: nicht etwa Gegenstände – die sie ja »ersticken« könnten – halten sie im Bad, sondern die Unendlichkeit des Wassers, also einer »primären Substanz«. Und damit, dass dieses entdeckt wird[28], kann auch aus dieser betreuerischen eine bedeutungshaltige Aktivität werden.

Nun ließen wir das Wasser ganz langsam ein, sie hielt die Hände immer unter den Wasserstrahl und ich konnte sie ganz in Ruhe baden und auch ein paar Minuten mit ihr mit dem Wasser spielen! Irgendwie kam mir das so vor, als ob sie nicht nur das Wasser spüren, sondern auch kontrollieren wollte. Auch kam Irene dahinter, dass sie sehr empfindlich auf allzu warmes Wasser reagierte und deshalb manchmal aus der Wanne hüpfte.

Gudrun hat sich danach auch ohne Schwierigkeiten abtrocknen lassen; solange ich das so schnell und mechanisch gemacht habe, wie sie es gewohnt war, konnte sie die Nähe aushalten. Allmählich fing ich an, sie langsamer abzutrocknen, die Gliedmaßen zu benennen – »das sind deine Arme, deine Beine«, mit ihr dabei zu reden, sie auch einzucremen usw. Da ist sie zuerst unruhig geworden, wieder auf Distanz gegangen, aber mit der Zeit hat sie sich an meinen Rhythmus gewöhnt. Sie kam auch immer ein kleines Stückchen näher, ich fing an, sie zuerst nur kurz und später schon länger zu umarmen. Je nach dem, in welcher Stimmungslage sie an diesem Tag war, legte sie sogar manchmal den Kopf an meine Schulter während ich ihr den Rücken abtrocknete. Eines Tages, als sie den Kopf an meine Schulter legte, drehte sich ihr Gesicht zu meinem, streifte meine Wange und gab mir einen flüchtigen Kuss. Im ersten Moment war ich wie erstarrt, dann durchflutete mich unbändige Freude. Das war eine der schönsten Bestätigungen, die ich in meinem Arbeitsleben je bekommen habe.

Ganz allmählich veränderte sich die Art der Berührung von der mechanischen zur gefühlvollen, sie »lernte« Gefühle zu spüren, sie zuzulassen und auch zu erwiedern.

Nach einiger Zeit begann Marianne, eine Mitbewohnerin mich in das Bad zu begleiten, wenn ich Gudrun badete. Marianne schaute mir aufmerksam zu und begann mir zu helfen, indem sie ihr den Rücken wusch oder mir beim Anziehen Gudruns Kleidungstücke reichte. Wir setzten uns manchmal sogar an den Badewannenrand und redeten miteinander, bezogen aber Gudrun in das Gespräch mit ein, während diese in der Wanne mit dem Wasser spielte. Das waren angenehme Momente für uns drei. So konnte sich meine enge Beziehung zu Gudrun etwas erweitern, Marianne wurde als dritte Person miteinbezogen. Dies ist ein praktisches Beispiel, wie sich die Dyade (zwischen Marlies und Gudrun) ein Stück weit aufheben und zu einer Triade (mit Marianne) entwickeln kann.

Sehr schwierig war auch das Föhnen der Haare, das kannte sie nicht, denn früher wurden ihr die Haare nie geföhnt. Sie konnte nicht ruhig auf einem Stuhl sitzen, stand meistens wippend da, sie versuchte an mir vorbeizukommen und aus dem Bad zu laufen. Ich stand in der gleichen Weise wippend vor ihr und versuchte, so schnell wie möglich ihre Haare wenigstens ein bisschen zu trocknen.

Mein Benennen der Gliedmaßen in einem immer gleich bleibenden, ruhigen Tonfall (so wie die bereits genannte Formel beim Essen) plätscherte ähnlich dahin, wie das Wasser, das in die Wanne lief.

In diesem Benennen der Gliedmaßen erkennen wir nun einen Übergang von der dyadischen Verschmelzung zu einer Auskonturierung zweier getrennter Subjekte, die unter dem schützenden Kokon der Dyade allmählich statthaben kann. Das Sprechen von Marlies hatte in seinem Tonfall zunächst noch den Charakter einer »primären Substanz« inne; die Kontur und Bedeutungshaltigkeit der Wortejedoch konnte nach und nach sich unter dessen Schutz Geltung verschaffen, und damit die reale Angewiesenheit Gudruns auf Marlies’ haltende Präsenz in eine sprachlich vermittelte Vorstellung eines zusammengehaltenen Selbst umwandeln.

Vom Festhalten müssen bis zum Loslassen können

Ich bin täglich mit Gudrun spazieren gegangen, einerseits um kurze Zeit mit ihr allein zu sein und dadurch noch mehr Zugang zu ihr zu finden, andererseits auch, um sie müde zu machen. Ich wollte damit erreichen, dass sie sich danach niedersetzen konnte, um ein bisschen auszuruhen. Aber die Kultur des Spazierengehens zu erlernen war auch ein lang andauernder Prozess. Beim ersten Mal begleitete mich ein Pfleger, er hielt Gudrun ganz fest an der Hand. Er erklärte mir, dass ich sie fest halten müsse, weil sie sonst davonlaufe. Sie wollte sich immer wieder losreißen und wurde zurückgerissen, obwohl wir uns innerhalb der Anstalt bewegten und es keine unmittelbare Bedrohung gab.

Bei unseren ersten »Versuchen« habe ich sie – gegen meine Gefühle – auch so fest an der Hand gehalten; ich hatte einfach Angst, dass etwas passieren könnte. Diese Spaziergänge waren reine Stressaktionen. Trotz meiner Angst habe ich angefangen, innerhalb des gesicherten Psychiatriegeländes ihre Hand loszulassen, sobald sie an meiner riss. Zu meinem Erstaunen und meiner Freude passierte gar nichts, sie schaute mich mit großen Augen an und gab mir von selbst wieder die Hand. Dieses Spiel musste ich einige Zeit mitmachen, bis ich endlich begriff, dass Gudrun sehr gerne beim Spazierengehen die Hand gibt, dass sie es aber nicht ausstehen kann, wenn man sie fest hält.

Außerhalb des Psychiatriegeländes war es schwieriger. Meine Angst, dass sie in ein Auto läuft, war nicht unbegründet, denn sie blieb gerne in der Straßenmitte stehen und fing an zu wippen. In diesen Situationen nahm ich sie auch gegen ihren Willen fest an der Hand, zog sie von der Straße weg und ließ sie danach aber sofort wieder los. Währenddessen erklärte ich ihr jedes Mal, warum ich sie jetzt fest halten müsse. Dieses Loslassen und dann wieder die Hand geben macht Gudrun auch heute noch, als ob sie sich immer noch bestätigen müsse, dass sie die freie Wahl hat.

Mir scheint dies noch einen anderen Aspekt zu haben: hinter diesem Hin- und Her könnte auch Gudruns Frage stehen, ob sie nun schon allein bestehen, und auch aus Eigenem Beziehung aufnehmen kann, ohne der Vernichtung anheim zu fallen. Dies wäre dann wiederum ein Schritt in Richtung einer Auflösung der dyadischen Abhängigkeit. (Und wiederum könnten wir das Stehenbleiben mitten auf befahrener Straße im Hinblick auf eine Inszenierung der Tötungsfantasien deuten.)

Einige Zeit später erweiterte ich das »Spazierengehenspiel«, indem ich ihr erklärte, dass ich heute nicht wisse, wo wir hingehen sollten, und sie mich führen müsse. Ich bin dann mit ihr gegangen, wohin sie wollte. Sie drängte jedes Mal sofort aus dem Anstaltsgelände hinaus und ging in die Altstadt von H. Erst da wurde mir klar, dass Gudrun die Spaziergänge in dem großen Anstaltspark nicht mochte. Für mich war es aber um einiges aufwändiger, in die Stadt zu gehen, denn das hieß auch, Gudrun oft frisch anziehen zu müssen, nicht einfach in den Hausschuhen und manchmal auch mit etwas schmutziger Kleidung eine kleine oder große Runde im Anstaltsgelände zu drehen.

Schwierig wurde es, wenn sie nicht mehr zurückgehen wollte. Ich habe sie wieder fest halten und ein paar Schritte ziehen müssen, danach ließ ich wieder los. Ich erklärte ihr, warum wir jetzt wieder zurückgehen müssten, dass es jetzt die Jause gäbe oder ich kochen müsse usw. Manchmal ging sie dann gleich mit mir retour, manchmal musste ich sie ein paar Mal in die Richtung ziehen und sie gleichzeitig locken, manchmal schlug sie sich ins Gesicht.

Gudrun geht nach wie vor sehr gerne spazieren und genießt es, eine Begleitperson für eine Weile für sich alleine zu haben. Die Qualität der Spaziergänge hat sich enorm verbessert, Gudrun kann jetzt selbst bestimmen, ob sie die Hand geben will oder nicht, sie hat die Möglichkeit, selbst zu zeigen, wo sie hingehen will.

Von den Bedeutungen der Autoaggression

In ihrer Krankengeschichte wurde Gudrun als aggressive, fremd- und selbstverletzungsgefährdete Person eingestuft. Ich habe sie in Bezug auf andere Patientinnen oder Personal nur ganz selten aggressiv erlebt, eigentlich nur, wenn sie von jemandem massiv in die Enge getrieben worden ist. Als ich sie kennen lernte, hatte sie oft beide Hände den ganzen Tag eingebunden, und sie versuchte sich dann verzweifelt davon zu befreien. Dies schien damals die einzige Möglichkeit zu sein, sie vor Verletzungen zu schützen.

Ihre Selbstverletzungen machten uns allen sehr zu schaffen. Damit haben wir und auch sie schmerzhafte Erfahrungen erleben und durchstehen müssen. Es war für uns kaum auszuhalten, wenn sie sich schlug und blutig kratzte. Sie bekam in solchen Momenten starke Zusatzmedikamente, die sie oft tagelang sedierten, und wir suchten fieberhaft nach einer befriedigenderen Lösung.

Wir fingen an, Gudrun genauestens zu beobachten, um herauszufinden, wo die Grenze zwischen ihrem »Unruhigsein« und ihren autoaggressiven Ausbrüchen lag. Mit der Zeit merkten wir, dass Gudrun immer die gleichen Anzeichen zeigte, bevor sie anfing, sich selbst zu schlagen. Das ist schwierig zu beschreiben, viel lief einfach auf meiner und ihrer Gefühlsebene ab. Bevor es zu Selbstverletzungen kam, gab sie eigenartige Geräusche von sich. Dabei war sie recht unruhig, wippte fester als sonst hin und her. Wenn wir das übersehen haben, ist sie sofort mit den Händen ins Gesicht gefahren, hat sich mit ihren Nägeln aufgekratzt und gab eine Art schmerzliches »Wiehern« von sich.

Das erste Kratzen war der absolut späteste Zeitpunkt, um sie zu stoppen. Am besten ging es, wenn wir vor dem ersten Schlagen reagierten, mit ihr redeten, ihr unsere Hände hinstreckten und dabei zu spüren versuchten, was sie wollte. Da brauchte sie dann manchmal überhaupt nicht zu schlagen und beruhigte sich sofort. Sofort zu reagieren bedeutete aber für uns, augenblicklich alles andere liegen und stehen zu lassen. Voraussetzung dafür war, dass unsere Teamkultur ausreichend gut war, um mir zu gestatten, in diesen Situationen einfach mit ihr sein zu können. Mit der Zeit fing sie an, mich zur Ausgangstüre zu ziehen. Das bedeutete, dass sie spazieren gehen wollte. Sie ließ mich dadurch wissen, dass sie nicht mehr schlagen musste, wenn ich mit ihr spazieren ging; manchmal drei Mal am Tag eine Runde.

Durch das Spazierengehen konnte sie sich sehr oft beruhigen und brauchte zunehmend weniger zusätzliche Medikamente. Wenn wir aus Zeitgründen ihre Forderung nicht erfüllen konnten, blieb ich so lange bei ihr, bis sie ruhiger wurde, und erklärte ihr dabei, warum ich jetzt nicht mit ihr spazieren gehen konnte. Am Anfang übersahen wir noch oft diese Grenze und sie zerkratzte dann ihr Gesicht, bis das Blut nur so herunterrann. Da half nichts mehr außer starken Medikamenten, und bei ihr zu bleiben, bis diese wirkten. In der Zwischenzeit versuchten wir ihre Hände vom Gesicht fern zu halten. Diese Situationen waren für uns alle schrecklich.

Je mehr wir uns mit Gudrun auseinander setzten, desto mehr verstanden wir von ihr. Mit diesem Schlagen, das bei uns so viel Mitleid, Betroffenheit und Hilflosigkeit auslöste, konnten wir mit der Zeit besser umgehen und es immer öfter verhindern. Unsere Freude, diese Situationen einigermaßen im Griff zu haben, währte aber nicht lange. Gudrun fing wieder an, sich zu schlagen, in veränderter Form – das Schlagen bekam auf einmal eine andere Bedeutung. Ihre autoaggressiven Ausbrüche galten plötzlich mir bzw. uns persönlich und sie war fordernd und aggressiv. Es war irgendwie fast ein Schock für mich, für uns alle, als sie anfing, sich so zu schlagen, wenn sie etwas wollte.

Hier beginnt nun das, was ich schon oben andeutete. Gudrun verharrte nicht länger in der Position des Opfers, die ihr im Rahmen der gut-böse-Spaltung zwischen psychiatrischer und pädagogischer Versorgung zugefallen war. Die bislang projektiv im Außen untergebrachte Aggression musste nun als Gudruns eigener Wille anerkannt und integriert werden – ein Wendepunkt in der Beziehung, der leicht auch zu einer gefährlichen Krise hätteführen können, wenn da nicht die Bereitschaft von Marlies und ihrem Team gewesen wäre, die nun nicht mehr hilfreiche Spaltung zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Situation zu überschreiten.

Nachdem die Gruppe drei Jahre bestanden hatte, wurden unsere Räumlichkeiten anderweitig gebraucht und wir mussten für drei Monate nach G. in ein kleines Ferienhaus übersiedeln. Im Laufe dieser Übersiedelung, die entsprechend turbulent war, stellte sich heraus, dass die Gruppe in dieser Konstellation aufgelöst werden muss. Zu diesem Zeitpunkt wusste aber noch niemand, in welcher Form und mit wem wir weiterarbeiten sollten. Das war natürlich eine furchtbare Zeit der völligen Verunsicherung und Angst für alle und wir waren nicht mehr in der Lage, der Gruppe den nötigen Halt im Alltag bieten zu können.

Dies war für jedes Gruppenmitglied nicht einfach zu bewältigen, aber am meisten machte es Gudrun zu schaffen. Sie wollte meiner Meinung nach nicht in dieses Haus übersiedeln, sie wollte auf unserer Tagesstation bleiben. Diese Station war sehr groß, es waren riesige Räume, sie hatte einen ganz klaren Tagesrhythmus, einen klar überschaubaren Ablauf, und das war wichtig für sie. Im Gegensatz dazu war das Haus sehr klein und sie hatte auf einmal keinen Raum mehr für sich, keinen Platz mehr, vollkommen andere Verhältnisse, auch der Tagesablauf änderte sich.

Gudrun fing in dieser Zeit an, sich vor mich hinzustellen, mir ganz »frech« in die Augen zu schauen und sich dann zu schlagen und das Gesicht zu zerkratzen. Sie hat vor allem mich, manchmal auch das restliche Team bis zum Äußersten provoziert. Sie versuchte massiv, ihren Willen durchzudrücken, sie war eine komplett andere Person als vorher. Vorher waren ihr Schlagen und ihre Selbstverletzungen für uns etwas anderes, etwas, weshalb sie uns sehr Leid tat. Jetzt bekam ihr Verhalten plötzlich eine andere Bedeutung, wir waren ihr gegenüber hilflos, auch oft wütend und zornig, denn wir konnten die äußeren Umstände zu dieser Zeit nicht verändern.

Es ist leicht verständlich, warum Gudrun hier Missfallen äußerte: Wurde ihr doch eine Realität aufgezwungen, welche die Unendlichkeit ihres »schwebenden Nichtseins« aufbrach. Die vorher geleistete Beziehungsarbeit aber begann nun, Früchte zu tragen – Gudrun verharrte nicht mehr in der Opferrolle, sondern bezog ausdrücklich Stellung.

So paradox es auch klingen mag – vorher konnten wir mit ihrer Aggression besser umgehen, wir litten mit ihr mit, auch mit ihrer schrecklichen Vergangenheit. Es war uns allen klar, dass Gudrun die Struktur und Stabilität der Tagesstation dringend brauchte, aber wir hatten keine Wahl. Sie musste entweder mit uns gehen oder auf ihrer »Ursprungs-Station« bleiben, aber dort fühlte sie sich auch nicht wohl. Wenn ihre Selbstverletzungen ganz massiv wurden und sie auch nicht mehr zu überreden war, mit uns zu fahren, ließen wir sie tageweise dort. Wir versuchten aber jeden Tag, sie zu überzeugen, mit uns mit zu fahren. Wir waren alle in der Zwickmühle, sie wollte nur in unsere ehemaligen Räumlichkeiten, und dies war nicht möglich.

Es ist deutlich, wie Gudrun hier an jenem Alten fest hält, welches ihr die Sicherheit des »schwebenden Nichtseins« geboten hatte. Die äußere Umstellung kam zu früh und zudem fand sie unterfür Gudrun unglücklichen Umständen statt, sodass sie das Neue noch nicht als Chance begreifen konnte. Neu jedoch war, dass Gudrun nun mit ihrer gerade erworbenen Fähigkeit, als Täterin ihres Lebens aufzutreten, die Pädagoginnen zwingen konnte, sich mit den Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten auseinander zu setzen, und diese angesichts einer sichtlich verzweifelten und wütenden Gudrun ohne Schuldgefühl und ohne projektive Abwehr zu ertragen – eine der schwersten, aber auch der wichtigsten Aufgaben, die sich in der pädagogischen Arbeit stellen können.

So verunsichernd und schwierig unsere damalige Arbeitssituation auch war, konnten wir trotzdem den Fortschritt Gudruns in dieser neuen Version des sich Verletzens erkennen. Nach den drei Monaten in G. wurde unsere Gruppe auf verschiedene Stationen innerhalb der Psychiatrie aufgeteilt und es war allen klar, dass ich auf der Station Weiterarbeiten würde, wo Gudrun wohnte. Sie setzte auch dort in meiner Anwesenheit das Schlagen weiter ein, um mich zu provozieren, und ihren Willen durchzusetzen.

Gudrun begann jetzt, »ich« zu sagen mit ihrem Schlagen. So erschreckend dies auf den ersten Blick aussehen mochte – es zeigt eine Integration von »bösen« aggressiven Aspekten ihrer selbst in ihre Persönlichkeitsstruktur an, und stellt damit eine wesentlich reifere Form des Interagierens dar. Sie nahm die Aufhebung der Spaltung in einen nur-guten Selbstanteil und einen abgespaltenen, in Andrea, Mark, die psychiatrische Versorgung projizierten aggressiven, bösen Selbstanteil in eigene Regie, und begann sich als Subjekt mit eigenen Wünschen zu integrieren. Das Team musste nolens volens sich damit zurechtfinden, und dies in der so schwierigen neuen Situation.

Indem sie sich verzweifelt und wütend zeigt, grenzt sie sich von Marlies als ihrer dyadischen Partnerin ab und beginnt, sie als – nur begrenzt mächtiges, und also gelegentlich enttäuschendes – Gegenüber in ihrer Erlebenswelt zu etablieren. Indem sie sich als ab gegrenztes Subjekt ihrer Wünsche behauptet, bringt sie sich nun als »Fremde«, als »Störfaktor« ins Bewusstsein, und sucht damit aus Eigenem nach einer neuen, konstruktiveren Lösung einer dyadischen Beziehung, die nicht mehr zum Untergang der Dyade, zum (seelischen und dann auch physischen) Tod der Mutter und zum »schwebenden Nichtsein« Gudruns führen muss. Hier können die beiden an der Interaktion Beteiligten die Einbrüche in das dyadische Kontinuum konstruktiv aufheben, sie können aus der Dyade heraus gegeneinander Kontur und damit Unabhängigkeit voneinander gewinnen. Es verwundert nicht, dass in diesem Zusammenhang sich auch Gudruns Sprachverständnis endlich zur Geltung bringen kann.

Ich möchte hier noch ein paar Beispiele nennen, wo für mich/uns die Bedeutung des Schlagens deutlich wurde und wo ich/wir endlich begriffen, dass Gudrun alles verstehen kann, was gesprochen wird: Wir wollten mit dem Bus am Abend von G. nach H. zurückfahren. Alle Gruppenmitglieder saßen schon im Bus. Da es stark geschneit hatte, musste ich noch einmal aussteigen, um Schneeketten anzulegen. Gudrun war aber gewohnt, dass wir gleich losfuhren, sobald alle im Bus saßen. Als ich wieder ausstieg, fing sie an, sich zu schlagen. Ich war total genervt, müde und wollte nur nach Hause. Es war dunkel, kalt, und zudem war Schneeketten anzulegen nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Daher schrie ich wütend in den Bus hinein, dass sie sofort aufhören solle, denn ohne Ketten könnten wir überhaupt nicht fahren. Gudrun schaute mich an und hörte sofort auf, sich zu schlagen. Sie blieb ruhig sitzen, bis wir fahren konnten.

Beim Spazierengehen, wenn sie nicht mehr zurückgehen wollte, später dann, wenn ich Wege einschlug, die sie nicht gehen wollte, wenn wir einen Ausflug machten und sie im Bus warten musste, bis alle saßen und ich nicht sofort losgefahren bin, wenn das Anziehen zum Spaziergang zu lange dauerte etc. Es gab viele Situationen, wo ich sie zwar nicht angeschrieen habe, aber ihr erklärte, warum ich ihre Forderung, oder ihren Wunsch nicht sofort umsetzen konnte, und sie sofort aufhörte, sich zu schlagen. Da bekam ich mit, dass Gudrun zwar manchmal probierte, aber auch zurückstecken konnte, wenn es nicht möglich war oder nicht so schnell ging, wie sie wollte. Das war auch ein gewaltiger Entwicklungsschritt – eigentlich für uns beide.

Hier zeigt sich noch einmal ein wichtiger Schritt in Gudruns Entwicklung: Nachdem sie mit dem Sich-Schlagen begonnen hat, ihre Wünsche zu behaupten, kann sie nun auch ihr Gegenüber im eigenen Recht erkennen, kann spüren, wenn ihre Wünsche nicht erfüllbar sind und darauf warten, dass dies wieder möglich wird.

Wichtig ist dieser Schritt auch für die Pädagogin, oder genauer: für deren Bewusstheit von der pädagogischen Aufgabe. Marlies lernt hier, ihre Grenzen nicht nur zu ertragen, sondern auch in einer für Gudrun erträglichen Form zu behaupten. Wo dies gelingt, kann wirkliche Integration stattfinden. Indem Gudrun auf diese Weise lernt, für ihre Wünsche Verantwortung zu übernehmen, kann sie diese Wünsche nach und nach von Marlies ablösen, und damit auch allmählich eine Unabhängigkeit als Erwachsene, eine autonome Verfügung über ihre Angewiesenheiten gewinnen.

All dies stellt eine wichtige Etappe auf dem Wege zur Etablierung der »dritten Position« dar, welche die Position des Selbstbewusstseins ist. An Marlies’ heftiger Reaktion kann Gudrun in einer Art Kreuz-Identifikation die Dringlichkeit spüren, die sie von ihren eigenen Impulsen, die jetzt schon Wünsche genannt werden können, kennt, und sie kann dies nutzen, um ihre Wünsche – und damit sich selbst – in Zeit und Raum zu positionieren,d.h. Aufschub zu ertragen und vertrauensvoll zu warten, und schließlich auch einmal verzichten.

Der eigene Raum

Als ich nach Auflösung der MIM-Gruppe anfing, auf der neuen Station zu arbeiten, war das für mich eine schwierige Zeit; ein vollkommen neues psychiatrisches Team, 22 neue Bewohnerinnen, allein verantwortlich für den pädagogischen Bereich, keine Irene oder Maria zur emotionalen und geistigen Unterstützung. Einiges veränderte ich ziemlich schnell, versuchte damit alte Strukturen aufzubrechen, natürlich nicht ohne auf einigen Widerstand zu treffen!

Das Erste und Wichtigste war, dass Gudrun einen eigenen Raum bekam, wohin sie sich, wenn sie wollte, zurückziehen konnte und wo sie auch in der Nacht schlief. Bis dahin hatte sie in einem offenen Raum (kein abgeschlossenes Zimmer, der Gang führte durch diesen Raum) mit sieben anderen Personen geschlafen. Gudrun bekam nachts oft zusätzliche Medikamente, da sie häufig laut war und sich schlug und damit den Schlaf der anderen störte.

Gudrun ein eigenes Zimmer einzurichten, war mir auf Grund unserer gemeinsamen Erfahrung des Gehalten Seins im Wohnzimmer der MIM-Gruppe wichtig. Ich wusste, wie lebensnotwendig es für Gudrun war, sich in einen sicheren Raum zurückziehen zu können. Erstaunlich war, wie schnell Gudrun diesen neuen Raum für sich besetzen konnte. Sie schlief viel ruhiger und benötigte zusehends weniger Medikamente.

Hier finden wir nochmals einen Hinweis darauf, dass Gudrun früher den Schlaf als bedrohlich und potenziell vernichtend erlebt haben musste. Gegen diese Bedrohung hatte sie sich offenbar durch ihr Schlagen und Lautsein zu wehren versucht. Nun konnte jedoch das in der MIM-Gruppe Erarbeitete, die Entdeckung, dass ein eigenes Zimmer ihren Schlafschützen konnte, schon Wirkung zeigen – wobei betont werden muss, dass es nicht das eigene Zimmer an sich war, sondern die in der haltenden Beziehung zu Marlies erarbeitete Bedeutung des Zimmers als einer Begrenzung und Umhüllung des Selbst, die dies möglich machte.

Das Zimmer wurde für sie so wichtig, dass sie am Morgen zunächst nicht mehr aufstehen wollte, sie wollte den ganzen Tag im Bett bleiben, nicht einmal das Essen, das für sie immer noch einen großen Stellenwert hatte, zog mehr. Anfangs traf ich die Entscheidung, dass Gudrun einige Tage in ihrem Zimmer bleiben kann. Dies löste bei einigen Mitarbeiterinnen großen Unmut aus: »Das geht doch nicht, den ganzen Tag im Bett zu bleiben; sie soll doch auch in der Gruppe sein, soll mitmachen, wo führt denn das hin ...« usw. Häufig wurde sie gegen ihren Willen aus dem Zimmer geholt.

Hier setzte sie wieder die andere Funktion des Schlagens ein. Wenn Mitarbeiterinnen sie überreden wollten ins Wohnzimmer zu gehen, obwohl sie in ihrem Zimmer bleiben wollte, fing sie an zu schlagen und hörte solange nicht auf, bis sie wieder in ihrem Zimmer sein konnte. Sie setzte die Selbstverletzung bewusst ein, um ihren Willen durchzusetzen.

Aber auch hier vollzog sich wieder das mir bereits bekannte Procedere: Sobald ihr Wunsch verstanden und auch erfüllt wurde, verringerten sich ihre Selbstverletzungen. Ich habe mich nach einigen Überlegungen dazu entschlossen, ihr vierzehn Tage die Möglichkeit zu geben, im Bett zu bleiben, danach sollte überlegt werden, was weiter zu tun wäre. Das stieß weiterhin auf Widerstand, weil das den gewohnten Stationsablauf störte. Diese Entscheidung war für mich nicht einfach zu treffen, da ich ja nicht wissen konnte, wie sich das im Gesamten entwickeln würde.

Wir holten Gudrun zum Frühstück und für die Morgentoilette heraus, waren dann aber sehr aufmerksam, wo sie hingehen wollte. Wenn sie uns in Richtung ihres Zimmers gezogen hat, legten wir sie wieder ins Bett. An manchen Tagen wollte sie ins Zimmer, manchmal blieb sie aber auch auf und setzte sich ins Wohnzimmer. Die Angst, dass sie nur mehr im Bett bleiben wollen könnte, wurde dadurch immer geringer.

Wie schwer diese Entscheidung gewesen sein muss, können wir uns erst verdeutlichen, wenn wir die Bedeutung des Schlafenlassens in Bezug zu den Tötungsfantasien setzen, die in der Gegenübertragung auf Gudrun noch immer nicht vollends außer Kraft gesetzt waren. Gudrun selbst konnte nun dem Schlafschon eine neue Bedeutung geben – offenbar übernahm er nun die Rolle des »schwebenden Nichtseins«, während ihr inzwischen auch differenziertere, aber auch anstrengendere Erlebnisformen möglich waren, von denen sie sich dann im Schlaf ausruhen konnte. Zugleich jedoch musste ihr Wunsch, sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen zu können, im Kontext der institutionellen Gegenübertragung zunächst wirken wie eine Aufforderung, sie nun doch wieder zu »vergessen«.

Nach drei Jahren intensiver Arbeit mit Gudrun begann ein neuer Abschnitt in unserer Arbeit und in Gudruns Leben. Wir verließen mit dieser Gruppe die Psychiatrie und zogen in ein geräumiges Haus in einem benachbarten Dorf. Meine Sorge war sehr groß, ob Gudrun sich dort wohl fühlen würde oder wieder in alte Muster zurückfallen müsste. Wir bereiteten diese Übersiedlung lange vor, gingen viel ins neue Haus und erzählten darüber.

Der erste Monat dort war auch recht schwierig für alle. Gudrun schlug sich wieder vermehrt und wollte nur in ihr Zimmer. Sie verhielt sich ähnlich wie damals, als sie auf der Station ihr eigenes Zimmer bekam. Sobald sie verstand, dass sie auch in der neuen Wohngemeinschaft in ihr Zimmer gehen konnte, wann sie wollte, gewann sie ihre Sicherheit wieder zurück, und sie musste sich nicht mehr zu schlagen. Wieder einmal zeigt sich hier, wie Gudrun auf für sie bewährte Muster zurückgreifen und ihren Spielraum erweitern kann. Das war für das Team nicht leicht zu bewältigen. Einerseits war es entlastend, wenn sie den ganzen Tag im Zimmer war, andererseits hatten wir trotzdem wieder die Angst, dass sie nie mehr aufstehen würde, Angst vor Vernachlässigung, Angst sie wieder zu vergessen. Einerseits war diese Angst ja sehr berechtigt (aus Psychiatriezeiten) andererseits waren wir gerade dadurch ausreichend aufmerksam.

Gudrun und die Gruppe

Die unterschiedlichen Formen der Kommunikation haben sich nur langsam entwickelt, zunächst einmal zu einem Nebeneinander der Gruppenmitglieder und dem Team. Gudrun wurde früher kaum beachtet, sie war halt da, es wusste wahrscheinlich auch niemand, was man mit ihr anfangen könnte. Wenn es ihr schlecht ging, schlug sie sich und wurde sediert. In der MIM-Gruppe hat sich dies langsam gewandelt. Unsere Art, sie in alles miteinzubeziehen, sie überall mitzudenken und auch mitzunehmen, bewirkte für uns und die gesamte Gruppe, dass sie als Person sichtbarer wurde. Auch ihr schlechter Ruf bezüglich des Essenstehlens verblasste allmählich, weil wir auf jede negative Äußerung reagierten und den anderen erklärten, wieso Gudrun dies oder jenes gemacht hat.

Dies ist wieder einmal eine jener »Nebenbeigeschichten«, jenes Potenzial der pädagogischen Arbeit, die erlaubt, durch das »Zitieren« von Lebensentwürfen, szenischen Mustern, eine »dritte Position« einzurichten, aus der heraus die Betreuten über sich selbst Bewusstheit erlangen können. Wenn Gudrun dabei ist, während einem anderen Gruppenmitglied ihr seltsames Gebaren erklärt wird, dann bietet ihr dies wahrscheinlich eine größere Wahlfreiheit, als wenn es ihr in einer direkten Ansprache selbst erklärt würde. Sie kann das Sprechen einfach als »Hintergrundgeräusch« des dyadischen Feldes aufnehmen – ein Hintergrundgeräusch, in welchem sie sich selbst aufgehoben finden kann – und muss sich nur dann auf das Gesagte näher einlassen, wenn sie sich damit verstanden fühlt; sie muss vor allem nicht, wie es bei direkter Ansprache der Fall wäre, Erklärungen, die ihrem Erleben nicht gerecht werden, als Schuldzuweisungen erleben.

Marianne, eine Mitbewohnerin, hat mit der Zeit eine Art Mutterrolle übernommen, hat Gudrun beim Spazierengehen ihre Hand gegeben, hat aufgepasst, dass sie auch zu essen bekommt, war auch manchmal beim Baden dabei usw. Sie hat angefangen, für Gudrun mitzudenken. Ein weiterer Mitbewohner hat ihr kleine Geschenke gebracht, er hat ihr sein Handtuch gegeben und dann wieder geholt, wieder ein anderer hat ihr Lego gegeben und wieder weggenommen – die Kommunikation hat viele Formen angenommen. Die Herausforderung an uns Pädagoginnen bestand darin diese Kommunikationsformen einerseits zu beachten und aufmerksam zu verfolgen, andererseits aber uns völlig aus dem Geschehen zurückzunehmen. Wir begaben uns hier sozusagen ins »Nebenbei«.

Es erscheint mir immer als ein besonderes Zeichen des Gelingens integrativer Arbeit, wenn solcherart ungezwungene Kontakte der auf Betreuten untereinander möglich werden und die Abhängigkeit von den Betreuerinnen relativieren können; umgekehrt kann es auch ein Warnsignal sein, wenn in einer Wohngruppe der kommunikative und interaktive Bezug weitgehend oder gar ausschließlich über die Betreuerinnen sich herstellt.

Gudrun konnte auch anhand eines Spieles mit dem Team oder mit einer Person aus der Gruppe in Kontakt, ja in einen Dialog einsteigen. Bei diesem Abklatschspiel wird gerade, überkreuzt und schräg gegenseitig in die Hände geklatscht und dazu werden Kinderreime aufgesagt. Gudrun fing zwar nie selbst damit an, machte aber gerne mit, wenn jemand zu ihr hinging und damit anfing; sie kannte dieses Spiel offensichtlich von früher.

Gudrun verwendet das In-die-Hände-Klatschen auch als nonverbale Kommunikation: Wenn sie sich wohl fühlt, klatscht sie auch gerne in die Hände, dreht sich um ihre eigene Achse und gibt freundliche Geräusche von sich. Wenn ich ihr in einer solchen Situation meine Hände entgegenstrecke, lacht sie und klatscht darauf. Das sind sehr schöne, glückliche Momente, denn sie geben unmissverständlich die Sicherheit, dass es ihr gut geht. Diese verschiedenen Formen des Klatschens benutzte Gudrun auch schon vor der Entstehung der MIM-Gruppe. Die Bedeutung des Klatschens als Kommunikation und das Umsetzen in einen Dialog wurde damals aber nicht erkannt und berücksichtigt.

Welch ein Moment – Gudrun, diefrüherjeden Einbruch in ihr »schwebendes Nichtsein« als Bedrohung erleben musste, kann jetzt im Spiel erfahren, wie das Händeklatschen von Marlies die von ihr inszenierten Unterbrechungen des Kontakts überbrückt und eine Kontinuität ihres Weltbezuges herstellt. So kann sie selbst in die Hände klatschen und sich damit des Schönen, das sie mit Marlies erleben konnte, wieder erinnern, es »zitieren«. Sie kann in diesem Händeklatschen zum Ausdruck bringen, dass solche Szenen nun integriert, und also ganz die Ihren sind, Lebensentwürfe, die sie auch unabhängig von Marlies wird gebrauchen können.

Dass es irgendwann einmal heißen würde, von Marlies Abschied zu nehmen, war ja von der Betreuungssituation her vorgegeben; damit, dass sie sich Interaktionsformen zueigen machte, die aus der innigen Begegnung mit Marlies herrührten, bereitete sie sich darauf vor, dass sie als erwachsene Person in Marlies eben nicht einen Mutterersatz gefunden hatte – und dass sie ihn auch nicht brauchte. Marlies warfür sie vielmehr eine Person, die ihr auf einer gewissen Wegstrecke ihres Lebens half, in sich selbst zum guten Objekt zu finden, welches sie von nun an würde in all denjenigen wiederfinden können, die Bereitschaft zeigten, auf ihr Angewiesensein einzugehen und dabei sich auf eine Beziehung mit ihr einzulassen.

Aus gesundheitlichen Gründen musste ich häufig längere Zeit in Krankenstand gehen. Mein Fernbleiben konnte Gudrun überraschender Weise recht gut bewältigen, sie zeigte kaum Reaktionen darauf. Ich bemerkte, dass ich allmählich nicht mehr so zentral wichtig war, sondern Gudrun sich die Kontakte zu anderen Teammitgliedern und auch manchmal die der Mitbewohnerinnen untereinander zu Nutze machen konnte. Wie bereits beschrieben hatte Gudrun in der MIM-Gruppe gelernt, den Kontakt zu anderen Mitarbeiterinnen und zu Einzelnen aus der Gruppe anzunehmen. Auf diese Erfahrungen konnte sie in der neuen Wohngruppe zurückgreifen. Das war für mich ein »Beweis«, dass sie jetzt auch ohne meine Anwesenheit gut zurecht kam. Unerwartet schnell musste ich endgültig zu arbeiten aufhören und ich hatte nur drei Tage Zeit um mich darauf einzustellen und zu verabschieden. Ich erklärte und zeigte jeder/m Bewohnerin persönlich, warum ich nicht mehr arbeiten könne. Das war ein äußerst schmerzlicher Prozess für mich und auch für einige Bewohnerinnen. Ich hatte ja nicht nur mit Gudrun, sondern mit vielen anderen auch eine tiefe Beziehung aufbauen und leben können. Im Epilog werde ich noch etwas näher darauf eingehen.

Dies ist ein wesentlicher Punkt der pädagogischen Arbeit mit Erwachsenen: Immer muss sie dem Umstand Rechnung tragen, dass die Betreuten nicht eine Ersatzfamilie brauchen. Eine solche würde letztlich nur die alten, unaufgelösten Abhängigkeiten reproduzieren, würde sie zu ewigen Kindern machen, die von ewig wechselnden Ersatzeltern versorgt würden. Demgegenüber gilt es, ihnen zu helfen, ihre innere Objektwelt so umzustrukturieren, dass sie in der Lage sind, von den sich bietenden wechselnden Kontakten autonom Gebrauch zu machen, autonom mit ihrer Angewiesenheit auf Unterstützung umzugehen. Dazu wird natürlich immer wieder auch die Trauerarbeit über aufzugebende Beziehungen gehören. Wie wichtig es ist, eine klare Trennung zwischen pädagogischer Betreuung und familialer Versorgung vorzunehmen, Abhängigkeit von Elternfiguren und Angewiesenheit auf Hilfestellung klar zu unterscheiden, werden wir im Folgenden noch eingehender zu betrachten haben.

Dass freilich im Verlaufsolcher Prozesse wie des hier beschriebenen zwischen Marlies und Gudrun auch starke Übertragungen und somit infantile Abhängigkeiten entstehen und durchgearbeitet werden müssen, kann nicht bezweifelt werden. Wichtig ist, solche Übertragungen nicht mit der realen Angewiesenheit auf Betreuung zu verwechseln. Letztere wird in vielen Fällen unauflösbar bleiben. Die Abhängigkeit aber, die sich in der Übertragung auf bestimmte Betreuerinnen ergibt, ist als ein wichtiges Durchgangsstadium zu begreifen und fortlaufend so zu bearbeiten, dass sie sich nach und nach auflösen kann. Diese Übertragungsabhängigkeit wird immer wieder dafür sorgen, dass notwendigwerdende Trennungen als traumatisch erlebt werden. Wenn esgelingt, das Trennungstrauma verstehend aufzuarbeiten, bieten solche Interaktionen die Chance, dass kindliche Abhängigkeit sich nach und nach in Angewiesenheit auf Unterstützung und Betreuung verwandelt, die auferwachseneArt in eigene Verantwortung übernommen werden kann. Dafür ist es freilich unabdingbar, dass die Pädagogin auch solche Phasen ertragen und fruchtbar werden zu lassen lernt, in denen sie der Betreuten unentbehrlich erscheint.

Ein einschneidendes Erlebnis mit Gudrun: Sie kommt ursprünglich aus einem anderen Bundesland, und da das Land Tirol sparen wollte, beschlossen die zuständigen Beamten, dass Gudrun wieder in ihrem Bundesland untergebracht werden muss. Auf der Station, wo Gudrun schlief, stand sie in der Früh schon immer am Gang und wartete darauf, von uns abgeholt zu werden. Dort befand sich auch das Büro der Stationsschwester, die immer die Türe offen hatte. Gudrun hörte das Telefonat mit, in dem es darum ging, dass sie nicht mehr bei uns bleiben könne und dass sie versetzt werden solle. Wir haben Gudrun wie immer am Morgen abgeholt und als wir auf unserer Station ankamen, war sie außer sich. Sie zerkratzte sich ihr ganzes Gesicht, das Blut rann nur so herunter, sie schrie und tobte. Wir riefen sofort auf der Station an und fragten nach, ob etwas passiert wäre. So kamen wir darauf, dass Gudrun das Telefonat verstanden haben musste und dementsprechend reagierte. Ich bin zu Gudrun hingegangen und habe sie gehalten, auf sie eingeredet, ihr erklärt, dass wir das niemals zulassen würden, dass wir sie nicht »hergäben«, dass wir sie beschützten; ich sagte ihr einfach alles, was mir intuitiv wichtig vorgekommen ist. Da fing sie an, bitterlich zu weinen, die Tränen sind ihr nur so heruntergekullert – ich habe Gudrun das erste Mal weinen gesehen.

Ich blieb den ganzen Tag bei ihr, umarmte sie, keine noch so starken Zusatzmedikamente halfen ihr, sich zu beruhigen. Zum Schluss legte ich mich einfach mit ihr ins Bett und hielt sie fest. Irgendwann schlief sie dann ein. Zum ersten Mal konnte Gudrun ihre Verzweiflung und Trauer klar mitteilen und zwar im direkten Zusammenhang mit einer für sie offensichtlich existenziell bedrohlichen Situation.

So schlimm ihre Reaktionen für Gudrun, für mich, ja für die ganze Gruppe waren, hier zeigte sie uns deutlich, dass sie sich bei uns sehr wohl fühlte und bleiben wollte. Zugleich appellierte sie an mich, ihren Wunsch in der Gruppe bleiben zu können, durchzusetzen. Damit wurde allen klar, dass sie für sich selbst entscheiden und autonom handeln kann und uns somit einen Auftrag erteilt. Das war für uns im wahrsten Sinne des Wortes ein Aha – Erlebnis.

In diesem bewegenden Moment erkennen wir eine Situation, in welcher Gudrun noch sehr abhängig war von Marlies und auch von deren Kolleginnen. Es ging also auch hier darum, die Übertragungsabhängigkeit als Realität zu akzeptieren. Zugleich jedoch zeigt sich hier ein Ansatz zur Selbstbestimmung, wenn auch noch in einem sehr verzweifelten Akt. Gudrun zeigt, dass sie nicht über sich verfügen lassen, dass sie selbst bestimmen möchte, welches ihr Ort zum Leben ist.

Besuch von Gudruns Schwester

Dass die betreuerische Beziehung auch in Gudruns Erleben keine familiäre war, dass Gudrun sehr wohl unterscheiden konnte zwischen der Übertragungsabhängigkeit, die sich im pädagogischen Prozess einstellt und deren Auflösung dessen Aufgabe ist, und dem besonderen Bezug, der sich meist über das ganze Leben zu denjenigen erhält, mit denen diefrühesten Erfahrungen geteilt wurden, also zur Ursprungsfamilie, zeigte sich deutlich, als es den Betreuerinnen gelang, einen Bezug zu Gudruns Familie nach langen Jahren wieder herzustellen. Es ist leicht vorstellbar, dass diese Begegnung auf alle Beteiligten einen tiefen Eindruck gemacht haben muss.

Die Aufgabe, den Kontakt der »Patientinnen« zu ihren Angehörigen zu fördern wurde in der Psychiatrie kaum wahrgenommen. Erst beim Lesen der Krankenakte von Gudrun stießen wir auf ein paar dürftige Informationen. Eine davon war, dass Gudruns Vater als ihr Sachwalter bestellt war. Durch einen Zufall erfuhren wir einige Zeit später, von der Existenz Gudruns Schwe-ster. Wir schrieben einen Brief an sie und traten in losen Kontakt mit ihr. Sie hat uns auf unsere Bitte hin nach einiger Zeit einen Brief geschickt, in dem sie die Kindheitsgeschichte von Gudrun so genau wie nur möglich beschrieben hat. Unser Wunsch, Gudrun den Kontakt zu ihrer Schwester zu ermöglichen wurde immer größer. Außerdem wollten auch wir sie kennen lernen und mit ihr reden, um mehr Informationen zu bekommen. Es war für uns auch gar keine Frage, dass wir Gudrun diesen Besuch zumuten könnten und so luden wir sie ein uns zu besuchen.

Obwohl die Schwester 600 Kilometer entfernt wohnte, konnte sie das einrichten und kam uns und vor allem Gudrun besuchen. Wir bemühten uns sehr, diesen, für alle so wichtigen Besuch gut vorzubereiten. Es ging darum, wie wir ihn gestalten sollten, auf was wir achten müssten, was wir anbieten und nicht zuletzt natürlich auch darum wie wir Gudrun und ihre Schwester unterstützen könnten. Wir erzählten Gudrun jeden Tag von ihrer Schwester, dass diese sie bald besuchen käme und wir uns alle darauf freuten. Außerdem lasen wir ihr immer wieder aus den Briefen vor.

Wir waren sehr neugierig und gespannt, wie dieser Besuch ablaufen würde. Als die Schwester ankam, frappierte oder besser gesagt, faszinierte uns die große Ähnlichkeit zwischen ihr und Gudrun. Für mich war es fast so, als ob ich die »nichtbehinderte« Gudrun erleben konnte. Nach der Begrüßung baten wir sie zuerst mit uns ins Besprechungszimmer zu kommen, um ungestört reden und sich informieren zu können. Wir erzählten viel von Gudrun, sprachen über den Ablauf dieses Besuches, auf was sie besonders achten sollte und ihre Schwester berichtete uns, wie erstaunt sie war, als sie unseren Brief las, dass wir so wenig über Gudruns Biografie wussten. Sie begann darauf die Familiengeschichte seit Gudruns Geburt eingehend zu studieren, sich damit auseinander zu setzen, um uns unsere Fragen beantworten zu können. Sie erzählte uns auch, dass ihre Mutter sehr viel geschrieben und ihnen ein umfangreiches Tagebuchmaterial hinterlassen hatte, und wie schön es für sie war, die eigene Kindheitsgeschichte wieder aufleben zu lassen. Anschließend setzte sie sich in den großen Tagraum und beobachtete Gudrun. Ansonsten machte sie gar nichts, hat sich nur allmählich ein Stückchen näher zu ihr hin gesetzt.

Da für Gudrun diese Nähe in Ordnung war (sie ging nicht einen Schritt weg), begann sie mit ihr zu reden. Als sie Gudrun mit ihren Vornamen ansprach, horchte diese auf und schaute sie direkt an. Das war wirklich etwas Besonderes, da Gudrun zu dieser Zeit niemand Fremden so nahe bei sich duldete, und schon gar keinen Augenkontakt hielt. Aus ihrem Verhalten war klar ersichtlich und spürbar, dass Gudrun sie erkannt hatte und ihre Nähe sie nicht störte.

Gudruns Schwester blieb zwei Tage bei uns in der Gruppe. In dieser Zeit hielt sie sich immer in Gudruns Nähe auf, machte bei allen Alltagstätigkeiten mit und ging auch zusammen mit mir und Gudrun spazieren. Am ersten Tag begleitete sie mich, als ich Gudrun badete. Ich war sehr aufmerksam wie Gudrun darauf reagierte und als ich merkte, dass es für sie angenehm war, dachte ich mir, dass die Schwester am nächsten Tag Gudrun vielleicht alleine baden könne. Ich schlug ihr dies vor, erklärte und zeigte ihr den genauen Ablauf und so konnten sie sich eine Weile in einer für beide besonderen, ungestörten und intimen Situation bewegen und sich näher kommen.

Erst beim gemeinsamen Bearbeiten dieser »Badegeschichte« ist uns aufgefallen, wie bedeutsam diese für Gudrun und ihre Schwester gewesen sein musste und was Marlies hier aufgreifen konnte. Das lustvolle Spiel in der Wanne, das Erleben und Erfahren von Körperkontakt und gleichzeitiger Abgrenzung, sowie das miteinander Vergleichen usw. sind ja bekanntermaßen entscheidende Momente in der Sozialisation und Interaktion von Geschwistern. Wären Gudrun und ihre Schwester zusammen aufgewachsen, hätten sie vermutlich die so wesentliche Erfahrung des gemeinsamen Bades erleben können. Hier gelang es dies in einer für Erwachsene angemessenen Form aufzugreifen ohne auf eine (Re)-Inszenierung von Kindheit zurückzugreifen.

Der Besuch von Gudruns Schwester war ein einschneidendes Erlebnis für uns alle. Für uns war klar, dass es sehr wichtig ist, Gudrun weiterhin immer wieder von ihrer Schwester zu erzählen, ihren Namen zu nennen und über den Besuch zu reden. Auf Grund der großen räumlichen Entfernung ist es nur so möglich ihre Beziehung zueinander zu erhalten.

Inzwischen hat sie Gudruns Sachwalterschaft übernommen und als Gudrun (wie bereits beschrieben) in ein anderes Bundesland verlegt werden sollte, wurde sie aufgefordert, dort ein geeignetes Heim zu suchen. In einem Telefonat erzählte sie mir, wie schwierig für sie die Entscheidung sei, denn einerseits könne sie Gudrun dann viel öfter besuchen, andererseits habe sie das Gefühl, dass sie sich bei uns sehr wohl fühle und daher auch bei uns bleiben solle. Nach einigen Gesprächen und einem Gutachten von Dietmut hat sich die Tiroler Landesregierung für den Verbleib Gudruns in einer der Wohngruppen des Vereines W.I.R. entschieden. Ihre Schwester stimmte dieser Entscheidung zu, worüber wir uns mit Gudrun sehr freuten.

Von der Insassin zum sichtbaren Subjekt

Heute lebt Gudrun in einer Wohngemeinschaft in einem Haus am Land. Ihr Lebensradius hat sich sehr vergrößert und ihre Lebensqualität ausgesprochen verbessert. Sie besitzt ihr eigenes Zimmer, kann und will sich in allen Räumen frei bewegen und fühlt sich dort sichtlich wohl. Gudruns Sicherheitsgefühl ist derart gestiegen, dass sie jetzt Kontakt zu anderen Personen halten kann, sie sucht auch selbst danach und hält längere Zeit Augenkontakt. Das Team und die Gruppe haben gelernt, nonverbal und verbal mit ihr zu kommunizieren und sich mit ihr auseinander zu setzen. Wenn neue Mitarbeiterinnen bereit sind, sich ernsthaft auf Gudrun einzulassen, kann sie viel schneller Vertrauen aufbauen als früher.

Der Wandel von den mechanischen zu den gefühlsbetonten Berührungen ist einfach großartig. Berührungen annehmen, sie manchmal genießen und auch erwidern zu können, war und ist eine sehr wichtige Erfahrung und Bereicherung in ihrem Leben. Der Bereich Essen hat sich vollkommen verändert: Sie bekommt keine Breikost mehr, sondern normales Essen und sitzt mit ihren Mitbewohnerinnen an einem Tisch. Gudrun verspürt nicht mehr den Drang alles in sich hineinstopfen zu müssen und ist daher auch nicht mehr gezwungen das Essen der anderen zu »stehlen«. Es sollte aber nach wie vor jemand bei ihr sitzen und sie begleiten, ich glaube, dass sie diese Hilfestellung weiterhin brauchen wird.

Gudrun benötigt keine Zusatzmedikamente mehr, ihre massiven Selbstverletzungen haben fast aufgehört. Ihr verzweifeltes Schlagen verwandelte sich in ein gezieltes Schlagen, um darauf hinzuweisen, dass sie etwas braucht oder sich wünscht. Nachdem das Team ihre Signale jetzt besser verstehen kann und, so gut es eben möglich ist, ihre Wünsche und Forderungen erfüllt, muss sich Gudrun heute kaum mehr selbst verletzen. Sie ist bei Ausflügen und Unternehmungen oft dabei und macht auch gerne mit. Die Art/Qualität der Begleitung hat sich grundlegend geändert – sie wird kaum mehr fest gehalten. Die Ausschließlichkeit der Beziehung, die zeitweise zwischen ihr und mir bestanden hatte, konnte sich langsam auflösen, und als ich aufhörte, in ihrer Wohngruppe zu arbeiten, war der Abschied zwar sehr traurig, aber nicht traumatisch.

Gudrun ist zu einem gleichwertigen Gruppenmitglied geworden: Sie wurde sichtbar, eine eigenständige Persönlichkeit!



[10] Diesen Begriff habe ich von Wilfried Bion übernommen. Bion spricht von einem Verhältnis container/contained in dyadischen Beziehungen, und von der Alpha-Funktion, vermittels die als Container fungierende Partnerin der Interaktion die projektiven Identifizierungen des Gegenüber aufnimmt und transformiert (vgl. Hinshelwood 1989).

[11] In: »Mental Handicap and the Human Condition«, 39-53 (dieses Kapitel fehlt in der deutschen Übersetzung).

[12] vgl. Becker (2002)

[13] Persönliche Mitteilung anlässlich einer Diskussion an der Tavistock Clinic in London meiner später in »Namenlos« (4., erweiterte Auflage 2003, Kapitel »Das kindsmörderische Introjekt«) vorgestellten Thesen.

[14] Wenn wir uns vor Augen fuhren, dass jede Verinnerlichung auch als psychophysische Bahnung, als »Erinnerungsspur« aufzufassen ist, dann liegt es nahe, in solcherlei körperlich-seelischen Gebilden, in den »kindsmörderischen Introjekten«, ein wesentliches Konstituens dessen zu vermuten, was als hirnorganisches Defizit in Erscheinung tritt. Dies auch und insbesondere dann, wenn solche Introjekte im Verein mit ohnehin bereits erschwerten physischen Grundvoraussetzungen sich ausbilden.

[15] Diese Formulierung wurde von dem englischen Kinderanalytiker D. W. Winnicott geprägt, der damit besagen will, dass eine Mutter-Kind-Beziehung nicht nur nicht perfekt sein kann, sondern gerade auch von den kleinen Differenzen und Unvollkommenheiten in der gegenseitigen Anpassung belebt wird.

[16] vgl. Alfred Lorenzer 1974,153-193

[17] Lorenzer 1981, 155-163

[18] In: »Namenlos« (1989) habe ich den von Winnicott berichteten Fall einer in statu nascendi behandelten Säuglingsepilepsie zitiert (95f.). Auch in dem Fallbericht »Vom Teufel besessen« ist von einem Kind die Rede, dessen epileptische Anfälle während der musiktherapeutisch-psychotherapeutischen Behandlung deutlich zurückgingen (213-250).

[19] M. Balint 1973, 176f.

[20] Die hier nur skizzierten Gedanken beruhen auf Überlegungen, die ich in zwei Arbeiten dargestellt habe (2002, 2003b).

[21] vgl. Lorenzer, in ders. 1986, 11-98

[22] vgl. Britton 1998 sowie Niedecken 2002

[23] vgl. dazu Ogden 1994

[24] vgl. Winnicott 1965, Ego Distortion in Terms of True and False Self, 140-152

[25] Der Begriff der Spaltung wird im Rahmen von Teamreflexionen gern pejorativ verwendet. Diese Wertung ist hier nicht impliziert. Spaltung ist im frühen Säuglingserleben eine erste Form aktiven Differenzierens, eine frühe Äußerung sich ausdifferenzierender Subjektivität. Über das Empfinden von Lust und Unlust können erste eigene Entscheidungen getroffen werden. Als solche ist Spaltung lebensnotwendig. Sie kann und muss freilich immer da problematisch werden, wo sie zu Abwehrzwecken eingesetzt wird und nicht mehr zu differenzierterer Wahrnehmung hin überschritten werden kann.

[26] vgl. auch Niedecken 2003a, 129ff.

[27] Wir wollen den Leserinnen nicht vorenthalten, dass ganz offenbar diese Inszenierung in Andreas Leben einen Wendepunkt markierte. Sie verweigerte den Pädagoginnen der MIM-Gruppe damit den Erfolg und erzwang ihre Inhaftierung. Mit Hilfe der Betreuerinnen in einer anderen Einrichtung gelang ihr später dann ein wirklicher Neuanfang. Heute ist sie verheiratet und, wie ihren Briefen an Irene (die den Kontakt zu ihr über Jahre hinweg gehalten hat) zu entnehmen ist, durchaus zufrieden.

[28] Hier können wir sehen, dass das trial-and-error-Verfahren einer lediglich von Intuition geleite ten Pädagogik leicht auf Um- oder Abwege führen kann. Hätte der Lebensentwurf des »philobatischen Seins« Marlies von Vornherein bewusst zur Verfügung gestanden, dann hätte sie vielleicht gar nicht erst mit Spielgegenständen herumprobiert. Fließendes Wasser ist eine »primäre Substanz« par excellence.

Die dyadische Konfrontation

Marlies Pötzl/Dietmut Niedecken

Vorbemerkungen

Im Folgenden wollen wir anhand zweier Beispiele eine typische Konfliktkonstellation aufzeigen, die sich im integrativen Prozess ergeben kann, und die diesen gelegentlich vollends zum Scheitern, und jedenfalls häufig an seine äußerste Grenze bringt. Ich habe diese Konstellation die »dyadische Konfrontation« genannt. Marlies wird mit ihrem Bericht über Mark uns miterleben lassen, wie diese als eine Art Sog Betreuerin und Betreuten ergreifen und unter Umständen in einen schwer entrinnbaren Strudel hineinreißen kann. Sodann werde ich selbst eine Geschichte darstellen,, in welcher mein Eingriffletztlich einen bereits in actu befindlichen circulus vitiosus nur noch bestärkte, anstatt ihn zu lösen. Zunächstjedoch möchte ich einige Erläuterungen zu dem Begriffder »dyadischen Konfrontation« vorausschicken.

Eine dyadische Konfrontation ergibt sich immer dann, wenn die grenzauflösende Situation im dyadischen Feld in beiden Beteiligten komplementäre Ängste und Bedürftigkeiten hervorruft. Dies wird unter dem Einfluss der »Institution Geistigbehindertsein« immer wieder geschehen.

Die dyadische Konfrontation besteht darin, dass das, woraufbeide beteiligte Parteien unbedingt angewiesen sind, sich als diametraler Gegensatz gegenübersteht, während es zugleich doch nur vermittels des jeweiligen Gegenüber realisiert werden kann. Die Aufmerksamkeit beider ist aufeinander fokussiert, ein Außerhalb dieser Konfrontation, das ihren totalitären Charakter relativieren könnte, kann keine Rolle mehr spielen. Dem, was wir im Vorigen das »Nebenbei« der pädagogischen Arbeit nannten, ist in der dyadischen Konfrontation jegliche Grundlage entzogen.

Dieses fatale Muster ist nun nicht etwa einfach individuell-psychologisch zu verstehen. Es entspringt vielmehrjener kulturell bestimmten Denk- und Erlebensfigur, die auch der »Institution Geistigbehindertsein« und ihren Organisatoren zu Grunde liegt, dem »rationalen Mythos«[29]. Dieser nämlich verabsolutiert das triadische, Subjekt und Objekt trennende Denken. Das triadische Denken begreift das Subjekt als handelndes und Welt als dem Handeln ausgesetzte Objektivität. Es ist uns unentbehrlich, denn es ermöglicht einen bestimmten aktiven Zugriff auf die Welt und dient somit der Überwindung von primärer Passivität. Damit aber kann es dem dyadisch-verschmelzenden Moment von Interaktionen unter Umständen als unversöhnbarer Widerspruch entgegentreten. Dies geschieht immer dort, wo dieses Moment unsere Selbstkonstituierung als autonome Subjekte gefährdet, wo wir also fürchten müssen, dass ein Geschehen uns aus der Hand gleitet und wir ihm nicht mehr gewachsen sein könnten. Aus der Abwehr, die sich gegen diese Gefahr richtet, ergibt sich die Grundposition der dyadischen Konfrontation. Erlebnisse von dyadischer Verschmolzenheit, von Passivität und Hingabe müssen in dieser Beziehungskonstellation als allzu bedrohlich abgewehrt, aus dem Bewusstsein ausgeschlossen, unbewusst gemacht werden. Solche Erlebnisse sind jedoch immer beteiligt, wenn es darum geht, ein Angewiesensein auf Hilfestellung zu ertragen bzw. darauf einzugehen, und das macht solche Situationen für die dyadische Konfrontation besonders anfällig.

Der Ausschluss dyadischen Erlebens aus dem Bewusstsein wird von der »Institution Geistigbehindertsein« bestimmt und organisiert. Er schließt sich an kollektive Projektionsmechanismen an, die als »gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit«[30] eingerichtet werden.

Wie zerstörerisch die dyadische Konfrontation insbesondere in der frühen Mutter- Kind-Beziehung eines geistig behindert werdenden Kindes sich auswirken kann, habe ich in »Namenlos« anhand des Spieles »Ich-sag-dir-alles-Nach« beschrieben[31]. Dieses Spiel stellt sozusagen einen Prototypen der dyadischen Konfrontation dar. In dieser Interaktionsstruktur wird alles ausgeschlossen, was Bedeutung haben könnte, und zwar insbesondere jeder Bedeutungsträger, der auf aggressive Impulse hinweisen könnte. In ihrer Nähe zu den kollektiv abgewehrten Tötungsfantasien, zum »gesellschaftlichen Mordauftrag«, sind solche Impulse unerträglich und dürfen nicht in Erscheinung treten. Gesellschaftliche Institutionen – die dem Gesamt der »Institution Geistigbehindertsein« angehörigen Organisatoren und Organisationen – sorgen dafür, dass die projektiven Mechanismen abgesichert werden, mit welchen solche aggressiven Impulse unbewusst gemacht werden.

Die Schwierigkeit, den »rationalen Mythos« in seinen Auswirkungen zu erkennen und aufzulösen, macht integrative Pädagogik nicht selten zum Versuch, eine Quadratur des Kreises zu bewältigen. Umso wichtiger wird es, Modelle zu entwickeln, anhand derer unverständliche und beängstigende Situationen, so wie sie uns im Bericht über Mark, oder auch in meinem Bericht über Fritz begegnen werden, wieder Bedeutung erlangen. Dies bedeutet hier, Modelle, Lebensentwürfe zu entwickeln, mit denen das als sinnvoll erlebt werden kann, was für Mark die provokative Verweigerung, für Fritz seine »Lüge« so wichtig macht, dass sie dafür letztlich alles aufs Spiel zu setzen bereit scheinen. Um Raum für ein Drittes, für das pädagogische »Nebenbei« zu schaffen – und sei es manchmal auch nur im Nachhinein – müssen wir versuchen, dem Lebensentwurf, dem manche geistig behinderten Menschen in der dyadischen Konfrontation ausgeliefert bleiben, ihrem »kindsmörderischen Introjekt« auf die Spur zu kommen.

Mark

Wenn die Geschichte von Gudrun etwas von einem Märchen an sich hatte, so werden wir jetzt mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert. Marks Prozess der Integration verlief höchst wechselhaft. Immer wieder begegnete er Verständnisblockaden in den betreuenden Pädagoginnen und auch in mir; Blockaden, die schwere Krisen auslösten. Nachdem wir an Gudrun zeigen konnten, welche traurigen, aber oft auch schönen und bewegenden Momente sich ergeben, wenn das intuitive Verständnis den Mangel an theoretischem Begreifen überbrücken kann, dann müssen wir uns hier nun der traurigen Wirklichkeit stellen, dass Intuition allzu oft auch versagt.

Was Dietmut hier als Mangel an theoretischem Begreifen benennt, stellt sich für uns auch noch etwas anders dar. Die praktische pädagogische Arbeit erfordert oft sofortiges Einsteigen auf schwierige Situationen, die erst in der Reflexion theoretisch bearbeitet werden können. Das bedeutet, dass sich die theoretischen Überlegungen häufig aus der jeweiligen Situation ergeben und zunächst intuitives Verständnis die einzige Möglichkeit sein kann sich darauf einzulassen. Dieses intuitive Verständnis ist keinesfalls nur ein »aus dem Bauch heraus Gefühl« sondern basiert sehr wohl auch auf theoretischem Wissen, und besonders auf vielen reflektierten Erfahrungen. Gerade mit Mark aber mussten wir immer wieder erleben, dass unsere Intuition uns verließ und wir in einen Kreislauf sinnlosen Agierens gerieten.

Das, was wir zunächst nicht oder erst sehr spät verstanden, hat immer wieder um ein Haar den integrativen Prozess zum Scheitern gebracht. Mark (und auch das Team) hat Einiges erdulden und ertragen müssen, was wir ihm und uns, hätten wir früher gewusst, was wir mittlerweile mit seiner Mitwirkung gelernt haben, wohl hätten ersparen können.

Die Geschichte, an der Marlies uns im Folgenden teilhaben lässt, war schwer im Schreiben zu fassen. Zum Einen war die Dramatik und emotionale Wucht, mit der gerade Marlies sich auseinander setzen musste (sie war die von Mark bevorzugte Betreuerin), kaum erträglich, und im schreibenden Aufarbeiten mussten die dazugehörigen Gefühle erneut aufbrechen. Es gehörte großer Mut dazu, sich diesen Gefühlen schreibend – und also öffentlich – zu stellen. Zu dritt mussten wir uns klar machen, dass das immer wieder einbrechende Scheitern nicht einfach aufpersönliches Versagen (schon gar nicht das von Marlies) zurückzuführen ist, und dass die Darstellung gerade solcher Erfahrungen für viele unserer potenziellen Leserinnen wahrscheinlich hilfreicher sein wird, als wenn wir uns mit einfachen Erfolgsgeschichten um die Wirklichkeit der pädagogischen Praxis herumdrückten, der auch Marlies und Irene, bei allem Engagement und aller Einfühlungsfähigkeit, nur in Grenzen gewachsen sind.

Zum Andern präsentierte Mark uns seine Geschichte in solch komplexer Weise, dass es uns nicht möglich war, wie bei Gudrun eine relativ einfache chronologische Abfolge darzustellen. Der Bericht von Marlies und meine Kommentare wirken daher etwas sprunghaft und inkonsistent. Besser konnten wir die Geschichte nicht präsentieren.

Lebengeschichtliches

Zusammen mit seinen Eltern und fünf Geschwistern ist Mark auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er ist als Einziger in der Familie geistig und körperlich behindert. Seine Kindheitsgeschichte war kaum mehr zu eruieren. Als ihn seine Mutter einmal zu Weihnachten besuchte, versuchten wir mehr über seine Kindheit zu erfahren. Das gesamte Gespräch war geprägt von ihren Schuldgefühlen, sie rechtfertigte sich andauernd, dass sie keine andere Möglichkeit hatte, als Mark wegzugeben. Wir versuchten sie zu entlasten, schenkten ihr Fotos von ihm – aber es war ihr nicht möglich zu erzählen. Erst viel später erfuhren wir, dass Mark bis zu seiner Einweisung in die Psychiatrie bei ihr im Ehebett geschlafen hatte. Damals onanierte er ständig neben ihr, und das war schließlich wohl auch der Grund, warum er von zuhause weg musste. Es ist verständlich, dass seine Mutter nichts darüber erzählen wollte/konnte, da ihr dies sicher unangenehm und peinlich war.

Mit siebzehn Jahren ist Mark in die Psychiatrie eingewiesen worden, seither lebte er dort und durfte nie mehr nach Hause zu seiner Familie. Schon damals wollte er nicht gehen, ist immer im Rollstuhl oder auf einer Bank gesessen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die meisten Pflegerinnen mit ihm »Gehübungen« machten: Sie hielten ein Stück Brot in die Höhe und gingen durch die Räume. Mark ist aufgestanden und dem Brot gefolgt. Irgendwann hat er es dann bekommen. Mir fällt dazu immer das bekannte Bild vom Affen ein, der der Banane nachläuft. Wenn Mark bei dieser Veranstaltung schließlich zornig wurde, lachten alle Anwesenden.

Erst 1995 wurde er in die MIM-Gruppe aufgenommen und damit erstmals tagsüber begleitet.

Der Anfang – die Eroberung eines neuen Raumes

Anfangs war Mark der ruhigste und »problemloseste« Mann in unserer Gruppe. Er saß immer an derselben Stelle im großen Tagraum, von wo aus er alles überblicken konnte, ohne dass er sich bewegen oder gar gehen musste. Er äußerte kaum Bedürfnisse und beteiligte sich auch nicht aktiv am Gruppengeschehen. Sprechen konnte er nicht.

Mark hatte ständig den langen Flur im Blickfeld und wartete auf den Essenswagen. Außerdem konnte er so kontrollieren, wer kam und wer ging. Obwohl dieser Raum wie eine Bahnhofshalle wirkte, und alles eher als gemütlich war, weigerte sich Mark, einen anderen Raum zu betreten.

Damals fanden fast alle unsere Aktivitäten hier statt – somit war er automatisch in das Gruppengeschehen involviert. Das änderte sich ab dem Moment, als wir das Wohnzimmer adaptierten und anfingen, einige Aktivitäten dorthin zu verlagern. Nach kurzer Zeit hielten wir uns meistens in diesem Raum auf. Dieses Zimmer vermittelte uns ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, im Gegensatz zum Tagraum, in dem wir uns verloren und unwohl fühlten. Es war ein lustvoll besetzter Raum, wo wir uns gerne aufhielten, kreativer sein konnten, dessen Gestaltung uns ein Vergnügen war.

Mark weigerte sich allerdings standhaft, uns in das neue Zimmer zu begleiten. Er blieb einfach im Tagraum sitzen. Wir konnten damals überhaupt nicht verstehen, warum er sich so verweigerte. Der Tagraum war sehr groß (320 qm), unpersönlich und kalt. Es war dort unmöglich, so etwas wie eine feine Atmosphäre zu schaffen – trotz aller Ausschmückungen, von Bildern bis Basteleien, wirkte die schreckliche Vergangenheit dieser aufgelassenen Psychiatriestation immer noch auf uns alle. Unser Bemühen, Mark in die Gruppe einzubinden, scheiterte jedoch kläglich. Wir einigten uns nach einigen Diskussionen darauf, morgens auch ohne Mark im Wohnzimmer Kaffee zu trinken und die Morgenbesprechung durchzuführen. Er wurde aber täglich aufgefordert und eingeladen, daran teilzunehmen. Seine Weigerung war eindeutig und klar, und er bekam den Kaffee weiterhin im Tagraum. Wir fühlten uns in dieser Situation überfordert, hatten ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber, konnten aber nicht erkennen, worum es eigentlich ging. Zunächst hofften wir, dass sich diese Situation lösen würde, wenn Mark mitbekam, dass wir uns auch ohne ihn im neuen Zimmer aufhielten. Die Hoffnung, dass er aus freien Stücken zu uns ins Zimmer kommen und seinen Kaffee mit uns zusammen trinken werde, erfüllte sich nicht.

Unser Anspruch wurde immer stärker und unsere Eingriffe immer massiver. Wir gingen sogar so weit, ihn zu zweit gegen seinen Willen ins Wohnzimmer zu schleppen. Dies wiederholte sich einige Tage, wir zogen ihn hinein und er ging sofort wieder hinaus und setzte sich an seinen Platz. Unseren Wunsch, ihn dabei zu haben, wollte er einfach nicht erfüllen. Dies hat uns sehr getroffen, und wir fühlten uns in einer übertriebenen Weise persönlich beleidigt. Die Gruppenzusammengehörigkeit war uns sehr wichtig: Zum einen als Schutz gegen die »bedrohliche Außenwelt«, zum anderen sollte die Gruppe auch ein Ort des sozialen Erlebens und Lernens sein.

Marks Verweigerung trieb uns schließlich dazu, in die pädagogische Trickkiste zu greifen und den Kaffee als »Verstärker« für erwünschtes Verhalten einzusetzen, obwohl wir diese Arbeitsweise ansonsten vollkommen ablehnten! Wie unter einem Zwang konnten wir nicht mehr loslassen, bekamen keine Distanz mehr zu unserem dringenden Wunsch, und so änderten wir nur unsere Strategie. Es war uns nicht mehr möglich, einen Schritt beiseite zu treten und die Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Nach vielen Überlegungen (ohne zu hinterfragen) und noch mehr schlechtem Gewissen fassten wir den Entschluss, ihn zwar sitzen zu lassen, ihm dort jedoch keinen Kaffee mehr zu geben. Und wir forderten ihn nach wie vor auf, mit allen im Wohnzimmer Kaffee zu trinken.

Auffällig ist für mich hier, dass das Team überhaupt nicht auf den Gedanken kam, den Wunsch nach einem gemeinsamen Kaffee im »lustvoll besetzten« Raum zu hinterfragen. Es war doch sonst ihr Bestreben, den Betreuten ausdrücklich mit dem Respekt vor deren Eigenem entgegenzutreten.

Dass sie dies hier nicht konnten, dafür sorgte zuallererst die schon bekannte Spaltung – hie gute neue integrative Arbeit, dort böse, alte Psychiatrie. Sie sorgte dafür, dass das Team sich und die Gruppe in der Auseinandersetzung um Mark als ein nach außen hin geschlossenes Gutes nach Art einer Familie zu fantasieren begann.

Dem kam nun entgegen, dass Mark selbst infantile Übertragungen aktivierte, und im Zuge dessen sich sein »kindsmörderisches Introjekt« Geltung verschaffte. Hier wurde vom MIM-Team eine Abgrenzung bekämpft, die aus noch nicht ersichtlichen Gründen als bedrohlich erlebt wurde. Diese Abgrenzung hatte, wie sich schon in der »übertrieben persönlichen Weise« des Beleidigtseins ausdrückt, und wie wir im Folgenden noch deutlicher sehen werden, etwas damit zu tun, dass Mark von einem überwiegend weiblichen Team betreut wurde.

Die gemeinsame Kaffeerunde war natürlich auch wichtig, um uns vom Psychiatriealltag abgrenzen zu können. Aber es gibt noch weitere Aspekte, warum wir damals Marks Abgrenzung nicht aushalten konnten. Wir spürten bereits, wie sehr seine Beziehung zu uns sexualisiert war, waren zu diesem Zeitpunkt aber nicht in der Lage, uns einem so schwierigen Thema zu stellen. Damals wussten wir ja schon über Marks sexuelle Aktivitäten Bescheid, unsere Fantasien diesbezüglich hemmten uns, und wir waren nicht ehrlich, wenn wir ihn in den lustbesetzten Raum einluden. Die für uns nicht erkennbare oder aussprechbare Angst, dass er dann anfängt zu onanieren, übergingen wir, indem wir die sexuelle Ebene ausblendeten. Es zeigte sich später, dass unsere Fantasien zu einer unangenehmen Realität wurden. Wir konnten zuerst nur mit unserer fragwürdigen pädagogischen Maßnahme reagieren, ihm den Kaffee zu entziehen, da Marks Verweigerung uns dermaßen in die Enge trieb.

Wie schon vorher beschrieben, fühlten wir uns schrecklich, die depressive Stimmung konnten wir nicht vertreiben. Die Planung und Adaptierung des neuen Raumes war für uns wie ein Startsignal gewesen, um die bedrückende Atmosphäre vertreiben zu können. Endlich hatten wir einen Weg gefunden, etwas für unsere eigene Bedürftigkeit zu tun. Für Mark aber war diese Bedürftigkeit wahrscheinlich eine Bedrohung, da sie zu einem Kontrollverlust unsererseits hätte führen können.

Der Bericht von Marlies führt die Dramatik der unbewussten Inszenierung zwischen Mark und seinen Betreuerinnen eindringlich vor Augen. Die »dyadische Konfrontation« inszenierte sich hier mit einer Wucht, der Marlies und ihr Team, und auch aus der Distanz heraus noch ich selbst, nur knapp entkamen. Leicht hätte der integrative Prozess von Mark an unseren Verständnisblockaden scheitern können. Die erste Äußerung der Abwehr, die Verweigerung des Kaffees, beruht aufLeugnung: Was sollte die harmlose Verweigerung des Bedürfnisses nach Kaffeetrinken schon mit sexueller Verführung zu tun haben? Das Thema Sexualität, obzwar von Marks Lebensgeschichte her mehr als deutlich vorgegeben, unterliegt hier noch ganz der Leugnung.

Was unter einer »dyadischen Konfrontation« zu verstehen ist, zeigt sich hier sehr eindringlich: Mark braucht es, sich zu behaupten und sich der Verführung zu widersetzen, indem er draußen bleibt – und die Betreuerinnen brauchen zu ihrer Bestätigung, dass er in ihren »lustvoll besetzten Raum« mitkommt. Sie brauchen dies, wie das »übertriebene persönliche« Beleidigtsein anzeigt, unbewusst auchfür ihre weibliche Bestätigung. Je mehr er sich auflehnt, desto mehr geraten sie in Nöte mit ihrem integrationspädagogischen Ideal (und unbewusst mit ihrer weiblichen Identität), und siefühlen sich desto mehr von seiner Bestätigung abhängig. Je mächtiger er in ihren Augen wird, desto mehr gerät er in den Fokus ihrer Bedürftigkeit – wenn er jedoch wirklich nachgäbe, wäre das für ihn selbst gleich bedeutend mit Selbstverlust, Vernichtung des Eigenen. Mark muss sich gegen ein Fantasma behaupten, in welchem seine Männlichkeit zu einer Art monströsem Nichts wird. Dieses Eigene mussten wir verstehen lernen, bevor es aus dieser Struktur ein Entrinnen gab.

Auf der Grundlage dieses bisher nur in Andeutungen sich zeigenden sexuellen Aspekts spielt sich ein Kampf um Leben und Tod ab. Marks Wiederholungszwang, sein »Spiel« ist, ebenso wie das von Gudrun, eines von drohender Vernichtung. Die Vernichtungsdrohung hat hierfreilich eine andere Qualität. Gudrun zog sich in ihr »schwebendes Nichtsein« zurück, weil sie in ihm immerhin noch die »freundlichen Substanzen« des philobatischen Daseins zu finden vermochte, und mit ihnen eine Art apersonale Fortdauer ihrer Existenz. Für Mark gibt es diesen Weg nicht. Das Aufgeben von personaler Identität würde für ihn Vernichtung bedeuten. Er muss seine Objekte bestimmen, kontrollieren, um sich als existent erleben zu können.

Die Objekte bedeuten Mark etwas anderes als Gudrun, die ein allmähliches Auftauchen der Objekte in ihrem »schwebenden Nichtsein« zu ertragen und in innere Struktur umzusetzen verstand. Sie sind für ihn anscheinend gleichzeitig unverzichtbar und bedrohlich. Er muss sie, zunächst durch Einnehmen und Verteidigen seines Beobachtungspostens, im Weiteren auch durch zunehmend provozierendes Verhalten, unbedingt unter Kontrolle halten; Veränderungen in seiner gewohnten Welt nehmen unter dieser Bedingung den Charakter unmittelbarer Bedrohung an, gegen die er sich aufs Äußerste zur Wehr setzen muss. Jeder Versuch, es im »Guten« dazu zu bringen, dass Mark in den »lustbesetzten« Raum mitkam, schien für ihn eine gefährliche Verführung in einen Abgrund zu bedeuten. Demgegenüber hatte die aggressiv-erpresserische Methode, zu der die Betreuerinnen in ihrer Not sodann griffen, durchaus zunächst Erfolg. Dieser Erfolg gründete sich wohl darauf, dass mit dieser Maßnahme die Aspekte von Verführung und Sexualisierung mit einer Straffantasie gekoppelt und so zunächst in den Hintergrund gedrängt werden konnten.

In der Nähe seines Sitzplatzes befand sich die Tür zum Wohnzimmer, in dem sich die anderen Gruppenmitglieder mit den Betreuungspersonen aufhielten. Er konnte uns, und wir konnten ihn hören, da die Türe immer offen war.

Ein Machtspiel begann – Mark forderte immer lauter seinen Kaffee. Er stampfte auf den Boden, klopfte mit den Händen auf den Tisch, rutschte mit dem Stuhl laut hin und her, und stieß den Tisch zornig gegen die Eckbank. Wir reagierten darauf mit dem Hinweis, dass der Kaffee im Wohnzimmer, und nur im Wohnzimmer serviert wird. Mark versuchte einige Zeit alles, was ihm nur irgendwie möglich war, um uns mürbe zu machen. Wir waren zwar völlig entnervt und an unserer Grenze, blieben aber standhaft.

Es dauerte eine Weile, aber eines Tages kam Mark ohne Aufforderung zu uns in das Zimmer, verlangte seinen Kaffee und blieb bei uns sitzen. Die Erleichterung und Freude war für alle spürbar. Von diesem Tag an konnte Mark es gar nicht mehr erwarten, sich jeden Morgen ins Wohnzimmer zu setzen. Er blieb dort bis zum Mittagessen sitzen, die Kontrolle des Stationsflurs und das Ankommen des Essenswagens war offensichtlich nicht mehr so wichtig für ihn – es war ihm gelungen, einen zweiten Raum für sich zu erobern.

Die Bedenken der Teammitglieder angesichts dieser Maßnahme hatten wohl damit zu tun, dass sie spürten, wie sehr diese Maßnahme ihren Hass auf Mark zum Ausdruck brachte. Dies aber war-wir werden im Folgenden noch genauer sehen, warum – gerade wichtig für Mark. Unter dem gut gemeinten Bestreben, ihn in die Gruppe zu »integrieren«, spürte er diesen Hass ja ohnehin. So ist es nicht allzu schwer zu verstehen, dass er jetzt, da statt der von ihm wohl fantasierten vernichtenden Strafe ihm nur der Kaffee entzogen wurde, endlich den neuen Raum akzeptieren konnte.

Es war freilich ein Pyrrhus-Sieg, der hier errungen wurde, weil der Hass zwar einen Ausdruck gefunden hatte, jedoch noch immer weitgehend unbewusst blieb. Zudem saß den Betreuerinnen noch eine andere, vorangegangene Begegnung in den Knochen, in welcher Mark eine ihn bedrohende Situation mit Sexualisierung zu bewältigen versucht hatte. Marlies wird uns diese Situation, die sich in Zusammenhang mit Marks anscheinend geschwächten Gehvermögen ergab, im Folgenden als Beginn des »Kampfes auf der Geschlechtsebene« noch schildern. Zunächst jedoch muss noch eine weitere Ebene der Auseinandersetzung dargestellt werden: Der »Kampf um das Essen«.

Der Kampf um das Essen

Der Kampf um das Essen wurde zwischen Mark und dem Team gleichzeitig auf mehreren Ebenen geführt. Eine dieser Ebenen war die Veränderung der Zeitstruktur: Wir verschoben stufenweise die Essenszeiten (Mittagessen von 10.30 Uhr auf 12.00 Uhr und Abendessen von 16.30 Uhr auf 17.30 Uhr), um einerseits ein Stück Psychiatriestruktur unterbrechen zu können, und andererseits zu einem »normaleren« Tagesablauf zu gelangen. Wir hatten uns dazu entschlossen, um für die gesamte Gruppe die Lebensqualität zu verbessern. Wir wussten, dass diese Veränderung auf großen Widerstand Marks stoßen würde. Uns war klar, dass für Mark das Essen eine viel tiefere und stärkere Problematik beinhaltete, als bei allen anderen Gruppenmitgliedern.

Für Mark war diese Umstellung des Rhythmus ein fast unmögliches Unterfangen. Er reagierte auf die Verschiebung mit massiven Zornausbrüchen, stampfte mit den Füßen, schrie laut, biss sich oft in den Handrücken oder versuchte die Couch im Wohnzimmer umzuwerfen. Mit seiner Revolte lähmte er manchmal fast das Gruppengeschehen. Natürlich versuchten wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, ihn zu beruhigen oder abzulenken. Anfangs gelang uns das noch öfters, aber die Zeiten, wo wir ihn aus dem Raum verweisen mussten, um mit den Anderen Weiterarbeiten zu können, häuften sich zusehends. Hier zeigt sich deutlich das Absurde und die Ausweglosigkeit dieser Situation. Wir hatten ja solange daran gearbeitet, Mark in diesen »lustbesetzten« Raum zu locken, und nun zwang er uns, ihn wieder hinauszuwerfen.

Eine weitere problematische Ebene, die hier mit hineinspielte, war von Beginn an seine Art zu Essen. Sein Essverhalten war schlichtweg eine Katastrophe und wurde zunehmend schlimmer. Mark kaute die Nahrung nicht, sondern schlang sie im Ganzen hinunter. Zudem wurde Mark beim Essen meistens zornig, biss sich dann in den Handrücken und überstreckte sich nach hinten, wobei er sich verschluckte und das Essen wieder ausspuckte. Unser Druck war sehr groß, denn durch dieses Schlingen drohte er zu ersticken. Wir suchten verzweifelt nach Möglichkeiten, um diese gefährliche Esssituation zu entschärfen. Unter anderem engagierten wir eine Logopädin, die Mark Kauen lehren sollte. Sie arbeitete einige Male mit ihm und zeigte, wie wir mit Mark beim Essen verfahren sollten: Wir sollten Mark eine Weile in einer bestimmten Art, möglichst mit der Gabel, das Essen eingeben. Sobald sich seine Esstechnik verbessert, sollten wir ihn wieder daran gewöhnen, selbst zu essen. Unsere Versuche hatten kaum Erfolg, er tobte und schrie während des Essens so, dass wir diese Maßnahme schnell wieder aufgaben. Wir ließen ihn wieder selbst essen – aber es saß immer jemand bei ihm. Auch das hatte keinen Erfolg, er brüllte und tobte weiterhin, zugleich stopfte er sein Essen so schnell in sich hinein, dass er bei jeder Mahlzeit fast am Ersticken war. Bei ihm zu sitzen war unglaublich anstrengend: Einerseits mussten wir die drohende Gefahr aushalten und andererseits den immer größer werdenden Zorn auf ihn unterdrücken. Dazu kam noch der Ekel, ständig von ihm mit Essen und Speichel bespuckt zu werden. Unser Druck und Zorn wurde immer größer. Es waren ja auch noch weitere sechs Personen in der Gruppe, die ebenfalls Hilfestellung beim Essen brauchten und nicht zuletzt Anrecht auf eine angenehme Atmosphäre beim Essen hatten.

Befangen in dem Sog dieser fürchterlichen Situation, wussten wir überhaupt nicht mehr, wie wir reagieren sollten. Wir fassten schließlich den fatalen Beschluss, Mark beim dritten Mal Toben einfach das Essen wegzunehmen. Wir erklärten ihm natürlich, warum wir diese Maßnahme beschlossen hatten, und hofften, dass er endlich kapiert, dass wir nicht mehr anders reagieren könnten. In dieser Situation war es uns nicht möglich zu reflektieren, sogar unsere Überzeugung, dass Gewalt nur zu Gegengewalt führt, und in Betreuungsverhältnissen überhaupt nicht angewendet werden darf, war wie weggeblasen. Wir hofften damals, dass wir mit unserer Erpressung Mark zwingen könnten, ruhiger zu werden. Es war wirklich schrecklich, was wir ihm und uns damit angetan hatten. Es brachte nichts, er hat sein Toben gesteigert – in seiner Wut schaukelte er auf seinem Stuhl so hin und her, dass er umfiel und sich eine Kopfwunde zuzog. Erst dieser Schock führte uns vor Augen, was wir angestellt hatten. Unser Beschluss wurde sofort revidiert, er bekam sein Essen wieder. Wir hatten eine blödsinnige Maßnahme gesetzt, um ihn zu bestrafen. In unserer Verzweiflung und Hilflosigkeit agierten wir nur mehr auf der Verhaltensebene, ohne das Geschehen zu reflektieren.

Erst durch das Nachdenken mit Dietmut wurden die Zusammenhänge wieder etwas klarer. Sie erklärte uns, dass Mark beim Essen etwas ausagiert, was eigentlich nichts mit Essen zu tun hat. Er weiß ja, dass sein Schlingen lebensbedrohend ist – und gleichzeitig zwingt er uns, diese Inszenierungen von Tötungsfantasien mitzumachen und mitzuerleben.

In diesem Gespräch erzählte ich ziemlich aufgebracht die Szenerie mit Mark, und konnte mir das erste Mal meine Wut und Ohnmacht in diesem geschützten Rahmen von der Seele reden. Dietmut vermittelte uns Geborgenheit und Verständnis, sodass es uns möglich wurde, uns ein wenig fallen zu lassen und Situationen zu erzählen, in denen wir trotz unserer Professionalität einfach Fehler gemacht hatten oder gescheitert waren. Das Gefühl und das Wissen, dass kein böser Zeigefinger auf uns gerichtet wird, halfen uns sehr dabei.

Dietmut hörte mir ganz genau zu, und entwickelte ein Bild für diese Szenerie: »Das Vögelchen, das aus dem Nest gestoßen wurde«. Mark, der sich in seinem Nest breit macht, den Mund dauernd offen, bereit zur ständigen Nahrungsaufnahme. Daneben seine Geschwister, die auch um ihre Existenz kämpfen müssen und die Mutter, die bis zur Erschöpfung versucht, dieses Nest zu erhalten und alle zufrieden zu stellen. Der Vater war damals kein Thema!

In diesem Gespräch erfuhr ich damals bezeichnenderweise nichts von der Maßnahme (oder habe ich damals einfach nicht ihre Bedeutung verstanden und sie deswegen vergessen?), ihm das Essen nach drei Mal Toben zu verweigern – sie verursachte dem Team offenbar zu viele Schuldgefühle. Ich hätte sonst wohl eher versucht, zu verstehen, warum das Team meinte, es sich nicht erlauben zu dürfen, sich auf solche Weise klar abzugrenzen und gegen die unzumutbare Behandlung durch Mark zur Wehr zu setzen. Hätte das Team hier Rückenstärkung bekommen und sich nicht länger mit Vorstellungen von einer zu verwirklichenden »menschenwürdigen Behandlung« unter Druck gesetzt, dann wäre hier vielleicht schon eine Erleichterung möglich gewesen. So aber blieb dieser Akt der berechtigten Gegenwehr unverstanden, Mark benahm sich monströs und musste sich entsprechend als monströs auch selbst erleben. Ich ließ mich von der Wut ablenken, die Mark provozierte und als »objektiven Hass«[32] suchte, und so entstand das Bild vom »Vögelchen« als eine Art Reaktionsbildung – der sich so provozierend benehmende Mark wurde zum armen, hilflosen Opfer. Damit bestärkte ich, trotz des Hilfreichen, welches mein Eingriff bei aller Abwehr noch haben konnte, die fatale Neigung des Teams, sich in der Auseinandersetzung mit Mark am Ideal einer »heilen Familie« zu messen. Die sich steigernde Aggression des Teams gegen Mark fand in dieser Deutung keinen »Container«, wurde von ihr nicht erfasst. Sie musste sich in pädagogischen Maßnahmen inszenieren und sorgte zunehmend für Schuldgefühle.

Zu dieser Zeit war unsere Stellung in diesem Arbeitsbereich noch nicht so gefestigt, dass wir es gewagt hätten, über unsere hilflosen und schrecklichen Reaktionen Mark gegenüber in einem Seminar, und also öffentlich zu berichten.

Das Bild vom »Vögelchen« spiegelte vor allem unsere/meine Hilflosigkeit Marks Verhalten gegenüber, was vermutlich der Grund dafür sein dürfte, dass dieses Bild, obwohl es so viel ausblendete, so wichtig wurde. Ich sog das Bild vom »Vögelchen« auf wie ein Schwamm – ich sah und spürte Mark, der in der Realität ständig den erhobenen Kopf hin und her wiegte und dabei den Mund wirklich wie einen Schnabel geöffnet hielt. Zugleich sah ich auch die Gruppe (Geschwister) wo jede/r auf seine/ihre Art um Anerkennung kämpfte, und ich sah mich als die fast schon verzweifelte Mutter.

Meine Gefühle fanden in diesem Bild einen Ausdruck, und ich spürte große Erleichterung. Selbst meine Schuldgefühle relativierten sich ein wenig. Aber ich sah damals Mark nur in der Opferrolle, als denjenigen, der darum kämpfen muss, nicht aus der Gruppe gestoßen zu werden. Dabei verhielt er sich so unmöglich, dass er genau dies provozierte. Erst viel später begriff ich auch, dass Mark nicht nur Opfer, sondern auch Täter war!

Auch in Marks Toben und Brüllen beim Essen scheint wieder die Macht des kindsmörderischen Introjekts am Werk zu sein. Wenn Essen einerseits Versorgtsein bedeutete, war es zugleich, insofern es seine Bedürftigkeit ansprach, etwas, was er nicht sicher kontrollieren konnte. Mit seinem Toben und Brüllen musste er wohl versuchen, die Gefahr, dass er dem vernichtenden Sog der Abhängigkeit ganz anheim fallen könnte, unter Kontrolle zu halten. Es war seine Art, sich selbst zu behaupten. Dieser aktive, aggressive Aspekt blieb in der Fantasie vom »Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist«, unausgesprochen, und so konnte diese auch nur beschränkt helfen. In diesem Bild machte ich ihn noch allzu sehr zum Opfer, und nur ein Teil der von Mark ausgelösten Gegenübertragungen konnte darin Platz finden – der Hass blieb unverstanden. Mark musste erst massiv auf die Sexualisierung als sein letztes Mittel, sich zur Geltung zu bringen, zurückgreifen, bevor es mir gelang, auch die aggressive Seite seines Agierens, die Seite seiner verzweifelten Selbstbehauptung, den Betreuerinnen ein Stück verständlicher zu machen. Erst dies war schließlich geeignet, die Betreuerinnen von den ständigen latenten Schuldgefühlen zu befreien, die ihre Maßnahmen auf Grund von deren unreßektiertem aggressiven Gehalt in ihnen hinterließen.

Insgesamt wird an Marlies Bericht bis hierher deutlich, wie wenig wir damals noch verstanden haben, wie hilflos auch die Formulierung vom »aus dem Nest gefallenen Vögelchen« angesichts der Heftigkeit und Dramatik der Affekte in dieser Inszenierung war, und wie weitgehend ich gemeinsam mit dem MIM-Team noch dem Ideal einer in der Betreuungssituation herzustellenden »heilen Familie« anhing, dessen fantasmatischen Charakter wir erst in der nachträglichen Reflexion erkennen konnten. Bezeichnend ist auch, dass damals das väterliche Element, welches in Gestalt der Übertragung Marks auf einen Betreuer bereits in Erscheinung getreten war, einfach ausgeblendet blieb. Die Leugnung seiner aggressiven (männlichen) Potenz, die Marks Situation in der Wohngruppe insgesamt kennzeichnete, musste auf ihn, der auf eine männliche Identifikationsfigur dringend angewiesen war, sehr bedrohlich wirken.

Als Mark begriff, dass wir die eingangs beschriebene veränderte Zeitstruktur nicht mehr ändern würden, entwickelte er eine neue Strategie: Zu unserem großen Erstaunen begann er freiwillig und selbstständig seinen Rollstuhl zu verlassen, kam zu mir und zog mich an der Hand bis in die Kochnische. Dies war eine Revolution, denn bis zu diesem Zeitpunkt war Mark kaum je gegangen.

Das Wort »Strategie« zeigt, wie angegriffen Marlies sich noch heute fühlt – wie die Aggression sich bis heute nicht ganz hat auflösen können, trotz der umwälzenden Neuerung, dass es Mark gelang, sich aufeigene Füße zu stellen und damit sein Anliegen besser durchzusetzen.

Dass Mark mit den neuen Essenszeiten schließlich progressiv umgehen konnte, indem er aufstand und selbst Initiative ergriff, wurde wohl von dem Umstand begünstigt, dass das Bemühen um eine Verschiebung der Essenszeiten nicht Mark persönlich galt, sondern ein allgemeines Anliegen der Betreuerinnen war, mit welchem ja, wie wir schon hörten, auch Gudrun zunächst ihre Schwierigkeiten hatte. Vielleicht bewährte sich auch hierjene spezifische Möglichkeit des »Nebenbei« in derpädagogischen Arbeit, indem Mark seine eigene Verzweiflung über eine ihm von Außen aufgedrängte und ihm unverständliche Veränderung, die er zunächst nur als vernichtende Strafe durch Essensentzug erleben konnte, in Gudrun wieder erkennen und dadurch relativieren konnte. Besonders wichtig war dabei, dass der Fokus der Aufmerksamkeit der Betreuerinnen in diesem Geschehen nicht, wie in derAuseinandersetzung um das Kaffeetrinken, aufihm lag, sondern aufder Gesamtsituation. Das machte es ihm möglich, die Rolle, die er spielte, durch eine andere, konstruktivere zu ersetzen, die seinem spezifischen Bedürfnis in diesem Gesamt besser Geltung zu verschaffen geeignet war – und dabei beiläufig eine weitgehend aufgegebene Ich-Funktion, das Gehen, wieder zu entdecken.

Mark hat auf diese Weise viel an Mobilität aufgebaut, er ging und lief auf der ganzen Station (ca. 350 Quadratmeter) herum, um mich oder unseren Betreuer, das einzige männliche Mitglied unseres Teams, zu suchen. Jetzt er begann aber auf anderer Ebene zu agieren, und auch dieser Entwicklungsschritt zeigte bald seine Schattenseiten, so erfreulich es zunächst auch war, dass Mark wieder gehen wollte. Er verhielt sich mir und dem Betreuer gegenüber, der seit einiger Zeit im Team mitarbeitete, massiv fordernd. Oft war dies kaum auszuhalten – manchmal mussten wir uns verstecken, um eine Weile Ruhe zu haben. Bei den anderen Betreuerinnen verhielt sich Mark nicht so fordernd, war zwar auch oft laut und aggressiv, versuchte aber nicht, sie ständig in die Küche zu zerren.

Ich war in meiner Bedrängnis oft nahe daran, ihn aus der Gruppe zu werfen. In diesem Gefüge war ich sicherlich die mächtigste Person für ihn, die auch seine Abhängigkeit klar benannte. Irenes Rolle war die der Sicherheit gebenden Person. Sie vermittelte ihm viel mehr als ich, dass er in unserer Gruppe bleiben wird, egal wie er sich aufführt. Hier zeigt sich zum ersten Mal die Spaltung, in die Irene und ich in der Zusammenarbeit des Öfteren gerieten und die wir auszuhalten hatten. Irene wird im Kapitel »Abschied von der Allmacht« davon noch eingehender berichten.

Mark hat den Betreuer und mich im wahrsten Sinne des Wortes terrorisiert. Wenn ich am Morgen zur Arbeit kam, überfiel er mich regelrecht, nahm mich sofort an der Hand und ging mit mir in die Küche. Ganz gleich, wie ich reagierte, er verfolgte mich überall hin – und das den ganzen Tag über.

Begab ich mich in einen anderen Raum und schloss die Tür, schrie und tobte er wie besessen, schlug gegen die Tür, schlug seinen Kopf am Boden blutig, trampelte gegen Boden und Holzbänke usw., sein Repertoire war umfangreich. An Tagen, an denen ich nicht in der Gruppe war, konzentrierte er sich auf meinen Mitarbeiter – wenn wir beide anwesend waren, wechselte er zwischen uns beiden hin und her.

Marlies fiel hier eine besonders undankbare Rolle zu, die sich aus der Besonderheit ihrer Funktion als Leiterin des MIM-Gruppen-Teams ergeben haben dürfte. Sie wurde damit für Mark zu einer allmächtigen Mutter-Übertragungsfigur. Die Situation wurde zudem dadurch erschwert, dass wir zunächst das sich hier inszenierende Heile-Familie-Fantasma nicht verstanden und Marks Übertragungswünsche und -ängste mit seiner realen Angewiesenheit verwechselten. Es hatte sich eine familienähnliche Situation konstelliert, in welcher Marlies zunehmend in die Rolle der überforderten Mutter gedrängt war, während Mark in seinem Wiederholungszwang den Rauswurfaus der Primärfamilie in Szene zu setzen suchte. Unser Umgang damit, im ersten Gespräch über Mark, war einigermaßen hilflos, blieb aber doch nicht ganz ohne Wirkung. Die starren Rollenzuweisungen, die sich aus den infantilen Übertragungen Marks ergeben hatten, konnten sich dadurch lockern, dass die Konstellation immerhin benannt, wenn auch noch zu wenig verstanden wurde.

Nach der schon erwähnten Auseinandersetzung mit Dietmut besserte sich diese Situation ein wenig, weil uns der Hintergrund dieser Inszenierung etwas klarer wurde. Außerdem löste sich, allein durch das Erzählen, sehr viel Spannung in mir und auch bei meinem Mitarbeiter.

Im Team versuchten wir darauf, andere Arbeitsaufteilungen zu finden, um die Situation etwas zu entschärfen. Irene übernahm die Aufgabe, Mark beim Essen zu helfen – er hat bei ihr anfangs weniger getobt. Auch sie war genervt von Marks Verhalten, konnte aber eine Technik entwickeln, um diese Aufgabe zu bewältigen. Sie stellte kaum direkten Kontakt zu ihm her, sondern konzentrierte sich darauf, das Essen auf seinen Löffel zu bringen, ihm den Löffel in die Hand zu geben und mit seiner Hand den Löffel zum Mund zu führen. Das war nicht schön, auch nicht angenehm, aber aushaltbar. Irene beschreibt dieses Handeln als Notsituation, in der sie alle Gefühle ausblendete und mechanisch und kalt reagierte.

Dies mechanische und kalte Reagieren hatte wohl die Bedeutung dessen, was Winnicott in »Hass in der Gegenübertragung« als »objektiven Hass« beschrieben hat.[33] In freundlicher Zugewandtheit hätte Mark sich nicht in seinem realen Tun gespiegelt finden können; diese Kälte jedoch reagierte auf seine aktive Einflussnahme, und nahm ihn damit ernst.

Erstmals konnte dann auch ich wieder etwas freier agieren: Ich habe ihm das Angebot gemacht, dass er einen eigenen Stuhl bekommt, der immer in der Küche steht - er kann sich dort hinsetzen, wenn er will und beim Kochen zuschauen. Ich erklärte ihm, wann gekocht wird, und wenn er tobt und mich ständig zerrt, dann muss er gehen, weil ich so nicht kochen kann. Es hat ein bisschen gedauert, aber dieses Angebot hat er annehmen können. Er schrie und zerrte weiterhin, konnte sich aber etwas beruhigen, sobald wir mit ihm in die Küche gingen, ihm erzählten, dass es noch nichts gäbe, dass wir erst später kochen würden und er dann in der Küche sitzen und zuschauen könne.

Hier gelingt, wenn auch weiterhin auf brüchiger Basis, ein weiterer Eingriff: Die Küche kann, anders als das »lustbesetzte« Wohnzimmer, für Mark eine noch nicht von Sexualisierung und Verführung völlig vergiftete Atmosphäre von oralem Versorgtsein herstellen. In ihr kann Mark sich geborgen fühlen, ohne zugleich dem vernichtenden Sog seiner Fantasie von einer sexuell bedürftigen Mutterfigur ausgesetzt zu sein, denn in der Küche geht es nicht um Herstellen einer »guten Atmosphäre« (die er als sexuell und damit als bedrohlichen Sog erlebt), sondern um das ganz konkrete Sicherstellen der Versorgung. »Sein« Stuhl bedeutet ihm, dass hier »sein Platz im Leben« ist, sein Ort, an dem er erstmals in der MIM-Gruppe eine Art Sicherheit erleben kann. Wenn Marlies hier kocht, so ist sie nicht, wie im Kampfum den Wohnraum der Gruppe, aufihnfixiert, und sie ist doch auf eine beruhigende Weise für ihn da.

Die Leitung der Gruppe erforderte auch Schreibarbeiten. Eines Tages war ich gerade dabei, den neuen Dienstplan zu erstellen, da kam Mark zu mir und wollte mich wieder in die Küche zerren. Als ich ihm erklärte, dass ich jetzt keine Zeit habe, nahm er die Rücklehne meines Stuhles und »fuhr« mich bis zum Herd. Ich war so erstaunt über seine Kraft und Mobilität, dass ich nur lachen konnte.

Diese Umkehrung ist in der Tat frappierend: Er, der lange Jahre im Rollstuhl gefahren werden musste, macht jetzt seine Betreuerin zur Rollstuhlfahrerin. So kehrt er Passivität und Ausgeliefertsein um und versucht, selbst Herr seines Schicksals zu werden. Dieser Versuch freilich – der ja damit verbunden war, dass er sein Gefühl des Selbstverlusts (des Kastriertseins) in die Betreuerin zu verlagern suchte – musste noch vielen Widerständen begegnen, bevor er seinen Platzfand.

Zunächst einmal erhielt ich die Rolle der Depotenzierten, der impotenten »Frau Doktor aus Hamburg« zugewiesen. Als Mark mir hier das erste Mal vorgestellt wurde, verstand ich noch nicht allzu viel. Es war daher zwar das Erzählen und mein nicht urteilendes Zuhören hilfreich, da darin immerhin die Hoffnung Ausdruck fand, dass das noch ganz Unverstandene der Geschichte mit Mark irgendwann doch auch würde verstanden werden können. Jedoch klingen selbst im nachträglichen Bericht die Erwähnungen meines Eingriffs fast beschwörend – als hätte die unerträgliche Notlage der sich steigernden dyadischen Konfrontation mit Mark nur ertragen werden können, indem ich als eine Art Erlöserin fantasiert wurde, während ich doch in Wirklichkeit zunächst selbst eher hilflos war; als sei die damals auf mich projizierte Rolle die einer Erlöserin von dem Übel (der sich bedrohlich steigernden, aber noch immer mühsam geleugneten Sexualisierung) gewesen, während auf der unbewussten Ebene zugleich das Gefühl, zu versagen, in mich verlagert wurde.

Der Kampf auf der Geschlechtsebene

Bis zu dem Zeitpunkt, als er aufstand, um in die Küche zu gehen, hatte Mark immer im Rollstuhl oder auf einem Sitzmöbel gesessen. Der zuständige Stationspfleger hatte uns den Auftrag gegeben, mit Mark viel zu gehen, um die Gehfunktion zu erhalten. So hatte es sich ergeben, dass wir uns dafür verantwortlich fühlten, dass Mark eines Tages nicht mehr würde gehen können, sollten wir mit ihm zu wenig üben. Es hieß, dass seine körperlichen Bedingungen immer schlechter würden, wenn nicht konsequent mit ihm geübt werde.

Wir hatten eine Weile mit einer Physiotherapeutin zusammengearbeitet, um seinen Ist-Zustand möglichst zu erhalten, beziehungsweise den weiteren Abbau seiner Muskulatur aufzuhalten. Diese Versuche, Marks Gehvermögen zu erhalten, bildeten den Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die schließlich in einen sexuellen Machtkampf münden sollte, den ich hier beschreiben möchte. Nach den Anleitungen der Physiotherapeutin übten wir täglich auf der Matte Bewegungsabläufe. Wir mussten Stiegen steigen und kurze Spaziergänge (10-15 Min.) mit ihm machen.

Anfangs war das recht lustig, Mark genoss es, dass zwei Betreuerinnen sich nur mit ihm alleine beschäftigten. Auch für uns war diese Arbeit angenehm, und dadurch entstand eine gute Atmosphäre für die ganze Gruppe. Gleichzeitig animierte das auch andere, mitzumachen. Während wir uns auf Mark und die Übungen mit ihm konzentrierten, öffnete sich den anderen Gruppenmitgliedern ein weiterer Raum im Nebenbei. Z.B. begann nun Marianne, die sich sonst nur ungern und schwerfällig bewegte, von sich aus mitzuturnen, was uns wiederum sehr freute.

Hier sehen wir noch einmal, wie hilfreich sich die identifikatorische Teilhabefür diejenigen auswirken kann, die nicht im Fokus der Aufmerksamkeit der Betreuerinnen stehen; wie es diesen ermöglicht, probeweise andere als die gewohnten Rollen zu übernehmen und dadurch ihren Radius an Lebensentwürfen zu erweitern. Mark selbst jedoch war, wie sich sogleich zeigte, in dieser erotisch-angenehmen Nähe als Protagonist im Fokus überfordert, und damit wurde nun sein Haupt-Abwehrmechanismus, die Sexualisierung, auf den Plan gerufen.

Nach einiger Zeit schlich sich bei uns ein ungutes Gefühl ein, das sich mehr und mehr verstärkte. Wir spürten mit Schrecken, dass Mark diese Übungen sexuell besetzte und immer mehr forderte. Es war für uns schwierig, damit umzugehen, wir zogen uns emotional zurück und negierten seine Bedürfnisse – und trotzdem übten wir mit ihm weiter. Mark fing daraufhin an, sich zu verweigern, er wollte nicht mehr mitmachen. Seine Enttäuschung muss groß gewesen sein – seine Weigerung war, im Nachhinein gesehen, auch eine Aufforderung an uns, damit aufzuhören. Aber wir verstanden ihn nicht, und machten weiter, obwohl sich die Situation zunehmend verkrampfte. Es artete immer mehr in Zwang aus, zuletzt schleppten wir ihn zu zweit die Stiege auf und ab. Dies erforderte einerseits viel Kraftanstrengung für uns, andererseits wurde unser Ärger, dass er nicht mitmachen wollte, immer größer. Erst als es für alle fast nicht mehr auszuhalten war, hörten wir endlich damit auf. Es wurde uns klar, dass es keinen Sinn hat, gegen seinen Willen weiterzumachen. Wir fingen an zu akzeptieren, dass er anscheinend nicht gehen wollte.

Das war allerdings gar nicht so einfach. Es lastete ja der institutionelle Behandlungsauftrag und die damit transportierten Schuldgefühle auf unseren Schultern, nämlich seine Gehfähigkeit zu erhalten. Wir wussten auch, dass einige Personen in der Psychiatrie nur darauf warteten, dass wir Fehler machten oder an dieser Aufgabe scheitern würden. Die Zusammenarbeit mit einem Teil des medizinisch-psychiatrischen Pflegepersonals war oft recht schwierig. Wir waren ja eingestellt worden, um mehr Qualität in diese Arbeit zu bringen – diese Mitarbeiterinnen wollten aber weder kontrolliert werden, noch ihre Arbeitsweisen verändern. Ihre Meinung über »Studierte« war denkbar schlecht; gezwungenermaßen anerkannt wurden nur die Ärztinnen, aber auch hier war ein tiefes Misstrauen zu spüren. Damit wird klar, unter welchem Druck wir standen. Es wurde uns suggeriert, dass wir die Schuld zu tragen hätten, wenn Mark eines Tages nicht mehr würde gehen können. So unter Druck, verdrängten wir die sexuellen Untertöne bei der physiotherapeutischen Behandlung solange, bis es nicht mehr ging.

Marlies beschreibt deutlich den Mechanismus, mit dem sich der »gesellschaftliche Mordauftrag« durchsetzt. Er tut dies häufig genug aufeine Weise, dass die von ihm Ergriffenen keine Chance bekommen, ihn zu erkennen. Hier kleidet er sich in eine einfache, scheinbarphysiotherapeutisch-medizinisch begründete Pflegeanweisung, die nach Art eines trojanischen Pferdes ein Fantasma transportiert und damit die Beteiligten unweigerlich in die dyadische Konfrontation zwingt. Die Suggestion: »Wenn ihr nicht mit ihm übt, dann seid ihr es, die ihr Mark seiner Gehfunktion beraubt«, beinhaltet eine Schuldzuweisung, die weit über die schlichte Vernachlässigung von Turnübungen hinausgeht. Die unbewussten Fantasien, die dadurch ausgelöst wurden, können wir übersetzen mit: »Wenn wir nicht mit ihm üben, dann sind wir in Marks Spiel die Täterinnen, die Schuldigen – dann kastrieren wir ihn, dann machen wir ihn zum hilflosen Baby, ja, dann vernichten wir ihn.«

Zugleich jedoch waren die physiotherapeutischen Übungen auch geeignet, erotische Fantasien in den Betreuerinnen wachzurufen, die sie sich gegenüber Mark jedoch nicht zugestehen konnten. Sie erlebten ihn ja im Rahmen dieser Inszenierung nicht als Mann, sondern als infantil Abhängigen. Die latente Verführung in der Situation musste ihre Weiblichkeit bedrohen, da erwachsene Weiblichkeit auf der einen und infantile Abhängigkeit auf der anderen Seite nicht in einen gleichberechtigten erotischen Dialog treten können. Indem sie dieses Verführungsmoment in den Übungen jedoch leugneten, depotenzierten sie Mark, machten ihn in der Fantasie zum kastrierten Wesen, das ihnen als Frauen nichts bedeuten konnte.

Es war zu Marks Vorteil, dass es dem Team hier gelang, ihn den Machtkampfgewinnen zu lassen, Abstand zu nehmen und auf die Übungen zu verzichten. Leicht hätte es sonst schon hier zu jener Steigerung der dyadischen Konfrontation kommen können, die schließlich im Zusammenhang mit dem »lustbesetzten Raum« den integrativen Prozess nahezu gänzlich lahm legte.

Mehrfach finden wir das Interaktionsmuster vor, dass Mark »zu seinem Glück gezwungen« werden soll, und dass er darauf mit absoluter Verweigerung reagiert. Dies scheint ein zentrales Charakteristikum seines »kindsmörderischen Introjekts« zu sein. Nicht umsonst wohl finden wir hier eine Art von verführender Überwältigung, verkleidet als physiotherapeutische Interaktion. In diesem Zusammenhang wird Marlies’ Beobachtung wichtig, dass der »lustbesetzte Raum« auch eine große Bedürftigkeit der Betreuerinnen zum Ausdruck brachte, und dass diese Bedürftigkeit sie an den Rand eines eigenen Kontrollverlusts hätte bringen können – dies nicht nur in einer Regression auf infantile Abhängigkeit, wie es Marlies zunächst verstand, sondern, so können wir hier hinzufügen, in einerfatalen Verwechslung auch in einem sexuellen Kontext.

Beim gemeinsamen Überarbeiten dieses Textes zusammen mit Irene baute sich in mir massiver Widerstand auf. Ich befand mich wieder mitten in diesem schrecklichen Sog, die Rolle rückte mir buchstäblich auf den Leib und ich hatte große Schwierigkeiten, meine Rolle und die Realität nicht zu verwechseln. Wir diskutierten viele Stunden und dennoch gelang es mir nur schwer, aus der Dynamik dieser Geschichte auszusteigen.

Erst nach einer ausführlichem Reflexion gemeinsam mit Dietmut war es mir möglich, Distanz zu gewinnen und Klarheit über Marks Rollenzuweisung und mein eigenes Erleben zu bekommen. Dieser Prozess ist für mich noch nicht abgeschlossen, und selbst beim Schreiben dieser Zeilen habe ich noch Mühe damit, öffentlich zu benennen, dass Mark ausgerechnet mich für diese Rolle auserkor.

Damit kristallisiert sich das Bild einer sexuell bedürftigen Mutterfigur heraus, die das kindliche Zärtlichkeitsbedürfnis mit ihren sexuellen Fantasien beantwortet. Wie weit dies dem realen Erleben der frühen Mutter-Kind-Beziehung Marks entnommen ist, und wie weit in der Nachträglichkeit[34] die frühen Interaktionsformen ihm dazu gerieten, können und müssen wir hier nicht entscheiden.[35] Diese Bedürftigkeit wird von Marlies in der Gegenübertragung als drohender Kontrollverlust erlebt und erzeugt in Mark den Impuls, das Drohende unter vollständiger Kontrolle zu halten. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass hier schon eine Unterscheidung zwischen »mein und dein«, zwischen Marks Bedürfnis und dem seiner inneren Mutter, zu welcher Marlies geworden ist, möglich wäre: Die Bedürftigkeit, die er im Außen unter Kontrolle zu halten sucht, entfaltet ihren Sog in ihm, bedroht ihn von innen. Anders als Gudrun, erlebt Mark die Einladung in die dyadische Einheit daher als Bedrohung. Entsprechend dem Mechanismus der dyadischen Konfrontation wurde das Locken daher bald zur Forderung, ja zum Versuch, Zwang auszuüben. Mark sollte zu seinem »Glück« gezwungen werden.

Ähnlich geschieht es in der Situation des Gehen-Übens. Vor dem Hintergrund seines Wiederholungszwanges, seines »Spieles«, wie Marlies und Irene es gelegentlich nannten, kann er die »gute Atmosphäre« bei den Übungen, wie vorher die Einladung in den »lustbesetzten Raum«, nur als Verführung in eine Falle, als Vernichtungsdrohung erleben. Hier gibt ihm die Situation die Gegenwehr direkt vor: die der Sexualisierung. Er ist Mann, und als solcher kann er sich mit seiner sexuellen Potenz gegen die verführenden und daher potenziell vernichtenden Mütter-Frauen abgrenzen und behaupten. Je »feiner«, je verführender die Atmosphäre wird, desto mehr braucht er diese Gegenwehr.

So gerät Mark schließlich vollends in den Vorstellungskreis, der seine Betreuerinnen zu Opfern macht und deren weibliche Ängste und Bedürftigkeiten auf den Plan rufen muss. Er wird zum kastrierten und zugleich zum potenziell »vergewaltigenden Monster«, er kränkt und bedroht sie in ihrer Weiblichkeit – wie sehr, hat Marlies schon in der Einleitung mitjenem Satz, der »wie Feuer« in ihr brannte, deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn die Betreuerinnen sich innerlich zurückziehen und versuchen, diese Sexualisierung zu ignorieren, ihn aber gleichzeitig mit diesem Fantasma identifizieren, so muss er dies wiederum als Vernichtungsdrohung erleben. Als der, der er ist, wird er von ihnen zugleich dämonisiert und nicht wahrgenommen. So muss er immer fordernder werden, um sich überhaupt noch fühlen zu können.

In der unbewusst bleibenden Gegenübertragung der Betreuerinnen wird die angstvolle Vorstellung, Mark durch Nicht-Üben seiner Gehfunktion zu berauben, zur Kastrationsfantasie, mit welcher sie sich für die erlittene Kränkung rächen. Mark, der dies spürt, versucht sich durch Verweigerung zu retten. Dadurch, dass die Betreuerinnen auf diese Verweigerung eingehen und ihre Schuldgefühle ertragen, kann die Situation sich noch einmal ein wenig beruhigen.

Auch hier kostet es mich noch einmal Mühe, mich nicht mit meiner Rolle in dieser Inszenierung zu verwechseln. Es war damals extrem schwer zu begreifen und zu ertragen, dass es meine Aufgabe war, sich der fürchterlichen Zersetzung kindlicher Abhängigkeit mit erwachsener Sexualität und der damit verbundenen Rollenzuweisung zu stellen. Ständig muss ich noch heute mir bewusst machen, dass es eine wichtige Arbeit war, dass ich es mit Mark durchgestanden habe.

Die beschriebenen Veränderungen entschärften die Situation ein bisschen, aber Mark war auch weiterhin tagelang total zornig und vollkommen auf mich und den Betreuer fixiert. Es war auch nicht möglich, dass jemand anderer vom Team mit ihm spazieren fuhr, weil er sich im Rollstuhl nicht schieben ließ und nur zurück zu mir und/oder zu meinem Mitarbeiter wollte. Die Arbeit mit Mark blieb weiterhin schwierig und anstrengend.

Nachdem es Mark nicht gelungen war, uns auf der Essensebene so zu provozieren, dass wir ihn aus der Gruppe ausschließen, fing er mit genau dem Spiel an, das zu seiner Einweisung in die Psychiatrie geführt hatte. Schon als Jugendlicher hat er häufig onaniert und damit seinen Rausschmiss aus der Familie und die Einweisung in die Psychiatrie provoziert.

Er fing nun an, in unserem Beisein ständig zu onanieren. Auf dieser Ebene traf er uns am meisten. Nichts, was auch immer wir versuchten - von vermehrter Zuwendüng bis absoluter Ablehnung - konnte ihn davon abhalten. Er steigerte sein Onanieren derart, dass wir uns vor ihm nur mehr grausten und uns seine Anwesenheit immer unerträglicher wurde. Hier waren wir alle einem Punkt angelangt, wo wir ihn fast aus der Gruppe geworfen hätten. Außerdem hatten wir ja die oben beschriebene Geschichte der Physiotherapie emotional kaum verarbeitet. Dort ging es bereits um die sexuellen Wünsche von Mark.

Unsere Fantasien waren massiv, ja geradezu sadistisch: sie begannen bei verschiedenen Möglichkeiten, ihm weh zu tun, gingen über die absolute Vernachlässigung bis hin zu seinem Rauswurf aus der Gruppe. Da für uns keine dieser Fantasien jemals zur Realität werden durfte, entwickelte sich der Wunsch, dass er einfach nicht mehr da wäre. Die für uns am besten vertretbare Möglichkeit, ihn einige Stunden los zu werden, war, ihn bei unseren wöchentlichen Ausflügen nicht mehr so oft mitzunehmen. Damals hatte auch der oben genannte Betreuer angefangen, bei uns zu arbeiten. Ich hatte die Aufgabe, ihn einzuarbeiten. Dabei sollte ich ihn genau beobachten und darüber bestimmen, ob er für diese Art von Arbeit geeignet sei oder nicht. Das bedeutete, dass auch er in einer großen Abhängigkeit zu mir stand. Ähnlich wie Mark, musste er sich darum bemühen, in der Gruppe bleiben zu dürfen. Es zeigte sich, dass unsere Zusammenarbeit fruchtbar war, und es gab viele angenehme und lustvolle Stunden. Gleichzeitig aber wurde eben dieser männliche Mitarbeiter von Mark auf ähnlich bedrängende Weise verfolgt wie ich selbst.

Mark schuf sich hier mit Marlies und dem einzigen männlichen Betreuer anscheinend ein »Elternpaar«. Der neue Mitarbeiter, der um Marlies, die Leiterin der MIM-Gruppe war, werben musste, wurde für Mark zu einer Art Vorbild, das, je mehr zwischen Marlies und ihm eine »angenehme und lustvolle« Beziehung sich herstellte, desto deutlicher Züge einer – schwachen und abhängigen – Vaterfigur annahm.

Indem Mark in dem Betreuer eine Vaterfigur suchte, suchte er die Flucht nach vorn, die Herstellung einer »Dritten Position« durch Identifikation mit einem männlichen Objekt. Diese aber ging immer wieder im Sog der Verwechslung dyadischer Versorgung mit sexueller Anziehung verloren. Sie musste darin verloren gehen, je deutlicher Mark an der Beziehung zwischen Marlies und dem Betreuer erotische Komponenten erspüren konnte, während er zugleich ja auch die Angewiesenheit des Betreuers auf Marlies wahrnehmen musste. Die leichte Flirt-Atmosphäre zwischen beiden musste für Mark vor dem Hintergrund seiner Lebensentwürfe den Charakter einer Art Groteske annehmen – eine Szene, in welcher ein schwacher und abhängiger Mann sich nur vermittels der Sexualisierung gegen eine weiblich-mütterliche Übermacht zu behaupten vermag. Solche szenischen Muster waren gewiss nicht sonderlich hilfreich für Marks Suche nach einem Dritten, mit dem er sich identifizieren konnte und der vor der Abhängigkeit schützte, und so geriet er hier nur weiter in den Sog von Abhängigkeit, Verführung und Sexualisierung.

Beim nächsten Seminar mit Dietmut erzählte ich erneut, in welche Bedrängnis uns Mark gebracht hatte. Erstmals benannte sie die Machtstruktur, in der wir gefangen waren und erklärte, wie sehr Mark darum kämpfte, als »ganzer Mann« gesehen und empfunden zu werden. Endlich konnten wir erkennen, dass wir ihn bis jetzt nicht als Mann angenommen hatten, dass wir ihn immer nur zum Opfer machten und schon gar nicht als ein sexuelles Wesen sahen. Ein Gedanke in mir brannte wie Feuer: Was bildet sich dieser schwerstbehinderte Mann eigentlich ein, mich auf so grausige Art zu provozieren, dass ich handlungsunfähig werde?

Hier können wir unser Konstrukt von dem kindsmörderischen Introjekt, welches Mark und das betreuende Team in seinen Fängen hielt, mit zentralen Details ergänzen. Es verdichtet sich das Bild eines vernichtenden Soges in die Dyade - vernichtend deswegen, weil es nicht seine Bedürftigkeit ist, die in der dyadischen Beziehung den Ton angibt, vielmehr die Bedürftigkeit jener, auf die er angewiesen ist. Damit verliert Mark, sowie seine Bedürftigkeit ins Spiel kommt, jedes Gefühl einer eigenen Existenz; bestimmt sich doch das Eigene immer aus den eigenen Wünschen. Einzig die Küche, in der gekocht wird, während er dabeisitzt, gibt ihm eine gewisse Sicherheit. Anders der gemütliche Gruppenraum, der die Bedürftigkeit der Mutterfigur und damit den Sog der vernichtenden Dyade repräsentiert. Dieser Sog wird durch die »Vögelchen«-Fantasie letztlich noch einmal verstärkt, weil die mitleidige Zuwendung, die Mark auf Grund ihrer zuteil wird, ihn noch einmal mit Vernichtung bedroht – ihn verniedlicht, in seiner Aktivität ignoriert, ihn kastriert und seiner Identität beraubt. So ist er denn gezwungen, zu dem letzten Mittel seiner Selbstbehauptungzugreifen und damit zugleich den permanenten Verführungssog, in dem ersieh erlebt, zum Ausdruck zu bringen. Er onaniert, und indem er dies tut, präsentiert und behauptet er das, was ihn gegen die »verführenden Mütter« als Einziges noch sicher abgrenzt: seine Männlichkeit. Zugleich provoziert er damit den Rausschmiss, als seine einzige Möglichkeit, aus der totalitären Familienabhängigkeit in die Freiheit zu entkommen – in eine Freiheit allerdings, die zugleich Vernichtung wäre, insofern in ihr kein Platz dafür bliebe, dass er mit seiner Angewiesenheit auf Hilfe autonom umgehen lernen könnte.

Endlich konnten wir mit Dietmuts Hilfe erarbeiten, dass wir Mark als Mann mit seiner Sexualität ernst nehmen und gleichzeitig ihm gegenüber unsere Menschenwürde vertreten müssen. Wenn wir uns ständig erniedrigen lassen, dann werden wir für ihn bedrohlich. Durch sein Onanieren beleidigt er uns aufs Gröbste, und nur wenn wir uns dagegen wehren, kann er erkennen, dass er so stark und mächtig ist, dass er uns beleidigen und kränken kann. Außerdem erklärte sie uns, dass wir nicht dazu da sind, Opfer seiner sexuellen Belästigungen zu sein, auch wenn er behindert ist. Indem wir uns das bieten lassen, entwerten wir ihn als Mann und uns als Frauen. Wirklich augenblicklich ging es mir besser, es fiel eine Last von mir ab. Für die gesamte Seminargruppe war es befreiend, dass offen über Sexualität und vor allem die sexuellen Übergriffe Marks gesprochen wurde.

Danach hatte ich, und wir miteinander, wieder einen Handlungsspielraum offen und wir konnten uns endlich gegen Mark und seine Übergriffe wehren. Sobald er in unserer Gegenwart anfing zu onanieren, sagten wir ihm mit Nachdruck, dass er sofort aufhören soll, ansonsten müsse er den Raum verlassen, da wir uns von ihm belästigt fühlen und uns vor ihm graust. Zunächst nahm er unsere Aufforderung aufzuhören nicht ernst und wir mussten ihn oft zu zweit aus dem Zimmer schleppen, blieben aber immer konsequent.

Wir richteten ihm einen Platz ein, wo er onanieren konnte, aber von wo aus er die Gruppe und uns nicht belästigte. Nach kurzer Zeit begriff er, dass wir sein Verhalten rigoros ablehnten, ja uns dagegen wehrten und entsprechend reagierten. Er hörte bald danach auf, so provokant zu onanieren. Es war nicht nur eine riesige Erleichterung für uns, sondern die gesamte Gruppe konnte aufatmen.

Wiederum waren wir sprachlos und sehr erstaunt darüber, wie schnell sich nach diesem Eingriff endlich diese für uns schreckliche, ja unerträgliche Geschichte auflöste. Natürlich waren wir auch froh und stolz darauf, dass es uns gelungen war, diese Geschichte positiv zu überwinden.

Umzug, Entdeckung des Guten

Wie ich schon in der Geschichte von Gudrun beschrieben habe, übersiedelte die Gruppe für drei Monate nach G. Im Gegensatz zu Gudrun fühlte sich Mark dort vom ersten Tag an sehr wohl.

Ein Haus am Land, bäuerlich eingerichtet, umgeben von Wiesen, einem großen Bauernhaus und vielen Kühen – das war das Richtige für Mark. Endlich auch eine Küche, in der alle gemütlich sitzen konnten und eine Terrasse, von wo aus Mark die Kühe beobachten konnte. Er lebte sichtlich auf, seine Aggressionen wurden zunehmend weniger. Trotzdem gab es immer wieder einmal Situationen, in denen er sehr laut und zornig war. Durch einen Zufall entdeckten wir schließlich, wie er augenblichlich ruhig werden konnte – Irene musste nur anfangen, einen Krautsalat zuzubereiten. Sobald sie ein Schneidebrett, ein Messer und einen Krautkopf auf den Tisch legte, veränderte sich sein Schreien in ein Lachen. Krautschneiden war und ist im ländlichen Tiroler Raum etwas Typisches, ob als Salat, Haupt- oder Zuspeise, Kraut war früher eine der wenigen Gemüsearten, die es das ganze Jahr über gab. Indem wir die Bedeutung des Krautschneidens für Mark erkannten, war für ihn ein Stück seiner früheren Welt wiederhergestellt. Da wir dort auch mittags selbst kochen mussten, war fast den ganzen Tag jemand in der Küche beschäftigt. Der größte Teil der Gruppe hielt sich auch in der Küche auf, Mark saß auf der Bank und lachte. Wenn ich im Zimmer saß und Büroarbeiten machte, holte er mich zwar, aber sobald ich mich in der Küche zum Tisch setzte und weiterschrieb, war er zufrieden. Zum ersten Mal nach ca. drei Jahren Arbeit mit Mark spürten wir ein Gefühl der Zufriedenheit: Mark war angekommen und wir erlebten ihn fröhlich und gelassen.

Dieses ist wieder einmal eine Nebenbeigeschichte: Eine räumliche Umstellung, in der durch einen glücklichen Zufall Mark etwasfinden kann, welches sein bedrohtes Selbstgefühl abstützt und seine Vernichtungsängste mildert, und welches damit die Wucht der dyadischen Konfrontation entlastet. Auch darin können wir eine Möglichkeit integrationspädagogischen Eingreifens finden. Wir lernen daraus, dass es solche Dinge zu beobachten und bewusst einzubinden gilt, dass auch sie zum integralen Bestandteil des psychoanalytisch reflektierten pädagogischen Handelns gemacht werden sollten. Wenn die Inszenierung des »kindsmörderischen Introjekts« verstanden wird, dann kann vermittels solcher Eingriffe – der richtigen Wahl der Wohngemeinschaft, der Zimmereinrichtung etc. – eine wichtige Entlastung der Beziehungssituation gelingen, die dann zur Grundlage der weiteren integrativen Arbeit wird. Was mit der Einrichtung »seines« Stuhles in der Küche einen Anfang genommen hatte, konnte hier endlich jenen Raum schaffen, in welchem Mark existieren konnte, ohne sich permanent dem vernichtenden Sog einer sexualisierten Dyade ausgesetzt zu fühlen.

Als die MIM-Gruppe aufgelöst wurde, kam Mark in eine Wohngruppe, die bald darauf in ein Haus am Land übersiedelte. Wir hatten uns gemeinsam für dieses Projekt entschieden, da es – nach der Erfahrung, die wir selbst auf dem Land mit ihm gemacht hatten – für seine Bedürfnisse am besten passte. Uns fiel der Abschied von Mark wesentlich leichter als von anderen Mitgliedern der MIM-Gruppe. Vermutlich liegt das daran, dass wir durch seine besonders grausigen Inszenierungen keine so enge Beziehung zu ihm aufbauen konnten und wollten.

Unsere anfängliche Einschätzung von Mark, dass er der Ruhigste und »Problemloseste« sei, hatten wir bald revidieren müssen. Er ist sicher mit Andrea derjenige, der von allen in dieser Gruppe am wenigsten Sicherheit und Stabilität entwickeln konnte. In der Arbeit mit Mark konnten wir kaum Ebenen finden, die es ermöglicht hätten, mehr Beziehung aufzubauen, und er setzte uns von allen auch den größten Widerstand entgegen.

Wenn ich mir heute die Situation anschaue in der Mark lebt, habe ich die Möglichkeit, sie von zwei Seiten aus zu betrachten: Entweder – es hat sich nicht viel verändert, sein Essverhalten ist zwar anders, aber nach wie vor schwierig, er ist in dem Dorf, in welchem seine WG wohnt, nicht integriert, sondern zieht es vor, die Kühe auf dem Feld zu beobachten.

Oder – Mark hat ein Stück weit seine Heimat gefunden. Er konnte mit seinem Bezugsbetreuer (diese Aufgabe wurde nicht zufällig von einem Mann übernommen) ein gutes Verhältnis aufbauen. Dieser Betreuer versucht jetzt mit Mark zusammen seine Biografie wieder zu entdecken. Weiter ist es dem Team gelungen, mehr Kontakt zu seiner Familie aufzubauen. So oft als möglich, kann Mark sein Heimatdorf und seine Familie besuchen. Umgekehrt bekommt er in der Wohngemeinschaft auch Besuch seiner Familie. Dass dies nach fast dreißig fahren Psychiatriegeschichte zu Stande kommen konnte, ist alles andere als gewöhnlich. Mark lebt jetzt an einem Ort, wo es ihm gefällt und er sich sichtlich wohl fühlt.

Es ist mir ein Anliegen, abschließend zu sagen, dass es uns nur möglich war, diese schrecklichen Zeiten mit Mark auszuhalten, weil es auch schöne und entspannte Momente mit ihm gegeben hat. Ich habe noch das Bild vor Augen, als Mark an unserer Kaffeerunde teilnahm, auf der Couch saß, laut lachte und seinen Oberkörper im Rhythmus der Musik wiegte – ein zufriedener Mark. Oder – wie sehr genoss es Mark, wenn Irene mit ihm in der Sonne saß und seinen Rücken kraulte. Es gibt noch einige solcher »Highlights«, die wir aber hier nicht alle aufzählen möchten. Das Wissen um diese schönen Momente war und ist bis heute existenziell notwendig, damit so Schreckliches getragen werden kann.

Nachtrag

Einige Zeit, nachdem Marlies diesen so mutigen Bericht geschrieben hat, habe ich etwas erlebt, was hier ein weiteres versöhnliches Ende ermöglicht. Aus Anlass einer schweren Krise von einer Mitbewohnerin Marks musste ich seine Wohngruppe aufsuchen. Ihn traf ich dort auch, und was ich sah und erlebte, war so weit jenseits dessen, was hier im Bericht so belastend und erschreckend sich darstellt, dass ich, hätte ich ihn nicht zweifelsfrei wiedererkannt, nicht hätte glauben können, dass es sich um die gleiche Person handelte. Mark saß für sich, aber im Gruppenraum, in welchem auch einige andere anwesend waren, er wirkte ruhig und ausgeglichen, ja fröhlich. Eine Betreuerin kam gerade und wollte mit ihm irgendwo hingehen, zur Toilette, zum Spaziergang? Er kam mit, ohne jeglichen Protest, als sei dies völlig selbstverständlich.

Später, als ich wieder Weggehen und mich verabschieden wollte, sah ich ihn abermals. Diesmal war Essenszeit, und Mark saß vor seinem Teller und aß selbstständig. Der Teller war mit einem extra hohen Rand versehen, sodass er nichts versehentlich hinunterschieben konnte, und er aß sauber und bedächtig-nichts war von dem panisch-gierigen Schlingen zu sehen, welches Marlies uns von früheren Zeiten beschrieben hat. Nach all meinem Dafürhalten ging es ihm gut. Auch dies ist Integration.



[29] vgl. Becker 2002, 88ff.

[30] Erdheim 1982

[31] vgl. Niedecken 1989, 99-106

[32] vgl. D. W. Winnicott: »Hate in the Countertransference« 1958

[33] vgl. vorige Fußnote

[34] Dieser von Freud stammende Begriff wurde von Laplanche besonders hervorgehoben (vgl. La- planche/Pontalis 1972.

[35] Grundsätzlich kann es bei solcher Rekonstruktion von »Originalvorfällen« nicht darum gehen, einen Realitätsbeweis zu liefern, handelt es sich doch immer um unbewusste Fantasien, denen wir erzählend die Gestalt von der frühen Mutter-Kind-Beziehung entnommenen Lebensentwürfen geben, um sie einem affektiven Nacherleben zugänglich zu machen.

Das Scheitern der pädagogischen Allmacht

Dietmut Niedecken/Marlies Pötzl

Vorbemerkungen

In den Berichten über Gudrun und Mark haben wir gesehen, wie sich die pädagogisch-integrative Arbeit immer wieder mit zerstörerischen Lebensentwürfen auseinander zu setzen hat, die allem Anschein nach in der Kindheit erworben wurden. Dies könnte nun dazu verführen, das pädagogische Handeln auf die Einrichtung einer »heilen Familie« hin auszurichten. Dass dies ein, wenn auch nahe liegendes, Missverständnis unseres Anliegens wäre, haben wir im Vorigen lediglich erwähnt. Hier soll nun gezeigt werden, inwiefern die Verwechslung der Betreuungssituation Erwachsener mit einer familialen Struktur dem integrativen Bemühen genau zuwider läuft. Wir werden sehen, wie leicht eine solche Verwechslung der Betreuungssituation mit familialer Abhängigkeit sich herstellen kann, und wie zerstörerisch sie sich auswirken muss.

Es besteht wohl Einigkeit darüber, dass es bei der integrativ-pädagogischen Arbeit nicht darum gehen kann, die Betreuten zu infantilisieren; dies aber ist unweigerlich die Folge, wenn die Pädagoginnen sich als Ersatz-Eltern verstehen und die Betreuten damit in infantile Abhängigkeiten drängen. An dem nun zu berichtenden Beispiel von Fritz wird deutlich werden, wie diese Tendenz, sich in die Elternposition zu versetzen, auch mich noch ergreifen und dafür sorgen konnte, dass das erarbeitete Verständnis von Fritzens seelischer Situation sozusagen hinter meinem Rücken sich in eine fatale Reinszenierung von Abhängigkeitsstrukturen umkehrte. Allerdings habe ich nicht etwa vor, die Geschichte von Fritz hier darzustellen, um mich selbst (oder irgendwen sonst Beteiligten) anzuklagen. Dass ich genauso wenig wie Andere immer und überall helfen kann, bedarf ja keiner eigenen Erörterung. Vielmehr soll anhand einiger hier zu erarbeitender Begriffe wenigstens im Nachhinein verstanden werden, was im Falle von Fritz zu der Entgleisung der pädagogischen Interaktion geführt hat, die ich, als ich zu Rate gezogen wurde, schon nicht mehr aufzuhalten vermochte.

Die Geschichte mit Fritz wie auch die nachfolgende mit Alexandra waren für uns beim Schreiben dieses Buches am schwierigsten zu bearbeiten. Vermutlich liegt das an unserem Gefühl, in diesen beiden Situationen am meisten gescheitert zu sein. Für Marlies ist es die bitterste Erfahrungen in ihrem Arbeitsleben, dass sie, gerade als sie zusammen mit Fritz in mühsamer Kleinarbeit (wie im folgenden Bericht beschrieben wird) erste Ansätze einer Beziehung entwickelt hatte, ihre Arbeit aufgeben musste.

Fritz

Fritz gehörte nicht zu den Mitgliedern der MIM-Gruppe. Diese war inzwischen aufgelöst, und Irene und Marlies arbeiteten in verschiedenen Wohngruppen. Marlies und eine ihrer neuen Kolleginnen stellte ihn im Rahmen eines meiner Seminare an der Universität Innsbruck vor. Das Seminar wurde in zwei Wochenendblöcken abgehalten. Die Studierenden waren schon in der Vorbereitung des Seminars aufgefordert, aus eigenen Erfahrungen in Praktika oder bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen Beispiele gestörter Interaktionen zu notieren und gegebenenfalls im Seminar in Rollenspielen einzubringen. Das Beispiel stammt vom ersten Tag des ersten Blockes und ist das Erste überhaupt, welches im Seminar erarbeitet wird.

Fritz ist ein sehr großer und kräftiger geistig behinderter Mann von Mitte Dreißig. Er lebt seit über 20 Jahren in der psychiatrischen Anstalt, und seit Kurzem in einer ganztägig betreuten Ausgliederungs-Wohngruppe. In dieser neuen Situation treten nun zunehmend Schwierigkeiten auf, und zwar auf Grund eines Rituals, dessen Ursprung nicht mehr zurückdatiert werden kann, da niemand sich an eine Zeit ohne dieses Ritual erinnert. Dieses Ritual, in Psychiatrie-Zeiten unhinterfragt ausagiert, so der Bericht, erzeugt ein zunehmendes Unbehagen beim Personal der Wohngruppe, während es früher als notwendiger Bestandteil von Fritzens Leben einfach hingenommen wurde. Es gehört dazu eine konstant wiederholte Lüge, ein Versprechen, das nicht eingehalten werden kann, und dieser Umstand lässt sich mit den neuen Idealen von Integration und Respekt vor den Betreuten nicht vereinbaren. Die Betreuerinnen des Teams haben daher wiederholt ansatzweise versucht, die Lüge zu verweigern, mussten diese Versuche jedoch völlig aufgeben, weil die Weigerung bei Fritz jedes Mal fatale Tobsuchtsanfälle auszulösen drohte; Anfälle, in welchen er wahllos alle Menschen um sich herum gefährlich angriff, und auf Grund seiner Körperkraft keine andere Möglichkeit bestand, als ihn dann mit mehreren Männern niederzuringen, festzuhalten und ihn massiv einzusedieren. In der WG haben wegen dieser Tobsuchtsanfälle fast alle, Bewohnerinnen wie Betreuerinnen, panische Angst vor Fritz, und immer wieder ergeben sich im Team Konflikte aus der Situation mit ihm.

Nach dem Bericht wird nun im Rollenspiel eine Szene dargestellt: Das morgendliche Frühstück, »Fritz« gemeinsam mit zwei weiteren »Bewohnern« »M.« und »N.« und einer Betreuerin »Marlies«:

Fritz (kommt zum Frühstück in die Küche, ignoriert die Anwesenheit seiner Mitbewohner völlig): »Marlies, wann kann i hoamgehn? - i will hoam!«

Marlies: »Geh, jetzt tu erst amal frühstücken!«

Fritz, schon drängender: »I wills aber wissen, i will aber hoam!«

Marlies: »Geh, setz di hin. Jetzt kannst net hoam, aber vielleicht in drei Tag.« Fritz: »In drei Tag kann i hoamgehn?«

Marlies: »In drei Tag. Schau, noch drei Mal schlafen, dann kannst hoam!«

Fritz, haut auf den Tisch: »Du, i werd wütig, nit in drei Tag, i will jetzt hoamgehn!«

Marlies: »Geh, Fritz, schau, noch drei Mal schlafen (zeigt mit den Fingern an:) einmal, zwei Mal, drei Mal, dann kannst hoamgehn!«

Fritz (macht die Geste mit, zählt mit, sehr angespannt): »Hoam zur Mama, zum Papa, zur X (die Schwester)!«

Marlies bestätigt »zur Mama« etc., zählt noch einmal mit ihm die drei Nächte ab, mit gleicher Gestik.

Fritz findet bei diesem Tun allmählich in eine angespannte Ruhe.

Marlies: »Geh, da setz di hin, hier hast’ Kaffee!«

Im anschließenden Gruppengespräch fällt auf, dass die von mir vorgegebene Psychodrama-Regel (nicht von außen, sondern nur aus der Identifikation heraus die Szene kommentieren, etwa »ich als Fritz fühlte/dachte/wollte«) von Beginn an, und auch nach wiederholter Aufforderung, nicht beachtet wird. Lediglich die Spielerinnen der Mitbewohner »M.« und »N.« können von sich erzählen, und zwar sagen sie, dass sie sich absolut vom Geschehen ausgeschlossen gefühlt und den Eindruck gehabt haben, dass sie in keiner Weise darauf Einfluss nehmen konnten. Im weiteren Verlauf spielen sie denn auch keinerlei Rolle mehr, die das Geschehen zwischen Fritz und der Betreuerin, und zwischen denjenigen, die in der Seminargruppe sich mit der einen oder anderen Seite identifizieren, in irgendeiner Weise relativieren könnte.

Es ergibt sich im Seminar ein Frage-und-Antwort-Spiel. Die Zuschauerinnen fragen, die Spielerinnen von Fritz und Marlies antworten. Zunächst die Frage, warum Fritz nicht einfach nachhause fahren könne – darauf die Antwort: Er sei schon seit vielen jähren nicht mehr zuhause gewesen, da dies seine Familie ihm verweigere, aus Angst vor seinen aggressiven Ausbrüchen. Daran wird zunächst von der Gruppe gezweifelt, und die Betreuerinnen fühlen sich gedrängt, weitere Indizien dafür zu erbringen, dass sein »Zuhause« für Fritz in Wirklichkeit alles andere als gut sei. Fritz ist in den ersten Lebensjahren bei der Oma aufgewachsen. Vor dieser Oma habe er bis heute panische Angst, bei Gelegenheit äußere er Angst davor, dass man ihn zur Oma – und also »nachhause« – schicken könnte: »gell, schickst mi net zur Oma?« Diese Frage äußere er in gleicher Weise drängend wie die nach dem »heimgehen«, auch sie müsse unbedingt bestätigend beantwortet werden. Es sei nicht bekannt, ob überhaupt und wie viel Kontakt er je zu seinen Eltern hatte, die noch lebten, aber sich in keiner Weise um ihn bemüht zeigten. Lediglich seine Schwester komme gelegentlich, ihn zu besuchen. Diese Besuche der Schwester seien meist recht schwierig verlaufen, entweder habe er ihr den Kontakt völlig verweigert, oder aber er sei hinterher noch angespannter als sonst gewesen.

Als diese Fragen nicht weiterbringen, werden von der Gruppe nun Vorschläge gemacht, wie die Lüge zu vermeiden sei. jeder dieser Vorschläge wird von den Protagonistinnen sogleich als völlig undurchführbar zurückgewiesen. Als Nächstes wird die Frage gestellt, ob Fritz nie misstrauisch werde, wenn immer wieder von »noch drei Mal schlafen« die Rede sei, ob er kein Zeitgefühl habe, nicht zählen könne, ob er also so dumm sei, dass er die Lüge gar nicht bemerke. Darauf erzählen die Betreuerinnen, dass er zuweilen morgens besonders unruhig aufwache und dann kategorisch verlange, dass es jetzt nur noch zwei Nächte zu schlafen seien. Dies sei ein unweigerliches Vorzeichen für einen Tobsuchtsanfall, man müsse dann sofort versuchen ihn wieder auf die »Drei« zu bringen, und sollte dies scheitern bliebe nur noch die Möglichkeit des Einsedierens mit Zusatzmedikation.

Während dieses Gruppengesprächs stellt sich bei mir ein wachsendes Unbehagen ein. Das Frage-Antwort-Spiel erscheint völlig unfruchtbar, trotz der darin nachgereichten Informationen über Fritz. Die Ohnmacht der Gruppe einerseits, die mit ihren Fragen und Vorschlägen ins Leere läuft, die defensive Reaktion der Betreuerinnen, die sich von den Vorschlägen und Fragen völlig unverstanden und aufs Äußerste in die Enge gedrängt fühlen, machen mich unruhig, ebenso wie meine eigene Unfähigkeit, die von mir gesetzte Spielregel durchzusetzen. Ich muss daran denken, dass ich mit dieser riesigen Gruppe noch weitere drei ganze Tage werde arbeiten müssen, und ich fürchte, dass die Geschichte von Fritz das Seminar sprengen werde. So bekomme ich zunehmend Angst vor der Größe und Übermacht der Seminargruppe.

In diesem Geschehen fällt als erste interaktive Struktur die wiederholte Betonung einer bedrohlichen Übermacht auf: In der Angst der Betreuenden vor Fritzens Wutanfällen; in meiner Gegenübertragungsangst vor der Übermacht der Seminargruppe; in der Schilderung dessen, wie der tobende Fritz überwältigt wird, und wie die Sedierung auf ihn wirkt; schließlich in der Art, wie die Seminargruppe die Protagonistinnen mit ihren Fragen und Vorschlägen in die Enge treibt, und umgekehrt: wie letztere mit ihrem Informationsmonopol alle Fragen und Vorschläge abschmettern. – Ebenfalls auf mehrfacher Ebene finden wir das komplementäre Erlebnis von Ohnmacht dargestellt: Die Betreuerinnen sehen sich gezwungen, etwas zu tun, was ihren integrativen Intentionen absolut zuwiderläuft; die Seminargruppe ist ohnmächtig angesichts des Informationsvorsprungs und des Handlungsmonopols der Protagonistinnen; in meiner Gegenübertragung taucht die Ohnmacht als Fantasie auf, dass ich das Geschehen im Seminar nicht im Griff habe, dass ich eine Regel setze, welche dann überhaupt keine Beachtung findet etc.; in der dargestellten Szene kommt Fritz den Aufforderungen der Betreuerin in keiner Weise nach, hört überhaupt nicht auf das, was sie sagt, solange sie nicht genau das sagt, was er hören muss.

Wir können also beobachten, wie sich Fritzens Spaltung zwischen dem ersehnten und dem gefürchteten »Nach-Hause« in seinem Lebensumfeld und auch in der Seminargruppe abbildet: Hie die ohnmächtigen Fragenden, dort die Betreuerinnen, die das Heft in der Hand haben; hie die gute Wohngruppe, dort das böse, übermächtige »Nachhause«; hie die Seminarleiterin, dort die übermächtige Seminargruppe. Das Gute ist ohnmächtig, das Böse übermächtig.

Zugleich zeichnet sich hier eine Situation ab, in welcher der subjektive Impuls in der Welt keinerlei Resonanz findet, in welcher das Beziehungsobjekt also unerreichbar, in dieser Unerreichbarkeit jedoch unermesslich mächtig ist. Ein Subjekt, so lässt sich diese situative Struktur beschreiben, erlebt sich einer Übermacht von bedrohlichem Ausmaß gegenüber; dieses Bedrohliche verkörpert sich nun in einem Beziehungsobjekt – in Fritz, der in Toben auszubrechen droht, in der Seminargruppe, der ich mich ausgeliefert fühle, in der Gruppe der Zuschauenden, die mit ihren Fragen und moralischen Wertungen die Protagonistinnen der Szene in die Enge treiben. Dies aber heißt letztendlich, dass das Subjekt akut von Vernichtung bedroht ist, dass es keinen Ort mehr hat, von dem her es sich als ein »ich« erleben kann, das sich auf seine Welt bezieht, das Wünsche hat und mit seinen Intentionen bestimmend in die Welt eingreifen kann. Übermächtig ist hier nicht Fritz, aber auch nicht die Betreuerin, nicht die Seminarleiterin, aber auch nicht die Seminargruppe: Übermächtig ist hier lediglich die Situation, die sich mit einer Zwangsläufigkeit auf allen Ebenen der Interaktion durchsetzt. Jedes mögliche »ich« ist angesichts der Übermacht ihrer Struktur außer Kraft gesetzt.

Dazu fallen mir die vielen Situationen ein, in denen Fritz spürbar kurz vor einem Ausbruch stand: Wir befinden uns im Wohnzimmer der WG, viele Mitbewohnerinnen sind anwesend, ich stehe Fritz gegenüber und versuche ihn zu beruhigen. Ich fühle mich wie unter einer Glasglocke mit ihm und muss äußerst vorsichtig sein, was ich sage, denn beim ersten falschen Wort explodiert Fritz und die Glasglocke zerspringt. Gleichzeitig sehe ich die anderen Personen im Raum, spüre ihre Angst und will sie schützen. Alles jedoch, was sich außerhalb der Glasglocke mit Fritz abspielt, wirkt vollkommen verlangsamt, unwirklich, wie in Zeitlupe.

Wir haben von dieser Übermacht der Szenen und situativen Strukturen schon im Bericht über Gudrun erfahren. Hier kann diese Übermacht sich noch einmal deutlicher darstellen: Der zerstörerische Lebensentwurf, welcher Fritz und seine Wohngruppe ergriffen hat und beherrscht, muss, wenn er im Rollenspiel in den Kontext des Seminars eingeholt wird, sich zunächst unter Verteilung der zugehörigen Rollen noch einmal durchsetzen. Das Seminar dient dann sozusagen als Bühne, auf der die unbewusste Szenerie Gelegenheit geboten bekommt, sich darzustellen. Die Chance einer solchen Reinszenierung besteht nun darin, dass hier die sich durchsetzenden Zwänge der situativen Struktur nicht mehr von realen Ängsten angetrieben werden, sondern sich allein in der Fantasie der Beteiligten abspielen. Fritzens Körperkraft etwa stellt hier keine reale Bedrohung dar, sondern ist lediglich als Vorstellung gegenwärtig. Damit können solche Zwänge viel leichter erkannt und benannt werden. Nicht selbstverständlich ist freilich, wie wir noch sehen werden, dass das im privilegierten Setting erarbeitete Verstehen sich auch in den Alltag zurückübersetzen lässt.

Zurück zu unserem Beispiel: Resultat der dargestellten Interaktionssituation ist Überwältigung und Vernichtung des handelnden Subjekts der Szene. Eine Alternative ist nicht in Sicht, und zwar deshalb nicht, weil die zerstörerische Struktur nicht etwa durch Flucht vermieden werden kann – die Betreuerinnen können der Auseinandersetzung mit Fritz weder ausweichen, noch können sie auf ihre Ideale von Integration verzichten; ich selbst kann mir als Seminarleiterin keine andere Seminargruppe aussuchen; Fritz kann auf das »Nachhause« nicht verzichten, welches jedoch zugleich für ihn äußerste Bedrohung bedeutet.

Auch die Protagonistinnen des Rollenspiels können den Fragen und moralischen Wertungen nicht ausweichen, und dies nicht nur deswegen nicht, weil sie mit den Fragenden in einer Seminargruppe sind und das bewusste Lernziel mit ihnen teilen. Die Notlage verschärft sich erheblich, weil die moralischen Wertungen, die sich ihnen hier nun als vernichtende Waffen entgegenstellen, ihre eigenen Ideale, die Ideale der integrativen Pädagogik sind, die zu verraten sie sich wieder und wieder durch die Inszenierung mit Fritz gezwungen sehen.

Die Seminargruppe einerseits, die beiden Betreuerinnen andererseits, nehmen auf den unterschiedlichen Ebenen einmal die Rolle der Drohung, ein andermal die der Bedrohten ein, so wie auch Fritz sich als bedroht erlebt, während er zugleich seine Umgebung bedroht. Das Beziehungsobjekt verkörpert in all diesen Konstellationen sowohl die Vernichtung des Selbst als auch dessen einzig mögliche Rettung, und zwar deshalb, weil in ihm, und nur in ihm, das Eigene (die integrativen Ideale, die Verwirklichung der integrationspädagogischen Aufgabe, der Seminar-Erfolg, das »Nachhause«) wiedergefunden werden kann. In dieser Situation kann nur Fritz die Bestätigung liefern, dass die Betreuerin »richtig« arbeitet – kann nur die Betreuerin Fritz bestätigen, dass sein Wunsch nach einem »Zuhause« »richtig« ist. Dies macht das Objekt so unausweichlich mächtig, und dies lässt es zugleich so unerreichbar erscheinen. Wir finden hier also wiederum die »dyadische Konfrontation« vor. In dieser Konstellation gibt es kein Außerhalb der Situation, welches diese relativieren könnte. Die inszenierte Situation ist totalitär, d.h. beide können letztlich nur bestehen, indem sie sich der Übermacht des Gegenüber völlig unterwerfen – Fritz der »Lüge«, die Betreuerin der Forderung nach der »Lüge«.

Exkurs über die Repräsentanz des Fremden

Mario Erdheim[36] hat einen Begriff geprägt, der für die integrationspädagogische Arbeit von großer Bedeutung ist: den der Repräsentanz des Fremden. Damit ist eine innerseelische Konfiguration gemeint, die neben den Selbst- und Objektrepräsentanzen ein Drittes darstellt. Sie ist für die Loslösung des Individuums aus dem familialen System, für die Ausbildung einer »dritten Position« und damit eines Bewusstseins, welches sich selbst betrachten kann, letztlich für alles Lernen, für alle Autonomie des Subjekts ein entscheidender Faktor. Sie kann in der Sozialisation nur ausgebildet werden, wenn sich der innerfamiliale Raum ins Außen der Kultur öffnet und damit dem Fremden Einlass gewährt. Dies ist von Umständen abhängig, die gerade im Falle von geistiger Behinderung off übermächtigen Einschränkungen unterliegen. Es handelt sich um Einschränkungen, die ihre Wurzeln in den sozialisatorischen Bedingungen haben, unter denen geistige Behinderung entsteht. Allzu off sind diese Bedingungen geeignet, das Familiensystem zu einem paranoiden Zusammenschluss zu veranlassen, vermittels dessen alles Bedrohliche ins Außen projiziert werden muss. Dies betrifft vor allem aggressive Fantasien gegenüber dem geistig behindert werdenden Kind, die, verstärkt durch den »gesellschaftlichen Mordauftrag«, angesichts der besonderen Wehrlosigkeit des Kindes unerträglich geworden sind. Solche pathologischen Vorgänge im haltenden familialen Umfeld hinterlassen ihre Spuren als Defekt in der inneren Strukturbildung des geistig behindert werdenden Menschen – als das, was ich das »kindsmörderische Introjekt« nenne. Dieses Introjekt bringt sich dann in allem integrativen Bemühen als Wiederholungszwang zur Geltung.

Es ist leicht ersichtlich, inwiefern sich das Fehlen der triadischen Figur der »Repräsentanz des Fremden« zerstörerisch auswirken muss. Eine Lösung von Konflikten kann dann nur in der Spaltung bestehen, also in jener Abwehrkonfiguration, die uns schon bei Gudrun begegnete. Die Spaltung wird typischerweise in der Primärsozialisation als eine Unterscheidung zwischen Familie und Außenwelt eingerichtet. Wenn das Kleinkind sich in irgendeiner Weise unsicher oder bedroht fühlt, wird es in die Abhängigkeit von den beschützenden Elternfiguren zu fliehen suchen und das Außerhalb der Familie als Ort der Gefahren und des potenziell Bösen betrachten. So besteht die Spaltung in der Einrichtung eines guten Innen in Form einer dyadisch-haltenden Familienkonstellation und der Projektion alles Bösen in ein feindliches Außen. Diese Konstellation können wir die »Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus« nennen: Alles Fremde gilt ihr als feindlich, alles Bekannte als gut.

Wie wir bereits sahen, sind Spaltungsvorgänge in pädagogisch-betreuerischen Verhältnissen häufig ein bestimmender Faktor. Indem die »Institution Geistigbehindertsein« hier ihren Auftrag unterbringt, Tötungsfantasien unbewusst zu machen und zugleich auszuagieren, sorgt sie dafür, dass die entsprechenden Einrichtungen nach Art einer Reaktionsbildung sich als »heile Familie« einrichten und selbst verstehen. Damit aber wird eine pädagogische Allmachtsfantasie, eine Hybris errichtet, die es unmöglich macht, negative Affekte innerhalb dieses »nur-guten Innen« zu halten und zu ertragen. Sie müssen nach außen projiziert werden – als »die böse Psychiatrie«, »die böse Primärfamilie«, oder auch einfach nur als »das böse Organische«.

In der primären Sozialisation ist die Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus eine vorübergehend eingenommene Position, welche, wenn die Entwicklung kreativ voranschreiten kann, fortlaufend überschritten wird. Sie muss überschritten werden, damit sie nicht wiederum zur dyadischen Konfrontation erstarrt. Das Überschreiten geschieht im Zuge und mit Hilfe der Einrichtung einer triangulären Version der Repräsentanz des Fremden: Es werden im geschützten familiären Rahmen Erfahrungen eines Einbruchs gemacht, die Ängste und Aggressionen auslösen. Diese Einbrüche finden keineswegs nur von außen statt – auch unbewältigter Körperbedarf kann als solcher erlebt werden. Damit diese Affekte den Säugling oder das Kleinkind nicht überwältigen, müssen solche Einbruchserfahrungen in tröstenden, beschwichtigenden, stützenden Interaktionen aufgehoben werden. Dabei können zwei höchst bedeutsame Aspekte erlebt und zunehmend als Erfahrung integriert werden: Die In-Frage-Stellung der Allmacht der Elternfiguren – diese können den Einbruch ja nicht verhindern – und das tröstliche Erlebnis, dass das Einbrechende doch noch aufgehoben werden kann. Beides zusammen sorgt dafür, dass das fremde Außen sich zunehmend mit Bedeutung füllen und neugieriges Interesse auslösen kann – dass also eine Repräsentanz des Fremden entsteht, die fortan gegenüber der dyadisch-geschlossenen innerfamilialen Situation triangulierende Funktion übernehmen wird.

Erdheim macht nun auch deutlich, dass das Fremde schon in der Primärsozialisation nicht etwa nur das Außen ist: Das Neugeborene selbst ist ein Fremdes, welches sich in der Familie einfindet und in seiner Eigenart Beachtung erfordert. Wo immer es der elterlichen Bezugsperson gelingt, diesem Fremden Rechnung zu tragen, wird das Kind seine eigenen Impulse als sein Vermögen, auf die Welt einzuwirken, kennen lernen. Diese Erfahrung wird dafür sorgen, dass auch das von Außen in die dyadische Beziehung Einbrechende zunehmend als etwas erlebt werden kann, welches Interesse und Neugierde erweckt. Damit kann die Spaltung immer wieder überschritten werden. Wo freilich die Fremdheit des Kindes das Fassungsvermögen der primären Bezugsperson überfordert, werden sich Spaltungen perpetuieren – und diese werden im Extremfall sich im kindsmörderischen Introjekt zur Geltung bringen müssen.

Erst dann kann die Chance des Fremden wahrgenommen werden, wenn es gelingt, die Einbrüche zunächst im dyadischen Interagieren, dann aber zunehmend auch in je eigener Aktivität aufzufangen und umzuwandeln. Wenn dagegen die »Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus« unmodifiziert bleibt, muss die dyadisch-familiale Geschlossenheit zur dyadischen Konfrontation erstarren. Für die Ausbildung einer subjektiven Identität sind Aggression und Autonomiebestreben unverzichtbar, und das Auftreten aggressiver Affekte führt notwendig immer wieder zu Einbrüchen in die dyadische Einheit. Wenn diese Affekte dauernd ungehalten bleiben, dann können sie nur ins Außen projiziert werden. Von dort aus entfalten sie dann eine gefährliche Virulenz.

Die Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus ist also eine zwar vorübergehend notwendige, jedoch durchaus problematische Konstellation. Wo sie nicht überschritten werden kann, muss sie zu massiven Einschränkungen der Neugier und damit der intellektuellen Entwicklung führen. Sie kann nun immer dort nicht überschritten werden, wo ein kindsmörderisches Introjekt in Kraft ist. Wenn etwa, wie wir im Falle von Gudrun angenommen haben, dieses Introjekt die Vorstellung beinhaltet, dass der eigene Lebensimpuls im Totstellreflex erstickt werden muss, damit er sich nicht unmittelbar lebensvernichtend auswirken kann, dann wird jeder Einbruch eines Fremden in das unendliche Kontinuum des »schwebenden Nichtseins«, der ja geeignet ist, eine Reaktion und damit einen als eigen erlebten Impuls auszulösen, zu einer Bedrohung, die nur durch Spaltung abgewehrt werden kann. Wir sahen bei Gudrun, dass diese Spaltung zunächst von ihr und Marlies zum Schutz der dyadischen Innigkeit ihrer Beziehung eingerichtet wurde. So musste Gudrun Marlies nicht als Einbrecherin in ihre philobatische Unendlichkeit, und Marlies Gudrun nicht als abweisend und unliebenswert erleben. Vielmehr dienten beiden gemeinsam Gudruns schlimme Erfahrungen in der Psychiatrie als Projektionsschild, vor dessen Hintergrund ihre Gemeinsamkeit als Fantasie eines Nur-Guten möglich wurde. Wir sahen jedoch auch, wie wichtig es war, dass im weiteren Verlauf diese Spaltung in differenziertere Erlebensmöglichkeiten wieder aufgelöst werden konnte, dass es gelang, auch aggressive Aspekte von Gudruns Erleben ins dyadische Feld und schließlich in Gudruns Selbstkonzept zu integrieren.

Für die weitere Ausbildung der Repräsentanz des Fremden, für ihre Etablierung als eine triadische Konfiguration des Erlebens, ist von entscheidender Bedeutung, inwieweit Aspekte des vormals Fremden als eigen anerkannt bzw. angeeignet werden können, sodass fortan das Fremde als etwas erscheint, das potenziell ein Vertrautes werden kann. Hierfür ist nun ein integrativer Prozess zuständig, den ich in meinem »Versuch über das Okkulte« (2001) eingehend dargestellt habe. Dort konnte ich zeigen, dass die Entwicklung eines autonomen, selbstreflexiven Bewusstseins wesentlich auf einer bestimmten Verarbeitung der Urszene[37] beruht. Das Kleinkind ist von der Urszene – der fantasierten oder beobachteten elterlichen Sexualität – ausgeschlossen. Ob diese fantasiert oder auch real beobachtet wird, spielt hierbei eine untergeordnete Rolle. Das Kind muss sich gegenüber dem elterlichen Akt als Außenstehendes, und also Fremdes erleben; es muss lernen, dieses Ausgeschlossensein zu ertragen, wiewohl es von dem Geschehen, sei es nun real oder fantasiert, heftig affiziert und erregt wird. Nur wenn es sich als ausgeschlossen erleben kann, wird es das Urszenen-Erleben in seiner triadischen Struktur begreifen. Die Urszene wird ihm zu einem Geschehen zwischen einem Subjekt und einem Objekt, welches von ihm selbst als einem Dritten von außen beobachtet wird, während es sich zugleich mit beiden Positionen identifizieren kann. Das Ausgeschlossensein trotz aller eigenen Erregung zu ertragen, ist eine schwierig zu bewältigende Aufgabe, die sich jedem Kind stellt. Wenn sie in der Vorstellung erlebt und ertragen ist, wird die Urszene zum Urmodell unseres Denkens in der Grammatik von Subjekt-Objekt-Prädikat. Indem in diesem Urmodell das kindliche Subjekt seine Position im Außen – als ein »ich-sehe/ich-denke mir« (was die Eltern miteinander tun) – einnimmt, und zugleich erträgt, dass das Geschehen es im Innersten affiziert und erregt, kann ihm nun das, was Subjekt und Objekt miteinander tun, ganz allgemein zum Gegenstand des Denkens werden. Nur auf Grund der Integration dieser triadischen Struktur kann es schließlich auch gegenüber sich selbst die »dritte Position« des Denkens einnehmen, und d.h. über seine eigene Identität als Subjekt oder Objekt einer Szene nachdenken lernen.

Das Kind nimmt also in der Urszene die Position des Außenstehenden, des Fremden ein. Weil es sich selbst in dieser Position kennen gelernt hat, kann es nun auch Fremdes über identifikatorische Prozesse sich zueigen machen, kann es lernen. Erst eine Repräsentanz des Fremden, die diesen Aspekt von eigenem Erleben beinhaltet, die sich im erregend-faszinierenden Geschehen der Urszene zur triadischen Figur ausbildete, wird tragfähig genug sein, sich in der Auseinandersetzung mit der Welt zu bewähren.

Das Ertragen des Ausgeschlossenseins in der Urszene ist für alle Aspekte des Denkens von Bedeutung; zentral ist es für die Entwicklung des Zeitgefühls und der eigenen, in der Zeit durchgehaltenen Identität. In dem beobachteten oder fantasierten Geschehen zwischen zwei Elternfiguren kann das Kind sowohl seinen Ursprung, seine Herkunft aus einem Zeugungsakt in der Vergangenheit bestimmen, als auch seine Zukunft, seine eigene Subjektposition im Urszenengeschehen identifikatorisch vorweg nehmen und sich damit in zeitlich sich durchhaltender Identität selbst entwerfen.

Damit das Ausgeschlossensein ertragen werden kann, muss die Repräsentanz des Fremden nach und nach im Innen des Subjekts als ein Konzept die Funktion des containing übernehmen kann, die bis dahin von der dyadischen Partnerin übernommen werden musste. Während also die Repräsentanz des Fremden im triadischen Modus entscheidend von der Verarbeitung der Ausgeschlossenseins abhängt, so ist umgekehrt die Fähigkeit zum Ertragen des Ausgeschlossenseins wiederum abhängig von deren fortschreitender Ausbildung.

Wenn eine solche Konfiguration nicht in ausreichendem Ausmaß ausgebildet werden konnte, kann die Konfrontation mit dem faszinierend-erregenden Fremden (der Urszene) nicht bewältigt werden. Sie muss dann eine Regression auf den Spaltungsmodus der Repräsentanz des Fremden erzwingen, und diese geht mit einer unauflösbaren Abhängigkeit vom Primärobjekt einher.

Der entscheidende Unterschied zwischen dem Spaltungsmodus und der triadischen Figur liegt darin, dass erstere auf einer regressiven Verschmelzung mit dem dyadischen Objekt beruht, und also abhängig macht, während letztere als innere Konfiguration die haltende Funktion des dyadischen Objekts übernimmt und damit die Autonomie des Subjekts begründet.

Die Unterscheidung zwischen der dyadisch und der triadisch strukturierten Repräsentanz des Fremden versetzt uns nun in die Lage, die typische und sehr tückische Falle zu beschreiben, der pädagogisches Handeln allzu häufig aufsitzt: das Bestreben, in einer Wohngruppe eine Art »heile Familie« darzustellen, und damit alles Bedrohliche projektiv ins Außen zu verbannen. Es wird dadurch in den Betreuten die Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus aufgerufen und als Muster ihrer Übertragung auf die Gruppe festgelegt. Damit sind alle die Wiederholungszwänge, die sich mit frühen Einbruchserfahrungen verbinden, und insbesondere natürlich das kindsmörderische Introjekt, als Auszuschließendes im Bezug des betreuenden Teams zur Wohngruppe festgelegt. Dies hat zur Folge, dass das erwachsene Autonomie-Bestreben der Betreuten, mit welchem sie sich gegen die Behandlung als Kinder in einer Familienkonstellation zur Wehr setzen, nur noch als Symptom erlebt und nur noch ins fantasierte Außen abgedrängt werden kann. Von dem Ort der Projektion aus muss das Autonomiebestreben dann als dauernde Bedrohung des familialen Friedens sich ins Spiel bringen.

Exemplarisch konnten wir dies an dem Umgang des MIM-Teams mit Marks Sexualisierungen sehen. Erst als es dem Team gelang, in Marks Onanieren seine Selbstbehauptung als ein erwachsener Mann anzuerkennen – und zwar dadurch anzuerkennen, dass die Frauen sich nicht mehr in betreuerischem Märtyrertum zu seinem Opfer machten und ihn damit dämonisierten – konnte er auf das Provokante seines Gebarens verzichten und so auch seine Intimität wahren.

Dem Vorgang des geistig behindert Werdens liegen demnach mehrere Faktoren zu Grunde, die sich als Wiederholungszwänge in pädagogischen Interaktionen zur Geltung bringen: Jenen, den ich in »Namenlos« als die Nicht-Auslösung der Leibgebundenheit des Erlebens, des Reflexhaften im »kindsmörderischen Introjekt« beschrieben habe[38] – er macht sich in pädagogischen Interaktionen als ständige Auslösung von Reiz- Reaktions-Kreisen bemerkbar; jenen der vom Spaltungsmodus blockierten Lust am Fremden - dies wird spürbar an allen Ritualisierungen, auf Grund derer sich die Wohnsituation in immergleichem Rhythmus abspielt, der nichts Neues, Überraschendes mehr zulässt; und schließlich jenen der regressiven Vermeidung des Ausgeschlossenseins, die sich als Einrichtung einer »heilen Familie« tarnt. Der Erhaltung dieser Situation dient die Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus, die es daher in der pädagogischen Arbeit zu reflektieren und zu überwinden gilt.

Das Fantasma vom »Heiligen Kind«

Verfolgen wir nach diesen theoretischen Erörterungen den Bericht über das Rollenspiel mit Fritz weiter:

Während ich mit meinen Gegenübertragungsfantasien über den fatalen Seminarverlauf beschäftigt bin, gehen mir beiläufig Gedanken an das Hilfreiche einer Triangulierung und an zerstörerische, weil unentrinnbar-konfrontative dyadische Interaktionsmuster durch den Kopf; dazu Sehnsucht nach irgendetwas Befreiendem, dem »Vater der frühen Triangulierung«. In meiner Bedrängnis – wie soll ich mit der Katastrophe einer gesprengten Gruppe während der nächsten drei Seminar- Tage umgehen? ein Albtraum! – halte ich mich in meiner Vorstellung immer wieder am Anblick der Geste fest, mit welcher die beiden in der Szene Agierenden die »Drei-Tage« dargestellt hatten: Darin lag doch etwas Beschwörendes, etwas irgendwie Verheißungsvolles!

Schließlich versuche ich mit einer ersten Formulierung des von mir Wahrgenommenen in die Gruppensituation einzugreifen: Mir falle auf, dass es offenbar nicht möglich sei, sich auf die vorgegebene Regel einzulassen und in Identifikation mit »Fritz« oder »Marlies« zu sprechen. Dies sei offenbar auf irgendeine Weise unmöglich oder unerträglich. Stattdessen sähe ich eine Spaltung der Gruppe sich ereignen, in welcher die einen etwas unbedingt brauchten und forderten, und die anderen sich hoffnungslos davon überfordert und zugleich auf unerträgliche Weise unverstanden fühlten.

Hierauf herrscht eine Weile Schweigen. Ich habe das Gefühl, den immensen Erwartungen nach einer erlösenden Formulierung noch nicht genügt zu haben und den Fantasien der Gruppe noch mehr Kontur geben zu müssen. So frage ich, welchen Eindruck die Gestik beim Aufzählen des »noch drei Mal schlafen« auf die Beobachtenden gemacht habe. Hier kommen jetzt zögernd Bemerkungen, zunächst noch von außen – es habe sich angefühlt, als wohne man da einem intimen Akt bei, bei dem niemand Drittes zugegen sein dürfe – dann mehr und mehr auch in der Identifikation, wenn auch noch immer nicht in der von der Regel verlangten Ichform: etwas Heiliges sei davon ausgegangen, man habe eine Stimmung wie »als Kind drei Tage vor Weihnachten« erlebt, eine Erwartung des Allerheiligsten, aber andererseits auch eine Furcht erregende Erwartung wie bei einem Count Down: Was kommt im Rückwärtszählen nach der Zwei? die Totalkatastrophe, der Super-Gau? Als sei die Drei eine magische Zahl, die gegen eine Katastrophe schütze, eine Grenze, die nicht überschritten werden dürfe. – Insgesamt wird nun die Gruppensituation lebendiger und kreativer.

Hier erhält die im ersten Teil der Gruppensituation manifest gewordene Spaltung erste Bilder – die Fantasie vom Allerheiligsten, von froher Erwartung der Ankunft des heiligen Kindes einerseits, vom count down zur totalen Katastrophe andererseits, bezeichnen deren Gegensätze. Die beiden Fantasien präsentieren sich als Umkehrung der jeweils anderen, genauer, als Umkehrung von Passivität in Aktivität des Subjekts unserer Situation: Wenn die Betreuerin für Fritz die Rolle der aktiv Handelnden übernimmt, dann zählt sie von eins bis zur erlösenden Drei; wenn Fritz selbst zählt, dann von der drei zurück, als count down. Anders gesagt: wenn Fritz den mit dem Zählen transportierten Affekt in die Betreuerin verlagern kann, verwandelt der Affekt sich in die Fantasie vom geheiligten Kind, dessen Ankunft in der ganzen Welt erwartet wird.

Wenn er jedoch erleben muss, dass er mit seinem Impuls nicht »ankommt«, wird die Versagung des Wunsches, »heimgehen« zu können, zur Androhung des Überwältigtwerdens durch einen sich in Zerstörungswut verwandelnden Impuls. Deutlich wird, dass »heim gehen können« in seiner Bedeutung jederzeit kippen kann, dass die Formulierung sich in einem höchst fragilen Gleichgewicht halten muss, damit sie nicht zum Schlimmsten wird, zum »schickst mi hoam«, nämlich in totales Ausgeliefertsein.

Es zeichnet sich das Bild eines versuchten und misslingenden Vorganges des dyadischen Haltens, des containing ab, in welchem das Subjekt einen von ihm nicht zu haltenden Impuls in sein Beziehungsobjekt zu verlagern sucht – Fritz in die Betreuerin, die Betreuerinnen/Protagonistinnen der Szene in die Seminargruppe; aber auch umgekehrt die Betreuerinnen in Fritz, die Seminargruppe in die Protagonistinnen, schließlich in meiner Gegenübertragung ich selbst in die Gruppe, und umgekehrt, die Gruppe mit ihrer Idealisierung und ihren Erwartungen an ein umfassend erlösendes Verstehen in mich – und dabei immer wieder scheitert. Insgesamt erscheint die Situation wie die eines Kleinkindes, welches im Angesicht der Urszene von überwältigenden Affekten akut bedroht wird. Die Situation zeigt uns einen Fritz, dem noch keine innere Repräsentanz von einer haltenden Umwelt zur Verfügung steht, und der daher das Ausgeschlossensein von seinem »Nachhause« nicht ertragen kann. So muss es ihm darum gehen, seine Affekte im dyadischen Gegenüber »nachhause« zu bringen; wenn dies nicht gelingt, dann kann nur Überwältigung und völlige Zerstörung der Situation resultieren.

Der in der Szene dargestellte Versuch einer Lösung besteht nun darin, dass Fritz und Betreuerin sich auf die Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus einigen. Das Außen, das Fremde, ist dabei zum Einen in Fritz selbst auszumachen: Seine Wut, seine Tobsuchtsanfälle müssen ins Außen gedrängt werden, nur der »artige«, der von Medikamenten ruhig gestellte (der tot gestellte) Fritz hat Platz in der WG. Zum Andern ist das Außen aber auch die böse Herkunftsfamilie, während sich die WG zur guten, heilen Familie zu machen trachtet; daher fällt gar nicht auf, dass ein dem der »Lüge« genau entgegengesetztes (und also ebenfalls sehr fragwürdiges) Ritual existiert, welches das heilige Versprechen beinhaltet, dass man ihn nicht »zur Oma« schicken wird. Die Oma verkörpert für diese Projektion das ins Außen der Wohngruppe verlagerte Böse schlechthin. Dass dies eine fatale Sackgasse ist, zeigt sich in der Krise, aus der heraus Fritz im Seminar vorgestellt wird. Solange die Spaltung aufrechterhalten bleibt, wird auf die »Lüge« nicht zu verzichten sein, werden die Betreuerinnen ihre integrativen Ideale an diesem neuralgischen Punkt der Beziehung immer wieder verraten müssen.

Ein weiterer Aspekt in den Assoziationen der Gruppe hilft hier, der Situation noch weiter auf den Grund zu gehen: In der Fantasie vom »intimen Akt«, von dem die Zuschauenden sich ausgeschlossen fühlten und der sie zugleich faszinierte, zeichnet sich eine Urszenen-Fantasie ab. Das Ausgeschlossensein war zuerst lediglich – von den Spielerinnen »M.« und »N.« – als völlige Ohnmacht erlebt worden. Jetzt füllte sich dieser Aspekt mit der Faszination und zugleich der Aura des Verbotenen, die den »intimen Akt« des »noch-drei Mal-Schlafen-bis-Nachhause« umgab. Wie lässt diese Szene sich mit der dyadischen Struktur der bislang beschriebenen Situation überhaupt vereinbaren? Überhaupt lässt sich durch alle Szenen hindurch ein Spiel mit dyadischen und triadischen Mustern beobachten.

Dies beginnt mit der magischen Bedeutung der Dreizahl in dem dyadischen Beziehungsmuster der dargestellten Szene, sowie mit dem völligen Ausgeschlossensein von »N.« und »M.« von der dyadischen Interaktion; es setzt sich fort in dem unfruchtbaren Frage-Antwort-Spiel zwischen Protagonistinnen und Zuschauenden, das ich als Dritte ohnmächtig von außen beobachtete; wir finden es auch in der Notwendigkeit, Fritz sofort wieder auf die »Drei« zu bringen, wenn er morgens darauf besteht, dass jetzt nur noch zwei Nächte zu schlafen seien; und ausdrücklich schließlich in meinen Gegenübertragungsfantasien, in welchen mir Theoriefragmente über dyadische und triadische Beziehungen durch den Kopf gingen, und aus denen heraus ich schließlich dahin fand, die Position der ohnmächtigen, ausgeschlossenen Dritten zu verlassen und aktiv als Dritte in das unfruchtbare dyadische Wechselspiel einzugreifen. Schließlich finden wir den Übergang vom Dyadischen ins Triadische auch in dem Umstand, dass nach meinem Eingriff das dyadische Agieren in ersten Symbolisierungen der Spaltung, in den Fantasien von »noch drei Tage bis Weihnachten« und vom »count down«, aufgehoben werden konnte.

Wir finden hier ein Urszenen-Erleben vor, das als akute Vernichtungsdrohung in ein prekäres Gleichgewicht einbricht. Die zeitliche Ausspannung des Subjekts zwischen Vergangenheit und Zukunft droht zu kollabieren, da Fritz von einer Erregung heimgesucht ist, derer er nicht mächtig ist und der er auch nicht entrinnen kann. Es droht die umfassende Katastrophe, der zerstörerische Ausbruch unhaltbarer Affekte. Mühsam wird dagegen die Zeitlichkeit beschworen, in welcher Fritz sich gehalten und aufgehoben fühlen soll: »Noch drei Tage«. Die Lüge liegt darin, dass das Ersehnte zugleich das fantasierte schlechthin Böse ist; dass also mit dem versprochenen »Nachhaus« eine schlechte Ewigkeit beschworen wird, während zugleich die Wohngruppe sich als Familienersatz in die Rolle des totalitären Guten bringt. Das, was Fritz sich am Innigsten ersehnt, wird zum absolut bösen Außen.

Das faszinierend-erregte Geschehen der Urszene wird so zur dyadischen Konfrontation, die kein Außerhalb kennt; in das Fritz mit seiner Erregung unrettbar eingesogen ist. Fritz kann sich von dem Geschehen nicht unterscheiden, keine zeitliche Differenz dazu herstellen, etwa indem er sich bewusst macht, dass er auf seine Frage immer nur eine Lüge zur Antwort bekommt. Ebenso wenig kann dies auch die Seminargruppe in ihren ersten Äußerungen über die beobachtete Szene. Es gibt kein »Ich« hier, welches sich gegen den Sog des Geschehens durchsetzt, sich in ihm durchhält. Daher die Unmöglichkeit von »Ich-als-Fritz« und »Ich-als-Betreuerin« zu sprechen; daher das Gefühl der beiden, die die Mitbewohner gespielt haben, ihr Dabeisein sei völlig ohne Belang. Das Geschehen konnte zunächst nur auf der Ebene der Gruppendiskussion im Seminar wiederholt werden, weil es noch keine Position gab, aus der heraus es hätte begriffen werden können.

Nachdem das Changieren zwischen dyadischen und triadischen Mustern und insbesondere das Fantasma vom »Heiligen Kind« von mir angesprochen worden ist, wird eine Wahrnehmung von Fritz möglich, in welcher dieser nicht mehr nur entweder als monströser Täter oder aber als wehrloses Opfer psychiatrischer Menschenverachtung erscheint. letzt melden sich wieder die Betreuerinnen zu Wort und berichten, dass die Zahl »drei« ganz allgemein für Fritz von großer Wichtigkeit sei: Immer wieder müssen Dinge in die Dreizahl gebracht werden, alles müsse möglichst drei Mal geschehen – drei Tassen Kaffee, drei Mal Zähneputzen, drei Mal um den Block gehen.

Hierauf schlage ich vor, noch einmal eine Szene aufzuführen, und zwar eine solche, in welcher die Dreizahl ebenfalls eine Rolle spiele. Dieses Mal verzichte ich, eine bezeichnende Auslassung, beim Arrangieren der Szene auf das Mitspielen von »Mitbewohnerinnen«.

»Fritz« trinkt mit »Marlies« in der Küche einen Kaffee, ist aber unruhig. Da er nicht zur Ruhe kommt, ergibt sich Folgendes:

Marlies: »Du, Fritz, magst rausgehen, um den Block gehen?«

Fritz: »Dreimal um den Block gehen?«

Marlies: »Ja, magst drei Mal um den Block gehen, und dann kommst wieder und trinkst noch einen Kaffee mit mir?«

Fritz bestätigt, geht »drei Mal um den Block«. Kommt dann freudig wieder.

Fritz: »Hallo, Marlies. Hier bin i wieder. Bin drei Mal um den Block gangen, drei Mal!« (zeigt es in der schon bekannten Geste mit den Fingern an)

Marlies: »Ja, bist drei Mal um den Block‘gangen, wirklich!«

Fritz: »Ja, bin brav g’wesen, drei Mal um den Block ‘gangen, wirklich! Bin i brav g’wesen!?«

Marlies: »Ja, bist wirklich brav g’wesen, bist drei Mal um den Block ‘gangen. Geh, setz di her, trink einen Kaffee mit mir!«

Fritz setzt sich, weniger angespannt wirkend, und trinkt seinen Kaffee.

Im Anschluss an diese Szene können von der Gruppe nun erstmals die vorgeschlagenen Formulierungen (»ich als Fritz, ich als Marlies«) verwendet werden. Als »Fritz« werden Gefühle der Erleichterung, der Erlösung berichtet, Gefühle: Endlich habe ich etwas Richtiges, Gutes tun können, endlich bin ich »angekommen«. Als »Marlies« ebenfalls Gefühle der Erleichterung, dabei die Fantasie: ein Glück, so kann ich ihn billig eine Weile loswerden, oder auch: ein Glück, eine Katastrophe ist abgewendet. – Das Zurückkommen von Fritz wird erlebt als: Endlich nachhause kommen, ankommen, richtig sein. In der Gegenübertragung erlebe ich ebenfalls Erleichterung: die Bedrohung ist abgewendet, das Seminar kann weitergehen, ich bin als Seminarleiterin nicht gescheitert, sondern habe Möglichkeiten eines szenischen Verstehens auch angesichts solch eines extremen Beispieles aufzeigen können.

In der jetzt dargestellten Szene ereignet sich endlich jenes »zuhause Ankommen«, auf welches die Szenen immer wieder hinausliefen, und an welchem sie bis dahin jedes Mal scheiterten. Dieses »Ankommen« ist zwar noch ein Agiertes, in seiner Bedeutung also durchaus Unbegriffenes, in ihm jedoch gelingt »sinnvolles Handeln«[39] – und so lässt sich mit Hilfe der szenischen Darstellung ein erstes Begreifen erarbeiten. Das »Ankommen« gelingt auch auf der Ebene der projektiven Identifizierungen im Seminar. In der Darstellung der Szene können die Protagonistinnen, von mir verstanden, ihre Idealisierung in Form eigener Kompetenz wiedererhalten: Sie sind es schließlich selbst, die diese Lösung gefunden haben.

Warum im Seminar mit dieser Errungenschaft die Möglichkeit, »ich« zu sagen, einhergeht, ist sogleich einsichtig: Der vom Beziehungsobjekt aufgenommene und gehaltene Impuls kann durch die endlich errungene Fähigkeit des symbolischen Ausdrucks reintrojiziert werden, er ist zum eigenen Wunsch geworden. Damit ist die Situation begreifbar, durchsichtiges Konstrukt geworden. Wir finden hier ein Subjekt, dessen Impulse von vitaler Abhängigkeit weitgehend ungehalten blieben, und das daher den durch die Urszene provozierten Affekten als einer katastrophischen Vernichtung des Selbst ausgeliefert war, und zwar einerseits, weil in der Urszene tatsächlich kein aufnehmendes Beziehungsobjekt für den ausgeschlossenen Dritten zur Verfügung steht, und andererseits, weil der »intime Akt« als Verschmelzung der Partner der Urszene (Melanie Klein spricht hier von der bedrohlichen »vereinigten Elternfigur«[40]) erlebt werden muss, eine Identifikation mit dem Vater der Urszene also zur Verschmelzung mit der vernichtenden Mutter wird.

In der dargestellten Szene kann der Impuls nun »nachhause« kommen, gut, »artig« werden, weil er im Gegenüber gehalten ist. Von der Betreuerin kommt ja der Vorschlag, »drei Mal um den Block« zu gehen. So muss sich in Fritz der ihn antreibende Impuls nicht mehr zum »count down«, zur katastrophischen Vernichtung des Selbst durch das mit ihm verschmelzende böse, versagende Objekt verwandeln. Endlich auch gibt es einen Ort in der Situation für Aggression – welche ja bisher nur vernichtend war – und zwar diejenige der Betreuerin: sie will den so schwierigen Fritz für eine Weile lossein, und sie wird ihn los, ohne ihn vernichten (belügen, einsedieren lassen) zu müssen. Damit aber kann in dieser Szene erstmals auch etwas wie Abgrenzung, Individuation geschehen: das war mein Wunsch, das habe ich gemacht, und es ist »artig«. Damit, dass dieses möglich wurde, kann jetzt im Seminar die Situation benannt werden, und zwar als eine für das geistig behindert Werden typische Interaktionsform.

Die Formel »drei Mal schlafen« beruhigte ihn, solange sie eine leere Formel war und ich sie nicht als Lüge empfand. Dies änderte sich in dem Moment, als ich erstmals meinen Wunsch spürte, dass die neue Wohngemeinschaft für Fritz ein Zuhause wird. Durch meinen Wunsch wurde die leere Formel zur Lüge und funktionierte nur mehr beschränkt.

Das »drei Mal gehen« hatte ebenso die Funktion, ihn zu beruhigen, war aber keine leere Formel und auch keine Lüge, sondern entsprach dem Wissen, dass es ihm und der Gruppe sowie auch mir wieder gut geht, sobald er von dieser Runde zurückkommt.

Nachdem ich die sich abzeichnende Situation im Seminar benannt habe, fällt Marlies ein, dass es schon einmal vorgekommen sei, dass Fritz eine Woche lang seine Frage nicht stellen musste. Die Wohngruppe war damals in einer Eins-zu-eins-Konstellation mit Betreuerinnen verreist, weg vom psychiatrischen Krankenhaus in ein schönes Ferienhaus an der Adria. Dort fühlten sie sich, so die Schilderung, alle zusammen wohl und entspannt. In dieser Woche gab es keine drängende Frage nach dem »Nachhause«, erst recht kein morgendliches Aufwachen mit der »Noch-zwei-Nächte«-Unruhe und keinerlei Tobsuchtsanfall.

Mit dieser Erzählung stellte sich im Seminar und auch bei mir eine Erleichterung ein – es war, als sei eine große Gefahr gerade noch abgewendet worden. Einige Zeit später erfuhr ich auch auf telefonische Nachfrage, dass sich nach dem Seminar in der Tat eine Auflockerung für Fritz und damit eine leichte Entspannung für die Wohngruppe ergeben hatte.

Ich habe beim Seminar Fritz vorgestellt, weil ich es nicht mehr aushalten konnte, mit dieser Lüge zu leben. Diese Lüge war für mich ganz schlimm. Dietmut hat uns dann, nach dem Rollenspiel, einen Vorschlag gemacht. Sie sagte, dass dieses Spiel für ihn vorläufig unentbehrlich ist, aber vielleicht können wir das mit Fritz so bearbeiten, dass er irgendwann dann mitbekommt, dass dieses Spiel für ihn zwar ganz wichtig ist, dass es aber eine Geschichte ist. Das bedeutet, dass nicht tatsächlich in drei Tagen die Heimfahrt droht, sondern dass es eine bedeutungsvolle Geschichte, eine Fantasie bleibt, die nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden muss.

Wieder in der Arbeit, hab ich dann versucht, beim nächsten Fragen dies einfließen zu lassen. Ich sagte zu ihm, »Fritz, ich weiß, dass das ganz wichtig ist für dich, ich werd’ das immer mit dir machen, damit du sicher sein kannst.« Oder ich sagte, »Aha Fritz, brauchst’ wieder deine Geschichte.« Beide Sätze hat er annehmen können und sie wurden ins Spiel mit eingebaut.

Einmal bin ich aber zu weit gegangen – da hab ich zuerst mit ihm gezählt und dann gesagt: »Fritz, was mach ich denn nur, wenn du nach Hause gehst, da bin ich dann aber ganz traurig.« Ich sprach eigentlich nur aus, was ich in dem Moment fühlte, das war aber viel zu viel für ihn. Er ist vollkommen ausgerastet, da war er explosiv aggressiv, hat Sessel zusammengeschlagen. Ich bin aber trotz meiner Angst nicht von seiner Seite gewichen und hab beruhigend auf ihn eingeredet, und er ließ sich tatsächlich wieder beruhigen. An diesem Tag gab es nur ununterbrochen einen Satz für ihn, »Marlies, du darfst nit traurig sein, du darfst nit weinen, du darfst nit traurig sein.« In dieser Situation hatte er keine Angst vor dem Heimgehen, sondern es war ausschließlich die Angst, dass ich traurig bin. Das wollte er nicht, das hat er überhaupt nicht verkraftet. Ich hab ihm das Versprechen geben müssen, dass ich nicht mehr traurig bin. Und dann ist ganz lange nicht mehr sein eigentliches Spiel gekommen, sondern nur, »Marlies, du darfst nit traurig sein, gelt, du bist wegen mir nit traurig?« Da hat er lange Zeit meine Versicherung gebraucht. Danach hab ich mich nicht mehr getraut, etwas an dem Spiel noch zu verändern.

Diese so traurige und doch auch schöne Geschichte hätte ein Anfang sein können: Endlich einmal erlebte Fritz, dass er gewollt war. Es war freilich eine Erfahrung, die ihn überforderte, wie seine erste Reaktion zeigt. Seine so heftige Reaktion hatte wohl damit zu tun, dass Marlies hier wieder eine – wenn auch ihre eigene – Realität ins Spiel einbrachte: zeichnete das Scheitern ihrer Arbeit in diesem Team sich doch allmählich schon drohend am Horizont ab. Die Kollegin, mit der sie im Seminar gewesen war, war mittlerweile bereits aus dem Team gegangen, sie fühlte sich zunehmend in ihrem Tun isoliert, und dies schwang mit in dem, was sie zu Fritz sagte. Damit war er natürlich heillos überfordert.

Es war dies eine Erfahrung, die er schließlich doch bewältigen konnte, weil Marlies seine erste Reaktion mit ihm ertrug, ohne selbst vollends in Panik zu geraten, und bei ihm blieb. Es zeigt sich hier jedoch, was im Weiteren zu einem schließlich nicht mehr lösbaren Konflikt im Team führen sollte: Marlies hatte für solche Interventionen zu wenig Rückhalt im Team und von Seiten der Vereinsleitung. Im Team war noch nicht der Raum dafür gefunden, dass hier gemeinsam etwas durchgearbeitet werden konnte. Auch wegen dieses mangelnden Rückhaltes musste sie glauben, dass sie zu weit gegangen sei, indem sie ihrer Intuition folgte und Fritz sagte, dass es ihr nicht gleichgültig sei, wenn er sie verlassen wolle.

Wie wir im nachträglichen Gespräch verstanden, konnte das Team nicht die Ausschließlichkeit, die Innigkeit der Beziehung zwischen Fritz und Marlies mittragen. Fritz hatte begonnen, sich innerhalb des Wohngruppen-Alltags seine persönliche Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus, seine Welt des »guten Innen« und »bösen Außen« einzurichten. Solche Exklusivität der Beziehung, solche Spaltungen zwischen »guten« und »bösen« Teammitgliedern gehören, wie wir schon mehrfach sahen, zum Alltag der pädagogischen Arbeit. Sie stellen eine Herausforderung dar, die immer schwer zu bewältigen und zumal dann zum Scheitern verurteilt ist, wenn sich die Wohngruppen als Familien-Ersatz verstehen. In unserer Szene gewann die Spaltung zusätzliche Brisanz durch die deutlichen Anspielungen der Inszenierung von Fritz an die Urszene. Es stellte sich zunehmend heraus, dass die Kolleginnen von Marlies sich von deren innigen Vertrautheit mit Fritz ausgeschlossen fühlten, und dass sie dieses Ausgeschlossensein nicht ertragen konnten. Das zeigt sich im Folgenden noch deutlicher: Marlies findet ein Ritual, im Rahmen dessen Fritz erstmals das Gefühl entwickeln kann, einfach nur »gut und richtig« zu sein: Das gemeinsame Tischdecken.

Ja, da gab es sehr schöne Momente, es war fast wie ein intimes Zusammenspiel, aber auch sehr anstrengend, da ich alles Andere vollkommen ausblenden musste, um wirklich hochkonzentriert für ihn da zu sein. Der Ablaufwurde von mir in kleinen Schritten, fast minuziös festgelegt und aufgeschrieben. Welche Sätze wann gesagt werden, was er wann machen muss, wie ich auf was reagiere, usw. Daran konnte er sich halten, und es entstand wieder so eine Einheit wie beim Dreierspiel. Aber wehe, wenn etwas nicht genau so gemacht wurde von mir, wie wir es zusammen gelernt hatten. Da wurde er aggressiv und verweigerte diese Arbeit und ich brauchte wieder viel Zeit, um in diesen Rhythmus mit ihm zu kommen. Außerdem war ich fast die Einzige, mit der er das gewissenhaft machte, was auch verständlich war, da es viel »psychische Konsequenz« und Kraft brauchte. Während dieser Tätigkeit fragte er nie nach dem Dreierspiel. Das gemeinsame Tischdecken entstand durch meine Suche nach einem Ablauf, der jeden Tag wiederkehrt, der immer gleich bleiben und nicht unterbrochen werden konnte und der nicht viel Vorbereitung brauchte. Es musste aber eine sinnvolle Tätigkeit sein, die sein Beitrag zum Gruppenalltag werden konnte. Zugleich sollte er für diese Leistung (die für ihn enorm war) Bestätigung bekommen, die starre Struktur sollte ihm Sicherheit und Halt geben. Außerdem wollte ich etwas anderes einführen, um der Drei etwas zu entkommen.

Anfangs ahnte ich noch nicht, wie anstrengend das wird! Fritz forderte sehr viel von mir, er passte genau auf, was ich sagte, und korrigierte mich auch, wenn ich eine Bemerkung nicht zum richtigen Zeitpunkt machte. Es war wie ein »aufgehoben sein« für ihn, niemand anderer hatte Platz in dieser Szene, niemand ist zu uns hingegangen (ein ähnlicher Ausschluss der Mitbewohnerinnen, wie in der im Seminar gespielten Szene). Die anderen Gruppenmitglieder spürten, dass diese Zeit nur Fritz und mir gehörte. Einige Mitarbeiterinnen übernahmen diesen Ablauf mit ihm, andere weigerten sich oder veränderten den Ablauf, in dem sie ihn die Arbeit alleine machen ließen. Darauf reagierte er häufig mit Zornausbrüchen oder er verweigerte sich und einige Zeit musste ausschließlieh ich mit ihm Tisch decken, bis er seine Sicherheit zurückgewann. Fritz hat unser Zusammenspiel sichtlich genossen, seine Spannungen wurden weniger, er konnte Späße machen und wir haben zusammen auch viel gelacht und außerdem war er ungeheuer stolz auf seine Arbeit.

Wir sehen: Zwar gab es erste Bewegungen in Fritzens destruktiver Inszenierung – diese aber gingen mit einer Polarisierung einher: Während die meisten Betreuerinnen noch immer Angst vor Fritz hatten, hatte Marlies eine Sicherheit im Umgang mit ihm gefunden, die es ihr ermöglichte, auch ohne Einsatz von Zusatzmedikation ihn in seinen Erregungszuständen hinreichend zu halten. Damit manifestierte sich die Spaltung nun als eine des Teams, nicht mehr so sehr als Fritzens Problem. Es entstand ein Eklat, als Marlies eines Morgens auf Zusatzmedikation meinte verzichten zu können, obwohl Fritz sehr erregt war und kategorisch verlangte, dass es jetzt nur noch »zwei Nächte« seien. Zwar gelang es ihr wieder einmal, ihn ohne Medikamente zu beruhigen; zwei ihrer Kolleginnen jedoch beschwerten sich bei der Vereinsleitung über sie – sie gefährde mit ihren Maßnahmen die gesamte Gruppe. Der Konflikt eskalierte, eine schwere Erkrankung von Marlies kam hinzu, und so sah sie sich schließlich gezwungen, ihre Stelle in dieser Wohngruppe aufzugeben.

Was ist hier geschehen? Wie konnte es kommen, dass sich das im Seminar erarbeitete Verständnis für Fritz derart in sein Gegenteil verkehrte? Die leichte Entspannung der Situation mit Fritz und die Verschiebung auf die Teamspaltung verweisen zumindest darauf, dass das Erarbeitete etwas Richtiges getroffen hatte. Offenbar jedoch gelang im Seminar schon etwas nicht, was für die Rückübertragung des erarbeiteten Verständnisses in die reale Situation unentbehrlich gewesen wäre.

Wir haben im Exkurs über die »Repräsentanz des Fremden« gesehen, dass die Herstellung der »dritten Position« oder, wie ich sie nenne, der Position des beobachtend ausgeschlossenen Dritten, dann zur Position des »ich denke« werden kann, wenn sie ertragen wird. Dies ist offenbar im Seminar nur teilweise gelungen. Es hätte vor allem Anderen begriffen werden müssen, dass das Seminar selbst sich nun als heile Familie gebärdete, indem es sich in schöne Erinnerungen und Fantasien an einen Urlaub an der Adria flüchtete. Ein Hinweis darauf war, dass ich in den weiteren Szenen auf die Teilnahme Dritter verzichtete, und dass ich dem Gefühl derjenigen, die in der gespielten Szene sich ausgeschlossen gefühlt hatten, zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Die Szene mit Fritz war als eine erhebliche Bedrohung erlebt worden, gegen welche das Seminar mit all dem schönen Verstehen seelischer Zusammenhänge sich hatte zusammenschließen müssen. Ich hätte zuallererst verstehen müssen, was ich dazu mit dem Ausagieren meiner Angst vor der großen Seminargruppe selbst beitrug.

Geleugnet wurde auch von mir, welche Funktion das Verstehen unter der Hand annahm: Es wurde nämlich zu einer Abwehr gegen die Anerkennung einer Wirklichkeit des Pflegeberufes. Es geht in diesem Beruf ja nicht selten um reale körperliche Gefahren und Bedrohungen, und es erfordert mehr als ein je individuell bleibendes Verstehen, diesen Gefahren zu begegnen. Es wäre hier darum gegangen, zuallererst die Zwänge der »Institution Geistigbehindertsein« zu begreifen. Angesichts dieser Zwänge kann das individuelle Verstehen nur wenig ausrichten, zumal dann nicht, wenn körperliche Gewalt im Spiel ist.

Inszenierungen von Gewalttätigkeit sind nun wie nichts anderes geeignet, die von der »Institution Geistigbehindertsein« unbewusst gemachten Tötungsfantasien auf den Plan zu rufen - und damit auch die entsprechenden Abwehren. Diese Abwehren traten hier als Leugnung der realen Gefahr und als Spaltung in »gutes Seminar« und »böse äußere Wirklichkeit« auf. Unter der Hand geriet mir das Seminar zur Inszenierung einer »heilen Familie«, in welcher »Fritz« als das »Heilige Kind« willkommengeheißen wurde, während man ihn in seiner Wohngruppe belog und einsedierte.

Der Umgang mit körperlicher Gewalt gehört, neben dem mit der Sexualität, zum Schwierigsten, dem pädagogische Arbeit begegnen muss. Es wird nicht selten notwendig sein, auch körperliche Gewaltmaßnahmen anzuwenden. Diese Möglichkeit aber ist auf fatale Weise von den gesellschaftlichen Fantasmen, den von der Institution »Geistigbehindertsein« verwalteten Tötungsfantasien besetzt. Gewaltsituationen in der betreuerischen Tätigkeit sind der Reflexion besonders schwer zugänglich, weil die Anwendung solcher Mittel wie eine Realisierung unbewusster Tötungsfantasien wirken muss. Maßnahmen wie Zwangsjacke oder Fixiergurte sind heute tabu. Ihnen haftet die Geschichte ihres Missbrauchs in der alten Praxis der psychiatrischen Unterbringung allzu sehr an, und so sind sie, wo nicht verboten, so doch zumindest aufs Äußerste verpönt. So stehen in Gewaltsituationen in der Regel lediglich Medikamente zur Verfügung, mit ihrem oft massiven, aber weniger sichtbaren Angriff auf die leibseelische Integrität.[41]

Dabei könnten die alten nur äußerlich anzuwendenden Maßnahmen wohl, wenn sie als eine Möglichkeit des Haltens angeboten und reflektiert würden, durchaus manchmal helfen und halten. Nicht als standardisierte Methode – etwa wie das »Festhalten« heute als »Festhaltetherapie« propagiert wird – sondern verstanden in seiner Bedeutungshaltigkeit. Dieses symbolische Potenzial kann viel leichter mit äußeren Hilfsmitteln zur Geltung gebracht werden als durch Medikamente.

Während ich dies schreibe, stehe ich unter dem Eindruck eines Seminars, in welcher eine junge Frau breiten Raum einnahm, die ab und zu in Tobsuchtsanfälle ausbricht und dann gerade diejenigen, die ihr am liebsten sind, oft schwer verletzen kann. Diese junge Frau ist nach einem solchen Ausbruch aufs Tiefste verzweifelt, sie hat das Gefühl, dass sie etwas geworden ist, was »nicht sie« war. Vor einem solchen Anfall gibt sie Signale, und es ist deutlich, dass sie nichts sehnlicher wünscht, als dass man sie körperlich hält. Dazu aber ist, da sie in solchen Situationen gewaltige Körperkräfte entwickelt, ihr Gegenüber nicht in der Lage. Eine Zwangsjacke könnte sie jedoch halten – und dies auch auf seelischer Ebene. Dies freilich nur, wenn diese Maßnahme als eine symbolische verstanden würde, auch wenn sie zunächst ganz real Halt geben müsste. Dazu müsste jemand bei ihr bleiben und diese Maßnahme genau benennen; und zwar als das benennen, was sie selbst mit ihren verzweifelten Hilferufen kurz vor den Ausbrüchen »herstellt«. Die Zwangsjacke wäre als Ausdruck ihres eigenen, ihres autonomen Wunsches, der sich gegen das Überwältigtwerden von ihr unbegreifbaren inneren Mächten stellt, zu benennen. Wenn sie erst die Erfahrung solchen Gehaltenwerdens gemacht haben würde, so denke ich, dann wäre der Übergang dahin, dass das Halten nurmehr symbolisch und nicht mehr real geschehen müsste, eine Frage der Zeit. Ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so dramatisches Beispiel weiß Irene zu berichten.

Irene, ein aktuelles Beispiel aus meiner Arbeit: Einer der Bewohner der WG wünscht sich in Krisensituationen immer in die geschlossene Abteilung des Psychiatrischen Krankenhauses, in der er viele Jahre verbrachte, aufgenommen zu werden. Lange Zeit ist dem Team und mir dieser Wunsch unverständlich, bis uns in einer Supervision der Gedanke kommt, dass ersieh vermutlich auf die geschlossene Abteilung wünscht, weil ersieh seiner potenziellen Gefährlichkeit bewusst ist.

Als ich ihn daraufhin frage, was er denn auf der geschlossenen Abteilung bekommen habe, antwortet er: »Zusperren!« Ich mache ihm das Angebot, ihn ab sofort in seinem Zimmer einzusperren, sollte er dies verlangen. Erfreut reagiert er auf diesen Vorschlag und kann ihn ernsthaft annehmen, obwohl er ja seinen Zimmerschlüssel behält. Bis heute funktioniert dieses Spiel des Zusperrens fast immer und er kommt nach kurzer Zeit beruhigt wieder heraus. Es geht hier offensichtlich nicht um das eingesperrt Sein, sondern um den Akt des Zusperrens, der ihm sofort Halt gibt.

Hier bekommt die psychiatrische Maßnahme des Einsperrens (die wir ablehnen) durch einen anderen Kontext eine neue Bedeutung.

Der Umgang mit körperlicher Gewalt ist in Betreuungssituationen vielfach mit einem Tabu belegt. Dieses Tabu hätte im Seminar reflektiert werden müssen. Ich hätte der Realangst des Teams von Marlies vor dem Verstehen von Fritzens Problematik einen Vorrang einräumen müssen, damit dieses Verstehen überhaupt Platz hätte finden können. Wer akut um seine persönliche Integrität Angst hat, kann nicht mehr denjenigen verstehen, von dem die Bedrohung ausgeht.

Wer für Menschen Verantwortung übernehmen soll, die derart sich und andere gefährden können, muss daher zuallererst in einer haltenden Umgebung Rückhalt haben und Entlastung von der Angst finden. Gewalt ist in der pädagogischen Arbeit wie kein anderer Faktor geeignet, eine Fantasie des Ausgestoßenseins auszulösen, ein Gefühl, mit einer unlösbaren Aufgabe von aller Welt verlassen zu sein. Indem ich nicht verhindern konnte, ja im Gegenteil mit dafür sorgte, dass das Seminar sich als heile Familie einrichtete, der dann die Wohngruppen-Situation unbewusst-projektiv als »böses Außen« dienen musste, konnte sich diese Fantasie letztlich nur verstärken. Was Marlies und ihr Team zuallererst gebraucht hätten, wäre ein Verständnis für die eigene Angst und den Hass gewesen, den die Situation mit Fritz auszulösen geeignet war. Die Forderung, Fritz zu verstehen, bewirkte jedoch das Gegenteil.

Wir sahen in der Geschichte von Mark, dass die dyadische Konfrontation dann entsteht, wenn die haltende Partnerin der Dyade einen solchen Rückhalt eben nicht hat; wenn sie selbst bedroht ist und daher ihre haltende Funktion nicht mehr ausüben kann. Um sich für ihre Aufgabe zu stabilisieren, muss sie nun genau dort Halt suchen, wo sie eigentlich Halt geben soll. Genau diese Konstellation wurde nun mit dem Seminar eingerichtet. Das Verstehen, welches Marlies und ihre Kollegin aus dem Seminar in ihr Team zurückbrachten, wurde angesichts von Fritzens körperlicher Überlegenheit zur unerfüllbaren Überich-Forderung. Nicht nur, dass diese Forderung in der realen Auseinandersetzung mit der von Fritz ausgelösten Angst dem Team nicht den Rücken stärkte, musste sie sich noch zusätzlich destabilisierend auswirken.

In der Wohngruppe von Fritz verwandelte sich die haltende Umwelt, die das Seminar hätte bieten sollen, für das Team zur richtenden Umwelt. Es entstand eine durch unerfüllbare Überich-Forderungen und akute Angst gekennzeichnete Situation. Nur mehr Fritz selbst stand für die Rollenzuweisung als dyadisch-haltender Partner zur Verfügung - indem er zuverlässig die Erwartungen an sein »typisches Verhalten« erfüllte und dem Team die Bestätigung gab, dass seine Aktionen zur Erhaltung des Friedens in der Wohngruppe gerechtfertigt und notwendig waren. Dies aber bedeutete, dass nun seine Gewalttätigkeit geradezu als Rechtfertigung gegenüber dieser feindlich-richtenden Umwelt gebraucht werden musste. So ist es nicht verwunderlich, dass der zu Marlies’ Ausscheiden aus dem Team führende Eklat sich genau dort ereignete, wo es ihr gelungen war, sich mit dieser »feindlichen Umwelt« zu identifizieren und Fritz ohne Zusatzmedikation zu beruhigen – und damit dem restlichen Team sein anscheinendes Versagen auf unerträgliche Weise vor Augen zu führen.

Weil das Problem der körperlichen Gewalt auch mir allzu viel Angst machte, saß ich dem mit ihm verbundenen Tabu auf. Ich ließ mich von der mir entgegengebrachten Idealisierung verführen, die heilige Seminar-Familie zu inszenieren, in der ein Fritz verstanden wird, während die »Welt draußen« ihn belügt, ihn niederringt und einsediert. Im Seminar selbst konnte es damit natürlich nicht sein Bewenden haben: Ein einmal aktualisiertes Problem lässt sich nicht so leicht wegharmonisieren. So wurde mir unweigerlich das Problem, in Gestalt von Alexandras Mordversuch an Irene, ein weiteres Mal präsentiert – wir werden diese Geschichte im nächsten Kapitel kennen lernen. An der Geschichte von Fritz indes blieb die Familien-Thematik unverstanden, und so sorgte das schöne Verstehen hier letztlich nur dafür, dass der Keil der Spaltung, der von Fritzens Wiederholungszwang ausging, sich weiter ins Team hineintrieb und schließlich zur Kündigung führte.

Im Laufe unserer Arbeitstätigkeit haben wir sehr unterschiedliche Einrichtungen für Menschen mit Behinderung kennen gelernt. Es ist uns rückblickend aufgefallen, dass in fast allen Einrichtungen bzw. Wohngruppen familienähnliche Betreuungssituationen inszeniert werden, die meistens nicht sehr befriedigend und oft unerträglich sind. Dabei fällt auf, dass die Arbeitsteams häufig an solchen Inszenierungen festhalten, obwohl diese ständig scheitern und kaum auszuhalten sind. Trotzdem wird das nur selten in den Teams reflektiert und dieser Anspruch in Frage gestellt.

Das Herstellen von familialen Strukturen in Betreuungssituationen wird unserer Meinung nach aus folgenden Gründen immer wieder gemacht: Die meisten Betreuerinnen tragen ein Bild oder Gefühl einer heilen, guten Familie in sich, in der man sich sicher, geborgen und aufgehoben fühlt. An diesem ausschließlich guten Bild wird festgehalten, auch wenn es mit der erlebten/gelebten Realität nur begrenzt übereinstimmt, umso mehr in der Betreuungsarbeit, wo man oft mit kaum aushaltbaren Familiengeschichten der Klientinnen konfrontiert wird. Gleichzeitig werden diese auch oft als ausschließlich schrecklich, schwierig usw. fantasiert, was auch nicht immer mit der erlebten Realität zu tun hat. Hier entsteht eine Spaltung, wo versucht wird das »Gute« als heile Familie in die Gruppe zu integrieren und das »Böse« nach außen, in dem Fall in die Herkunftsfamilie zu verlagern. Dieses nur »Gute« verwirklichen zu wollen, führt zu einem immer enger und zwanghafter werdenden Sog für alle Beteiligten. Das hat eine fatale Konstellation von Abhängigkeit und Verschmelzung zur Folge, die dann nicht mehr aufgehoben werden kann. Das sind die vielen bekannten Gruppensituationen, die eigentlich auf den ersten Blick schön und wohlig wirken (alle sitzen beisammen, der Wohnraum ist wie im Kindergarten dekoriert, alle sind freundlich ...), aber bei näherer Betrachtung unangenehm sind und die Luft zum Atmen nehmen.

Gleichzeitig wirkt das Gefühl einer kollektiven Schuld gegenüber Menschen mit Behinderung wie ein Motor, erlittenes Unrecht, Diskriminierung, schlechte Lebensbedingungen, usw. durch das oben beschriebene »Gute« ungeschehen »heil« machen zu wollen.

Unsere Erfahrungen und Überlegungen diesbzgl. führten dazu, auf eine familienähnliche Struktur sowohl in der MIM-Gruppe als auch in anderen Wohngruppen zu verzichten. Wir hatten aber sehr wohl immer den Anspruch, dass eine Gruppe zueinander findet, in welcher für sie auch immer möglichen Form. Wir legten viel Wert darauf, Raum dafür zu schaffen, dass die Bewohnerinnen lernen konnten, miteinander zu leben. Dazu gehörte z.B. die Eigenheiten Anderer, auch wenn diese manchmal unangenehm sind, zu akzeptieren, dazu gehörten ein respektvoller Umgangston, elementare Benimm-Regeln, usw. Dies waren unsere Vorgaben. Auf ihrer Basis konnte ein Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl entstehen, das nicht von uns durch ritualisierte Muster erzwungen war, sondern aus den Fähigkeiten und Möglichkeiten der einzelnen Personen erwuchs.

Obwohl wir in der MIM-Gruppe grundsätzlich ohne den Familienanspruch arbeiteten, gab es Situationen, die, im Nachhinein betrachtet, Ansätze in diese Richtung hatten. Im Bericht über Mark wird deutlich, welche katastrophalen Auswirkungen unser Wunsch, ihn im schönen Wohnzimmer bei uns zu haben, zur Folge hatte. Im Bericht über Karin werden wir sehen, dass die von ihr gewünschte familiäre Nähe immer zu einer Entgleisung führte, sobald wir uns zu sehr darauf einließen. In diesem Zusammenhang muss aber erwähnt werden, dass es eine der wichtigsten pädagogischen Aufgaben ist, als Projektionsfläche zur Verfügung zu stehen und dies natürlich gerade auch dann, wenn es um Inszenierungen von Familie geht. In Wohngruppen muss es offensichtlich noch viel mehr darum gehen, die Balance zu finden zwischen klarer Strukturierung, dem Finden von angemessenen Antworten auf Übertragungskonstellationen, und offenem Entwicklungsraum. Eine klare und einfache Strukturierung (oft sind Essenszeiten schon ausreichend) gibt den nötigen äußeren Halt, der Beziehungsarbeit erst ermöglicht.



[36] Erdheim 2002

[37] Als »Urszene« bezeichnen wir in der Psychoanalyse die Verarbeitung der Wirklichkeit einer Vereinigung zweier Elternfiguren, von der es ausgeschlossen ist, durch das Kind. Es spielt hierbei keine Rolle, ob Beobachtungen oder lediglich Fantasien zu dieser Auseinandersetzung führen. Das Urszenen-Geschehen dürfen wir uns in diesem Zusammenhang nicht etwa konkretistisch auf den elterlichen Akt eingeschränkt denken; vielmehr kann sich der Aspekt des Ertragens von Ausgeschlossensein modellhaft auf jegliche Erfahrung übertragen, die Aspekte von großer Erregung und Faszination beinhaltet (vgl. Hinshelwood 1993; Niedecken 2001, 202ff.).

[38] Ich habe dort dargestellt, wie auf Grund bestimmter sozialisatorischer Bedingungen die frühen introjektiven Vorgänge nicht der Aufhebung reflexhafter Körpervorgänge in gestisch-symbolischen Konfigurationen dienen, sondern vielmehr früheste Interaktionsformen sich mit Reflexen aus dem Kreis der Flucht- und Totstellreflexe verquicken und damit der Weiterentwicklung ins Symbolische dauerhaft entzogen bleiben.

[39] Ogden 1994

[40] Klein: Frühe Angstsituationen im Spiegel künstlerischer Darstellungen 1985, 44-54

[41] Warum die mit sedierenden Medikamenten verübte, innerkörperlich ansetzende Gewalt so viel weniger ins Bewusstsein dringt als die sichtbare der Zwangsjacken und Fixiergurte, wäre einmal zu untersuchen. Die Pharma-Industrie dürfte hier einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben. Es muss freilich bemerkt werden, dass ein sorgfältiger Einsatz von Psychopharmaka nicht etwa nun als ein per se Böses angesehen werden darf. Hier wie bei den körperlichen Zwangsmaßnahmen wäre es zentral, dass die Bedeutungsebene bei der Verschreibung mitbedacht würde

Abschied von der Allmacht

Dietmut Niedecken/Irene Lauschmann

Alexandra

Alexandra wurde mir erstmals in jenem Seminar vorgestellt, in welchem auch Fritz eine Rolle gespielt hatte. Mit ihrer Geschichte erhielt ich die Antwort auf mein – unbewusst gebliebenes – Scheitern an der Aufgabe präsentiert, die mir mit Fritz gestellt worden war. Irene berichtete davon, dass Alexandra versucht hatte, sie während eines Stadtspazierganges auf eine stark befahrene Straße zu stoßen und dadurch umzubringen. Auch früher, erzählte sie, hatte es von Alexandras Seite aus schon solche Aktionen gegeben, etwa einen Versuch, eine Betreuerin zu erwürgen.

Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, die eine Kollegin von mir erlebte. Sie hatte, auf einer gemeinsamen Reise an den Gardasee, einen guten Kontakt zu Alexandra bekommen. Alexandra fing an zu lachen und sich etwas zu öffnen. R. hat später immer erzählt, wie fein sie es damals miteinander hatten und dass Alexandra so hübsch wirkte. Dort aber kam es dann zu einer Situation, in der Alexandra R. mit einem Pullover würgte. Sie wollte ja nie, dass Pullis irgendwo herunter hängen, zwanghaft musste sie diese wegreißen, wegwerfen oder entfernen, da immer alles aufgeräumt sein musste. R. hatte ihren Pulli locker um den Hals gebunden, und Alexandra hat ihn nicht wie sonst weggerissen, sondern sie hat beide Ärmel genommen und zugezogen, so wie wenn jemand ganz klassisch erwürgt wird. R. hat mit ihr gekämpft, konnte sich aber nicht befreien, eine Kollegin musste ihr zu Hilfe kommen.

In der Situation mit Irene konnte diese nur mit äußerster Kraftanstrengung sich auf dem Bürgersteig halten, während sie Alexandra zurück zur Wohngruppe zerrte. Seither, so berichtete sie, war ihre Beziehung zu Alexandra geprägt von Enttäuschung, Hass und Angst, sie kenne keinerlei positives Gefühl mehr für sie. Besonders enttäuschend war für sie, dass sie vorher in langem Bemühen versucht hatte, Alexandra aus ihrer Zurückgezogenheit ein wenig herauszulocken, und sich inzwischen erste Anzeichen ergeben hatten, die hoffen ließen, dass ihre Bemühungen Erfolg hatten. Am Tage des Mordversuchs war Alexandra ihr besonders aufgeschlossen und guter Stimmung, ja fast schon fröhlich erschienen, sodass sie sich traute, sie auf einen Gruppenausflug in die Stadt mitzunehmen.

Das Rollenspiel war schockierend. Mit aller Kraft versuchte die von Irene dargestellte »Alexandra« ihre »Betreuerin« wieder und wieder auf die »Straße« zu stoßen, mit aller Kraft mühte sich diese, das Gleichgewicht zu halten und dabei »Alexandra« weiterzuzerren. Dabei gaben beide keinen Laut von sich, verbissen nur stemmten sie sich gegeneinander, es ergab sich keine Entwicklung, nicht der Hauch einer Entspannung der unerträglichen Situation.

Im Gespräch hinterher setzte sich dieses unerträglich Sprachlose fort. Auch hier ergab sich kein Dialog, wiederum konnte sich niemand an meine Anweisung halten, die darin bestand, ganz aus der Identifikation mit Alexandra oder mit der Betreuerin zu sprechen, also mit »Ich-als-Alexandra«, »Ich-als-Irene« zu beginnen. Einzig äußerste Bestürzung, ja Entsetzen bestimmte die Reaktionen. Irene als Alexandra war völlig außer Atem, fühlte sich sprachlos und gänzlich ausgelaugt. Sie betonte, dass sie solch ausweglosen Zwang noch nie erlebt habe und auch nie wieder erleben wolle.

Ich sah mich schließlich gezwungen, den Versuch, hier noch zu verstehen, abzubrechen. Zu tief saß der Schock, auch in mir, über dieses schreckliche Geschehen. Stattdessen regte ich – nach einer Pause, die ich ansetzte, um mich selbst erst einmal wieder fassen zu können – eine Diskussion über die Ohnmacht in solchen Situationen an, und es konnte, auch im Rückblick auf das Geschehen mit Fritz, darüber gesprochen werden, wie leicht die pädagogische Aufgabe dazu verführt, in Allmachtsfantasien zu verfallen, die dann an der Realität kläglich scheitern müssen.

Ein Ergebnis dieser Diskussion war, dass Irene mich bat, bei nächster Gelegenheit die Wohngruppe aufzusuchen, in der Alexandra lebte, und ihr und ihrem Team dort zu helfen, mit der Situation umzugehen. Damit ergab sich für mich eine Möglichkeit, so einzugreifen, dass mein Verstehen nicht als Überich-Forderung, sondern als Unterstützung und Haltgeben erlebt werden konnte – wobei wohl für diesen Erfolg mit ausschlaggebend war, dass das hier betroffene Team weniger gespalten war als das von Fritzens Wohngruppe schon vor dessen Vorstellung im Seminar. Was mir mit Marlies, und mit Fritz im Seminar misslungen war, konnte in der ganz anderen Situation, die durch meinen Besuch in der Wohngruppe Alexandras selbst entstand, zu einer unerwartet positiven Wendung führen, die bis heute, mehr als zweieinhalb Jahre später, noch anhält, über das Ausscheiden Irenes als Wohngruppenleiterin hinaus (welches u.A. bedingt war durch den unheilbaren Schock, den der Mordversuch Alexandras an ihr hinterlassen hatte).

Was hier anders war, warum gelingen konnte, was mit Fritz misslang, werden wir uns genau ansehen müssen. Dazu möchte ich zunächst einmal von dem, was ich bei meinem Besuch in der Wohngruppe erfuhr und erlebte, berichten.

Der Eingriff

Alexandra ist ca. 35 Jahre alt, schwer geistig behindert, seit ihrem vierten Lebensjahr in verschiedenen Heimen und Institutionen untergebracht. Seit wenigen Jahren lebt sie nun in einer Wohngruppe, und in dieser erweist sie sich schnell als schwierig – nicht nur ihre gelegentlichen tätlichen Angriffe sorgen dafür, dass die Betreuerinnen in ihren Bemühungen wieder und wieder frustriert wurden. Eine lästige Angewohnheit Alexandras ist ihre Manie, Kleidungsstücke, aber auch alles, was nur im Entferntesten an Handtücher oder Küchentücher erinnert, sofort wegräumen zu müssen – eine Manie, die den Alltag einer Wohngruppe, in welcher geduscht, gewaschen, gespült wird, auf empfindliche Weise stören kann. Erheblich lästiger, ja Ekel erregend, ist freilich ihre Angewohnheit, sich und ihr ganzes Zimmer mit ihrem eigenen Kot oder auch mit Erbrochenem einzuschmieren. Auf Grund der Gewalttätigkeiten und auch auf Grund der abstoßenden oder zumindest sehr störenden Verhaltensweisen Alexandras sei sie, so wird mir bei meinem Besuch erzählt, mittlerweile bei fast allen Mitarbeiterinnen des Teams ausgesprochen unbeliebt. Ihr Verbleib in der Gruppe sei in Frage gestellt, zumal man fürchten müsse, dass sich ihre gefährlichen körperlichen Angriffe wiederholen könnten.

Mein Besuch wird Alexandra vorher ausdrücklich angekündigt. Es wird ihr erklärt, dass ich kommen werde, um ihre Situation in und mit der Wohngruppe zu verstehen und verbessern zu helfen. Als ich ankomme, finde ich Alexandra auf einem Sofa liegend, sie wirkt müde und abwesend, als sie mir vorgestellt wird. Sie reagiert nicht auf mich, ich scheine für sie nicht zu existieren. Es ist die Zeit des gemeinsamen Kaffee- oder Safttrinkens und Kekse Essens der Wohngruppe, und Alexandra wird dazugeholt. Ich komme neben ihr zu sitzen, sodass ich sie in ihrer Wirkung auf mich, in ihrer Reaktion auf mich beobachten kann. Sie ruft freilich kein großes Interesse in mir hervor, eher langweilt mich die Situation mit ihr; eine andere Bewohnerin der Gruppe erscheint mir viel attraktiver. Sie selbst scheint auch von mir keinerlei Notiz zu nehmen, das Einzige, was sie zu interessieren scheint, sind die Kekse, die sie in möglichst großer Menge in die Hände nimmt, sodass sie zerbröckeln, und es schwierig für sie ist, ihre Tasse zum Mund zu führen. Immer wieder zieht sie die Keksschale zu sich heran, obwohl sie die Hände immer noch voll hat. Als ihr schließlich die Keksschale ganz entzogen wird, steht sie auf und setzt sich vom Tisch weg in eine Ecke, und zwar so, dass die Mitbewohnerin, die mir so viel attraktiver erscheint als sie, und die sich schon die ganze Zeit immer wieder zwischen uns gedrängt hatte, mir den Blick auf sie nun fast ganz verstellt. Speichel rinnt Alexandra aus dem Mund, während sie an ihren Keksen knabbert. Sie wirkt weiterhin müde und abwesend. Neben meinem Desinteresse an ihr verspüre ich den Drang, etwas zu tun – bin ich doch eigens ihretwegen gekommen. Nun kann ich doch nicht einfach einen Rückzieher machen und sie als ungeeignetes Objekt ablehnen. – Schuldgefühle wollen sich mir aufdrängen, die Sorge, dass ich meiner Aufgabe nicht gerecht werden kann.

Es wird schließlich ein Spaziergang verabredet, Alexandra soll mitkommen, da sie, wie mir erklärt wird, recht gerne spazieren geht. Heute jedoch hilft sie nicht wie sonst beim Anziehen der Schuhe mit, sondern verhält sich passiv-widerständig, was von der Betreuerin als Ausdruck des Wunsches, nicht mitgehen zu müssen, verstanden wird. So wird beschlossen, dass sie in der Gruppe bleiben kann, während ich – es ist sehr schönes Wetter – verabredungsgemäß mitkomme (wenn auch mit einigem Unbehagen, denn ich bin ja eigentlich Alexandras wegen hier). Während des Spazierganges habe ich Gelegenheit, die beiden mitgekommenen Betreuerinnen nach Alexandra zu fragen, und ich erfahre das Wenige, was über Alexandras Herkunft und die diagnostischen Hintergründe ihrer Behinderung bekannt ist.

Alexandra wurde in ländlicher Umgebung geboren, schien sich als Säugling zunächst »normal« zu entwickeln, später dann wurde vermutet, dass ein Infekt in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres eine nicht-diagnostizierte Hirnhautentzündung gewesen sein musste, auf Grund derer eine Entwicklungsverzögerung einsetzte. Im Alter von gut zwei Jahren wurde ihr eine Schwester geboren, auf welche sie, soviel ist bekannt, mit heftiger Eifersucht reagierte. Als Alexandra dann ca. 3 1/2 Jahre alt war, kam sie erstmals in eine Institution, seither war sie nie mehr in der Familie. Unter Verwandten und den Dorfbewohnern, und wohl auch ihrer Schwester, gilt sie als tot. Die Mutter besucht sie bis heute einmal jährlich, und zwar »heimlich«. Der Vater dürfe dies keinesfalls erfahren, »entweder Alexandra oder ich«, habe er einmal gesagt. Bei ihren Besuchen bringt die Mutter immer große Mengen Süßigkeiten mit, die Alexandra dann hastig in sich reinstopft, nur um sie, da sie einen empfindlichen Magen hat, alsbald wieder zu erbrechen. Die Bitte des Teams, doch lieber Dinge mitzubringen, die für Alexandra nicht schädlich sind, fand bei der Mutter wenig Gehör; überhaupt hat man den Eindruck, dass dieses Mitbringen nicht wirklich Alexandra gilt, vielmehr ein unerträgliches Schuldgefühl überdecken helfen soll. Wenn die Betreuerinnen versuchen, mit ihr über die ersten Jahre Alexandras ins Gespräch zu kommen, weicht sie aus, als habe sie etwas Schlimmes zu verschweigen. Einzig die Aussage, dass Alexandra auf Betreiben des Vaters aus dem Haus gegeben worden sei, ist aus ihr herauszubekommen. Gleichzeitig überhäuft sie das Team mit Dankbarkeitsbezeugungen und Lob über die wunderbare Arbeit, die sie machten – Äußerungen, die nicht als ehrlich gemeint, vielmehr als ein Versuch, von möglichen anderen Themen abzulenken, erlebt werden. Mehr als diese wenigen Umstände können die Betreuerinnen mir nicht berichten. In ihrer Erzählung von Alexandra wird für mich wenig Sympathie, eher eine Art professionelle Gleichgültigkeit und Resignation, wenn nicht Ablehnung spürbar. Zwar habe es immer wieder Einzelne gegeben, die sich Alexandras besonders annahmen. Dabei sei kaum von spontaner Zuneigung die Rede gewesen, eher von einer Art Antiposition zu der Ablehnung und besonders auch der Angst, die Alexandra in allen auslöste; es haben sich in solchen Situationen also auch immer wieder Teamspaltungen angedeutet.

Als ich nach dem Spaziergang wieder in die Wohngruppe zurückkomme, finde ich Alexandra in ihrem Zimmer auf dem Bett liegend. Der Boden vor ihrem Bett ist mit Schleim verschmiert, offenbar Erbrochenes. Ich habe auch jetzt nicht das Gefühl, dass irgendeine Annäherung von mir, irgendein Kontaktversuch, sinnvoll sein könnte; zudem sorgt der Schleim auf dem Fußboden dafür, dass mir auch jede Lust dazu vergeht. [DN[42]] So verabschiede ich mich schließlich aus der Wohngruppe, ohne in irgendeiner Weise mich mit ihr, deretwegen ich doch gekommen bin, direkt befasst, oder gar mit ihr Kontakt aufgenommen zu haben.

Einen Tag nach meinem Besuch in der Gruppe – ich habe mittlerweile Gelegenheit gehabt, mir die Eindrücke durch den Kopf gehen zu lassen – spreche ich im Rahmen eines Workshops mit Irene und einer der anderen Betreuerinnen der Gruppe über meine Gedanken und Vorschläge. Ich erkläre, dass ich das Gefühl habe, Alexandra habe mir auf passiv-widerständige Weise zu verstehen gegeben, sie wünsche keinen Kontakt, keine Annäherungsversuche von meiner Seite. Vielleicht sei ihr ja zu viel Nähe gar nicht recht. Darauf erfahre ich, dass jeweils diejenigen Opfer ihrer Mordversuche geworden seien, die sich vorher über längere Zeit intensiv um Kontakt zu ihr bemüht und damit anscheinend auch Erfolg gehabt hatten. Davon fühle ich mich in meinen Überlegungen bestätigt. Ich erkläre nun, dass Alexandra ganz offenbar solche Versuche, zu ihr Kontakt aufzunehmen, anders erlebe, als sie erwarteten. Ganz offenbar sei ihr Selbstgefühl von einer Fantasie bestimmt, dass sie ganz schlecht und schmutzig sei; dass sie etwas Böses an sich habe und irgendwie schuldig sei, sodass solch liebevolle Zuwendung nicht wirklich ihr gelten könne. Wenn man nun besonders nett zu ihr sei, müsse sie entweder das Gefühl haben, sie sei gar nicht gemeint, oder sie habe es zumindest nicht verdient. Sie müsse sich mit ihrem Kot beschmutzen, um ihr »Schlechtsein« als »Schmutzigsein« deutlich zu machen; in diesen Zusammenhang gehöre vielleicht auch ihre Handtuch- Manie: Sie müsse alle Handtücher wegräumen, etwa um darzustellen, dass sie es nicht verdient habe, dass sie nicht wünschen dürfe, sauber gewaschen zu werden – oder auch dass sie niemand Anderem dies gönnen könne. Ich nehme an, dass ihr Selbstgefühl gänzlich von der Fantasie bestimmt sei, dass sie innerlich schmutzig, dass ihr Wollen und Wünschen böse und zerstörerisch sei, etc. Wenn man versuche, ihre Kontaktwünsche zu wecken, müsse sie daher fürchten, dass das Böse dann herauskommen könne – wie es ja in Form der körperlichen Angriffe auch geschehe – und sie tue offenbar von ihrer Seite aus alles, um dies nach Möglichkeit zu vermeiden.

So sei es zunächst einmal wichtig, ihr möglichst wenig direkte Kontaktaufnahme zuzumuten, da diese in ihr Wünsche wachrufen könne, und das Gefühl, für ihre Kontaktwünsche verantwortlich zu sein, für sie unerträglich sei. Da sie von der Fantasie beherrscht werde, dass ihr Wünschen böse sei, dass sie mit ihren Wünschen Böses tue, könne sie dann irgendwann nicht mehr anders, als sich dieser Fantasie gemäß zu verhalten und das so ersehnte Schöne gewalttätig zu zerstören. Wichtig sei daher besonders, nicht den Blickkontakt zu ihr zu suchen oder sie zu veranlassen, einen anzublicken.

Eines allerdings sei als positive Zuwendung zu empfehlen: Man solle sie nicht nur duschen, wenn sie sich voll geschmiert habe, sondern auch einmal »einfach so« – dies aber immer nur dann, wenn das dem spontanen Bedürfnis der Betreuerin entspreche. Keinesfalls solle man dazu etwa auf einen Wunsch von Alexandra selbst warten, den sie ja wieder nur als böse und zerstörerisch empfinden könne. Vielleicht könne es auch hilfreich sein, sie anschließend mit wohlriechenden Substanzen einzucremen – immer mit der Vorgabe, dass dies aus dem Bedürfnis der Betreuerin heraus geschehen solle. Ich nehme an, dass dies die einzige Art der Kontaktaufnahme sei, die im Moment für Alexandra annehmbar sei und ihr nicht die Fantasie aufdränge, schuldig und schlecht zu sein; die ihr vielmehr das Gefühl vermitteln könne, dass man sie in der Not ihrer »Schlechtigkeit« erkenne und ihr helfen könne und wolle, sich nicht mehr ganz so schmutzig fühlen zu müssen.

Meine Vorschläge wurden sogleich umgesetzt, und zeitigten bald Erfolg. Alexandra beschmierte sich immer seltener. Sie wurde zusehends zugänglicher und fröhlicher, man hörte und sah sie, eine große Veränderung gegenüber ihrer früher meist verdrossenen Haltung, jetzt häufiger lachen. Das Duschen oder Baden genoss sie zuweilen, manchmal jedoch sträubte sie sich auch dagegen. Das Eincremen jedoch machte ihr meistens große Freude. Von tätlichen Angriffen wurde nicht mehr berichtet. Die bedeutsamste Veränderung jedoch war, dass sie immer häufiger ein Ballspiel initiierte, und zwar ganz aus Eigenem heraus, nicht etwa von den Betreuerinnen angeregt. Sie forderte die Betreuerinnen dazu auf, zwar immer noch, ohne sie dabei anzuschauen, aber doch klar verständlich, und warf mit ihnen den Ball hin und her.

Sie hatte schon immer gerne einen Ball in der Hand gehalten. Sie hat ihn dann aber einfach fallen lassen. Sichtlich mochte sie Bälle, denn andere Gegenstände hat sie nicht einmal in die Hand genommen. Sobald wir ihr einen Ball zuwarfen, hat sie ihn einfach aufgehoben, sonst nichts. Neu war, dass sie auf das Ballspiel einsteigen und es fortsetzen konnte.

Dieser schnelle Erfolg wirkte nach: Anderthalb Jahre später – Irene ist mittlerweile nicht mehr im Team – erfahre ich, dass die vormals bei den Betreuerinnen so unbeliebte, nur gerade noch geduldete Bewohnerin nun ausgesprochen beliebt ist. Sie ist weiterhin problematisch, aber die Situation mit ihr in der Wohngruppe ist lebendig geworden, Alexandra verändert sich – ein deutliches Zeichen dafür setzt sie im Verlauf eines Rückfalls ins Einkoten: Nach über einem Jahr hat sie damit wieder angefangen, und schmiert auch wieder mit Kot. Als die Betreuerinnen traurig den Entschluss fassen, ihr wieder Latzhosen zu besorgen, die sie entmündigen, weil sie sie nicht selbstständig öffnen kann, setzt sie ein Zeichen: Es gibt einen Raum, eigentlich nur eine Abstellkammer, der für die Bewohnerinnen tabu ist und ganz allein den Betreuerinnen gehört. In diesen stiehlt sie sich in einem unbeobachteten Moment, um einen großen Haufen hineinzusetzen, den sie nicht verschmiert, sondern in ganzer Pracht in der Mitte des Raumes auf dem Fußboden hinterlässt, wie ein Zeichen: »Dies war ich!«. Damit hört das Einkoten (ohne Latzhosen) wieder auf. Offenbar hat es Alexandra genügt, zu erleben, wie traurig ihre Betreuerinnen darüber waren, dass ihnen wieder nur eine entmündigende Maßnahme einfiel. – Als ich selbst, noch einmal ein Jahr später, wiederum Alexandras Wohngruppe aufsuche, beeindruckt mich ihre stark veränderte Ausstrahlung. Ich bekomme erzählt (und sehe auch selbst), dass ihre Körperhaltung eine andere geworden ist – statt wie früher gebückt geht sie aufrecht und blickt sich beim Spazierengehen neugierig um; mir selbst fällt auf, dass ich ihr gegenüber ganz anders reagiere – ich freue mich, sie wieder zu sehen, und sie ist mir ausgesprochen sympathisch. Auch sie erkennt mich wieder, lächelt fröhlich und fast verschmitzt, als sie mich kurz anblickt.[43]

Zerstörung und Rekonstruktion des dyadischen Feldes

Um nachvollziehen zu können, was mich zu meinem Eingriff gebracht hat, müssen wir verstehen, welche Mechanismen das Geschehen zwischen Alexandra und ihren Betreuerinnen zur dyadischen Konfrontation hatte erstarren lassen. Wir hatten einen ähnlichen Mechanismus des Entgleisens der Interaktion schon bei Mark gesehen: Dessen Selbstbehauptung und die unbewusste Fantasie der Betreuerinnen machten ihn zum »vergewaltigenden Monster«. Diese Fantasie mussten die Betreuerinnen mit einer Reaktionsbildung abwehren: sie mussten Marks Gebaren passiv dulden, weil die pädagogische Allmachtsfantasie ihm nicht zugestehen konnte, dass er damit solche Macht über sie ausübte. So hatten sich beide miteinander in einem fatalen Reiz-Reaktions-Mechanismus eingerichtet, der das Interaktionsmuster ausweglos erscheinen ließ. Im Falle von Alexandra verhält es sich ähnlich; auch hier müssen schuldhaft erlebte Fantasien von Irene und ihren Kolleginnen mit Reaktionsbildungen – mit besonderer Zuwendung, wo Angst und Ablehnung herrschen – abgewehrt werden. Und auch hier werden die unterdrückten Fantasien zum Auslösereiz für den Wiederholungszwang des »kindsmörderischen Introjekts«, mit welchem Alexandra die Fantasien wiederum bestätigt. Der Spaltungsmodus der Repräsentanz des Fremden tritt auf den Plan und sorgt dafür, dass die Mutter Alexandras als böse fantasiert wird, während einzelne Betreuerinnen sich in die Gegenposition der »Guten« begeben und aus dieser pädagogischen Hybris heraus Alexandra in Bedrängnis versetzen.

Wie wir nun schon mehrfach gesehen haben, verleitet der den unbewussten Mechanismen gehorchende Behandlungsauftrag dazu, Einrichtungen, und insbesondere Wohngruppen, als Familien-Ersatz zu gestalten. In dem damit einhergehenden Angebot zu infantiler Abhängigkeit verhakt sich der Wiederholungszwang derer, die auf die Hilfestellung solcher Einrichtungen angewiesen sind, da ihrem »kindsmörderischen Introjekt« die nämlichen situativen Strukturen der »Institution Geistigbehindertsein« zu Grunde liegen, die auch das unbewusste Gefüge der Einrichtungen bestimmen. Wir sahen dies schon bei Fritz, dessen Tobsuchtsanfälle schließlich als Rechtfertigung für den Einsatz massiver Zusatzmedikation geradezu herbeigewünscht werden mussten. Auch bei Alexandra lässt sich ein Beispiel für solches Ineinander-Verhaken von individueller Problematik und institutionellen Mechanismen schnell finden: Indem sie sich beschmiert, nimmt sie die von der Reaktionsbildung abgewehrte gegen sie gerichtete Ablehnung in sich auf, und bestätigt und verstärkt so das Abgewehrte. Der Ekel muss dann nach Art einer Reaktionsbildung abgewehrt werden. Die aufgesetzte freundliche Zuwendung ihrer Betreuerinnen erhält dadurch etwas Heroisch-Allmächtiges, während Alexandra selbst sich damit in der Position der Minderwertigen einrichtet.

Die institutionelle Gegenübertragung sorgt dafür, dass individuelle Bedeutungen als das auszuschließende Fremde behandelt und vernichtet und Gesten zu Auslösereizen werden. Alexandras Schmieren wird nicht mehr als Ausdruck ihrer unbewussten Fantasie verstanden, sondern wirkt als Auslösereiz, der die pädagogische Hybris auf den Plan ruft, die auf alles freundlich reagiert und lächelnd Gestank und Ekel erträgt.

Ähnlich wird Marks Onanieren nicht als ein verzweifelter Versuch zur Selbstbehauptung verstanden, sondern zum Auslösereiz einer weiblichen Unterwerfungsgeste, die sich als pädagogische Freundlichkeit tarnt und so wiederum Bestandteil der pädagogischen Allmachtsfantasie wird. Die durch die falsche Freundlichkeit abgewehrten negativen Gefühle sorgen dann ihrerseits wiederum als Auslösereize für Alexandras Fantasie, böse und schmutzig, oder für Marks Fantasie, impotent und ein Nichts zu sein. Beide Male wird das dyadische Feld, in welchem Bedeutungen im »Nebenbei« entstehen und sich entfalten können, zerstört. Wenn nun die Ausdrucksmöglichkeiten für erwachsene Autonomiewünsche auf Grund der geistigen Behinderung ohnehin schon höchst eingeschränkt sind, sorgt solcherart pseudo-familiale Harmonisierung dafür, dass jeder Ansatz zur Selbstbehauptung der Betreuten im Gesamt des fantasmatischen Systems zunichte werden muss. Die spontane Geste kann nur dort aufgenommen und in eine pädagogische Hilfestellung umgesetzt werden, wo der Raum zur Wahrnehmung des Fremden nicht von Fantasmen eingenommen ist.

Nun gilt es freilich zu bedenken, dass jede Art von betreuerischer Beziehung Übertragungen von infantilen Mustern auslösen wird, Mustern, die die professionellen Helferinnen in die Rolle der infantilen Objekte verführen. Die Grenzlinie zwischen einem bewusstlosen, von institutionalisierter Abwehr gesteuerten Ausagieren dieser Rolle und einer bewussten Aufnahme solcher Rollenzuweisungen, welches die pädagogische Aufgabe ist, ist schwer zu ziehen. Damit die konfrontative Situation aufgelöst und ein dyadisches Feld rekonstruiert werden kann, gilt es, das Ineinandergreifen von individueller Übertragung und institutionellen Gegenübertragungen zu verstehen; gilt es insbesondere, die Unterscheidung zwischen einem unbewussten Ausagieren und einem verstehenden Aufnehmen der zugewiesenen Rolle immer wieder neu zu treffen.

Die unbewusste Identifikation mit einem Primärobjekt der betreuten Person hat andere Folgen als das pädagogische Gewahrwerden von einer Antwortbereitschaft, die »role-responsiveness«[44]. Ersteres wird zwangsläufig dazu führen, dass in einer Neuauflage der Interaktionsmuster der Herkunftsfamilie die pathologischen Muster des kindsmörderischen Objekts sich reinszenieren. Letztere ist demgegenüber als Ausdruck der szenischen Teilhabe an deren unbewusster Inszenierung verstehbar. So kann sie im Wechsel von der unbewussten Teilhabe zur bewussten Reflexion deren situative Struktur erkennbar machen und verändernd eingreifen. Es galt hier also, aus der unbewussten Rollenübernahme eine solche »role-responsiveness« werden zu lassen.

Wir sahen an der Geschichte von Gudrun, dass der betreuerische Alltag, je weniger Ausdrucksmöglichkeiten den Betreuten zur Verfügung stehen, desto ausdrücklicher als ein System bedeutungshaltiger Handlungen und Gesten verstanden werden muss. Die dyadische Konfrontation hatte diesen Raum der Bedeutungen im Falle von Alexandra durchgreifend zerstört, und so musste mein Eingriff darauf hinwirken, dass wieder ein »Nebenbei« entstehen konnte. Er musste die angstvolle Fixierung der Wahrnehmung und Fantasmen der Betreuerinnen auf Alexandra aufheben, sodass sie frei wurden, auch wieder Unerwartetes und Unerhofftes, Fremdes in ihrer Wahrnehmung zuzulassen.

Aus meinen Reflexionen über Alexandras individuelle Geschichte und deren Zusammengreifen mit den institutionellen Gegenübertragungen, der pädagogischen Allmachtsfantasie, ergab sich ein Eingriff in das szenische Arrangement, welches sich zwischen Alexandra und ihren Betreuerinnen festgefahren hatte. Wie sich dieser Eingriff ableitet, möchte ich nun anhand der Rekonstruktion von Alexandras individueller Geschichte und von deren Ineinandergreifen mit den institutionellen Gegenübertragungen darstellen.

Überlegungen zur Psychodynamik

Gehen wir zunächst den situativen Strukturen nach, die sich in meinem Bericht abzeichnen. An ihnen lässt sich die individuelle Psychodynamik Alexandras ablesen, die ich hinter dem Geschehen in der Wohngruppe am Werke sah.

Dem psychoanalytischen Blick fallen an den Szenen unseres Beispieles – ganz klassisch – zuallererst triebhafte Motive ins Auge. Die orale Thematik zeigt sich an Alexandras Gier bei der Verteilung der Kekse; sie kehrt wieder in der Erzählung, dass die Mutter Alexandras immer große Mengen Süßigkeiten mitbringt, die Alexandra gierig aufisst, um sie dann später zu erbrechen. Zur ersten Szene gehört – wir wissen noch nicht, wie – meine seltsame Langeweile, als ich bei diesem Kaffeetrinken neben Alexandra sitze und sie beobachte. Meine analytische Erfahrung sagt mir hier, dass diese Langeweile einen Affekt verbergen soll, den ich mir in der Situation nicht meine erlauben zu dürfen – in der Tat kann ich im Nachhinein darin Fantasien über die Hässlichkeit Alexandras, insbesondere über eine mich abstoßende Stumpfheit in ihrem Gesichtsausdruck wiederfinden, die ich mir in der Situation nicht hatte bewusst machen können, da sie nicht mit meiner Aufgabe, mich besonders Alexandra zuzuwenden, vereinbar schienen und mir latent Schuldgefühle machten. Zur zweiten Szene gehört die Vermutung des Teams, dass die Mutter Alexandras mit ihren Geschenken ein schweres Schuldgefühl zuzudecken bemüht sei.

Nun wissen wir, dass die Mutter, ähnlich wie ich, eigens für Alexandra kommt; dass sie offenbar, ebenso wie ich, mit ihr wenig anzufangen weiß, nicht ihre eigentlichen Bedürfnisse (welche auch immer diese sein mögen) kennt; und dass sie, wiederum ähnlich wie ich, getrieben von Schuldgefühl versucht, dies zu überspielen – wobei zu bemerken ist, dass ich, anders als die Mutter, durch meine professionelle Rolle davor geschützt war, meine Schuldgefühle auszuagieren, und abstinent bleiben konnte. Wir wissen nun nicht, was bei der Mutter das Schuldgefühl ausgelöst hat – aber wir wissen es (dies der Erkenntnisgewinn aus meiner Abstinenz) von mir: Fantasien darüber, dass Alexandra nicht war, wie ich sie mir, nach der Szene im Seminar, wünschen mochte (nämlich wild und triebhaft, eine Art faszinierendes Monster); dass sie mir hässlich und stumpf erschien, und die andere Bewohnerin viel attraktiver, viel geeigneter, mein Interesse zu wecken; ein Schuldgefühl also, dass ich ihr die andere vorzog. Wenn wir nun meine Gegenübertragungs-Fantasien probeweise bei der Mutter einsetzen, ergibt sich ein nächster Verstehensschritt. Wir legen hier ein weiteres biografisches Detail zu Grunde, welches durch meine Gegenübertragung nahe gelegt wird: Die andere Bewohnerin erscheint mir so viel interessanter als Alexandra. Das passende Detail aus Alexandras Biografie ist, insofern es das Einzige ist, welches überhaupt irgendetwas über ihre affektive Situation in der Kindheit sagt, in seiner Wichtigkeit besonders betont: ihre Eifersucht auf die neugeborene Schwester. So geraten wir in der Verdichtung der beiden Szenen zu dem Gedanken, dass nach der Geburt der Schwester Alexandras die Mutter ähnliche Fantasien gehabt haben könnte – dass Alexandra nicht ihrer Vorstellung eines gesunden Kindes entspreche, das jüngere Töchterchen jedoch umso mehr; und dass aber solche Fantasien gegenüber Alexandra sich für eine Mutter nicht schickten und deswegen ins Gegenteil, in Überversorgung, verkehrt werden mussten, welche sich nun bis in ihre heutigen Besuche fortsetzt – und darüber hinaus bis in die pädagogischen Bemühungen, das von Alexandra ausgelöste Desinteresse durch besondere Freundlichkeit zu überspielen. Die offenkundigen Schuldgefühle der Mutter würden hier eine Begründung finden, ebenso wie diejenigen in der Gegenübertragung der Betreuerinnen.

So kommen wir zu einem Konstrukt von Alexandras früher Lebenssituation: Ein Entzug der emotionalen Zuwendung nach der Geburt der Schwester, ein Mangel, und wahrscheinlich auch auf sie, die sie im Vergleich mit der neugeborenen Schwester so viel schlechter abschnitt, gerichtete kindsmörderische Fantasien der Mutter wurden von dieser durch orale Überversorgung kompensiert. Die orale Versorgung, die als Reaktionsbildung die unbewusste Fantasie verdecken sollte, war sozusagen emotional vergiftet: mit ihr nahm Alexandra die mütterliche Fantasie von ihrer Schlechtigkeit und Wertlosigkeit, nahm sie die unbewusst gemachten Tötungsfantasien als projektive Identifizierung in sich auf.

Es scheint freilich von der Gegenübertragungssituation her näher liegend, das Konstrukt einer entgleisten Mutter-Kind-Interaktion zeitlich nicht erst mit der Geburt der Schwester beginnen zu lassen. Meine Ablehnung Alexandra gegenüber entstand nicht im Zusammenhang mit ihrer Mitbewohnerin, sondern wurde nur im Kontrast zu dieser besonders deutlich. Schon mein allererster Eindruck von Alexandra war ja: »Die ist aber nicht, wie ich sie mir vorgestellt hätte«. Ähnlich könnte es auch in Alexandras Kindheit gewesen sein: Möglicherweise hatte sie eine autistische Entwicklungsstörung entwickelt, und die im alltäglichen Umgang in ihren Bemühungen frustrierte, verunsicherte Mutter bemerkte dann im Umgang mit dem kleineren Töchterchen den Kontrast, bemerkte, dass sie ja doch Mutter sein konnte. Damit wurde aus einem zunächst nur diffusen Unbehagen in der Mutter-Kind-Beziehung direkte Ablehnung; aus dem, was an Alexandra anders war, wurde ein auszuschließendes Fremdes. Auch diese Beschreibung – dies möchte ich betonen – ist und bleibt Konstrukt. Als solches aber konnte ich sie meinem Eingriff zugrundelegen.

Nun legt die beschriebene Situation es nahe, eine weitere der psychoanalytischen Triebtheorie entnommene Überlegung einzusetzen: Das Lebensalter Alexandras, in welches wir das ihre gegenwärtige Lebenssituation bestimmende Affekt-Geschehen datieren, ist eines, in welchem in der Regel bereits die zweite Stufe der Triebentwicklung erreicht ist, die anale Phase. Die Grundthematik der analen Stufe dreht sich bekanntermaßen um Passivität und Aktivität: das Kind übernimmt hier seine Impulse und Wünsche - als ein Innen, das sich auf ein Außen richtet – in eigene Regie. Die Unterscheidung von aktiv und passiv und die von Innen und Außen werden hier über das Erwerben der Kontrolle über die Aussscheidungsfunktion körperlich-sinnlich angeeignet.

Szenische Muster, die das anale Moment an der Problematik Alexandras verdeutlichen, sind denn auch in der Erzählung leicht ausgemacht. Es beginnt schon mit der Weigerung oder Unfähigkeit der Rollenspielgruppe, in Ichform zu reden, also sich der aktiven Rolle zu stellen. Geradezu plakativ stellt das Anale sich in Alexandras Neigung zum Schmieren mit dem eigenen Kot oder anderen Exkrementen dar. Auch ihre zwanghafte Neigung, bereitgelegte Handtücher zu verstauen, verweisen auf den analen Bereich. Sie kann als eine Art Reaktionsbildung, Umkehrung ins Gegenteil, aufgefasst werden. Mit diesem Aufräumen bekämpft Alexandra sozusagen die gegenläufige Neigung zum Schmieren und Beschmutzen. Zugleich jedoch mögen wir dahinter – wenn wir wiederum das Eifersuchtsmotiv hinzunehmen – noch etwas anderes vermuten. Indem Alexandra die für ihre Mitbewohnerinnen zum Waschen bereitgelegten Handtücher wegräumt, scheint sie zum Ausdruck zu bringen, dass sie nicht wünscht, dass diese gewaschen werden sollen. Aus den szenischen Zusammenhängen können wir hier die Fantasie extrapolieren, dass die anderen, wenn sie ungewaschen bleiben, und also genauso schmutzig, genauso »schlecht« bleiben wie sie, ihr nicht, wie die Schwester, vorgezogen werden können. Dafür spricht auch, dass das Wegräumen der Handtücher zwangsläufig dafür sorgt, dass man sich um sie kümmern, sie nämlich davon abbringen muss.

(In der Retrospektive muss ich eingestehen, dass letztere Deutung etwas dünn bleibt und, wie die weitere Entwicklung zeigte, auch nicht die zentrale Bedeutung des Wegräumens erfasste; die Symptomhandlung des Wegräumen-Müssens behielt Alexandra bis heute bei. Trotz solcher Einschränkungen freilich sind die Versuche, in solchen Geschichten einen subjektiven Sinn zu rekonstruieren, unverzichtbar für die integrative pädagogische Arbeit. Voraussetzung ist freilich auch die Bereitschaft, in der konkreten Auseinandersetzung solche Geschichten immer wieder relativieren zu lassen.)

In die anale Phase, so unsere Annahme, kam Alexandra bereits geschädigt: Der orale Vorgang der projektiven Identifizierung ist nicht gelungen, er hat sich vielmehr in entscheidenden Bereichen umgekehrt – die Mutter hat für ihre eigenen aggressiven Impulse gegenüber Alexandra keine Bewusstheit, also kein Gefäß (container), und so hat sie Alexandra zum Gefäß für die ihr fremde Aggression genommen: Alexandra wurde ihr zur abzuwehrenden Fremden. Aus der Sicht der Mutter mag das so ausgesehen haben, dass die allmählich deutlich werdende Entwicklungsstörung Alexandras in ihr Enttäuschung, Angst, Wut, schließlich mörderische Impulse auslöste, die ihre versorgenden Aktivitäten unbewusst bestimmten und unterminierten. Das Lebensspendende der oralen Zuwendung wurde in der unbewussten Fantasie todbringend, das oral Aufgenommene Gute erwies sich als vergiftet, unverträglich, schlecht. Damit wurde die sich im Zuge der analen Entwicklung ausbildende Vorstellung Alexandras vom eigenen Innen verzerrt durch die mütterliche Projektion: Ihr Innen wurde, oral ausgedrückt, durch das aufgenommene Böse schlecht und verdorben, anal ausgedrückt wurde es eklig, schmutzig. Das Innen als Ort der Wünsche ist damit zum Ort des Bösen geworden: Alexandra erlebt ihre Wünsche als böse, als gierig und zerstörerisch.

Indem wir also unser metapsychologisches Wissen über die Dynamik anal bestimmter seelischer Vorgänge hinzuziehen, kristallisiert sich das Bild, welches wir von Alexandras innerer Welt entwerfen, in weiter zunehmender Klarheit heraus: Alexandra erlebt sich auf der oralen Ebene als schlecht, als eine, die die aggressiven Fantasien ihres Selbstobjekts als schlechte Nahrung in sich aufgenommen hat und dadurch vergiftet ist und erbrechen muss; sie erlebt sich auf der analen Ebene als schlecht, als eine, in deren Inneren nur Schlechtes ist und aus der nur Schlechtes ins Außen kommen kann. Gemäß dem analen Modus des Erlebens ist dieses »Schlechtsein« gleich bedeutend mit schmutzig sein, und wenn sie sich und ihr Zimmer mit ihren Exkrementen einschmiert, oder auch wenn sie Handtücher wegräumt und damit Reinigungsprozeduren vereitelt, bringt sie ihr Selbstgefühl zum Ausdruck. Solches Selbstgefühl ist im analen Modus des Erlebens bereits ein tendenziell vom Außen getrenntes Innen, und es ist eng verknüpft mit dem aktiven Wünschen-Können, welches hier seinen Ursprung hat. In der Vermischung des oralen und des analen Modus werden die projektiven Identifizierungen, mit denen Alexandra gefüttert wird – die abgespaltenen aggressiven Fantasien ihrer Mutter, ihrer Betreuerinnen – nun zu in ihrem Inneren virulenten, sich auf das Außen richtenden Impulsen.

Von hier aus könnten wir uns mit unserem szenischen Verstehen weitertasten und versuchen, die drohende Ausstoßung Alexandras aus der integrativen Wohngruppe zu vergleichen mit jener Ausstoßung Alexandras aus der Familie, die ihr Schicksal besiegelte. Es sind Alexandras mörderische Impulse, welche ihren Verbleib in der Wohngruppe in Frage stellten, und aus dem Vergleich wäre wohl jener Originalvorfall zu konstruieren, in welchem Alexandra ihre Ausstoßung aus der Familie provoziert haben könnte – eine jener Szenen auch, die wir hinter dem Zurückscheuen der Mutter vor konkreten Auskünften über Alexandras frühe Kindheit vermuten können. War Alexandra vielleicht als Kleinkind schon einem solchen mörderischen Impuls erlegen? Nahe liegendes Opfer könnte dann die vorgezogene, in allen Belangen als überlegen erlebte Schwester gewesen sein. Hatte sie als kleines Mädchen an dieser einen Mordversuch begangen, und war dies der Grund für ihre Ausstoßung aus der Familie gewesen? Dass dies nicht ganz unwahrscheinlich ist, wissen wir aus vielfacher Lebenserfahrung, und die Schuldgefühle der Mutter könnten darauf hinweisen, dass diese spürte, wie sie Alexandra in diese mörderische Aktion hineingetrieben hatte, indem sie die Schwester vorzog.

Diese Konstruktion steht freilich noch auf unsicheren Füßen. Würden wir annehmen, dass Alexandra aus einer Schwester-Übertragung heraus die Betreuerinnen angreift, dann müssten wir uns fragen, warum sie ihren Hass nicht eher gegen Mitbewohnerinnen richtet, die doch für eine solche Übertragung viel mehr in Frage kämen. Die Übertragungsvorgänge, die sich hier abspielen, dürften freilich eher selbstobjektaler als objektaler Natur sein, d.h. Alexandra erlebt im Gegenüber abgespaltene Selbstanteile, nicht auskonturierte Beziehungsobjekte. So können wir annehmen, dass sie schon in der neugeborenen Schwester, und später dann auch in ihren Betreuerinnen, einen besonders bedrohlichen Aspekt ihrer selbst bekämpfen muss.

Dies muss sie in ganz bestimmten Situationen, aus Anlass ganz bestimmter Auslösereize tun – all jener nämlich, welche eine spontane Sehnsucht nach guter Nahrung, nach Liebe und Gehaltensein in ihr wecken. Wir hatten aus manchem Detail geschlossen, dass schon bei der frühesten Versorgung Alexandras das Geschehen entgleiste, dass Alexandra aus den oralen Interaktionen heraus bereits geschädigt war. Orale Versorgung scheint, aus welchen Gründen auch immer (hier ist die Geschichte noch undurchdringlich für unsere Konstruktion), gleichzusetzen mit Vergiftung. Wir haben gesehen, welche Abwehrmöglichkeit Alexandra hier allein zur Verfügung steht: Wenn ich eigens für sie komme – wenn sie also ganz besondere (orale) Zuwendung bekommen soll – dann zeigt sie sich einerseits sehr gierig; auf der anderen Seite aber tut sie alles, um zu vermeiden, dass ich mich ihr besonders zuwende. Sie versucht, ihre Gier »zuzustopfen« und sie unbedingt aus dem Kontakt herauszuhalten (wobei ich hier davon ausgehe, dass Alexandra, getragen von der Übertragung der Betreuerinnen auf mich, eine durchaus intensive Übertragung auf mich entwickelt hat, dass sich ihr Agieren also auf mich bezieht – eine Annahme, die sich bestätigt, als sie mich anderthalb Jahre nach dieser Begegnung wiedererkennt). Das wirkt wie eine Art seelischer Kurzschluss. Indem sie das Bedürfnis nach oraler Zuwendung mit ihrem gierigen Agieren »kurzschließt«, vernichtet sie seine interaktiv-soziale, seine Bedeutungs-Dimension. Dies ist ihre Art, sich tot zu stellen.

Die mörderischen Impulse müssen nun immer dann in ihr übermächtig werden, wenn entgegen ihren ständigen Versuchen, sich tot zu stellen, die Sehnsucht nach nährendem Kontakt sich wieder regt. Sie muss dann den Auslösereiz zum Schweigen bringen. Auslösereiz könnte in ihrer Kindheit die identifikatorische Teilhabe am Gelingen der Interaktion zwischen Mutter und Schwester gewesen sein, welche in ihr den bereits zugestopften, tot gestellten Wunsch, dasselbe zu erleben, wieder virulent machte, damit aber auch immer wieder jene Konstellation herstellte, die zum Sich- tot-Stellen geführt hatte; Auslösereiz ist nun in der Betreuungssituation paradoxerweise das Bemühen der Betreuerin, Alexandras Sich-Totstellen durch besondere soziale Zuwendung zu durchbrechen.

Hier ist die mitschwingende Bedrohung – Auslöser des Totstellreflexes – schon deutlicher: Die Betreuerinnen wenden sich Alexandra nicht aus eigenem spontanem Bedürfnis zu, vielmehr in leugnender Abwehr von Angst und Ablehnung. Unser Konstrukt sagt, dass ähnliche Gefühle der Mutter deren frühe Interaktionen mit Alexandra geprägt haben. Welche Realität dem zugrundeliegt, können wir nicht wissen; es ist für den Eingriff jedoch auch nicht von Bedeutung.

Institutionelle Dynamik

Dafür, dass die Wirkung meiner Intervention so anders war als das im Seminar erarbeitete Verstehen im Falle von Fritz, war zuallererst wohl das Setting ausschlaggebend. Hier war ich nicht, im Verein mit einem Seminar an der Universität, diejenige, die von außen alles besser wissen kann. Damit geriet ich diesmal nicht in die von der institutionellen Gegenübertragung nahe gelegte Rolle der schuldzuweisenden Umwelt. Hier wurde ich nicht, wie für das Team um Fritz, zu einer Umwelt, die solche Schuldzuweisungsmanöver einsetzt, um ihre Strategien des Ausgrenzens des Fremden unbewusst zu machen. Vielmehr ließ ich mich selbst auf eine Begegnung mit Alexandra, ihrer Wohngruppe und dem betreuenden Team ein. Zwar konnten am Tag danach, als ich meinen Vorschlag machte, nur Irene und eine der Mitarbeiterinnen ihres Teams am Workshop teilnehmen, mein Besuch jedoch hatte hinreichend Vertrauen schaffen können, dass mein Vorschlag nicht als Überich-Forderung, sondern als stützender Eingriff erlebt und angenommen werden konnte.

Hinzukam, dass ich hier mit einem Vorschlag eingriff, während ich im Seminar hauptsächlich ein Verständnis der individuellen unbewussten Mechanismen erarbeitet hatte. Damit zeigte ich, dass ich bereit war, angesichts der Überforderung Irenes und ihres Teams selbst Verantwortung zu übernehmen und notfalls auch zu ertragen, dass mir das Scheitern meines Vorschlag hätte zur Last gelegt werden können. Es musste ja darum gehen, diese Bereitschaft zur Übernahme von Rollen-Verantwortung – die »role-responsiveness« – auch bei den Betreuerinnen wiederherzustellen. Indem ich mich der Verantwortung stellte, an der sie mit Alexandra zu scheitern drohten, bot ich mich als verlässlich haltendes Objekt an, anstatt in Rivalität und Konfrontation einzutreten.

Eine der größten Herausforderungen der pädagogischen Arbeit ist es, jederzeit die gerade benötigte Familienrolle zu übernehmen und entsprechend für Projektionen verfügbar zu sein und gleichzeitig der Versuchung zu widerstehen, sich mit der Rolle zu identifizieren und eine Familiensituation herzustellen; diesen Zwiespalt gilt es auszuhalten und zu ertragen. Sich der jeweiligen Rolle bewusst zu werden ist auch deshalb ein so schwieriger Prozess, da wir uns in der Betreuungsarbeit fast ausschließlich in Kontexten mit mehreren Personen gleichzeitig bewegen, entsprechend vielfältig sind die Rollenzuweisungen. In diesem sehr sensiblen Gefüge liegt die eigentliche Verantwortung der Pädagogin darin, den Überblick zu bewahren: wo bewegen wir uns in der Rolle, wo bewegen wir uns in der Realität und wie gestaltet sich die Dynamik der gesamten Gruppe. Die Geschichte von Mark kann als Beispiel dafür stehen, wie Situationen entgleisen können, sobald dieser Überblick verloren geht.

Nicht jeder beliebige Vorschlag hätte hier freilich helfen können. Hätte ich etwa angeregt, dass das Team sich intensiver und freundlicher um Alexandra bemühen sollte, dann hätte dies wohlmöglich einen weiteren Eklat zur Folge gehabt – das Team fühlte ja alles mehr denn Freundlichkeit gegenüber Alexandra. Es ging also zunächst einmal darum, die Gegenübertragungen des Teams ernst zu nehmen und aufzugreifen. Hier begann bereits meine Übernahme von Verantwortung, empfand ich selbst doch ähnlich: Mich langweilte Alexandra, ich mochte sie nicht und zog ihr eine andere eigentlich vor; zwar fühlte ich mich verpflichtet, mich ihr zuzuwenden, aber ich empfand keine innere Neigung dazu; ich fand sie zudem hässlich. Mein Eingriff sorgte nun dafür, dass solche Gegenübertragungen nicht mehr schuldhaft erlebt, und also auch nicht mehr nach Art einer Reaktionsbildung abgewehrt werden mussten, sodass sie ihre Bedeutung in Alexandras Inszenierung wiedererhielten.

Dass Alexandra auch mir deutlich die »kalte Schulter« zeigte, sich von mir wegsetzte, nicht mit mir spazieren gehen wollte, war für alle Anwesenden deutlich erkennbar. Auch dies dürfte bereits entlastend gewirkt haben: Wenn auch die »Frau Doktor aus Hamburg« von Alexandra nicht mit offenen Armen empfangen wurde, dann mussten die Betreuerinnen solche Ablehnung nicht auf sich persönlich beziehen und sie nicht als Anklage erleben.

Ich war also in die Szenerie, die den täglichen Umgang mit ihr in der Wohngruppe prägte, eingebunden. Mein Eingriff entstand aus dieser situativen Teilhabe heraus, und die Schuldgefühle, die ich selbst empfand, weil ich gegenüber derjenigen, um deretwillen ich eingeladen worden war, solch ausdrückliches Desinteresse erlebte, leiteten mich. Anzunehmen, dass diese Schuldgefühle den Umgang mit ihr grundsätzlich kennzeichneten, lag nahe.

In der psychodynamischen Skizze habe ich zunächst individuelle Hintergründe dieser Schuldgefühle verzeichnet, indem ich sie als Gegenübertragung in Alexandras Inszenierung begriff. Auf Alexandras Fantasie, böse und schuldig zu sein, traf das Schuldgefühl der Betreuerinnen dafür, dass sie Alexandra nicht spontan mochten, sondern wegen ihrer latenten Gewalttätigkeit fürchteten und ablehnten. Die Unehrlichkeit der von der Reaktionsbildung bestimmten Zuwendung und die darin spürbaren, abgewehrten Ängste wurden von Alexandra als Bedrohung erlebt, die in ihr den Impuls zur Vernichtung des Wunsches nach echter Zuwendung auslöste. Da die Betreuerinnen ihre eigenen Gefühle leugneten, mussten sie sie unkontrolliert projektiv in Alexandra auslagern, und Alexandra konnte, angefüllt mit den Fantasien über ihre potenzielle Gewalttätigkeit, sich nur mehr als das Monster erleben, welches sie in ihren mörderischen Angriffen dann darstellte.

Wie wir sahen, beruht die pädagogische Allmachtsfantasie und damit auch die hier wirksame Reaktionsbildung auf der Projektion kollektiver Tötungsfantasien in diejenigen, die mit ihrer Verwaltung beauftragt sind. Aus diesem Mechanismus ergibt sich das strenge Überich, vor dem die Einzelnen letztlich nur versagen können. Diesem Überich konnte mein Eingriff dadurch die Schärfe nehmen, dass ich selbst die Rolle einer Überich-Instanz anzunehmen bereit war. Ich bediente mich hier ganz bewusst der Rolle der »Frau Doktor aus Hamburg«, um diese Entlastung herbeiführen zu können. Es war mir dabei nicht ganz wohl, da ich um die Brüchigkeit von Übertragungsheilungen wusste, jedoch erforderte die akute Notlage im Wohngruppenteam meine Bereitschaft zur Rollenübernahme, und ich konnte hoffen, dass das Team sich in der täglichen Arbeit die vorübergehend angemaßte Übermacht von mir wieder würde zurückholen können – wie es ja auch in der Tat geschah.

Dadurch, dass die Betreuerinnen sich mit mir als gewährendem Überich identifizieren konnten, mussten sie ihre spontanen Impulse Alexandra gegenüber nicht mehr unterdrücken; sie mussten nicht länger besondere Freundlichkeit walten lassen, wo sie sich eigentlich emotional zurückhalten wollten. Konkret hieß dies, dass sie ihre Aufgabe erfüllten, indem sie Alexandra beiläufig versorgten und ihr keinen weiter gehenden Kontakt aufdrängten. Sich nur noch »beiläufig« um Alexandra kümmern hieß auch: vornehmlich im Beisein anderer. Damit mussten sie weniger Angst vor Alexandras Angriffen haben und die Situation konnte sich entspannen.

Diese Entspannung erlaubte es ihnen nun, spontane Impulse Alexandras in konstruktiver Weise aufzugreifen. Psychoanalytisch ausgedrückt: die Betreuerinnen konnten erst jetzt ihre Aufgabe des containing der projektiven Identifizierungen im dyadischen Feld mit Alexandra erfüllen und der spontanen Geste Raum geben. Diese Aufgabe ist nun etwas grundsätzlich Anderes als das Herstellen einer Familien-Situation. Sie ist Bestandteil der pädagogischen Aufgabe, sich unter Verzicht auf vorgeprägte Vorstellungen von »Integration« den Angewiesenheiten der Betreuten zur Verfügung zu stellen, Bestandteil der pädagogischen »containing function«.

Ein lediglich rezeptives Eingehen, ein reines »Nebenbei«, wie es zwischen Marlies und Gudrun immer wieder gelang, wäre in der Situation mit Alexandra freilich nicht ausreichend gewesen. Ein Moment des Aktiven lag schon in Alexandras Einkoten und Schmieren. Dieses galt es aufzugreifen. Es musste Alexandras Fantasie, ganz schmutzig zu sein, Beachtung finden. In den Betreuerinnen machte sie sich als Ekel – und damit als das Bedürfnis, den Schmutz zu entfernen – bemerkbar. Dieses Bedürfnis der Betreuerinnen war als Moment ihres containing, des Aufnehmens der projektiven Identifizierung Alexandras, zu verstehen und umzusetzen. Von ihr selbst konnte noch nicht erwartet werden, dass sie gewaschen zu werden wünschte – sie erlebte ihre Wünsche ja vorläufig noch als böse und schmutzig. So, wie ich Verantwortung für die ablehnenden Gefühle der Betreuerinnen gegenüber Alexandra übernommen hatte, so mussten nun sie in diesem Zusammenhang für Alexandra Verantwortung übernehmen. Praktisch hieß dies: Alexandra musste gewaschen werden, und zwar ausdrücklich so, dass die Betreuerinnen diesen Wunsch für sie übernahmen. Das aktive Wünschen musste hier zunächst von den Betreuerinnen ausgehen, damit es endlich »gut« werden und als solches Alexandras Selbstgefühl bestimmen konnte. – Eine Fortsetzung dieses containing, dieses Halt gebenden Aufgreifens von Alexandras eigenen Impulsen, konnte durch die weitere Maßnahme des Eincremens erreicht werden. Damit konnte dem neuen Gefühl einer reinen, wohlriechenden Alexandra noch besondere Betonung verliehen werden. So aber konnte auch Alexandras Aktivität, sich mit Kot oder Erbrochenem zu beschmieren, in ein Gutes umgewandelt werden.

Dem Selbstgefühl Alexandras galt es zudem durch Veränderung des Anschauens Rechnung zu tragen. Wenn man Alexandra in die Augen schaute, forderte man sie als ganze Person heraus; damit aber machte man sie, so musste sie es erleben, verantwortlich für das, was sie war und tat – man sprach sie sozusagen schuldig. Indem die Betreuerinnen nun eher beiläufig in Kontakt mit ihr traten, ihr nicht ausdrücklich in die Augen schauten, erlaubten sie ihr, zum Teil eines interaktiv gestalteten Ganzen zu werden, auf die dyadische Beziehungsform zu regredieren, in welcher es noch keine Trennung von Innen und Außen gibt, also auch kein Innen, das von außen angeschaut werden kann. Mit allen Maßnahmen – dem beiläufigen Versorgen, dem Waschen und Eincremen auf Wunsch der Betreuerinnen, dem Vermeiden des ausdrücklichen Blickkontakts – wurde es Alexandra ermöglicht, sich regressiv fallen zu lassen und zu erleben, dass sie im oralen Modus des Interagierens gehalten war. Dies bot ihr endlich die Chance, einen eigenen Impuls als ein Gutes, Gehaltenes zu erleben und im Rahmen ihres Angewiesenseins auf Betreuung ihre Autonomie entfalten zu können.

So zeigte sich auch hier noch einmal, dass es im pädagogischen Handeln immer wieder darum zu tun sein wird, pathologische infantile Beziehungsmuster verstehend aufzugreifen. Dass dies keinesfalls als eine Reinszenierung familialer Abhängigkeit sich abspielen muss, ja, dass eine solche das Gegenteil dessen bewirkt, was integrative Pädagogik sich zur Aufgabe gemacht hat, zeigen die Beispiele von Fritz und Alexandra. Die eigentliche Aufgabe einer integrativen Pädagogik ist es vielmehr, solche Beziehungsmuster als Ausdruck einer subjektiven Geschichte und damit der Identität der Betreuten zu respektieren. Alexandra wird möglicherweise immer viel Distanz und autistischen Rückzug brauchen; wichtig ist ihr noch immer etwa das Wegräumen von herumliegenden Wäscheteilen, namentlich von Handtüchern, und es ist fraglich, ob sich dieses jemals ändern, ob jemals der Bedeutungshintergrund dieser Symptomhandlung hinreichend wird verstanden werden können, sodass sie darauf verzichten kann. Manches wird bleiben, oder aber nur in individueller psychotherapeutischer Arbeit zugänglich sein. Und auch darum geht es in der pädagogisch-betreuerischen Arbeit: Um den Respekt vor der Eigenart der Betreuten, die gelegentlich einfach nur ertragen werden kann – ein Respekt, der einhergeht mit einem Wissen um die Grenzen dessen, was Pädagogik erreichen kann und soll.

Nachtrag

Was mir noch wichtig ist: Nach dem Mordversuch an mir befand ich mich in einer existenziellen Krise. Zum ersten Mal überhaupt habe ich mir überlegt, ob ich diese Arbeit nicht aufgeben sollte. Ich arbeite jetzt schon über 10 Jahre in diesem Bereich und habe viele schwierige und bedrohliche Situationen erlebt, aber nie kam mir der Gedanke aufzuhören. Hier war ich jedoch an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr wollte. Mein Leben war mir einfach zu kostbar, um es auf diese Weise aufs Spiel zu setzen. Alexandras Mordversuch hat mich so weit gebracht; sie hat mir das Gefühl vermittelt, völlig gescheitert zu sein. Durch dieses Erlebnis habe ich alles in Frage gestellt. Nachdem ich mich entschlossen hatte, trotzdem weiterzumachen, arbeitete ich mit der Gruppe und vermied den Kontakt zu Alexandra gänzlich.

Im Nachhinein bin ich froh, dass ich nicht aufgegeben habe. Wohl aber habe ich mich entschlossen, aus der Gruppe mit Alexandra zu gehen und einen anderen Arbeitsbereich zu übernehmen. Ich hab es lange geleugnet, dass dies auch mit Alexandra zusammenhing, mittlerweile jedoch ist mir das sehr klar. Sie hat einen Mordversuch an mir begangen, darüber kann ich nicht hinweg. Es hat immer wieder Gewalttätigkeiten gegeben und ich bin trotzdem in die Arbeit gegangen, es hat aber nie jemand versucht mich so gezielt zu morden. Das hat für mich sehr viel in Frage gestellt. Ich glaube auch, dass es eine gute Entscheidung war aus der Gruppe zu gehen, denn der Mordversuch hat alles blockiert.

Anlässlich eines Vortrags, den ich über meine Intervention in Alexandras Wohngruppe hielt, wurde ich mit sanftem Vorwurf darauf hingewiesen, dass es doch wohl etwas unangemessen sei, angesichts einer so schwer geistig behinderten Frau von einem »Mordversuch« zu sprechen. Es sei gewiss richtiger, von einem Verzweiflungsausbruch o.ä. zu sprechen. Mir erscheint dies, wiewohl (juristisch jedenfalls, und gewiss auch politisch) korrekt, eine unmögliche Forderung. Wie, möchte ich fragen, soll Irene ihr Trauma bewältigen können, wenn sie das, was Alexandra ihr angetan hat, nicht beim Namen nennen darf; wenn sie Alexandra auch angesichts dieser Situation noch als Opfer sehen soll? Gewiss, Alexandra war im Moment des Geschehens wohl kaum entscheidungsfähig, war, getrieben von einem Impuls, dessen sie nicht mächtig war, nicht annähernd in der Lage zu überblicken, was sie da Schlimmes tat. Die Szenerie jedoch, die beide ergriffen hatte, war die eines Mordversuchs, in all seinen Konsequenzen. Hätte Irene im Gesamtteam ihres Vereins nicht die Möglichkeit gehabt, das Erlebte so zu benennen, wie sie es erlebt hatte, hätte sie wohl kaum ihre Arbeit dort fortsetzen können. Zudem kann ich mir gut vorstellen, dass es auch für Alexandra wichtig war, zu erleben, dass sie die Macht besaß, wirklich etwas zu zerstören – dass sie aber auch erfahren konnte, dass es einen Schutz gab gegen das Zerstörerische, das von ihr in solchen Situationen Besitz ergriff.



[42] [DN] Es geht hier darum, dass diese Unlust, sich mit ihr zu beschäftigen, nichts böses, sondern gut ist, also verstanden gehört statt verurteilt!

[43] Dieses Wiedererkennen nach so langer Zeit, und nach einer einzigen so wenig signifikant erscheinenden Begegnung mag unglaubwürdig erscheinen. Ich habe es jedoch häufig erlebt, dass gerade schwer geistig behinderte Personen ein deutliches Gespür für die Tragweite einer solchen Begegnung entwickeln können.

[44] Sandler 1976

Der Traum und die Wirklichkeit

Irene Lauschmann/Dietmut Niedecken

Karin

Die Geschichte, die Irene uns im Folgenden erzählen wird, ist wohl das Gegenstück zu der »Liebesgeschichte« von Marlies über Gudrun einerseits, zur schwer erträglichen Dramatik der Mark-Geschichte andererseits. Ein hysterisch-dramatisches Moment durchzieht den gesamten Bericht, und wenn es nicht zugleich immer um Leben und Tod gegangen wäre, dann könnte man über Vieles darin einfach herzlich lachen. Es ist vielleicht Karins dramatische Begabung gewesen, mit der sie Irene für sich gewinnen konnte und die es ihr und eine zeitlang auch Marlies letztlich ermöglicht hat, die Feuerprobe miteinander zu bestehen, der sie in der Auseinandersetzung um Karins »kindsmörderisches Introjekt« ausgesetzt waren. Wenn Integrationsprozesse in solcher Weise gelingen, dann spielt wahrscheinlich häufig eine solche persönliche Affinität derjenigen eine Rolle, die sich in diesen Prozess verwickeln lassen, zu der Person, um deren Integration es zu tun ist. Die Kunst ist dann, dass es einem Team gelingen muss, solche Affinitäten nicht rivalisierend zu verarbeiten, sondern ihrem Potenzial Raum zu geben. Wir werden im Folgenden nicht nur von Karins Ringen um ihren Platz in der Welt erfahren, sondern beiläufig auch ein ermutigendes Beispiel pädagogischer Teamarbeit kennen lernen.

Das Team der MIM-Gruppe und später Irene als Wohngruppenleiterin mussten in Karins Falle nicht auf meine direkte Unterstützung zurückgreifen. Gleichwohl bin ich Karin immer wieder begegnet und konnte so die erstaunlichen Veränderungen mitbekommen, die mit ihr vorgingen.

Karins Biografie

Karin wurde 1959 in einem Dorf in Tirol geboren. Sie hat einen Stiefbruder, der um einige Jahre älter ist. Da ihre Mutter arbeiten musste, wurde sie nach ihrer Geburt in einer Pflegefamilie aufgenommen. Ob und wie viel Kontakt sie in dieser Zeit zu ihrer Mutter hatte, ist in ihren Akten nicht weiter dokumentiert. Im Alter von 2–21/2 Jahren erkrankt Karin (vermutlich) an einer Hirnhautentzündung und muss für längere Zeit ins Krankenhaus. Ihre Mutter erzählt: »Ich weiß, dass sie schwer krank war, nichts gegessen hat und die Zähne bekommen hat. Anfälle hat sie keine gehabt. In der Klinik sagte mir der Arzt, sie habe eine Gedächtnislücke.«

Nach ihrer Entlassung aus der Klinik kommt Karin zu einer neuen Pflegefamilie in ein abgelegenes Bergdorf. Im Alter von 7 Jahren wird sie aus der Pflegefamilie genommen und in einem Internat mit Sonderschule in der Nähe von Innsbruck untergebracht. Der Kontakt zur Pflegefamilie bricht ab, da die Entfernung zu groß ist.

Karin muss bis zur Beendigung ihrer Schulpflicht in diesem Internat bleiben und wird dann im Alter von 15 Jahren wieder zu ihrer Mutter gebracht. Nach ca. 2 Wochen Aufenthalt »zu Hause« wird sie zum ersten Mal in die psychiatrische Anstalt eingewiesen. Als Grund für die Aufnahme wird von der Mutter aggressives und selbstgefährdendes Verhalten, sowie die Weigerung zu essen angegeben. Nach einem kurzen Aufenthalt in dieser Anstalt bekommt Karin einen Betreuungsplatz in einer großen Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung. Karin verbringt dort zwei Wochen und wird dann wieder wegen paranoiden Verhaltens und Aggressionen in die psychiatrische Anstalt eingewiesen. Die Begleitperson aus der Einrichtung berichtet, dass sie mit einem Messer auf eine Erzieherin losgegangen sei.

Von 1974 bis 1993 wird Karin in verschiedenen geschlossenen Abteilungen der psychiatrischen Anstalt untergebracht. Durch das neue Unterbringungsgesetz kommt sie 1991 in den offenen Bereich der Psychiatrie, den sie aber kaum verlässt. Anfang 1993 bekommt Karin einen Wohnplatz in einer 24 Stunden betreuten Wohngemeinschaft für acht Menschen mit geistiger Behinderung. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt in dieser Wohngemeinschaft wird sie erneut wegen aggressiven Verhaltens in die Psychiatrie eingewiesen. In den kommenden zwei Jahren kommt es zu 11 Einweisungen und Entlassungen, die meisten Einweisungen erfolgen auf Karins eigenen Wunsch. 1995 beschließt die Wohngemeinschaft, sie nicht mehr aufzunehmen.

In diesem Jahr bekommt Karin einen Betreuungsplatz in der MIM-Gruppe. Nach acht Monaten wird ihr nochmals von einem anderen Trägerverein ein Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft außerhalb der Psychiatrie angeboten, den sie wieder annimmt. Im Sommer 1996 wird sie nach mehrmaligen kurzen Aufenthalten im psychiatrischen Krankenhaus wegen schwierigen Verhaltens abermals in die Psychiatrie eingewiesen und der Trägerverein der Wohngemeinschaft, trifft die Entscheidung, sie grundsätzlich nicht mehr aufzunehmen.

Karin erhält daraufhin einen Wohnplatz in einer der 24 Stunden begleiteten Wohngruppen unseres Vereins, in der ich damals pädagogische Leiterin war. Nach einer lebensbedrohenden psychischen und körperlichen Krise am Beginn dieses erneuten Versuchs mit entsprechendem Krankenhausaufenthalt lebt sie nun seit 1996 ohne Unterbrechung in dieser Wohngruppe. Bis heute gab es keine mit früheren vergleichbare Krisen mehr. Diese Wohngruppe befindet sich räumlich noch im Gelände des Psychiatrischen Krankenhauses, wird aber in absehbarer Zeit in ein Wohnhaus in der näheren Umgebung umziehen. Karin will nicht in dieses Wohnhaus ziehen, sondern betreibt – Erfolg versprechend – ihre Aufnahme in eine tagesbetreute WG.

Ich lernte Karin 1995 kennen, als wir sie in die MIM-Gruppe aufnahmen. Wir hatten von Anfang an so etwas wie einen »guten Draht« zueinander, Karin fasste schnell Vertrauen zu mir. Daraus entwickelte sich über einige Jahre eine sehr enge und intensive Beziehung. Ich begleitete Karin weitere drei Jahre nach Auflösung der MIM-Gruppe in ihrer Wohngemeinschaft, da ich dort die pädagogische Leitung übernommen hatte, und konnte so an ihrer weiteren Entwicklung teilhaben. Vor ca. einem Jahr erlebten wir beide einen spannenden und schwierigen Ablöseprozess. Ich habe mich mittlerweile von der Arbeit in Karins Wohngruppe verabschiedet, um den Aufbau und die Koordination des ambulant begleiteten Wohnangebotes im Verein zu übernehmen. Die Beziehung zwischen Karin und mir besteht weiterhin – wir treffen uns regelmäßig – wenn auch in einer anderen Form und Intensität. Unsere Treffen haben so etwas wie den Charakter einer normalen guten Freundschaft bekommen.

Karin vorher – Karin nachher

Wie schon beschrieben gehörte es zu den Aufgaben der ca.-Gruppe, die psychiatrischen Abteilungen zu entlasten und daher auch »besonders schwierigen« Insassinnen zu begleiten. Karin war eine derjenigen, die sich nicht an die Verwahrung anpassten. Sie reagierte darauf mit so genannten Verhaltensauffälligkeiten und galt immer schon als eine der aufsässigsten Patientinnen. In ihrem insgesamt 20-jährigen Aufenthalt im Psychiatrischen Krankenhaus wird Karin in den Anstaltsakten immer als Unruhestifterin, als streitsüchtig, aggressiv, unlenkbar, bockig, provokant usw. beschrieben.[45] Karin gehörte zum so genannten »harten Kern« der Anstalt und war dem gesamten Pflegepersonal bestens bekannt. Sie »wanderte« von einer Abteilung zur anderen, da es niemand länger mit ihr aushalten konnte. Nach einigen Wochen in einer neuen Abteilung reagierte und agierte Karin immer wieder mit demselben Verhalten: Mitpatientinnen provozieren, sehr laut sein, ständig Streit suchen sowohl mit anderen Patientinnen als auch mit Pflegepersonal, Selbstverletzungen (ritzt sich die Haut am Handgelenk mit Glasscherben auf usw.), um Aufmerksamkeit zu erregen, dann wieder depressive Verstimmungen.

Als ich Karin kennen lerne, erlebe ich sie zunächst in der Gruppe genau so. Sie kommt mit allen Hoffnungen und Bemühungen auf einen Neubeginn und auf ein besseres Leben, das wir ihr ermöglichen sollen, in die Gruppe – gleichzeitig bietet sie aber alle Extreme von schwierigem Verhalten bis hin zur völligen Selbstaufgabe. Ihre Stimmungen wechseln innerhalb eines Tages ununterbrochen von euphorisch gut gelaunt bis hin zur totalen Depression mit Selbstmordgedanken. Zwischen Euphorie und Depression gibt es Provokationen jeglicher Art: sie versucht, alle Personen ihrer Umgebung gegeneinander auszuspielen, es gibt Drohungen und Erpressungen, sowie unterwürfigstes Verhalten. Uns Betreuerinnen teilt sie gnadenlos in »gut« und »böse« ein. Die »Böse« (Marlies) hat keinerlei Chance, auch nur irgendetwas richtig zu machen, sie kann Karins schwieriges Verhalten nur verstärken; wir »Guten« (Maria und ich) hingegen sind ohne unser Zutun einfach gut und werden von ihr bedingungslos akzeptiert. Karin muss zeitweise stark sediert werden, damit sie etwas zur Ruhe kommt, und in diesem Wechselbad von Stimmungen ist sie für niemanden wirklich erreichbar. Wir alle sind, ohne weitere Arbeitskapazitäten frei zu haben, an den Versuch gebunden, die Tage mit Karin halbwegs zu überstehen und gleichzeitig mit sechs anderen Gruppenmitgliedern sinnvoll zu arbeiten. Dies gelingt nur, weil die Gruppe bereits etwas gefestigt und die Zusammenarbeit sowie der Zusammenhalt im Team gut ist. Wir sind uns einig, mit Karin arbeiten zu wollen, und haben auch alle die Bereitschaft, diese Krisen mit ihr gemeinsam durchzustehen.

Karin beteiligt sich kaum am Geschehen in der Gruppe, ist nur mit sich selbst und ihren Stimmungen beschäftigt, sobald sie aber das Gefühl hat, ein schwächeres Gruppenmitglied wird ungerecht behandelt oder braucht Hilfe, tritt sie aktiv dafür ein. Hier entstehen Momente, in denen sie sich am äußeren Geschehen beteiligt, diese Situationen sind aber nie von Dauer. Karins äußere Erscheinung ist geprägt von einem abwesenden leeren Blick, einem schleppenden Gang. Meistens sitzt sie irgendwo, den Kopf auf einem Tisch liegend von ihren Armen umschlungen. Sie wirkt vernachlässigt und ungepflegt und ihre gesamte Erscheinung ist nicht gerade ansprechend.

Mittlerweile sind sechs Jahre vergangen und Karin hat sich in dieser Zeit vollkommen verändert. Sie ist umgänglich geworden, ihre Stimmungen sind stabil, sie kann viele für sie wichtige Lebensbereiche selbst gestalten. Die Häufigkeit ihrer Krisen hat sich von fast täglich bis auf ca. 1–2 mal jährlich reduziert und sie hat mittlerweile gelernt, Gründe für Krisen klar zu benennen und diese auch zu reflektieren. Ihre Möglichkeiten der Verarbeitung und Aufarbeitung von Schwierigkeiten haben sich enorm erweitert, und in diesem Zusammenhang ist auch ihre Belastbarkeit wesentlich größer geworden. Ihr Äußeres hat sich so verändert, dass Personen, zu denen sie früher Kontakt hatte, sie nicht mehr erkennen. In den letzten zwei Jahren entwickelte Karin Bedürfnisse, die früher für sie nicht von Bedeutung waren: sie will hübsch aussehen, Kleidung und Körperpflege sind wichtig geworden, sie möchte bessere Tischmanieren lernen und einer ihrer dringendsten Wünsche ist, eine Freundin zu finden. Dieser Wunsch ist leider bislang nicht in Erfüllung gegangen, aber sie hat seit einem halben Jahr einen Freund, der in derselben Wohngruppe lebt und in dessen Familie sie anerkannt und willkommen ist.

Karin konnte zum Teil selbst entscheiden, mit wem sie wohnen wollte und was für sie besonders wichtig war, von wem sie begleitet und unterstützt werden sollte. Es war unser beider Wunsch, dass wir in ihrer heutigen Wohngruppe miteinander weiter arbeiten. Sie hat die Chance wahrgenommen, die erste kontinuierliche Beziehung (seit dem Verlassen ihrer zweiten Pflegefamilie) in ihrem engeren Lebensumfeld aufrecht zu erhalten. Ich bekam dadurch die Möglichkeit, eine professionelle Begleitung/Beziehung über einen langen Zeitraum zu halten und Karins Entwicklung intensiv begleiten zu können. Obwohl ich durch meinen neuen Aufgabenbereich für sie heute oft nur sehr wenig Zeit habe, ist meine Anwesenheit für sie immer noch wichtig, sie erklärt mir das so: »Du kennst mich halt schon so lange und du weißt, was ich für schlimme Dinge gemacht habe, die andern (Betreuungspersonen) brauchen das nicht wissen!« Das bedeutet, sie weiß darum, bei mir »die schlimmen Dinge« deponieren zu können, ohne dass sie dabei zunichte gemacht wird. Vermutlich hängt das auch mit der gemeinsamen Auseinandersetzung mit ihrer Lebensgeschichte zusammen, die Karin bis auf ihren Langzeitaufenthalt in der psychiatrischen Anstalt nur mehr aus unzusammenhängenden Bruchstücken kannte. Wir versuchten, diese Bruchstücke zusammenzutragen und dabei ist es z.B. gelungen, ihre zweite Pflegefamilie ausfindig zu machen und zu besuchen. Für Karin bin ich somit jemand geworden, der ihre Geschichte für sie und mit ihr Zusammenhalten kann.

Meine Fähigkeit, sie halten zu können, nutzt sie dann, wenn sie im Alltag Schwierigkeiten hat, die sie mit ihren Betreuerinnen nicht mehr lösen kann. Ich habe somit die Funktion einer Art Mediatorin, zu der sie Vertrauen hat und die Dinge benennt, die sie selbst nicht aussprechen kann und welche die Verbindung zu ihrem Umfeld wieder herstellen kann. Ihre eigenen Worte zu solchen Situationen: »Du hilfst mir, du weißt, dass ich manchmal spinnen muss. Du kannst mich beschützen.«

Im Laufe unserer Geschichte konnte ich immer besser verstehen, wo Karins Verständnis- bzw. Wahrnehmungsschwierigkeiten liegen. Sie hat manchmal Probleme, verbale Äußerungen ihrer Umwelt zu verstehen, was kaum wahrgenommen wird, da sie ja gerade verbal ausgesprochen gut kommunizieren und damit auch vieles kompensieren kann. Karin missversteht oft ganz einfache Sätze vollkommen, kann das aber nicht benennen, sondern reimt sich dann selbst Bedeutungen zusammen, die sehr kompliziert und für niemanden mehr nachvollziehbar sind. Sie kann dann Abläufe weder zeitlich noch räumlich noch personell zuordnen und verliert sich vollkommen. In solchen Situationen entgleist sie immer noch sehr leicht und entwickelt ein nahezu paranoides Verhalten im Beschuldigen der beteiligten Personen, ihr grobes Unrecht anzutun. Karin braucht dann viel Unterstützung, um dieses innere Chaos wieder ordnen zu können. Dies gelingt oft nicht zur Gänze, im Gegensatz zu früher kommt sie damit aber zurecht, indem sie solche Vorfälle stehen lassen kann und nicht mehr daran kleben bleibt. Vieles an ihrem schwierigen Verhalten hat sich natürlich auch durch das Verständnis dieser Problematik geändert.

Ihre Neigung zu paranoiden Fantasien ist insofern verständlich, dass Karin in ihrer Biografie ständig erlebt hat, dass in für sie unverständlicher Weise über sie gesprochen wird. Medizinisch psychiatrisches Vokabular wird verwendet und auf Grund der Diagnosen, die mit diesem Vokabular verbunden sind, wird über ihr Leben entschieden. Das Gutachten einer psychiatrischen Ärztin ist entscheidend, dass sie von ihrer Pflegefamilie getrennt und in ein Internat mit Sonderschule aufgenommen wird. Verschiedenste psychiatrische Diagnosen von Oligophrenie bis Debilität, erethisches und affektlabiles Verhalten usw. bestimmen Karins Aufnahmen in die Anstalt. Sie leistet Widerstand in dem Gefühl, dass ihr Unrecht angetan wird und reagiert heftig auf Äußerungen, die sie nicht verstehen kann und die für sie nicht nachvollziehbar sind. Ihre Reaktionen bestätigen in einem verständnislosen Umfeld natürlich ihr geistig behindert Sein, ihre Oligophrenie. Elbert[46] fordert zu Recht, dass Verhaltensweisen, die für gewöhnlich als Symptome einer geistigen Behinderung gelten, als »sinnvolle Gegenwehr gegen die den >Geistigbehinderten< umgebende und gefangen haltende gestörte Interaktionswelt zu erkennen und zu verstehen« seien.

Wir können hier einen noch etwas genaueren Einblick in die Motivation gewinnen, die Irene befähigte, den so schwierigen Prozess mit Karin durchzustehen: Es trug sie offenbar eine Identifikation mit Karins Widerstand und Rebellion. Das Aufbegehren gegen bestehendes Unrecht, das ja auch ihrer eigenen Arbeit zu Grunde liegt, fand sie in Karin wieder, und so wurde die schwierige Auseinandersetzung mit ihr auch für Irene selbst sinnvoll.

Um in der Wohngruppe entspannt und zufrieden mit den anderen Bewohnerinnen leben zu können, benötigt Karin nach wie vor viel Halt und Klarheit. Sie braucht klare Signale, von ihrer Umwelt erwünscht und gebraucht zu sein, sowie das Gefühl, dass ihr Wohlbefinden der Wohngruppe und deren Mitarbeiterinnen ein ehrliches Anliegen ist. Zudem muss sie wissen, und dieses Wissen basiert auf Erfahrung, dass ihre Krisen gehalten werden können und sie in dieser Wohngruppe leben kann, solange sie dies wünscht. Wie es zu all diesen Veränderungen kam, möchte ich im Folgenden anhand konkreter Erfahrungen, die ich in meiner Arbeit mit Karin als zentral erlebte, verdeutlichen.

»Gute« und »böse« Betreuerinnen

Als Karin in die MIM-Gruppe aufgenommen wird, befindet sie sich in einem Zustand zwischen völliger Niedergeschlagenheit und Aggression. Einerseits hat sie das Gefühl, selbst für das Scheitern ihres Versuches, in eine WG zu ziehen, verantwortlich zu sein, andererseits hat sie viel Zorn und Aggression gegen die Betreuerinnen der Wohngemeinschaft, von der sie ausgeschlossen wurde. Mit ihrem Zorn und ihrer Aggression kommt sie aber in eine unerträgliche widersprüchliche Gefühlslage, indem sie diese negativen Gefühle gegen die Menschen richten müsste, die ihren »Traum vom Draußen« ermöglicht und unterstützt haben.

Sie hat größte Schwierigkeiten, mit der ambivalenten Situation fertig zu werden, sich einerseits selbst für die Aufnahme in die Psychiatrie entschieden zu haben, andererseits in der Hoffnung weiter zu leben, doch wieder in die Wohngemeinschaft zurückkehren zu können. Die Tatsache, dass sie die Betreuerinnen, die sie gerne mag und die ihr »helfen« wollten, mit einem Messer ernsthaft bedroht hat, kann sie nicht verkraften.

Zu dieser Zeit besteht Karins einzige Möglichkeit, mit diesem Geschehen umzugehen, in einer extremen Spaltung zwischen gut und böse. Die Betreuerinnen der Wohngemeinschaft werden kategorisch in gut und böse eingeteilt: die »Bösen« sind dafür verantwortlich, dass sie nicht in der Wohngemeinschaft bleiben konnte und wollte, die »Guten« hingegen sind darüber traurig und diejenigen, die ihr weiterhin »helfen« und zu denen sie Kontakt hält.

In der MIM-Gruppe gibt es zunächst mit ihr nur dieses eine Thema, des Schwankens zwischen der Aggression gegen die Betreuerinnen der ehemaligen Wohngemeinschaft und den Schuldgefühlen wegen ihres Scheiterns.

Zunächst ist es uns kaum möglich, eine Arbeitsbasis mit Karin zu finden, da sie die ungeteilte Aufmerksamkeit von uns allen fordert. Um diese zu bekommen, benutzt sie ihr gesamtes (sehr ergiebiges) Repertoire an schwierigem Verhalten. Besonders gut beherrscht sie die Strategie, alle an ihrer Betreuung beteiligten Personen untereinander auszuspielen und Spaltungen zu verursachen. In der Tagesgruppe gelingt ihr dies nicht, da wir eine ausreichend gute Teamkultur haben, um uns davor zu schützen. Hingegen gelingt es ihr gut, unsere nicht sehr starke Position als Tagesstruktur mit pädagogisch-integrativem Anspruch in der Psychiatrie zu schwächen, was unseren Arbeitsalltag nicht gerade erleichtert.

Die Wohngruppe des Vereins, in der Karin die Zeit außerhalb der Tagesstruktur verbringt, wird damals noch eher wie eine herkömmliche Psychiatriestation geführt. Beinahe alle Mitarbeiterinnen dieser Wohngruppe kommen aus dem psychiatrischen Pflegebereich und nur ein geringer Teil kann sich auf die neuen inhaltlichen Ansprüche in der Arbeit einlassen. Einige Mitarbeiterlnnnen boykottieren die entsprechenden Veränderungen und versuchen mit allen Mitteln, an der herkömmlichen psychiatrischen Struktur festzuhalten. Naturgemäß gibt es entsprechende Spannungen zwischen der MIM-Gruppe und dieser Wohngruppe.

Für Karin ist dieses Spannungsverhältnis der ideale Nährboden, um Intrigen der übelsten Art zwischen den beiden Strukturen zu spinnen. Die Mitarbeiterinnen der Wohngruppe werden bei uns ständig beschuldigt, ihr Unrecht anzutun - von körperlicher Gewalt, über Essensentzug, Beschimpfungen bis hin zum Missbrauch reicht ihr Spektrum. Umgekehrt erzählt sie natürlich, wie schlecht sie in der MIM-Gruppe behandelt wird, dass wir immer unnötig mit ihr schimpften, sie unglaublich viel arbeiten müsse, sie zu wenig Aufmerksamkeit bekäme usw. Karin kommt mehrmals in der Woche aufgeregt und zornig zu uns und es geht dabei immer um irgendwelche Vorfälle in der Wohngruppe. Wir sind gezwungen, diesen Anschuldigungen nachzugehen, welche aber auch unsere Vorurteile (zum Teil berechtigte) sowohl gegenüber einigen Mitarbeiterinnen wie auch der psychiatrisch dominierten Struktur der Wohngruppe bestätigen. Ihre Geschichten erweisen sich jedoch mit wenigen Ausnahmen als Erfindungen bzw. Inszenierungen ihrerseits, was uns wiederum in eine denkbar schwierige Lage bringt. Gezielt provoziert sie Mitarbeiterinnen, die sie nicht leiden kann, bis diese schließlich hilflos und zornig reagieren, was sich für die betreffende Person negativ auswirken kann.

In der MIM-Gruppe dreht sie den Spieß sofort um, deklariert sich als armes Opfer, das dringend Unterstützung und Hilfe braucht. Im Nachhinein bin ich immer wieder bestürzt darüber, wie gut dieses Spiel mit allen Beteiligten funktionierte. Einzig Karins Mitbewohnerinnen halten sich aus diesen Inszenierungen heraus: Marianne z.B. erzählt nie etwas über diese Vorfälle, obwohl sie ja mit ihr in derselben Wohngruppe den Abend und das Wochenende verbringt.

Karin beherrscht dieses Spiel perfekt und hat zudem uns gegenüber einen großen Wissensvorsprung, was die Struktur und das Leben in einer psychiatrischen Institution angeht, den sie gut ausnützen kann. Erst nach einiger Zeit und bitteren Erfahrungen werden wir vorsichtiger im Umgang mit Karins Geschichten und reagieren distanzierter. Eine Geschichte bringt endlich das Fass zum Überlaufen und ändert unsere Haltung ihr gegenüber grundsätzlich: Zum wiederholten Mal kommt sie aufgelöst in die Gruppe und erzählt, sie habe am Vortag in der Wohngruppe versehentlich Wasser verschüttet, daraufhin sei ein Pfleger ausgerutscht und sei deshalb mit einem Besen auf sie losgegangen. Wir gehen der Sache nach und der betreffende Pfleger erzählt eine völlig andere Version: Am betreffenden Abend sei Karin äußerst schwierig und provokant gewesen. In der Wohngruppe habe es viel Arbeit gegeben und niemand konnte sich ausschließlich mit ihr beschäftigen. Karin habe Mitbewohnerinnen geärgert und provoziert und sei sehr laut gewesen. Irgendwann habe sie der Pfleger zurechtgewiesen und sie habe darauf hämisch lachend mit den Worten: »Wart nur, dir werd ich’s noch zeigen!« reagiert. Daraufhin habe sie absichtlich in mehreren Räumen der Wohngruppe Wasser verschüttet und versteckt gewartet, bis der Pfleger ausrutschte und hinfiel. Sie sei dann schreiend und lachend mit dem Glas in der Hand aus ihrem Versteck gesprungen. Der Pfleger, natürlich wütend, habe von ihr verlangt, dass sie den Boden aufwischte, und sei gleichzeitig beschäftigt gewesen, die anderen Bewohner vor Stürzen zu schützen. Karin habe verweigert, den Boden aufzuwischen und daraufhin habe er den Besen genommen, ihn drohend geschwungen und Karin angebrüllt, dass sie endlich verschwinden soll. Karin habe sich daraufhin erschrocken, aber weiterhin schimpfend in ihr Bett zurückgezogen.

Wir stehen wieder einmal vor der Frage, wem wir denn nun glauben sollen. Die Geschichte wird durch einen Zufall aufgeklärt. Ich bin gerade auf dem Weg zur Wohngruppe, als ein Polizeiauto in dieselbe Richtung fährt. Karin steht vor der Tür der Wohngruppe, sieht das Polizeiauto und beginnt laut zu singen: »Ich hab’s geschafft, ich hab’s ihm gezeigt, jetzt holen sie den Pfleger X; jetzt muss der ins Gefängnis, der wird schon sehen ...« Als sie mich bemerkt, wird sie noch ein bisschen triumphierender und betont immer wieder, dass ich ihr ja geholfen habe, den Pfleger loszuwerden. Auf der Stelle begreife ich, welch ein schreckliches Spiel Karin mit uns allen getrieben hat. Gemeinsam – Wohngruppe und Tagesstruktur – stellen wir Karin zur Rede und schnell wird klar, dass das einer ihrer vielen Versuche war, einen Pfleger, den sie nicht mochte, loszuwerden.

Dieser Vorfall verändert den Umgang mit Karins Inszenierungen auf beiden Seiten grundlegend. Zwischen den Gruppen gibt es nun viel genauere Absprachen und mit ihr wird ausgemacht, dass Vorkommnisse in der Wohngruppe ausschließlich dort behandelt werden und umgekehrt. Damit wird Karin viel an Boden für Spaltungen genommen, und Vorfälle dieser Art verringern sich deutlich. Es gelingt ihr aber trotzdem immer wieder, alle auszutricksen und ihr Spiel erfolgreich zu betreiben.

Was bedeutet dieses »Spiel«? Offenbar muss Karin hier etwas in Szene setzen, ein Muster, dem sie selbst unterworfen ist. Anders als agierend kann sie diesem nicht Ausdruck verleihen. Wir können hier schon annehmen, dass sich dahinter ihre spezifische Ausprägung des kindsmörderischen Introjekts verbirgt. Jemandem wird eine Falle gestellt, er gleitet aus, im wörtlichen, aber durchaus auch – mit dem drohend erhobenen Besen – im übertragenen Sinne; er wird als »Verbrecher« entlarvt und »kommt ins Gefängnis«: So könnten wir die dramatische Absicht der Inszenierung Karins formulieren. Es liegt nahe, anzunehmen, dass es sich bei dem fantasierten Opfer dieser Inszenierung um abgespaltene und projizierte Selbstanteile Karins handelt; triebhafte Motive, die sie als verwerflich und böse, als Gefahr, auszugleiten, erlebt. In der Verbündung mit Irene, und indem sie die Kritik Irenes an hergebrachten psychiatrischen Umgangsformen instrumentalisiert, versucht sie, dieses innere »Böse« als ein »böses Außen« zu bekämpfen. Wir sehen hier die Repräsentanz des Fremden im Spaltungsmodus am Werke, die ein gutes Innen zu retten sucht, indem sie sich ein böses Außen schafft. Wie instabil eine solche auf Spaltung beruhende Abwehr ist, zeigt sich im Alltag mit Karin deutlich.

Ihre Ambivalenz und Verzweiflung lebt Karin bis zum Äußersten in der Gruppe aus. Ihre ständig schwankenden Stimmungen, die sie immer in entsprechender Lautstärke mitteilen muss, nehmen der gesamten Gruppe den Raum zum Atmen.

Sie kommt traurig, jämmerlich weinend in die Gruppe und wir Mitarbeiterinnen reagieren mit entsprechendem Verständnis und ehrlichem Mitgefühl. Innerhalb von ein paar Minuten wechselt sie ihre Stimmung in Provokation, lacht hämisch, ärgert andere Gruppenmitglieder, stört jedes Gespräch. Wir haben alle das Gefühl, dass die Minuten davor ein gekonntes Schauspiel waren und unsere Zuwendung verkommt zur Lächerlichkeit. Immer öfter reagieren wir mit Zorn, aus dem Gefühl heraus, missbraucht zu werden. Karin wechselt dann schnell wieder in Traurigkeit, wir fühlen uns entsprechend schuldig. Immer wieder fügt sie sich mit Glasscherben blutende Verletzungen am Handgelenk zu und durch das starke Bluten ist oft nicht ersichtlich, wie tief bzw. gefährlich diese Schnitte sind. Entsprechend besorgt sind unsere Reaktionen, da Karin ja auch häufig damit droht, sich umzubringen. Die Verletzungen erweisen sich letztlich als recht harmlos, sie grinst hämisch, sobald dies von ärztlicher Seite konstatiert wird und wir ihr wieder einmal ordentlich »auf den Leim« gegangen sind.

Die bereits bekannte Einteilung in »gute« und »böse« Betreuerinnen lebt sie auch hier intensiv aus. Die »Guten« sind diejenigen, die trösten, helfen, immer auf ihrer Seite sind, ihre Wunden versorgen usw., die »Bösen« hingegen diejenigen, die ihre Selbstverletzungen nötig machen. Die Rolle der »Bösen« wird in der MIM-Gruppe von Karin Marlies zugedacht, die somit am meisten von ihren Attacken aushalten muss. Dieses »Spiel« setzt sich über Tage und Wochen fort. Sobald der Vormittag mit Karin um ist, geht ein Aufatmen durch die Gruppe, alle erholen sich etwas bis zum nächsten Tag. Die gesamte Gruppe ist wie gelähmt und wir wissen überhaupt nicht, wie wir mit Karin und dieser schrecklichen Situation umgehen sollen. Das ohnehin sehr sensible Gleichgewicht in der Gruppe droht zusammenzubrechen.[47] Erst als die Not so groß wird, dass Wohlbefinden für niemanden mehr möglich ist, werden wir aktiv.

Zunächst stellen wir uns der Frage, ob wir mit Karin überhaupt weiter arbeiten und ob der Gruppe noch weitere Eskalationen zugemutet werden können. Alle entscheiden sich für ihren Verbleib, aber diese Entscheidung ist an das Erarbeiten von klaren Rahmenbedingungen gebunden. Die Notwendigkeit, Karin ein anderes Gegenüber zu sein, als nur auf ihr schwieriges Verhalten mehr oder weniger hilflos zu reagieren, ist für alle klar und zwingend.

Außerdem wird uns bewusst, dass wir darauf achten müssen, dass wir uns von Karin nicht den Raum nehmen lassen, der unbedingt nötig ist, um der Gruppe und nicht zuletzt ihr selbst einen haltenden und schützenden Rahmen bieten zu können.

In diesem Prozess der Entscheidungsfindung wird uns vieles klar, was wir bislang übersehen hatten und in dem Sog von Karins schrecklichem Verhalten nicht mehr wahrnehmen konnten. Beispielsweise gab es von unserer Seite (im Besonderen meiner) kein ausgewogenes Nähe-Distanz-Verhältnis ihr gegenüber, sondern vielmehr eine Art Verschmelzung mit ihrer Trauer, Aggression und ihrem Scheitern; entsprechend hinterfragten wir ihren extremen Wunsch nach einer symbiotischen Beziehung viel zu wenig. Mit ihrer ernormen Fähigkeit zu spalten und der Bedeutung von »gut« und »böse« hatten wir uns noch nicht auseinander gesetzt. In dieser gemeinsamen Verstrickung in verschiedenste Gefühlslagen waren wir nicht mehr dazu fähig, uns einerseits auf ihre Bedürfnisse einzulassen und uns gleichzeitig abzugrenzen. Es war somit nicht mehr möglich, Karin Grenzen zu vermitteln, ihr Halt zu bieten, sondern wir verstärkten vielmehr die Spirale ihres Verhaltens. Sobald die Situation dann aber ins Unerträgliche eskalierte, entzogen wir ihr unsere Nähe und drängten sie in die Isolation. In gewisser Weise beteiligten wir uns an einer Neuinszenierung dessen, was Karin zuvor schon in der Wohngemeinschaft erlebt und erlitten hatte.

Wir teilen Karin unsere Überlegungen mit, sie entweder aus der Gruppe auszuschließen oder mit ihr unter klaren Bedingungen weiter zu arbeiten und fragen, ob sie selbst überhaupt bleiben will. Außerdem machen wir ihr das Angebot, ganztägig in die Gruppe zu kommen. Bislang war Karin nur vormittags bei uns, was sich für die gesamte Konstellation als sehr ungünstig erwies. Sie fühlte sich dadurch den anderen gegenüber zu Recht benachteiligt, war ständig eifersüchtig und damit überfordert, den Nachmittag wieder in einer gänzlich anderen Struktur zu verbringen. Das ganztägige Angebot war ein weiterer Schritt, die Möglichkeit, beide Strukturen gegeneinander auszuspielen, einzugrenzen.

Es beginnt somit eine ernsthafte Auseinandersetzung (ein Trialog) mit Karin, von der sie zunächst sowohl emotional als auch kognitiv überfordert ist und sie reagiert mit provokantem »Dummsein« und trotziger Abwehr. Gleichzeitig ist aber deutlich spürbar, wie ernst für sie unsere Entscheidung darüber ist, sie in der Gruppe behalten zu wollen. Wir erklären ihr, dass wir bereit sind, mit ihr Krisen auszuhalten, aber dazu auch ihre Mitarbeit nötig ist. Karin stimmt unseren Vorschlägen zu, obwohl sie sich vieles davon nicht vorstellen bzw. verstehen kann, vermutlich vor allem deshalb, da zum Einen die Alternative »Psychiatrie« heißt und sie sich zum anderen erhofft, durch die Tagesgruppe wieder in eine Wohngemeinschaft außerhalb zu kommen.

Für Karin ist es kaum zu fassen, dass sie tatsächlich in der Gruppe bleiben kann. Sie hat ja mit allen Mitteln an ihrem Hinauswurf gearbeitet und war sich dessen sicher, damit Erfolg zu haben. Stattdessen bekommt sie das Angebot, ganztägig in der Gruppe zu bleiben. Diese Reaktion unsererseits ist für sie überhaupt nicht begreifbar. All ihre bisherigen Erfahrungen sind ja davon gekennzeichnet, dass sie durch die ständige Steigerung ihres Verhaltens in keiner Einrichtung länger bleiben kann, sogar die psychiatrischen Abteilungen wechselten ständig.

Im Team einigen wir uns darauf, klare Zuständigkeiten für Karin zu schaffen, indem wir in gewisser Weise ihre anfangs getroffenen Einteilung in »gute« und »böse« Betreuerinnen übernehmen. Maria und ich sind die »guten« Betreuerinnen, Marlies übernimmt den Part der »Bösen«. Dies entspricht in etwa den individuellen Gefühlslagen im Team: Maria hat zu Karin bereits ein vertrautes und gutes Verhältnis, durch ihre Tätigkeit als Psychologin in der Psychiatrie kennen sich beide schon lange. Karin steht Marlies vom ersten Moment an eher ablehnend gegenüber; meine Beziehung zu ihr habe ich bereits beschrieben. Für Karins Einzelbegleitung (alle Mitglieder der Gruppe haben je nach Bedarf Einzelbegleitung) sowie für das Aushandeln aller Regelungen, die im Alltag gelten, sind Maria und ich zuständig. Marlies’ Kontakt hingegen sollte sich eher auf das für den Alltag in der Gruppe Nötigste beschränken.

Uns Dreien ist bewusst, wie vorsichtig und einfühlsam wir mit dieser Aufteilung umgehen müssen und wie riskant sie für uns als Team sein kann. Wir wollen Karin zeigen, dass ihre Sympathie oder Ablehnung in der Gruppe Platz hat, wir diese aber in keiner Weise übernehmen. Das heißt, wir sind ein Team und treffen gemeinsam Entscheidungen, die von allen in gleicher Weise getragen werden. Wir signalisieren ihr, dass nicht eine allein von uns in der Lage ist, sie zu halten, sondern wir das nur zu dritt können. Auf diese Weise thematisieren wir endlich Karins Bedürfnis zu spalten und damit Situationen, die für sie eigentlich gut sein könnten, zu zerstören.

Die Regelung, die das Team hier trifft, ist beispielhaft. Sie trägt den Notwendigkeiten genau Rechnung, welche der Prozess einer Überführung der Repräsentanz des Fremden aus dem Spaltungsmodus in den reifen triadischen mit sich bringt. Es muss in einem solchen Prozess zuallererst darum zu tun sein, die projektiven Mechanismen zuzulassen, die im Spaltungsmodus am Werke sind, und sie dadurch zugleich aufzuheben. Dies wird damit ermöglicht, dass das Team in seinem Zusammenhalt eine Integration von gut und böse vorlebt, ohne Karin diese aufzuzwingen. Indem das Team sich nicht spalten lässt, aber die Spaltung in einem Prozess des »containing« aufnimmt, wird es möglich sein, dass Karin, sehr viel später, im Rückblick sagen kann »Du und die Maria, ihr habt mich gewollt. Und die Marlies hat mich ertragen. Und ich hab so gesponnen damals.« Sie wird damit sagen können: Das, was ihr damals in euch als Team gehalten und integriert habt, war ich selbst; und weil ihr mich als Team in meinen »guten« und »bösen« Anteilen gehalten habt, kann ich heute ertragen, für andere fremd zu sein, indem ich eigen bin (indem ich »so gesponnen habe«). Ich kann mein Fremdsein für Andere als etwas spüren, das nicht böse, sondern meine Eigenart ist. Dies ist möglich, weil ihr mir damals gezeigt habt, dass Marlies in der ihr von mir zugewiesenen Rolle als die »böse Fremde« für euch dazugehört.

Marlies übernimmt in dieser Konstellation die schwierigste und undankbarste Rolle; sie muss »die Böse« sein und die damit verbundenen negativen Gefühle aushalten. Wenn Maria und ich nicht da sind, wird Marlies von Karin als Notnagel benutzt, kaum kommt eine von uns durch die Tür, wird Marlies von ihr demonstrativ ignoriert oder deutlich abgelehnt. Oft ist es für sie kaum erträglich, wie grenzenlos gut Maria und vor allem ich in Karins damaliger Wahrnehmung sind. Marlies muss im selben Maße wie alle anderen Betreuerinnen der Gruppe alle schwierigen Situationen mit ihr aushalten, ist aber sowohl in der Situation als auch im Nachhinein für sie immer diejenige, die am Geschehen schuldig ist. Ich hingegen bin immer die Retterin und diejenige, die sie verstanden und ihr geholfen hat. Im Nachhinein wird sich Karin immer bei mir entschuldigen und Verständnis dafür haben, dass ich sie doch »schimpfen« musste - mir gegenüber kann sie unglaublich einsichtig und vernünftig sein.

Auch die wirklich gute Beziehung zwischen Marlies und mir wird durch Karin auf eine harte Probe gestellt. Erst beim Schreiben dieser Zeilen ist mir bewusst geworden, wie stark für sie der Drang gewesen sein muss, unsere Freundschaft anzugreifen, lebten wir ihr doch etwas vor, was sie sich selbst sehr wünschte, aber sich immer zerstören musste. Diese für alle so schwierige Konstellation stellt Karin bald danach auf eine schwere Probe, und bringt unsere Entscheidung damit fast zum Kippen.

Karin hat einen denkbar schlechten Tag, sie schwankt zwischen Provokationen jeglicher Art, die dann ständig in jämmerliches Heulen kippen. Marlies und ich sind entsprechend ausgelaugt, wobei Marlies von den Provokationen wie üblich am meisten abbekommt; aber auch für mich ist Karin nicht mehr erreichbar. Sie droht immer wieder wegzulaufen und »irgendetwas Fürchterliches anzustellen« und versucht uns beide damit zu erpressen.

Nach dem Mittagessen ist sie plötzlich verschwunden. Sofort beginnen wir beide mit der Suche, in größter Sorge und mit allen Fantasien, was Karin in dieser Stimmung anrichten bzw. was ihr auch zustoßen könnte. Wir suchen sie zunächst in unseren weitläufigen Räumlichkeiten.

Als Marlies in einem der früheren Patientenzimmer nachsieht, ist dort das Fenster weit geöffnet. Entsetzt ruft Marlies nach mir und stürzt zum Fenster. Ich komme in dem Moment zu dieser Szene, als Marlies sich vom Fenster umdreht, Karins Schuhe davorstehen sieht und Karin mit Triumphgeheul und Hände reibend hinter der Tür hervorspringt. Marlies ist kalkweiß im Gesicht und völlig erstarrt, während ich fassungslos in der Tür stehe und zunächst nicht glauben kann, was Karin Schreckliches inszeniert hat. Karin lacht und singt bis aufs Äußerste provokant: »Jetzt ist sie (Marlies) erschrocken, jetzt hab ich’s ihr gezeigt. Jetzt habt ihr aber Angst gehabt....« Ihr böses Lachen und Singen holt mich sehr schnell in die Wirklichkeit zurück. Ich schließe das Fenster, herrsche Karin an, dass sie sofort ruhig sein und sich ihre Schuhe anziehen soll und gehe ohne ein weiteres Wort an sie zu verlieren mit Marlies ins Dienstzimmer. Karin hört schlagartig zu lachen auf. Als ich nach einiger Zeit aus dem Dienstzimmer komme, rechtfertigt sie sich sofort damit, dass sie nur einen Scherz machen wollte. Ich sage zu ihr nur, dass das absolut kein Scherz war und sie sich in ein anderes Zimmer scheren soll, da ich sie momentan nicht sehen will.

Erschüttert reagiert sie auf diese Zurückweisung und versucht sofort, Maria für sich zu gewinnen, die während des Geschehens nicht anwesend und daher nicht direkt beteiligt war. Diese stellt sich in ihrer Reaktion hinter Marlies und mich, bleibt aber gleichzeitig für Karin Gesprächspartnerin, was Marlies und ich ihr nicht sein können. So erlebt sie vermutlich zum ersten Mal ein Team, wo der Rückhalt unter den einzelnen Mitgliedern stark ist und gleichzeitig eine Mitarbeiterin bereit ist, für sie offen zu bleiben. In vielen unterschiedlichen Situationen ist diese Konstellation für Karin so etwas wie eine Notwendigkeit: einerseits braucht sie ein klares Signal und entsprechende Zurückweisung, wo sie die Grenzen anderer brutal überschreitet, andererseits benötigt sie jemanden, der sie in solchen Momenten durch eine außenstehende Rolle halten kann.

Die Klarheit, mit der das Team der MIM-Gruppe Karin begegnet, hat nicht etwa zur Folge, dass sie nun aufhören könnte mit ihren Inszenierungen - im Gegenteil. Dies darf nun freilich nicht als Hinweis darauf verstanden werden, dass die eingeführte Regelung schlecht sei. Dadurch, dass das Team sich auf ihre Spaltung, und damit ihre Art, sich die Welt wahrnehmbar zu machen, einlässt, gibt es ihr die Möglichkeit, klarer zu werden in dem, was ihre Inszenierungen zum Ausdruck bringen.

So schwer dies zu ertragen gewesen sein muss, so war es doch für Karin wohl entscheidend: Hier fand sie erstmals einen Ort, an welchem ihre Inszenierung nicht das schlechthin Böse war, sondern bedeutungsvoll. Indem Maria ihr zur Verfügung stand, während Marlies und Irene unmissverständlich spiegelten, was sie Schlimmes getan hatte, musste sie sich nicht länger als durchgängig und unrettbar böse erleben. Das Böse ihres Tuns war nicht mit ihrem Sein identisch. In der haltenden Beziehung zu Maria (und damit zum Team) konnte sie eine Karin jenseits solcher Inszenierungen sein und bleiben (eine Karin jenseits solchen »Ausgleitens ins Böse« – so könnten wir die Metapher der oben dargestellten Inszenierung verwenden); und nur so konnte sie zum Subjekt werden, das in solchen Inszenierungen eine Not zum Ausdruck bringt.

Was sie hier inszeniert, ist die Fantasie: »Marlies will mich doch sowieso tot haben«; ist also der zentrale Aspekt ihres kindsmörderischen Introjekts. Nach ihrer Lebenserfahrung kann sie nicht glauben, dass das »Böse«, ihre eigene Aggression, welche sie in Marlies projektiv untergebracht hat, in ihr selbst Platz haben könnte, ohne sie zu vernichten. Das Angebot des Teams, ihre Einteilung in gut-böse zu übernehmen, ja sozusagen selbst auszugestalten und damit ausdrücklich das »Böse« zu integrieren, musste die alte Gewissheit aufs Äußerste provozieren. Dies aber half ihr, ihre Not mit Hilfe des haltenden Teams in Szene zu setzen, und damit, wie wir noch sehen werden, ein gutes Stück weit zu überwinden.

Mit der geschilderten Inszenierung musste sich Karin nochmals davon überzeugen, dass wir es wirklich ernst meinten mit unserer Entscheidung, sie in der Gruppe behalten zu wollen. In einem späteren Gespräch mit mir über diese Zeit meinte sie dazu: »Du und die Maria habt mich gewollt, die Marlies hat mich ausgehalten. Und ich hab so gesponnen damals, weil ich in die A. (Wohngemeinschaft) wollte. Und die haben gesagt, nie mehr die Karin. Und so gesponnen hab ich.« Im Alltag bedrückt sie das Unfassbare an dieser Entscheidung, zugleich ist sie froh darüber. In der Gruppe probiert sie aus, ob wir wirklich in der Lage sind, diese Entscheidung zu tragen und sie aushalten können.

Die Vergewaltigungs-Inszenierung

Die Situation mit Karin beginnt sich zunächst etwas zu entspannen, sie wird ruhiger und kann sich mehr auf das Gruppengeschehen einlassen. Wir fühlen uns wesentlich sicherer im Umgang mit ihr, was ihr sichtlich größeren Halt gibt. Nach wie vor gibt es aber auch Eskalationen, wie Fensterscheiben einschlagen und sich dann mit den Scherben Verletzungen zufügen, Weglaufen, bewusst die gesamte Gruppe, z.B. durch Lautsein und Stänkern, stören usw.

Sie fährt immer wieder in die frühere Wohngemeinschaft und muss von dort meistens mit der Polizei wieder zurückgebracht werden. Die Betreuerinnen erzählen, dass sie einfach auftaucht, provokant mitteilt, dass sie wieder in der Wohngemeinschaft leben will, keineswegs nach H. zurückkehren wird. Zugleich geht sie verbal auf die dort lebenden Menschen los und bedroht die Betreuerinnen. Jedes Mal ist Gewalt nötig, um sie wieder nach H. zu bringen. Bei ihrer Rückkehr ist sie dann immer weinerlich und bestürzt über das, was passiert ist.

Zwei Betreuerinnen dieser Wohngemeinschaft machen ihr das Angebot, sie regelmäßig zu besuchen, sie müsse sich aber an das Verbot, die Wohngemeinschaft zu besuchen, halten. Diese Abmachung funktioniert einigermaßen, Karins »Besuche« werden immer seltener und hören mit der Zeit ganz auf. Die Besuche der Betreuerinnen genießt sie offensichtlich, aber mit dem Abschied hat sie jedes Mal Schwierigkeiten. Können die Betreuerinnen aus irgendeinem Grund nicht kommen, oder verspäten sich, verzweifelt Karin. Sie gerät in Panik, dass die beiden schwer erkrankt seien oder womöglich sterben könnten. Dies ist bis heute eines der Dauerthemen von Karin: Geliebte Menschen könnten erkranken oder sterben. Sie hat Angst, das nicht zu verkraften.

Am stärksten beschäftigt uns Karin zu dieser Zeit mit der Inszenierung ihrer »Vergewaltigung«. Nach einem Wochenende kommt sie völlig aufgelöst in die Gruppe und erzählt, dass sie am Tag zuvor von einem Mann, den sie kennt, vergewaltigt worden sei. Wir setzen natürlich alles Erdenkliche in Bewegung, um diesem schrecklichen Vorfall auf den Grund zu gehen. Bei der Untersuchung im Krankenhaus können weder Gewalt- noch Spermaspuren festgestellt werden. Die Polizei ermittelt aber trotzdem, da laut Karins Schilderung der Tatbestand einer sexuellen Nötigung besteht. Wir kümmern uns besonders intensiv um sie, solidarisieren uns mit ihr und überlegen, was wir ihr anbieten könnten, damit sie mit diesem Vorfall besser fertig werden kann. Wir sprechen viel darüber, wie es dazu kommen konnte, was ihr angetan wurde und wie sie sich in Zukunft schützen könnte.

Im Team versuchen wir, unsere Wut und Angst über diese Tat zu verarbeiten. Außerdem organisieren wir mit Karins Einverständnis eine Gesprächstherapie bei einer Therapeutin, die fundierte Erfahrung in der Arbeit mit geistig behinderten Frauen hat. Karin ist die Therapie sehr wichtig. Sie wird anfangs von Maria hinbegleitet, aber schon nach wenigen Stunden kann sie die Therapie alleine bewältigen und Maria oder ich nehmen nur auf ausdrücklichen Wunsch an den Stunden teil.

Nach den Therapiestunden ist Karin immer recht nachdenklich und ausgeglichen. Von manchen Stunden erzählt sie oder spricht über Aufgaben, die ihr die Therapeutin stellt. Hin und wieder gibt es ein gemeinsames Gespräch mit der Therapeutin und den Mitarbeiterinnen der Gruppe, Karin weiß darüber Bescheid und nimmt manchmal auch daran teil. Alle erleben diese Therapie als hilfreich, da Karin endlich einen Ort außerhalb der Gruppe gefunden hat, wo sie vieles von ihrer Geschichte bearbeiten kann, ohne im Alltag zu sehr davon belastet zu werden.

Karin beschäftigt sich trotzdem weiterhin mit ihrer Vergewaltigung, vor allem ist es ihr wichtig, allen zu erzählen, was ihr Schreckliches passiert ist. Sie hat eine Fülle unterschiedlichster Varianten für diese Geschichte zur Verfügung und wir können zunächst überhaupt nicht verstehen, warum sie das braucht. Wir haben alle drei ein ungutes Gefühl dabei, das wir aber nicht benennen können. Im Lauf der Zeit spricht Karin immer weniger darüber und diese Geschichte tritt etwas in den Hintergrund.

Ein halbes Jahr später werden die polizeilichen Ermittlungen eingestellt, weil eindeutig feststeht, dass der von Karin beschuldigte Mann für den Zeitraum der Tat ein Alibi hat. Dies ist einer der schwierigsten und ungeklärtesten Punkte in meiner Beziehung zu Karin. Bis heute erfindet Karin von Zeit zu Zeit Geschichten dieser Art von Missbrauch und Vergewaltigung. Jedes Mal muss die gesamte Maschinerie von Krankenhaus, Polizei etc. in Bewegung gesetzt werden, die gesamte Wohngruppe ist dadurch in Auffuhr, alle Betreuungspersonen sind in irgendeiner Form involviert - bislang immer mit dem Ergebnis, dass Karin alles erfunden hat. Das bedeutet für die Mitarbeiterinnen in der zwiespältigen Lage zu sein, ihr einerseits nicht mehr zu glauben, andererseits aber mit viel Einsatz diesen »Vorfällen« nachgehen zu müssen.

Bis heute hält sie in recht eigenartigen und ständig wechselnden Varianten an der ersten Vergewaltigungsszene fest, bei allen weiteren gibt sie zu, sie erfunden zu haben. Warum Karin dieses Bedürfnis nach der Inszenierung ihrer Vergewaltigung hat, kann ich nicht sagen. Sicherlich hat es etwas mit ihrem Wunsch und gleichzeitig ihrer Angst vor einer sexuellen Beziehung zu tun. Sexualität ist für sie immer ein wichtiges Thema, gleichzeitig lehnt sie aber den Kontakt zu Männern ab. Ich kann nur vermuten, dass Karin früher Erfahrungen mit Missbrauch und Vergewaltigung gemacht hat und diese in ihren erfundenen Geschichten neu inszeniert. Außerdem weiß sie natürlich darüber Bescheid, was sie mit diesen »Erfindungen« auslösen kann – sie beschuldigte immer wieder Betreuungspersonen, die sie nicht leiden konnte, sich an ihr vergangen zu haben. Die schwerwiegenden Konsequenzen dieser Beschuldigungen scheinen ihr völlig egal zu sein, sie hofft immer nur, dass ungeliebte Betreuer dadurch entlassen werden.

Mit dieser ersten und den darauffolgenden Inszenierungen von angeblichen Vergewaltigungen nähert sich Karin weiter einer Darstellung ihres kindsmörderischen Introjekts an. Das »Böse« bekommt jetzt einen Namen: Es ist das Triebhafte – und zwar das weiblich Triebhafte in ihr. Dass es um (weiblich) Triebhaftes ging, war schon an der Inszenierung mit dem ausgeschütteten Wasser zu ahnen; der ungeliebte Betreuer wurde »zum Ausgleiten gebracht«. Die sexuelle Fantasie (ein Ausgleiten im Feuchten; der drohend erhobene Besenstiel) kann im Nachhinein hier fast plakativ-metaphorisch in Erscheinung treten.

Wir können vermuten, dass die »bösen« Betreuer häufig jene waren, denen eigentlich Karins weibliches Begehren galt, welches sie – aus Gründen, die wir noch genauer zu betrachten haben - als etwas Böses und Zerstörerisches erlebte und zunächst nur als Drohung mit dem Besenstiel, dann als ausfantasierte Vergewaltigung zum Ausdruck bringen konnte.

Karins Unbewusstes jongliert hier erschreckend mit einem Fantasma, welches in der Arbeit mit geistig behinderten Frauen eine zentrale Rolle spielt: Das von der angeborenen Opferrolle der Frau in der sexuellen Begegnung. Hier hat die Diskussion über sexuellen Missbrauch – so wichtig sie ist – dazu geführt, dass neue Tabus geschaffen wurden. Allzu schnell ist heute, wenn geistig behinderte Frauen ihre sexuellen Wünsche offensiv in Szene setzen, von der Vermutung die Rede, dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden haben müsse – fast, als könnten geistig behinderte Frauen kein eigenes Begehren besitzen, sondern im sexuellen Kontext immer nur Opfer sein, und als sei mit der Vermutung über einen Missbrauch bereits alles gesagt. Dies sorgt in sich fortschrittlich verstehenden Einrichtungen heute nicht selten für neue Verstehensblockaden.

Frauen wie Karin, deren Leidenschaftlichkeit und sinnliche Ausdruckskraft, wie verzerrt auch immer, uns aus Irenes Darstellung so deutlich entgegentritt, können durch die allzu vorschnelle Vermutung eines Missbrauchs in ihrer Fantasie bestärkt werden, ihre weibliche Triebhaftigkeit sei das schlechthin Böse – sei geradezu mit der geistigen Behinderung identisch. »Does my vagina have a Downs Syndrome?«, wurde Valerie Sinason einmal von einer ihrer Patientinnen gefragt.[48] Was dieses Mädchen wohl zum Ausdruck bringen wollte, ist die Fantasie, ihr weibliches Begehren könnte selbst Ausdruck einer Beschädigung, ja geradezu Ursache ihrer Behinderung sein. Eine ähnliche Fantasie bringt Karin hier zum Ausdruck: Ihr weiblich-sexuelles Begehren muss in die »bösen« männlichen Betreuer ausgelagert und in ihren bekämpft, ins Gefängnis gebracht werden, damit sie sich das (asexuelle) »Gute« erhalten kann.

Im Übrigen fällt auf, dass Karin immer dann von einer »Vergewaltigung« berichtet, wenn sie zuvor weggelaufen war. Dieser Zusammenhang ist keineswegs nur einer der sich zufällig ergebenden Gelegenheit. Karin verweist damit auf die Bedeutung, welche die Entdeckung des weiblich-sexuellen Erlebens beim kleinen Mädchen bekommt: Indem es sich als vaginal-potentfantasiert, indem es den Vater oder andere männliche Bezugspersonen dazu gewinnen kann, ihm seine weibliche Verführungskraft wohl wollend zu bestätigen, gelingt ihm die Loslösung von der Allmacht der frühen Mutter. Die Mutter wird verlassen, und dieser Schrittfindet seine triumphale Bestätigung darin, dass das Mädchenfantasieren kann, die Mutter als Rivalin beim Vater zu entthronen.

Dieser Loslösungsprozess war bei Karin in spezifischer Weise misslungen, und in ihren Inszenierungen nähert sie sich einer immer deutlicher werdenden Darstellung dessen, woran er scheitern musste. Sie musste ihre weibliche Sexualität als etwas Böses ansehen, da ihr Impuls, sich von der Mutter zu lösen, auf fatale Weise mit einer Realität zusammenfiel, in der sie sich nur als Verstoßene erleben konnte. Der Grund für solches Verstoßenwerden, so musste es ihr erscheinen, war ihre weibliche Sinnlichkeit (der Bruder hatte ja bei der Mutter bleiben dürfen).

Der »Traum vom Draußen«

In das Gruppengeschehen lebt sich Karin gut ein, zeigt aber kaum Interesse an Aktivitäten. Meistens sitzt Karin möglichst nahe bei Maria oder mir, hört Gesprächen zu und träumt vor sich hin. Ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe ist nahezu unersättlich. Es gibt Tage, an denen ich kaum arbeiten kann, da mich Karin ständig umarmt oder sich so eng als irgendwie möglich neben mir aufhält. Alle Versuche meinerseits, etwas Distanz zu gewinnen, scheitern zunächst. Erst als Karin ernsthaft zornige Zurückweisung von mir erfährt, können wir über ihr Bedürfnis nach Körperkontakt sprechen. Ich kann ihr erklären, dass ich für sie auch da bin (sogar viel mehr) ohne dass sie sich dauernd durch Umarmungen und Kuscheln präsent machen muss. Karin erfährt zum ersten Mal meine Grenzen ganz deutlich und erlebt, dass diese Grenzen den Raum für Nähe bestimmen. Das Bedürfnis, Nähe körperlich zu erfahren, bekommt somit einen angemessenen Platz. Karin äußert in diesem Gespräch zum ersten Mal den Wunsch, mein Baby zu sein. Dieser Wunsch bleibt lange Zeit sehr präsent. Alles, was mit Familie, kleinen Kindern, Geschwistern etc. zu tun hat, wird von ihr auch heute noch bis ins Groteske idealisiert.

Mit der Zeit können wir erkennen, dass sich ihre Aggressionen oft lösen, wenn wir gemeinsam über ihr Scheitern in der Wohngemeinschaft trauern. Ihr Wunsch, wieder in einer Wohngemeinschaft leben zu können, ist nach wie vor zentral. Wir unterstützen sie darin, ohne zu hinterfragen, warum dies so wichtig ist und warum sich Karin ständig an einen anderen Ort wünscht.

In dieser Zeit gelingt es, den Kontakt zu ihrer Mutter, die in einem Altersheim lebt, wieder herzustellen. Karin besucht ihre Mutter in recht unterschiedlichen Zeitabständen gemeinsam mit Maria. Sie reagiert auf ihre Mutter in sehr unterschiedlicher Weise. Manchmal ist sie voll Verständnis darüber, dass sie von ihrer Mutter in Pflege gegeben wurde, da diese selbst große Schwierigkeiten hatte, arbeiten musste und Karin außerdem ja ein sehr böses Kind gewesen sei, das man nicht zu Hause behalten konnte. Aber oft ist Karin auch sehr traurig und zornig auf ihre Mutter, da sie von ihr viel geschlagen wurde, obwohl sie doch so krank war, und den älteren Bruder hat sie nicht weggegeben. Die Besuche bei ihrer Mutter sind anstrengend, da die beiden ein denkbar schwieriges Verhältnis zueinander haben. Hin und wieder bedauern sie sich gegenseitig über erlittenes Unrecht, oder über ihre derzeitige Lebenssituation. Immer wieder kommt es vor, dass die Mutter ihre Tochter nicht erkennt und auf ihr Kommen mit Schlägen gegen sie reagiert. Im Altersheim wird dies mit ihrer fortschreitenden Demenz begründet, aber Karin hat damit große Schwierigkeiten und kann sich das nicht mit Demenz erklären, da ihre Mutter ja früher auch nicht anders gewesen sei. Trotzdem will sie ihre Mutter weiterhin besuchen.

Schmerzlich ist für Karin die Tatsache, dass ihr Bruder jeglichen Kontakt zu ihr ablehnt, wo sie sich doch so sehr eine Familie wünscht. Zudem hat er zwei Kinder, die Karin gerne kennen lernen würde, und es beschäftigt sie sehr, die Tante dieser Kinder zu sein, diese aber niemals gesehen zu haben. Sie bemerkt häufig, dass sie auf diese Kinder aufpassen und sie vor allen Gefahren beschützen möchte.

Im Alltag der Tagesstruktur ist Karins größtes Problem die Konkurrenz und Eifersucht gegenüber einer anderen Frau, Andrea, mit der sie eine lange gemeinsame Psychiatriegeschichte verbindet. Beide Frauen kennen alle Facetten der Verwahrung in einer Anstalt und haben viel Wissen über die Geschichte der jeweils anderen. Zudem ist Andrea sehr reizbar und aggressiv und neigt zu Gewalttätigkeiten gegenüber Personen, die sie als Konkurrenz erlebt. Sie beansprucht viel Raum und Zeit von uns Mitarbeiterinnen – Karin und Andrea wechseln sich in ihrem Verhalten ab, je schwieriger die eine ist, umso angepasster ist die andere.

Gegenseitige Provokationen sind an der Tagesordnung, Andrea geht immer wieder auf Karin los, welche ihrerseits Andrea gekonnt reizt, indem sie ihr Wissen um die Schwächen der anderen nützt. Sobald dann Andrea ihr gegenüber gewalttätig wird, genießt sie es, von uns geschützt zu werden und verhält sich auffallend angenehm und freundlich.

Hier wird der Spaltungsaspekt von Karins Wiederholungszwang noch deutlicher: Andrea verkörpert eine mörderische (eine mit Aussetzung drohende), das Team die lebensrettende, haltende Mutter. Der Halt, den das Team Karin so lange hatte gewähren können, gerät nun akut in Gefahr. Karin spielt mit dem Feuer, denn Andreas Neigung, Tötungsfantasien auszuagieren, bringen das Team ohnehin schon an den Rand seiner Belastungsfähigkeit.

Wir erinnern uns an ihren Mordversuch an Gudrun, der etwas später schließlich dazu führte, dass Andrea aus der Gruppe ausgeschlossen werden musste. Auch hier schon spitzt sich die Lage auf einen Ausschluss aus der Gruppe zu, zunächst ohne dass klar wird, wer von beiden diese Rolle der »Auszusetzenden« spielen soll. In Karins Inszenierung heißt dies: Wenn Andrea ausgeschlossen würde, dann hätte Karin sich als die Nur-Gute eingesetzt, um den Preis ihrer Autonomie wünsche - wenn umgekehrt sie selbst die Ausgesetzte wäre, dann wäre ihr »Traum vom Draußen« auf fatale Weise Wirklichkeit geworden – es könnte die hinter diesem Traum euphorisch geleugnete Todesdrohung ihres kindsmörderischen Introjekts offenbar werden.

Karins Tendenzen zu spalten und auszuspielen wirken sich in dieser Konstellation fatal aus. Immer öfter gerät sie in Situationen, wo sie von Andrea ernsthaft gefährdet wird. Ihre Angst vor Andrea, der sie körperlich unterlegen ist, wird immer realer, ihre Provokationen geringer.

In dieser schwierigen Situation (wieder einmal haben alle ihre Grenze erreicht) wird von einer Wohngemeinschaft für Menschen mit geistiger Behinderung ein Wohnplatz angeboten. Diesem Angebot stehen wir zunächst skeptisch gegenüber, da wir von der inhaltlichen Arbeit der Träger dieses Projektes nicht überzeugt sind. Auf der anderen Seite steht aber der dringende Wunsch Karins, wieder in einer Wohngemeinschaft leben zu können und die ständige Gefahr, die ihr durch Andrea droht. Zudem ist ja auch die Integration von Menschen mit geistiger Behinderung aus der Psychiatrie in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche unser Anliegen und unsere Überzeugung und daher wollen wir Karin trotz aller Bedenken diese Chance bieten. Sie hatte mittlerweile acht Monate in der MIM-Gruppe verbracht und in vielen Bereichen eine beachtliche Entwicklung gemacht. Als die Entscheidung für die Wohngemeinschaft fällt, haben wir aber alle ein mehr oder weniger vages Gefühl des Unbehagens.

Dieses vage Unbehagen verwundert nicht – ist doch hier der Raum der Bedeutungen, den die MIM-Gruppe für Karin hatte bereitstellen können, zusammengebrochen. Hier wird etwas ausagiert, was im Rahmen des Settings der Gruppe nicht mehr reflektiert und gehalten werden konnte: Der »Traum vom Draußen« als tödliche Wirklichkeit. Das Team agiert den so lange gehaltenen Tötungsimpuls hier schließlich doch noch aus – getarnt von einer Reaktionsbildung: Es »ist ja auch die Integration von Menschen mit geistiger Behinderung aus der Psychiatrie ... unser Anliegen«. Das Ideal der Integration wird zur Ideologie, die eine andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit der tödlichen Inszenierung Karins, der das Team hier nach langer Gegenwehr doch noch erliegt, verbergen muss.

Wenn wir die biografischen Hintergründe bedenken, ist es nicht mehr allzu schwer zu erraten, woher wohl Karins Bedürfnis kommt, immer »woanders« zu sein. Von früh an hatte sie die Erfahrung gemacht, dort, wo sie hingehörte, »nicht tragbar« zu sein – eine Erfahrung, die bei der leiblichen Mutter begann und sich durch ihr gesamtes Leben hindurchzog. Wo immer sie war, es war nicht ihr »eigentliches« Zuhause. Das Zuhause bei Mutter musste als unerreichbares »Gelobtes Land« erscheinen. Zugleich jedoch war der Umstand, dass die Mutter sie sozusagen verstoßen hatte, nur allzu geeignet, aggressive Impulse auszulösen.

Diese freilich waren viel zu überwältigend, als dass sie sie konstruktiv in einen Ablösungsprozess hätte umsetzen können. Sich Ablösen hätte geheißen, sich die Lebensgrundlage, die sehnsüchtige Fantasie von der vollkommen guten Mutter, dem »Gelobten Land« zu zerstören. So wurde das »Gelobte Land« zum »Traum vom Draußen«, verquickte sich die Mutterrepräsentanz auf eine Weise mit der Repräsentanz des Fremden, die letztere auf den Spaltungsmodus festlegen und das Ersehnte als letztlich vollkommen unerreichbar erscheinen lassen musste.

Karin hat nur wenige Tage Zeit, um sich zu entscheiden, ihre Reaktion ist sehr euphorisch und sie läuft den ganzen Tag laut singend herum. Ständig beteuert sie, dass sie nie mehr wieder zurückkäme und dass sie von nun an immer »brav« sei. Dabei malt sie sich ihr zukünftiges Leben in den glühendsten Farben aus. Sie fragt aber auch immer wieder nach, ob sie denn weiterhin in die Tagesstruktur kommen könne – Fragen, deren Bedeutsamkeit wir erst viel später erkennen (sie hätten als ein Warnsignal dienen können). Wir vereinbaren, dass Karin hin und wieder mit Voranmeldung auf Besuch kommen könne. Sie wünscht sich, auch in ihrer neuen Umgebung die Gesprächstherapie weiterhin aufsuchen zu können, und von ihren neuen Betreuerinnen wird dies zugesagt.

Da ich mittlerweile zur wichtigsten Person in Karins Umfeld geworden bin, nehme ich es als meine Aufgabe, sie ein Stück in ihrer neuen Lebenssituation zu begleiten. Karin selbst stellt diese Begleitung als Bedingung für ihre Zusage an die Wohngemeinschaft (auch dies ein Warnsignal, ebenso im Übrigen wie Karins Euphorie). Sie wird einmal wöchentlich mit mir telefonieren und alle 14 Tage ein paar Stunden bei mir zu Hause verbringen. Der Problematik, dass Karin in mein Privatleben eindringt, bin ich mir bewusst, stimme dem aber zu, da es keine andere sinnvolle Kontaktmöglichkeit gibt und mir meine Beziehung zu ihr wichtig ist.

So stark war das unbewusste Schuldgefühl Irenes für das hier einsetzende Mitagieren des MIM-Teams in Karins selbstzerstörerischer Inszenierung, dass sie Karin einen Platz in ihrem Privatleben einräumte. So problematisch dies war, in diesem Falle dürfte es auch dafür gesorgt haben, dass die Katastrophe letztlich nicht tödlich ausging. Die Besuche bei Irene waren fortan für Karin der Inbegriff des Guten, in welchem sie zunehmend krampfhaft alle Hoffnung, alle Sehnsucht unterbringen musste, während in ihr selbst das Gute zusehends zusammenbrach. Wie wir sehen werden, bedient sie sich zur Erhaltung dieser letzten Insel des Guten des Abwehrmechanismus der Isolierung, und entsprechend unlebendig verlaufen ihre Besuche: Sie schläft die meiste Zeit.

Karin zieht im Oktober 1995 in die Wohngemeinschaft. Ihre Telefonate und Besuchstage bei mir nimmt sie sehr genau wahr. Vom Alltag in der Wohngemeinschaft erzählt sie mir fast überhaupt nichts, es scheint ihr aber gut zu gehen und unsere Vorbehalte dem Projekt gegenüber werden geringer.

Für ihre Besuche überlege ich mir zunächst immer ein Angebot, irgendeine Aktivität, das sie jedoch nicht ein einziges Mal wahrnimmt. Die Besuche sind wie ein Ritual, dessen Ablauf sich fast identisch wiederholt, für jeden Schritt dieses Rituals bittet sie mich um Erlaubnis. Karin kommt, umarmt mich und setzt sich mit mir in die Küche. Während ich uns etwas zum trinken und knabbern herrichte, streichelt und herzt sie unseren Hasen. Manchmal erzählt sie mir etwas, immer sehr wenig und eher unbeteiligt. Anschließend geht sie ins Wohnzimmer, legt sich auf die Couch, den Kopf auf meinen Schoß, wünscht, dass ich ihr übers Haar streiche und ihr sage, dass sie schöne Locken habe. Nach kurzer Zeit schläft sie ein, ich kann den Raum verlassen und irgendeiner Tätigkeit nachgehen. Nach ca. einer Stunde wacht Karin auf und schaut nach, wo ich bin. Wir setzen uns dann nochmals nebeneinander auf die Couch und reden ein bisschen, bis sie wieder abgeholt wird. Sie verabschiedet sich nie im Beisein ihrer Betreuer von mir. Ihre Besuche sind für uns beide eine angenehme Erfahrung - wir sind uns nahe, aber in einer für beide guten Form.

An dieser Stelle zeigen Irenes Schuldgefühle bis heute Wirkung: Die »angenehme Erfahrung« beruht auf einer Leugnung, und das starre Ritual, welches Karin eingerichtet hatte, hätte ihr von Anfang an Warnsignal sein können. Stattdessen ist sie erleichtert darüber, dass Karin sie während ihrer Besuche durch ihr Schlafen entlastet, und spürt nicht, dass dieses Schlafen einen Aspekt des Sich-Totstellens beinhaltet.

Karin muss sich tot stellen, weil sie spürt, dass sie mit ihren Besuchen in Irenes Privatbereich eine Grenze zu überschreiten droht, und damit in Gefahr gerät, sich das Gute, das sie in Irene gefunden hat, auf immer zu zerstören. So aber kann sie kaum Gebrauch machen von diesem Guten, und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Über Karins Schlafen machte ich mir damals viele Gedanken und ich erinnere mich gut an meine ambivalenten Gefühle. Einerseits wollte ich mit ihr Verschiedenes unternehmen und es störte mich sehr, dass sie jedes Mal einschlief; andererseits dachte ich mir, sie müsse sich sicher und geborgen fühlen, wenn sie so ruhig schlafen kann. Als ich Dietmuts Kommentar dazu zum ersten Mal las, war ich höchst überrascht und auch betroffen, welche Bedeutung sie Karins Schlafen gibt und wie stimmig dies für mich im Nachhinein ist.

Es liegt mir freilich ferne, hier etwa die Arbeit Irenes, und des MIM-Teams, zu entwerten. Es wäre ein Auswuchs der pädagogischen Hybris, zu erwarten, dass solche Fehlentscheidungen unter allen Umständen vermieden werden könnten, und es ist nicht im Geringsten verwunderlich, dass das MIM-Team der Versuchung erlegen ist, Karin in die Wohngruppe zu entlassen.

Die Belastungssituation war offenbar an einem Punkt angelangt, an welchem ein reflektierter Umgang mit den Problemen Karins nicht mehr gelingen konnte und ihr Wiederholungszwang sich auf fatale Weise zur Geltung bringen musste. So beruhte zwar auch die Entscheidung Irenes, Karin Besuche in ihrem Privatbereich anzubieten und ihr auf diese Weise zu signalisieren, dass sie auf sie zählen konnte, auf fragwürdigen Grundlagen. Wahrscheinlich jedoch trug sie entscheidend dazu bei, dass Karin die Katastrophe überlebte und letztlich doch noch konstruktiv verarbeiten konnte. Ob es menschenmöglich gewesen wäre, die katastrophale Eskalation, die nun eintreten sollte, überhaupt abzufangen, ist hingegen mehr als fraglich.

Karins eher seltene Besuche in der Tagesgruppe sind ganz anders. Sie erzählt auch dort wenig bis gar nichts von ihrem Leben in der Wohngemeinschaft, bekundet aber immer sehr laut, wie gut es ihr dort gehe, dass sie alles tun könne, was sie wolle und ihr niemand mehr etwas verbieten dürfe. Sie freut sich, mit den anderen Gruppenmitgliedern Kuchen zu essen und genießt die Rolle der Besucherin. Recht angeregt unterhält sie sich über ihre Vergangenheit in der Gruppe und wie sehr sie doch alle reinlegen konnte und vor allem Marlies ärgerte. Meistens ist es recht lustig, wenn sie kommt, manchmal setzt sie sich einfach auf ihren früheren Platz und singt.

Die MIM-Gruppe bekommt in Karins verzweifeltem Abwehrkampf nun die Rolle der »bösen Mutter«, die aussetzt und daher verlassen wird, zugewiesen, einer Mutter, der Karin thriumphierend eine gelungene Ablösung vorspielen muss. Mit ihrem gespenstisch wirkenden Schweigen über ihre reale Situation in der Wohngruppe beschwört sie ein Phantom von Freiheit und Autonomie, welches in der gelebten Wirklichkeit immer mehr zur Farce wird.

Nach einigen Monaten ändert sich Karins äußeres Erscheinungsbild: sie wirkt verwahrlost und macht einen abwesenden, traurigen Eindruck. Die Erzählungen über ihr Leben in der Wohngemeinschaft sind immer noch gleich dürftig, das Besuchsritual bei mir ist immer noch dasselbe. Sie fragt öfters nach der früheren Gruppe und erwähnt mehrmals, wie schön es doch dort war. Ich bin zwar besorgt, vermute zunächst aber nur ein normales Abflauen der Begeisterung über das neue Leben. Erst als Karin immer wieder unpünktlich zu mir gebracht wird und mittlerweile Ekel erregend schmutzig kommt, frage ich eingehender nach. Sie selbst erzählt nur, dass sie sehr traurig sei, dass sie »schlimme Sachen« angestellt habe und es nur mehr einen Betreuer gäbe, der sie mag. Weiters erwähnt sie, dass sie nicht mehr zur Gesprächstherapie gehe, da das für die Betreuerinnen zu viel Aufwand sei.

Konkreteres kann sie mir nicht sagen, bittet mich aber, diesen einen Betreuer anzurufen. Ich erfahre, dass Karin nach einiger Zeit in der Wohngemeinschaft immer aufsässiger und schwieriger wurde. Mit der Situation, einfach tun zu dürfen, was sie wollte, konnte sie überhaupt nicht umgehen und revoltierte daher gegen Mitbewohnerinnen und Betreuerinnen. Gleichzeitig nahm sie ihre Medikamente nicht mehr ein und wurde zunehmend unruhiger und paranoider. Immer wieder lief sie nachts auf die nahe Autobahn und drohte mit Selbstmord. Die Therapie wurde von den Betreuerinnen (!) abgebrochen, weil sie keinen Sinn darin sahen.

Kurze Zeit später wird Karin für ein paar Tage in die Psychiatrie eingewiesen. Als ich sie dort (auf ihren Wunsch hin) besuche, hat sie verzweifelte Angst, für immer dort bleiben zu müssen. Sie meint, sie sei bereit alles zu tun und ganz »brav« zu sein, damit sie dieses Mal in der Wohngemeinschaft bleiben könne. Sie bittet mich um Hilfe und ist enttäuscht, da ich ihr nur wenig helfen kann. Wichtig ist aber meine Bereitschaft, weiterhin in Kontakt zu bleiben und für sie da zu sein. Ich zeige Karin, wie man sich jemanden, dessen Nähe man braucht oder sich wünscht, »herbeidenken« kann.

Ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr in die Wohngemeinschaft wird sie in einem beängstigenden Zustand wieder in die Psychiatrie eingeliefert und nach einem Kurzaufenthalt entlassen. In dieser Zeit telefonieren wir ein paar Mal miteinander, da Karin nicht in der Lage ist, mich zu besuchen. In diesen Gesprächen sagt mir Karin immer wieder, dass sie nicht mehr leben wolle und dass ihr niemand mehr helfen könne. Irgendwann bricht sie dann auch den Kontakt zu mir ab.

Nach einigen weiteren Eskalationen und ihrer Weigerung, Medikamente einzunehmen, wird Karin erneut in die Psychiatrie aufgenommen. Auch das Team dieser Wohngemeinschaft trifft – wieder einmal – die Entscheidung, dass Karin nicht mehr zurückkommen kann. So endet der »Traum vom Draußen« auf schmerzliche Weise in der Psychiatrie.

Karin entscheidet sich zu leben

Karin wird nach ein paar Tagen von der Psychiatrie in unseren Verein entlassen. Sie wird in ihrer alten Wohngruppe aufgenommen und kommt auch wieder in die MIM – Gruppe. Mit Vorbehalt stimmen wir dem zu, da es kein anderes Angebot für sie gibt. Erst als Karin wieder in der Gruppe ist, wird uns das Ausmaß ihrer Verschlechterung bewusst. Sie ist das Gegenteil der oft so anstrengenden und doch liebenswerten Frau, die sie einmal war. Beim Gehen muss sie von zwei Personen gestützt werden, den ganzen Tag liegt sie auf einem Sofa, von dem sie immer wieder auf den Boden fällt oder sich fallen lässt. Sie spricht fast überhaupt nicht, verweigert Essen und Trinken, stöhnt ständig vor sich hin und es muss ununterbrochen jemand bei ihr sein.

Auf unsere Bemühungen, ihr zu helfen, reagiert sie mit Ablehnung. Sie lässt sich z.B. kaum vom Boden aufheben, lässt sich aber auch keine Decke unterlegen, um sie vor Kälte zu schützen. Alle im Team sind äußerst besorgt um sie, aber niemand kann sie erreichen – auch alle meine Versuche, unsere alte Nähe wieder herzustellen, scheitern. Ihre Atemwege sind so verschleimt, dass sie Schwierigkeiten beim Atmen hat. Sie versucht aber nicht einmal, den Schleim heraufzuhusten, lässt sich auch nicht aufsetzen, als ob sie grundsätzlich alles ablehnen müsse, was ihren Zustand verbessern könnte. Da die Verschleimung immer ärger wird und sich auch sonst keine Besserung zeigt, kann Karin nicht mehr in die Tagesstruktur kommen. Sie muss ganztägig in der Wohngruppe bleiben, da sie professionelle medizinische Pflege braucht, die wir nicht leisten können.

Ich besuche Karin dort fast täglich, wenn auch nur kurz. Trotz der guten medizinischen Versorgung, mittlerweile wird sie mit Sonde ernährt, der Schleim wird regelmäßig abgesaugt usw. verfällt sie zusehends. Einige Wochen liegt sie meistens teilnahmslos da, lässt alles mit sich geschehen und reagiert auf keinen der vielen Besuche. Oft sitze ich an ihrem Bett und erzähle ihr von gemeinsamen Erlebnissen, nie ist eine Reaktion sichtbar.

Nach einiger Zeit beginnt sie zu halluzinieren und gerät in panische Zustände. Am schrecklichsten erfahre ich dies, als ich sie besuche und sie sich panisch vor Angst vor mir in eine Ecke des Zimmers drückt und schreit, ich sei der Teufel. Ich gehe sofort aus dem Zimmer, sie muss von zwei Pflegern gehalten und stark sediert werden. Ab diesem Zeitpunkt erlebe ich sie entweder völlig apathisch oder in Panik. In diesem Wechsel überlebt sie die nächsten Wochen dank professioneller Hilfe.

Hier kommt nun die Ambivalenz gegenüber der »nur-guten« Mutterfigur, die Karin in Irene projiziert hat, deutlich zum Ausdruck: In ihrer Absolutheit ist sie zugleich der Teufel. Erstmals zeigte sich diese Ambivalenz wohl, als sie nach Abschluss des Internats zur Mutter kam und kaum 14 Tage später schon in die Psychiatrie eingewiesen werden musste. Wir können uns vorstellen, dass die Aussicht, endlich zur Mutter nachhause ziehen zu können, in Karin eine ähnliche Euphorie ausgelöst haben mag wie die Euphorie aus Anlass des Angebots, in die Wohngruppe auszuziehen. In der weniger idealen Wirklichkeit wird diese Euphorie schnell zusammengebrochen sein und der anderen Seite der Ambivalenz das Feld geräumt haben.

Die gleiche Ambivalenz tauchte auch immer wieder in der Fantasie auf, geliebte Menschen könnten sterben; und insbesondere darin, dass sie jeweils auf dem Höhepunkt der Krise in ihren vorherigen WG-Versuchen ihre Lieblingsbetreuerinnen mit einem Messer angegriffen hatte. Irene wurde, indem sie sie im Moment ihrer tiefsten Niederlage aufsuchte, zum Teufel, zum Gegenpol des Ersehnten und so lange mühsam aufrechterhaltenen Nur-Guten. Sie wurde zum Inbegriff des Scheiterns, weil sie durch ihren Besuch zum Ausdruck brachte, dass das »Gelobte Land«, zu dem in Karins Fantasie ihre privaten Räumlichkeiten wohl avanciert waren, nicht wirklich für Karin offen war – dass Karin vielmehr hierher in die Psychiatrie gehörte, als eine endgültig Gescheiterte, der ihr alter »Traum vom Draußen« nur mehr als Fratze entgegentrat. An dieser Stelle ist Karin am äußersten Punkt ihrer Hoffnungslosigkeit angekommen, und sie kann sich nur noch dem Sterben anheim geben.

Als sich herausstellt, dass Karin eine schwere Lungenentzündung hat, wird sie in eine Klinik verlegt. Ihr Zustand ist lebensbedrohlich, sie ist nicht ansprechbar. Sooft ich kann, besuche ich Karin, und da sie ein Zimmer für sich hat, verbringe ich ungestört viel Zeit bei ihr. Ich erzähle ihr, wie sehr ich sie mag und wie wichtig mir ihr Leben ist. Karins Zustand wird immer bedrohlicher, da ihr Körper durch die lange Krankheit so geschwächt ist, dass die Medikamente nicht ansprechen. Die ärztliche Prognose sieht schlecht aus, wenn sich nicht bald etwas verändert.

Auch eine Betreuerin aus ihrer ersten Wohngemeinschaft, die zu Karin seit damals den Kontakt gehalten hat, kommt sie regelmäßig besuchen. Eines Tages sitzen wir gemeinsam an Karins Bett und weinen beide in dem Gefühl, Karin nicht erreichen zu können. Irgendwann fangen wir an, uns gegenseitig zu erzählen, warum uns Karin so wichtig ist, was für schöne, hässliche und verrückte Dinge wir mit ihr erlebt haben und wie sehr wir dies vermissen. Bei manchen Geschichten müssen wir lachen, andere wiederum machen uns traurig. Nach einiger Zeit verabschieden wir uns von Karin. Zum ersten Mal, seit Karin so krank ist, gehe ich mit einem guten Gefühl nach Hause.

Dies war der Wendepunkt. Es ist erschütternd, hier Zeugin zu sein und sehen zu können, was in dieser lebensbedrohlichen Krise die Umkehr ermöglichte. Was Karin hier erfährt – vielleicht erstmals in ihrem Leben erfährt – ist ein Gehaltensein als Ganze und im Ganzen. Das Team der MIM-Gruppe hatte die Zusammengehörigkeit von »Gutem« und »Bösem« für Karin dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Marlies als wertgeschätztes und voll integriertes Mitglied des Teams ausdrücklich die Rolle der »Bösen« ertragen hatte. Hier nun war eine Situation entstanden, in welcher Karin sich ganz und gar als »böse« identifiziert und sich als »lebensunwertes Leben« dem Tod überliefert hatte. Die beiden Personen aber, die ihr seit Langem das Gute verkörpert hatten, konnten jetzt in ihren Erinnerungen eine Vorstellung von einer Karin aufbauen, die zugleich »gut« und »böse« war – ein Subjekt mit »guten« und »bösen« Anteilen, mit einer Geschichte und also mit einer klar erkennbaren Kontur und subjektiven Identität. Endlich konnte sie, sterbenskrank und vollkommen passiv ausgeliefert, erleben, dass sie in der Welt gehalten war, in ihr einen Platz hatte. Damit konnte erstmals ein Impuls zu leben in ihr entstehen, der nicht mit der Selbstvernichtung des »Traum vom Draußen« kontaminiert war.

Als ich sie ein paar Tage später mit all meinen Hoffnungen und Befürchtungen besuche, liegt sie immer noch gleich teilnahmslos da, aber ihr Ausdruck hat sich vollkommen verändert. In diesem Augenblick spüre ich, dass das Sterben vorbei ist, dass sie sich fürs Leben entschieden hat. Meine Freude darüber lässt sich nicht beschreiben und ich kann beruhigt und zufrieden nach kurzer Zeit wieder gehen. Ein paar Tage später bekomme ich einen Anruf der Betreuerin aus der ersten Wohngruppe, dass es Karin besser ginge und sie hin und wieder ansprechbar sei. Als ich sie besuche, kann ich es kaum glauben: Karin sitzt im Bett und lächelt mich zaghaft an, sie ist zwar noch schwach und kann nicht verständlich sprechen, aber sie ist wieder da und will eindeutig leben.

Erste Schritte in die Welt

Als Karin aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist die MIM-Gruppe bereits aufgelöst und es wird die Entscheidung getroffen, Karin in die Wohngruppe aufzunehmen, deren pädagogische Leitung meine Aufgabe ist. Wir treffen diese Entscheidung gemeinsam: einerseits will sie in diese Gruppe, weil dort keine Bewohnerinnen leben, zu denen sie durch gemeinsame Psychiatriegeschichte ein schwieriges Konkurrenzverhältnis hat, wie z.B. Andrea gegenüber; andererseits wünscht sie sich weiterhin einen nahen Kontakt zu mir und ist überzeugt, in der neuen Situation meine Unterstützung zu brauchen. Ich freue mich darüber, weiterhin mit Karin arbeiten zu können, aber mir ist auch bewusst, dass wir uns beide in einer gänzlich anderen Lebens- und Arbeitsrealität als in der MIM-Gruppe einfinden müssen.

Der neue Wohnbereich ist in zwei Wohngruppen mit jeweils sieben Bewohnerinnen aufgeteilt. Das Arbeitsteam besteht aus ca. 14 Mitarbeiterinnen, einem Koordinator und mir. Zum Teil ist dieses Team gerade erst neu entstanden und viele Mitarbeiter kommen noch aus der alten psychiatrischen Tradition. Meine Hauptaufgabe ist es, mit diesem Team eine sinnvolle pädagogische Begleitung für die 14 Bewohnerinnen zu erarbeiten und umzusetzen.

Was Karin anbelangt, sind die unglaublich vielen Möglichkeiten zu spalten und auszuspielen in einem so großen und noch dazu sich personell stark verändernden Team meine größte Sorge. Sie zieht in die neue Gruppe, und schon geht’s los. Sobald ich mich dort einfinde, ist sie freundlich und hilfsbereit und erledigt ihre täglichen Pflichten. Kaum bin ich außer Haus, wird sie aufsässig, provokant oder weinerlich. Ihre alt bekannte Einteilung in »gute« und »böse« Betreuerinnen kommt schnell zum Einsatz. Die »Guten« sind diesmal diejenigen, wo sie meine Sympathien spüren kann,[49] ein Teil der Mitarbeiterinnen ist ihr schlicht und einfach gleichgültig und vier sind abwechselnd »böse«. Sie versucht zunächst meine Machtposition sowie unser vertrautes Verhältnis zu benutzen, um ihr Spiel entsprechend zu betreiben.

Die ersten Wochen in dieser Situation sind für mich schrecklich, vor allem vermisse ich den Rückhalt der MIM-Gruppe und die vielen Reflexionen mit Marlies. Karin wird für mich zur Überlebensfrage in diesem Team, und einige Zeit bin ich überzeugt, eine völlig falsche und fachlich fragliche Entscheidung getroffen zu haben, indem ich ihrer Aufnahme in die Gruppe zustimmte. Meine Gefühle Karin gegenüber sind Zorn und Enttäuschung, dass sie mich in diese so schwierige Lage bringt.

Da sich an dieser Situation so schnell nichts ändern lässt, beschließe ich zu handeln. Zuallererst kläre ich mit den Mitarbeiterinnen meine Rolle und Position in dieser Konstellation. Es gelingt mir dank der Hilfe des Koordinators der Wohngruppe und einiger sehr engagierter Mitarbeiterinnen zu vermitteln, dass das Karins und nicht mein Spiel ist, ich keineswegs hinter ihr stehe bzw. bereit bin, mich weiterhin von ihr benutzen zu lassen.

Im Team werden klare Regelungen im Umgang mit Karin ausgearbeitet, ähnlich wie damals in der MIM-Gruppe. Wichtigster Grundsatz für alle ist, ihre Ausspielereien der Teammitglieder untereinander nicht mehr zuzulassen. Mitarbeiterinnen, die mit Karin Vereinbarungen treffen, müssen diese dokumentieren und in Dienstübergaben weitergeben, um durch guten Informationsfluss Missverständnissen vorbeugen zu können. Wenn Karin sich über Mitarbeiterinnen beschweren will oder muss, kann sie das ausschließlich beim Koordinator der Wohngruppe tun. Sollte es Vorfälle geben, die mit einzelnen Mitarbeiterinnen zu klären sind, geschieht das im Beisein des Koordinators. Zudem wird ausgemacht, dass Karin sich Mitarbeiterinnen gegenüber korrekt benehmen muss, wie auch umgekehrt.

Alle Regelungen werden mit ihr genau durchgesprochen, sie reagiert trotzig und empört und versucht sofort, meine Unterstützung zu bekommen, indem sie sich über einzelne Mitarbeiter beschwert. Als ich ihr diese verweigere, verlässt sie aufgebracht und zornig die Wohngruppe mit der Drohung, dass das Team – und vor allem ich – verantwortlich seien, sollte ihr etwas zustoßen.

Nachts wird sie von einer Polizeistreife aufgegriffen und wieder zurückgebracht. Sie erzählt nichts über ihr Verbleiben, wirkt ruhig und etwas bedrückt. Erst einen Tag später berichtet sie mit viel Dramatik, dass sie mit einem fremden Mann gegangen und vergewaltigt worden sei. Dem müssen wir natürlich wieder nachgehen. Wie schon früher bestätigt jedoch keine der Untersuchungen und Befragungen Karins Geschichte.

Es lässt sich aber auch nicht feststellen, was wirklich passiert ist. Sie verhält sich im Weiteren triumphierend und hämisch, sodass für mich und einige Mitarbeiterinnen ihr »Erlebnis« sehr fraglich wird. Gemeinsam mit einer Mitarbeiterin, zu der Karin ein gutes Verhältnis hat, sprechen wir über diesen Vorfall. Wir können unser Gespräch kaum beginnen, als Karin laut weinend zugibt, alles erfunden zu haben. Sie habe alles erfunden und sei weggelaufen in der Angst, dass ich sie wegen ihres schwierigen Verhaltens nicht mehr mag. In ihrer Fantasie stellt sich das so dar: Wäre ihr nun tatsächlich etwas zugestoßen, hätte ich sie dann doch wieder trösten und aufnehmen müssen und wäre traurig und voller Schuldgefühle gewesen.

Hier kann Karin ihre Problematik selbst erstmals klar benennen: Es geht um den Versuch, sich von der Mutter loszumachen, weglaufen zu können und in einem männlichen sexuellen Gegenüber eine Bestätigung ihrer Autonomie zu finden – zugleich aber auch um die Fantasie, von der Mutter auf Grund ihrer Schlechtigkeit verstoßen worden zu sein. Die fantasierte Vergewaltigung wird damit zur Bestrafung für ihren als böse erlebten Autonomiewunsch.

Dies wird zu einem »Schlüsselgespräch«: endlich gelingt es mir, Karin zu vermitteln, dass meine Zuneigung zu ihr ein starkes und beständiges Gefühl zwischen uns beiden ist, das nicht einfach nach Belieben kommt und geht. Sie bekommt aber auch meinen Zorn und meine Wut darüber zu spüren, dass sie ununterbrochen meine Grenze überschreitet. Ich sage ihr, dass ich nicht mehr bereit bin, das noch länger auszuhalten. Wenn sich daran nichts ändert, werde ich in eine andere Wohngruppe wechseln müssen, da ich so nicht arbeiten kann und will. Dies schlägt zunächst wie eine Bombe ein und Karin reagiert verzweifelt, da ihr bewusst wird, wie sehr sie an dieser Szenerie beteiligt ist. Durch dieses Begreifen können wir gemeinsam etwas verändern und somit weiter arbeiten.

Während dieser Zeit ist Karins bereits erwähnter Wunsch, mein Baby zu sein besonders aktuell. Gehen wir zusammen einkaufen und sie sieht einen Kinderwagen, schreit sie sofort hysterisch – freudig, völlig unangemessen und stürzt sich (nicht immer zur Freude der Mütter und Babys) auf das Kind. In der Arbeit will sie ständig engen Körperkontakt zu mir, ich soll den ganzen Tag neben ihr sitzen und sie legt den Kopf auf meinen Schoß.

So anstrengend dies oft auch ist, ist es für uns beide aber auch schön und vertraut. Karin spricht in diesen Situationen viel darüber, wie schön es doch wäre, wenn sie mein Kind sein könnte. »Mein Kind« sein wird immer mehr Thema zwischen uns und mit der Zeit können wir uns intensiver damit auseinander setzen. Mir wird klarer, dass Karin um die Innigkeit und das Symbiotische einer Mutter-Kind Beziehung weiß und sich dieses Gefühl, das sie vermutlich kaum leben konnte, sehnlichst wünscht. Ich versuche mit ihr zu thematisieren, dass ein Mutter-Tochter Verhältnis nicht immer so innig sein muss und es vielleicht gar nicht so schön wäre, mein Kind zu sein, was für sie ein neuer Aspekt wird, den sie bislang in ihrem Denken ausgeblendet hat. Unsere Gespräche über Mutter-Kind Beziehungen werden somit viel differenzierter und realistischer. Karin kann langsam begreifen, dass sie auch mit mir und trotz meiner Nähe keine frühe Mutter-Kind Beziehung mehr leben kann. Sie kann sich dieses Gefühl wünschen, sie kann auch fantasieren, mein Baby zu sein, trotzdem werden wir aber wie zwei erwachsene Frauen zueinander stehen.

Nach diesem bewegten ersten Jahr in der Wohngruppe entspannt sich die Situation merklich und Karin wird umgänglicher und kann mit ihren Gefühlen besser umgehen. Nach wie vor versucht sie, Mitarbeiterinnen untereinander auszuspielen, aber längst nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher; nach wie vor hat sie Schwierigkeiten damit, verlässlich Aufgaben zu übernehmen bzw. sich allein längere Zeit mit etwas zu beschäftigen; nach wie vor macht sie all ihre Aktivitäten von den jeweiligen Betreuungspersonen abhängig. Selten gibt es das Gefühl, dass sie etwas mit Freude macht, oder ihr irgendetwas wirklich wichtig ist, einzig ihre Kleidung wird ihr zunehmend wichtiger und Einkäufe machen ihr viel Spaß.

Im Team wird viel darüber nachgedacht, was wir Karin anbieten könnten, was für sie Sinn machen könnte. Da sie so freudig auf Kinder reagiert, bekommt sie das Angebot, einmal wöchentlich in einer Kindergruppe mitzuarbeiten. Sie geht einmal hin und dann nicht mehr. Karin singt gerne und gut, hat viel religiösen Bezug, also organisieren wir ihre Teilnahme an einem Kirchenchor. Sie geht nur zwei Mal hin und dann mag sie nicht mehr. Die Liste solcher Versuche ist ziemlich lang, bis wir endlich akzeptieren, dass Karin offensichtlich noch nicht in der Lage ist, etwas gerne zu tun oder an etwas länger Freude und Spaß zu haben. Endlich nehmen wir ihr und uns den Druck, das leisten zu müssen. Wir beschließen mit ihr, sie in Ruhe zu lassen und abzuwarten, bis von ihr entsprechende Wünsche kommen. Wir sind auch nicht mehr verärgert und beleidigt, wenn Karin die in mühsamer Kleinarbeit organisierten und gut durchdachten Angebote nicht wahrnimmt.

Von nun an, da wir ihr keine weiteren Angebote außerhalb machen, beginnt sie ihre sozialen Fähigkeiten in der Wohngruppe wieder zu entwickeln, sie wird zur Unterstützerin und Beschützerin schwächerer Mitglieder in der Gruppe. Sie hilft gerne in der Pflege mit und beteiligt sich immer intensiver am Geschehen in der Gruppe. Ihre Arbeiten müssen in dieses Alltagsgeschehen eingebunden sein, dann hat sie Spaß und Freude daran und so kann sie auch für das Team wichtig werden. Da sie ausgelassen und fröhlich sein kann und gerne redet, bekommt sie in einer oft recht schwierigen und wenig kommunizierenden Gruppe eine wichtige Rolle sowohl für Bewohnerinnen als auch für Mitarbeiterinnen. Seither ist sie nicht mehr in dieser Ausschließlichkeit auf meine Person fixiert, sondern entwickelt zu einigen anderen Mitarbeiterinnen ein gutes und nahes Verhältnis.

Karin hat nun begonnen, das Fremde in ihrem Leben zuzulassen. Dazu musste sie zuallererst lernen, sich gegen die wohlmeinende pädagogische Bevormundung zur Wehr zu setzen und den Betreuerinnen deutlich machen, dass sie allein bestimmen konnte, was sie aus der Welt des Fremden in ihr Eigenes einlassen wollte. Das Dritte kann nur von ihr selbst erfunden werden, besetzt werden. Dass jetzt das Fremde in ihrem Leben jenen triangulierenden Platz einnehmen kann, der es zu einem erstrebenswerten Ziel macht, zeigt sich insbesondere in zwei Urlaubssituationen, die sie zusammen mit Irene erlebt.

Karin hat Wünsche

Nach dieser bewegten Zeit in der neuen Wohnsituation, verbringt die Gruppe eine Urlaubswoche in Südtirol. Karin genießt diese Woche und zeigt sich von ihrer besten Seite. Insgesamt wird der Urlaub für alle Beteiligten zu einer wichtigen und guten Erfahrung. Karin nützt die Möglichkeit, neue Menschen kennen zu lernen und ist für alle Eindrücke wesentlich aufgeschlossener als zuhause. Immer wieder versetzt sie uns Mitarbeiterinnen in Erstaunen, wie problemlos sie in der ihr fremden Umgebung zurechtkommt und wie offen sie im Umgang mit fremden Menschen sein kann.

Vor allem aber genießt sie die Situation, dass Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen ständig zusammen sind, dass also die alltägliche Trennung dadurch, dass Mitarbeiterinnen nachhause gehen, wegfällt. Dass dies zuhause wieder anders sein wird, belastet sie nicht weiter. Für die gesamte Gruppe wird dieser Urlaub zu einer tragenden Erinnerung an eine gemeinsame gute Zeit, die viele Schwierigkeiten erträglicher macht.

Einige Monate später äußert Karin erstmals den Wunsch, ohne ihre Mitbewohnerinnen gemeinsam mit mir eine Flugreise ans Meer machen zu wollen. Dieses Ansinnen ist mir zunächst nachvollziehbar und verständlich, ich freue mich darüber, dass sie einen so »normalen« Wunsch entwickeln kann. Es gibt mir aber zu denken, dass sie diese Woche unbedingt mit mir verbringen will. Einerseits ist mir nicht klar, wie sich das im Weiteren auf unser nahes Verhältnis auswirken wird; andererseits habe ich das Gefühl (als gerechte Betreuerin), anderen Bewohnerinnen stünde das genauso zu und ich kann und will nicht mit allen einzeln wegfahren. Mir ist außerdem nicht klar, ob wir eine Woche gemeinsam überhaupt aushalten könnten. Ich erzähle Karin von meinen Bedenken und versuche das Ganze möglichst zu verdrängen und aufzuschieben.

Sie kommt aber ständig darauf zurück und irgendwann wird immer klarer, dass ich eine Entscheidung treffen muss. Nach einigem Hin und Her entscheide ich mich, gemeinsam mit meiner erwachsenen Tochter und Karin für eine Woche nach Tunesien zu fliegen. Allein kann und will ich mit Karin nicht fliegen und noch ein/e Mitarbeiterin ist von unserer Arbeitsstruktur aus nicht vertretbar. So kam ich auf die Idee, meine Tochter zu fragen, die Karin bereits kannte und mochte. Karins Sachwalterin (sie ist die bereits genannte Betreuerin aus der ersten Wohngemeinschaft) genehmigt diese Reise, da sie den Urlaub als für Karin sinnvoll erachtet und Karin ausreichend Geld zur Verfügung hat; für mich ist dieser Urlaub eine Dienstreise. Im weiteren wird sich zeigen, wie wichtig die Entscheidung für diesen Urlaub war. Schon die Vorbereitungszeit ist für Karin sehr aufregend. Selten hatte ich sie bisher so beteiligt und engagiert erlebt. Wohin wir fahren, ist für sie Nebensache – wichtig ist, dass wir fliegen und dass keine ihrer Mitbewohnerinnen mitkommt.

Dadurch, dass Karin ihre Reise selbst bezahlt, und Irene dafür vom Dienst freigestellt wird, ist diese gemeinsame Reise, anders als die Besuche in Irenes Wohnung, nicht mehr ein Einbruch in Irenes Privatsphäre, der das Fremde zwischen beiden leugnet. Zwar ist auch hier die von Irene zugelassene Nähe ungewöhnlich, aber dieses Zulassen geschieht in Anerkennung der Realität dieser Beziehung – der Angewiesenheit Karins auf eine Betreuerin, die ihr durch ihren besonderen Einsatz diesen Ausflug in die Fremde ermöglicht. Die vielen Gespräche über Karins Wunsch, Irenes Baby zu sein, die dieser Reise vorangegangen waren, hatten Karin zunehmend ermöglicht, dieses Fremde in der großen Vertrautheit zwischen Irene und ihr zuzulassen und zu ertragen.

Die Fantasie, die sich mit diesem Urlaub für Karin verband, ist leicht zu verstehen – Fliegen hat als Symbol bekanntermaßen durchaus sexuelle Konnotationen; zugleich steht es für die Möglichkeit, vom Alltäglichen, Vertrauten entschieden wegzukommen in die Fremde. So ist es nicht verwunderlich, dass auf dieser Reise Karin sich erstmals als Frau erlebt, und dass sie dies schließlich von der Reise mit zurücknehmen kann in ihre alltägliche Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, in der Irene als Übertragungsfigur zusehends an Bedeutung verlieren wird, während Karin sich erstmals in ihrem Leben auf eine reale Beziehung zu einem Mann wird einlassen können.

Wir hatten eine gute Wahl getroffen: ein Hotel direkt am Strand, wo sich viele Familien mit Kindern aufhalten und ein Animationsprogramm geboten wird, das Karin Spaß macht; zudem ein Hotelgelände, in dem sie sich gut allein zurechtfinden kann. Da wir zu dritt in einem Zimmer wohnen, erlebt Karin viel von meiner Beziehung zu meiner Tochter. Sie kann endlich die Erfahrung machen, dass ihre Fantasien und Wünsche an eine solche Beziehung vollkommen anders sind als die Realität; sie erlebt uns in unserer Vertrautheit und zugleich gegenseitigen Abgrenzung. Nach ein paar Tagen meint sie, dass sie gern mit uns zusammen sei, aber nicht mehr meine Tochter sein möchte, viel lieber hätte sie eine richtige Freundin. Das Thema, mein Baby zu sein, ist von da an endgültig abgeschlossen.

In unserer gemeinsamen Geschichte erlebe ich in Tunesien ihre ersten Versuche, sich von mir ein Stück zu lösen bzw. abzugrenzen. Sie schließt selbst Bekanntschaften mit Familien am Strand und spielt mit deren Kindern – ohne mein Zutun. Es tauchen auch erste Konflikte auf, weil Karin oft andere Dinge unternehmen will, als die, die ich ihr vorschlage. Sie wird zusehends autonomer und braucht weniger Unterstützung von mir, was für mich nicht einfach zu akzeptieren ist. Deutlich wird auch, wie wichtig die dritte Person (meine Tochter) für unsere Konstellation ist, Karin ist dadurch weniger abhängig von mir und meiner Zuwendung.

Aber das für Karin vielleicht wichtigste Erlebnis ist, dass sie dort für Männer genauso begehrenswert ist wie wir nichtbehinderten Frauen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie von einem Mann regelrecht »angemacht«. Einerseits ist sie stolz und kokettiert – andererseits hat sie Angst und fragt mich ständig, ob sie sich mit diesem Mann treffen muss und ob sie ihn dann heiraten müsse. Sie erlebt sich erstmals als Frau schön und begehrenswert, und entsprechend wird dies zu einem Wechselbad der Gefühle. Diese Gefühle mit zwei anderen Frauen teilen zu können und somit integriert zu sein, ist von immenser Bedeutung für sie. Jedes Mal, wenn wir das Hotel verlassen, ist es Thema, ob sie denn hübsch aussehe (bislang war ihr das nie sonderlich wichtig) und ob sie den betreffenden Mann womöglich wieder treffen werde.

Wieder zu Hause, wird dieses Erlebnis in ihren Urlaubsberichten zum wichtigsten Punkt. Immer wieder erzählt sie diese Geschichte und lacht kokettierend und verlegen darüber. Gemeinsam lachen wir heute noch oft über diese Erfahrung. Nach dieser Woche entwickelt Karin zwei für sie bis heute zentrale Wünsche: Sie möchte eine Freundin, und sie möchte einen Mann.

Abschied

Einige Zeit nach diesem gemeinsamen Urlaub ergibt sich für mich eine grundlegende Veränderung meiner Arbeitssituation. Ich beschließe, mich für die Koordination des ambulanten Wohnbereichs unseres Vereins zu bewerben. Nachdem ich diese Stelle zugesagt bekomme, heißt es von der Wohngruppe und vor allem auch von Karin Abschied zu nehmen.

Karin spürt die auf sie zukommende Veränderung schon lange, bevor ich sie offiziell ausspreche. Sie stellt mich und meine Entscheidungen immer öfter in Frage, was sie bislang so gut wie überhaupt nicht konnte, da ich ja grundsätzlich »gut« war und entsprechend alles, was ich tat. Alle unsere bisherigen Konflikte löste sie letztendlich immer so auf, dass ich ja immer nur ihr Bestes wollte.

Es gibt es nun die Möglichkeit anderer Lieblingsbetreuerinnen, was mich einerseits entlastet, gleichzeitig aber auch kränkt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Karin diese Kränkungen genießt. Früher strahlte sie sofort, wenn ich zur Arbeit kam, jetzt ignoriert sie mich immer öfter. Ich hatte es oft auch genossen, die Einzige im Team zu sein, die schwierige Situationen mit Karin lösen kann, jetzt muss ich erleben, dass das auch andere können. Außerdem werde ich zu einer derjenigen, mit denen Karin ständig Streit sucht und die sie provoziert. Wie von einem pubertierenden Teenager bekomme ich von ihr Trotz und Ablehnung zu spüren.

Unser Näheverhältnis ändert sich zusehends, meine Schwierigkeiten damit sind offensichtlich größer als ihre. Mit der Zeit können wir zwar ein gutes, aber recht distanziertes Verhältnis zueinander entwickeln.

Als ich Karin mein Vorhaben endlich mitteile, reagiert sie ganz anders als erwartet. Ich hatte damit gerechnet, dass sie ein fürchterliches Theater machen wird und alle Mittel in Bewegung setzt, damit ich meine Entscheidung rückgängig mache. Im Gegenteil: wichtig ist für sie nur, dass ich im Verein weiter arbeite und sie jederzeit Kontakt zu mir haben könne und sie will wissen, ob ich ihretwegen die Gruppe verlasse. Diesen Punkt können wir durch Gespräche klären, sie kann begreifen und akzeptieren, dass ich eine Veränderung will und sie versteht auch, dass dies ein Arbeitsangebot ist, das ich mir schon lange wünschte. Vor allem spüren wir beide, dass sie mich in der bisherigen Form nicht mehr braucht. Meine restliche Zeit in der Gruppe verläuft zwischen Karin und mir recht ruhig und gelassen.

Heute

Seit ich meinen neuen Aufgabenbereich übernommen habe, hat sich unser Kontakt sehr verändert. Zunächst sehen wir uns sehr wenig und Karin will mich an meinem Arbeitsplatz auch nicht besuchen. Ich höre zwar immer wieder, dass es ihr gut gehe, dass sie aber auch nach wie vor das Team mit ihren Ausspielereien und Spaltungen auf Trab halte. Erst nach einigen Monaten sehen wir uns wieder. Karin ruft mich an und will mich besuchen, da sie mir unbedingt etwas erzählen müsse und meinen Rat brauche. Ich vermute sofort, dass sie in der Wohngruppe Schwierigkeiten habe und – so wie früher – meine Unterstützung nötig sei.

Karin hingegen will mir etwas ganz anderes berichten: Sie hat einen Freund, den sie mir gerne vorstellen möchte. Außerdem will sie von mir wissen, was ich davon halte und wie das denn so sei, wenn man plötzlich eine Beziehung und so viel unterschiedliche Gefühle dazu hat. Wir führen ein langes Gespräch, wie zwei vertraute Freundinnen und nicht mehr als Betreuerin und Betreute. Seit Karin diese Beziehung lebt, kommt sie mich wieder öfters besuchen. Auch der Kontakt zu den Menschen, die in der ambulant begleiteten Wohngemeinschaft leben, ist für sie wichtig geworden.

Solche Besuche bedeuten nun etwas anderes: Karin stellt sich hier als eine vor, die ihr Leben selbst bestimmen, eine erwachsene Frau, die auch über ihre Angewiesenheiten selbst verfügen kann. Irene ist nicht mehr die Projektionsfigur für alle Sehnsucht, die Karin aus ihrer entbehrungsreichen Kindheit mitgebracht hat, sondern Vertraute, mit der Karin ein Stück gemeinsamer Geschichte teilt, und die sie gelegentlich in besonders entscheidenden Fragen noch um Rat fragt.

Vor einigen Monaten äußerte Karin den Wunsch, mit ihrem Freund in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft leben zu wollen und um dies bewerkstelligen zu können, bat sie mich um Unterstützung und Hilfe. Unser Verhältnis ist wieder ein recht vertrautes, aber gänzlich anderes als früher geworden. Karin macht sich nicht mehr abhängig von mir und meinem Wohlwollen, sondern sie ist in der Lage, meine Unterstützung zu nützen, wenn sie diese braucht. Ansonsten kann sie ihr Leben mittlerweile gut selbst meistern und gestalten.

Epilog

Die Personen, die hier vorgekommen sind, werden uns Dreien wohl noch lange wichtig sein, auch wenn wir zum Teil mit ihnen gar nicht mehr zu tun haben. Marlies hat die praktisch-pädagogische Arbeit aus gesundheitlichen Gründen ganz aufgeben müssen und ist jetzt in der Lehre tätig. Irene betreut inzwischen als Teamleiterin eine kleine Wohngruppe, deren Mitglieder hier im Buch (bisher) nicht vorgekommen sind, und zugleich als pädagogische Koordinatorin und Leiterin des Vereins. Ich selbst habe – das ist für mich ein großer Gewinn unserer Zusammenarbeit – mit zwei anderen Wohngruppen des Vereins eine regelmäßige supervisorische Arbeit begonnen.

Durch unsere Zusammenarbeit und die intensiven Auseinandersetzungen mit Dietmut haben wir gelernt, den Vorkommnissen die Bedeutung zu lassen, die sie haben, und sie nicht einfach zu übersehen. Die Erkenntnis, dass so unbedeutend scheinende Handlungen wie z.B. das Abklatschspiel mit Gudrun oder das Zählen mit Fritz enorme Bedeutung haben, ist ein wichtiger Bestandteil für unsere Arbeit geworden.

Irene: Ich möchte gern von Gudrun und Fritz reden, weil du ja auch immer wieder von ihnen erzählst. Sie sind offensichtlich sehr präsent für dich, obwohl du überhaupt nicht mehr mit ihnen arbeitest und sie auch nicht mehr siehst. Ich merke aber, dass sie trotzdem in dir weiterleben. Ich denke an die Bedeutsamkeit dieser Geschichten und wie das jetzt für dich ausschaut mit diesem Abschied.

Marlies: Es war für mich ganz schwierig, weil ich ja überhaupt keinen Abschied haben wollte. Ich wollte nicht aufhören zu arbeiten, hatte aber aus gesundheitlichen Gründen keine andere Möglichkeit. Besonders Gudrun und Fritz wollte ich einfach noch nicht alleine lassen. Ich glaube, es war Fritz derjenige, bei dem mir der Abschied am schwersten fiel. Bei Gudrun habe ich gewusst, da ist schon vieles passiert und mit ihr hat ja auch das Team sehr gut umgehen können. Die Betreuerinnen hatten ja schon ganz viel von dem übernommen, was ich mit Gudrun aufgebaut hatte – ich habe sie in guten Händen gewusst. Das Beruhigendste war für mich, dass Gudrun gelernt hatte, sich zu wehren.

Irene: Was Fritz betrifft, finde ich wichtig, dass wir zusammen mit vielen Bewohnerinnen gearbeitet haben, die wir beide gern hatten. Aber es hat auch oftmals einen gegensätzlichen Zugang gegeben. Der Fritz ist jemand, mit dem ich persönlich überhaupt nicht kann, mit dem ich nicht arbeiten möchte.

Marlies: Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn wir in dem Team seiner Wohngruppe auch zusammengearbeitet hätten, ob es dann anders gegangen wäre, ob wir zusammen die Krise hätten vermeiden oder konstruktiv überstehen können, die bei mir und diesem Team, zusammen mit meiner Krankheit, dazu führte, dass ich aus dem Team ausscheiden musste. Mir ist sehr viel gelegen am Fritz, ich habe ihn sehr gemocht. Bei dir war es so, dass du Angst vor ihm hattest, vor seiner Gewalt, so wie die meisten meiner Kolleginnen.

Irene: Ich kann mich nur an kleine Szenen erinnern, wenn du mit Fritz gearbeitet hast, und ich dazu gekommen bin. Meine Reaktion war dann Bewunderung gekoppelt mit Neid – die hält das aus und hat keine Angst, und ich selbst fürchte mich so sehr. Da habe ich schon das Gefühl gehabt, dass ich viel unfähiger bin als du, und das war ich ja auch in Bezug auf Fritz. Ich konnte in seiner Anwesenheit überhaupt nicht mehr richtig denken und entscheiden vor lauter Angst. Mir ist manches ganz gut nachvollziehbar, was deine Kolleginnen dort getan haben, was sie auch dir angetan haben. Ich kann ihr Handeln gut verstehen, auch wenn ich es nicht gut finde. Ich verstehe es, weil ich selber das Gefühl kenne, vor ihm solche Angst zu haben. Ich habe mich dem entziehen können, ich habe ihn nicht in der Gruppe gehabt, ich habe mit ihm nicht gearbeitet. Ich konnte auch entscheiden, dass ich mit ihm nicht arbeiten wollte. Deine Kolleginnen mussten alle mit ihm arbeiten, ob sie wollten oder nicht. Ich habe schon auch Verständnis, dass sie sich gewünscht haben, ihn »wegspritzen« zu können, denn dann musst du keine Angst mehr haben. Mit Angst arbeiten ist einfach schrecklich, eigentlich gar nicht möglich. Ich weiß, wenn mir der Fritz in die Nähe gekommen ist, da war wirklich nur Angst in mir, nichts sonst.

Marlies: Ja, es hat wirklich wenig Leute gegeben, die einen angstfreien Zugang zu Fritz hatten. Es hat Leute gegeben, die einen sehr freundlichen Umgang mit ihm hatten, aber allem aus dem Weg gegangen sind, was mit Stopp oder Grenze zu tun hatte – z.B. ein Kollege, der ihm immer irgendwelche Dinge geschenkt hat und alles durchgehen hat lassen, nur damit er lieb und brav bleibt. Das war natürlich auch keine Lösung.

Irene: Was ich vermute – das sind aber Vermutungen – wenn wir auch in diesem Team noch miteinander gearbeitet hätten, hätte ich aus unserer Vertrauenssituation heraus mich vielleicht geschützt genug gefühlt, dass ich ihn hätte tolerieren können. Du hättest mir vielleicht genug Vertrauen vermitteln können. Wir zusammen hätten vielleicht doch einen Weg gefunden, uns nicht spalten zu lassen. Aber schwierig wäre es sicher geworden, so wie es ja auch mit Karin zeitweise nah an der Grenze war.

Marlies: Es gab ja auch einen kleinen Teil vom Team, die sehr wohl diese Sicherheit, die ich geben konnte, haben aufnehmen können. Zum Beispiel die Kollegin, die mit mir in Dietmuts Seminar war.

Irene: Ich denke, dass das Team mit Gudrun auch besser umgehen konnte, weil ihr Verhalten keine Angst auslöst, sondern eher hilflos macht. Das hat dir dann den Abschied von Gudrun erleichtert. Das war für das Team dort sicher leichter auszuhalten als das aggressive Verhalten von Fritz, das so viel Angst auslöst. Kann es auch sein, dass du mit Gudrun eine abgeschlossenere Geschichte hattest, und dadurch leichter Abschied nehmen konntest?

Marlies: Bei Fritz hatte ich das Gefühl, ich verlasse ihn zu früh. Bei Gudrun spürte ich dieses runde Gefühl: es passt schon irgendwie, sie hat ihren Platz gefunden. Ich konnte beide lange Zeit nicht besuchen, das war ganz schrecklich für mich, und in meinen Gedanken waren sie trotzdem immer bei mir. Ein Betreuer hat es letztendlich zu Stande gebracht, dass ich dann doch zur Weihnachtsfeier des Wohnhauses gegangen bin. Ich machte mir Sorgen darüber, wie Fritz und Gudrun auf mein Kommen reagieren würden und ob es für die beiden sinnvoll ist, nochmals in Kontakt zu treten. Heute würde ich sagen: Es war eigentlich umgekehrt. Es ging nicht so darum, was es mit Gudrun und Fritz macht, wenn ich komme, obwohl mir das damals schon sehr wichtig war, sondern mehr darum, was es mit mir macht. Anfangs war das Wiedersehen für mich sehr schmerzlich. Aber als ich ihre Reaktionen gesehen habe, spürte ich, dass mein Besuch in Ordnung ist. Gudrun suchte nicht sofort meine Nähe, sondern sie bewegte sich im Raum, so wie früher, aber ruhiger. Sie ist immer wieder um mich herumgegangen und freute sich über die dargebotenen Kekse. Ich habe ganz viele selbst gebackene Kekse (über drei Pfund) mitgebracht und diese waren in null Komma nichts weg.

Irene: Da hat sie doch im Nebenbei ein paar Kekserl gegessen ...

Marlies: Ja, natürlich, wie immer. Auch der Fritz hat sehr viele genommen. Ich habe gemerkt, es ist ein Stück Abstand zwischen uns, der aber nicht so schlimm ist, wie ich es gedacht hatte. Ich war eben nicht die Mutter, sondern hatte nur bestimmte Funktionen übernommen, die dann auch von anderen übernommen werden konnten. Vor Kurzem habe ich wieder einmal von Gudrun geträumt. In diesem Traum war ich auf einer Veranstaltung mit vielen Leuten. Ein Mann, Betreuer, geht mit einer Frau an mir vorbei. Ich sehe sie an und es gibt ein Wiedererkennen, aber nicht sofort. Ich schau sie wieder an und plötzlich erkenne ich, dass es Gudrun ist. Sie schaut irgendwie anders aus, hat halblanges, rotblondes Haar und sie sieht mich an und lacht. Es ist ein Moment von gegenseitigem, beruhigenden Erkennen und Wissen um unsere Zuneigung. Dann lachen wir uns an, sie hebt die Hand, winkt und geht. Das war eine wunderschöne Situation, ich war total beruhigt danach. Das war wieder so ein Stückchen der Arbeit daran, sie gehen lassen zu können. Der Traum hat mir sehr gut getan. Leider ist es mir bis heute noch nicht gelungen, mit Fritz eine solche Form des Abschieds zu finden.

Irene: An verschiedenen Stellen dieses Buches haben wir beschrieben, dass in unserer Arbeit die gemeinsame Reflexion sehr wichtig war. Aber eben nicht nur Reflexion innerhalb des Arbeitsteams, sondern auch die Reflexion mit der gesamten Gruppe. Auch das bedeutet für uns Integration. Das ist auch aus der Arbeit mit Dietmut entstanden. Sie selbst hat das auch mit aller Konsequenz gemacht und hat uns gezeigt, dass das möglich ist. Auch über Themen oder Situationen, die wir uns nicht getraut hätten zu benennen, sie klar anzusprechen – und das mit der gesamten Gruppe! Schwierige Situationen, über die wir zwar im Team sprechen konnten, uns aber ständig im Kreis drehten und nicht fähig waren, die Gruppenmitglieder mit einzubeziehen.

Marlies: Wir hatten das Gefühl, schwierige Situationen nicht so ansprechen zu können, weil wir die Bewohnerinnen schonen müssten. Wie bei meinem Abschied von Gudrun war es aber genau umgekehrt – wir schonten uns selbst. Wir hatten Angst vor dem, was da auf uns zukommen könnte und versuchten uns davor zu schützen. Ich denke, wir sollten die Geschichte mit Andrea noch kurz ansprechen. Das war die erste Reflexion von Dietmut, dem Team und der Gruppe gemeinsam. Andreas Mordversuch an Gudrun war Thema.

Irene: Wir hätten das sicher nicht gemacht und einfach auch nicht verstanden, dass das so nötig war für die gesamte Gruppe. Die Konsequenz, mit der sie das gemacht hat und auch wie wir darüber geredet haben, hat mich damals sehr beeindruckt. Ich kann nicht mehr die Details sagen, aber ich weiß, dass Dietmut viel darüber geredet hat, welche Funktion Andrea für die Gruppe hatte, was sie gemacht hat, was sie für die einzelnen Gruppenmitglieder ausleben musste. Sie hat auch die Mordfantasien angesprochen, die da im Raum standen und die Andrea ausgelebt hat. Ich weiß noch, als Dietmut das ansprach, bin ich so erschrocken – die sagt ihnen das! Ich dachte mir: Hilfe, was macht sie denn da, das kann sie doch nicht machen! Ich hätte mir das absolut verboten, ja verboten, das überhaupt zu denken. Wenn ich mich jetzt frage, was unsere Zusammenarbeit gebracht hat und auch weiterhin bringt, sind es genau solche Erfahrungen. Wie hast du das damals empfunden?

Marlies: Ich habe auch den Atem angehalten. Mir war damals besonders Gudrun wichtig, die ja auch dabei war. Ich dachte mir, vor Gudrun kann ich das nicht wieder herholen, diese grausige Situation – das hat mich am meisten geschockt. Als ich mitbekommen habe, wie Gudrun reagierte, nämlich überhaupt nicht besonders aufgewühlt, war ich dann beruhigt.

Irene: Im ersten Moment war ich nahe daran zu sagen: »Nein, Dietmut, das kannst du doch nicht machen!« Dann erinnerte ich mich an frühere Situationen mit Dietmut, und mein Vertrauen war wieder da: Sie wird schon wissen, was sie tut. Wir werden das schon hinkriegen.

Wenn ich ehrlich bin: so genau wusste ich es auch nicht. Dieser Eingriff war ein Wagnis mit Risiko. Mir schien wichtig, dass Gudrun mithören konnte, dass dieser reale Mordversuch und ihre Fantasien auf fatale Weise ineinander passten, da sie sich ja in Erwartung genau dieses Geschehens schon immer tot gestellt hatte. Natürlich aber konnte ich nicht wissen, ob sie in der Lage sein würde, dieses In-Worte-Fassen ihrer inneren Situation zu ertragen oder gar konstruktiv aufzunehmen. Sie konnte, wie wir sahen.

Marlies: Bis zu diesem Besuch von Dietmut hatten wir in der Gruppe keinen anderen Umgang mit dieser schrecklichen Geschichte gefunden, als sie totzuschweigen. In der Arbeit fühlten wir uns wie gelähmt und es war für alle unerträglich. Wir waren fixiert in der Suche nach unserem Versagen. Warum hatten unsere tollen pädagogischen Konzepte nicht funktioniert? Gleichzeitig war es für uns entlastend, dass Andrea den Mordversuch nicht bei uns in der Tagesgruppe verübt hatte. Vorerst konnten wir die »böse« Psychiatriestation als Sündenbock benutzen. Mir fällt auf, dass beim Bearbeiten dieser Mordgeschichte mit Dietmut ein wichtiger Aspekt auch der Abschied von Andrea war. Ich kann mich erinnern, dass Dietmut mit Marianne (einem Mitglied der MIM- Gruppe) in der Gruppe darüber geredet hat, wie es ihr mit Andrea geht. Dabei ist dann sehr wohl zur Sprache gekommen, dass Andrea jetzt nicht mehr in der Gruppe ist und dass sie nicht mehr kommen kann, dass sie aber Marianne fehlt. So war in dieser Reflexion auch Platz für ein Stück Abschied dabei.

Irene: Ein wichtiger Punkt ist also, möglichst alles mit dem Arbeitsteam im Beisein der Bewohnerinnen anzusprechen. Ein Beispiel dafür ist die tägliche Dokumentation – die Bewohnerinnen in meiner jetzigen Gruppe zum Beispiel schreiben gemeinsam mit den Betreuerinnen den Tagesbericht. Es wird nichts beschönigt, nur weil die Bewohnerinnen das dann lesen. Aufgeschrieben wird sehr wohl auch, was genervt hat, was ungut war an dem Tag. Die Aufgabe in der Betreuung ist es, halten zu können, was dabei ausgelöst wird. So wird der Tag gemeinsam reflektiert.

Marlies: Dabei ist mir wichtig ist zu erwähnen, dass die Bewohnerinnen in deiner jetzigen Gruppe alle lesen und schreiben können, was aber keine Voraussetzung sein muss, um Dokumentation zugänglich zu machen. In der MIM-Gruppe waren mehrere Personen, die das nicht konnten, die auch nicht sprachen, und trotzdem haben wir alles angesprochen und das Geschriebene vorgelesen. Es kann einfach auch »nur« darum gehen, an der eigenen Geschichte beteiligt zu sein und an der Stimmung teilzuhaben. Und noch ein Gedanke erscheint mir wichtig: Integration geschieht dann, wenn wir dazu in der Lage sind, den Anteil einer Person anzunehmen und zu ertragen, der eben nicht schön ist, der grausig ist, wo wir auch nichts dagegen tun können, außer sich dem zu stellen, mit allen dazugehörigen Gefühlen.

Irene: Sich darauf einzulassen und ehrlich darauf zu reagieren, das ist so wichtig. In vielen Integrationsbemühungen fehlt oft gerade diese Auseinandersetzung. Das sind dann diese schlimmen, gescheiterten, auch sehr traurigen Geschichten, wie unsere mit Andrea.

Marlies: Ehrlich reagieren heißt für mich auch, die Menschenwürde gegenseitig zu wahren und einzufordern, auch meine eigene. Ich denke, es gehört dazu, meinem Gegenüber klar zu signalisieren, wo meine Grenzen sind und dass diese nicht überschritten werden dürfen, ohne dass ich entsprechend reagiere. Mir fällt noch ein Beispiel dazu ein, und zwar unser Problem mit Marianne, die sich nicht waschen wollte. Wie haben wir uns bemüht Formulierungen zu finden, die sie nicht verletzen! Wir stellten eine etwas abstrakte und recht globale Ebene über Waschen und den Zusammenhang mit Körpergeruch her, mit der Marianne wenig anzufangen wusste. Es hat lange Zeit gedauert, bis wir ihr ehrlich sagen konnten: »Marianne, ich halte das nicht aus, wie du stinkst, mir graust vor dir.« Es ist nichts von dem passiert, was wir befürchtet hatten, nichts wies daraufhin, dass sie jetzt unendlich verletzt und gekränkt sei. Sie ist einfach nur endlich baden gegangen.

Irene: Ich hab’ dir über die Situation erzählt, als ich mich so schuldig fühlte, weil ich mich im Bus nicht neben Sonja (eine Bewohnerin, mit der ich momentan arbeite) setzen wollte. Der ganze Vormittag mit ihr war einfach schrecklich gewesen, ich hatte sie gehasst, und als ich nach der Arbeit nach Hause fahren wollte, sitzt sie auch noch im selben Bus – ich war entsetzt. Sie machte diese einladende Geste, setz dich zu mir, aber ich konnte das in diesem Moment nicht tun. Ich wollte einfach nicht neben ihr sitzen, nicht auch noch in meiner Freizeit. Ich hätte sie nicht noch eine Viertelstunde im Bus neben mir ertragen, davor hat mir total gegraust. Nachdem ich mit dir darüber gesprochen hatte, war es mir möglich, das nachträglich auch Sonja zu erklären. Ich konnte ihr ehrlich sagen, dass es mir nach diesem schrecklichen Vormittag mit ihr nicht möglich gewesen war, auch noch im Bus neben ihr zu sitzen. Unser Wunsch, die unangenehmen, störenden Anteile eines Menschen wegmachen zu können oder wenigstens zu verbessern usw., führt unweigerlich zu Spaltungen. Es ist ein Versuch, der Konfrontation mit dem als »Bösen« fantasierten Fremden aus dem Weg zu gehen, es nicht wahrhaben zu müssen.

Marlies: Der schöne, liebe, angenehme Teil des Menschen, dem wird so viel Aufmerksamkeit geschenkt, dem wird so viel Wichtigkeit beigemessen, und alles, was nicht so schön ist, oder grausig und unangenehm, wird verdeckt, zugedeckt, oder nicht so wahrgenommen, es wird nicht so ehrlich darauf geantwortet wie bei den netten Sachen – und ich denke mir, das, was wir da tun, sind Spaltungen. Wir spalten den Menschen in zwei Teile, »fördern und bestätigen« den angenehmen Teil, und den unangenehmen, störenden Teil wollen wir weghaben. Wir versuchen das Fremde (das nicht normale) andauernd wegzuspalten, nicht wahrzuhaben.

Irene: Und das läuft letztlich darauf hinaus, dass wir das, was wir an uns selbst auch nicht mögen und nicht wahrhaben wollen, gleich mit zu verstecken versuchen. Die Leugnung wird ja noch mal schwerer, wenn es uns eine andere Person spiegelt. Was dabei gesehen werden muss, ist diese »Doppelmoral«, in der man sich dann befindet. Gerade in der pädagogischen Arbeit sind wir ständig in Gefahr zu beschönigen – es muss »nett« sein, es soll fein sein – obwohl alle dabei genau spüren, dass etwas nicht stimmt; und trotzdem wird so oft daran fest gehalten. Häufig erlebe ich in Wohngruppen eine eigenartige, ambivalente Atmosphäre, es wirkt so »nett« und unter diesem »Nett« ist ungeheure Spannung merkbar. Es ist wirklich ein So-tun-als-Ob, bei dem im Grunde alle spüren, dass es nicht stimmig ist. Die Reaktion auf diese Gefühle ist, immer mehr Rituale einzuführen, immer mehr Angebote zu machen, um das Unstimmige zu verbannen. Wir hatten oft berechtigte Sorge, dass sich dieser Mechanismus auch bei uns in der Gruppe einschleichen könnte. Da waren die gemeinsamen Reflexionen miteinander oder auch mit Dietmut ein wichtiges Korrektiv.

Marlies: Durch den Blick von »außen«- der von Dietmut vertreten wurde – bekamen wir einen Spiegel vorgesetzt und konnten dadurch wieder korrigieren. Denk an die Sexualitätsgeschichte von Mark! Erst als wir erkennen konnten, dass wir nicht adäquat zu unseren Gefühlen reagierten, war eine Veränderung unseres Handelns möglich, und so konnte sich diese Situation schließlich doch gut auflösen. Mit Marianne und Helga oder auch mit anderen brauchten wir dann Dietmuts Hilfe gar nicht. Noch ein Gedanke zu diesen »feinen« Kaffeerunden in Einrichtungen: Warum ist es so schwierig, genau hinzuschauen, wenn es da nicht stimmig ist? Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass diese Angst vor Schwierigkeiten, wenn man ehrlich zu seinen Gefühlen steht, total übertrieben ist. Denn die Arbeit in einer Gruppe, wo es nicht stimmt, ist ja auch unheimlich anstrengend, auf Dauer sogar anstrengender, als sich der Konfrontation zu stellen. All dies sind wichtige Erfahrungen und Lernschritte für uns gewesen, wir konnten immer weiter darauf aufbauen. Vielleicht könntest du noch etwas darüber erzählen, inwieweit das, was wir uns in diesen Jahren an Erfahrungen angeeignet haben, in deiner aktuellen Arbeitssituation zum Tragen kommt?

Irene: Mit diesem Hintergrund ist es mir möglich, meinem jetzigen Team und auch den anderen Kolleginnen im Verein zu vermitteln, wie wichtig es ist, auf die Bedeutsamkeit des Alltags zu achten. Das bedeutet, dass diese Art zu arbeiten nicht nur auf die MIM-Gruppe oder auf uns, oder auf speziell ausgebildete Teams beschränkt ist – es ist auch mit jedem anderen Team möglich, so zu arbeiten. Es ist natürlich notwendig, dass es im Team die Bereitschaft dazu gibt, auf diese Art und Weise zu arbeiten. Es geht darum, zu verstehen und zu begreifen, welche Prozesse und Zusammenhänge im ganz normalen Alltag entstehen – was sich da auf der Gruppenebene, aber auch ganz individuell bei jeder einzelnen Person abspielt – sowohl bei den Bewohnerinnen als auch bei den Betreuerinnen. Das zu erkennen, zu benennen und immer wieder zu reflektieren ist das Entscheidende. Es ist nicht wesentlich, großartige Arbeitsmethoden oder Konzepte zu befolgen, sondern oft ist es vollkommen ausreichend, einen Tag gut zu überstehen. Ich sehe das jetzt in der kleinen WG, in der nur drei Bewohnerinnen leben, die auf Außenstehende selbstbewusst und angepasst wirken. Trotzdem ist es oft absolute Schwerstarbeit, mit ihnen den Tag zu überstehen. Das mit einem Team zu erkennen und zu begreifen, ist einer der notwendigen Schritte in dieser Arbeit. Auch ständig in dieser Situation von Übertragung und Gegenübertragung zu stehen, kaum kommt man in die Arbeit, schon geht es los mit den Rollenzuweisungen. Sofort gilt es so sensibel und einfühlsam zu sein, um das aufgreifen zu können, und nicht einfach in die komplementäre Rolle zu verfallen und damit das zu wiederholen, was schon immer zum Scheitern der Interaktionen führte; so viel Distanz zu haben, dass man versteht, was gerade auf der Übertragungsebene ansteht und sich gleichzeitig ständig bewusst zu sein, mit wem und in welcher Situation man sich real gerade befindet; und das den ganzen Tag... Das, glaube ich, ist die große Herausforderung integrationspädagogischer Arbeit, die manchmal kaum zu erfüllen ist.

Dies ist in der Tat wohl die schwierigste Anforderung an integrationspädagogische Arbeit – schwierig genug ist es ja schon in der psychoanalytisch-therapeutischen Situation, dieser Anforderung zu genügen. Im Kontext eines zu bewältigenden Alltags ist die Herausforderung noch einmal ganz anders. Die zu stellenden Anforderungen an die Ausbildung, die diejenigen, die in dieser Arbeit Leitungsfunktion innehaben, hinreichend qualifizieren könnte, werden von den üblichen Studiengängen der Sonderpädagogik, oder den sonstigen qualifizierenden Ausbildungen, häufig noch nicht einmal im Ansatz erfüllt.

Irene: Etwas brauchen wir, um diese Arbeit machen zu können, positive Fantasien sind nötig. In der Arbeit gibt es ja immer auch solche Highlights – Dietmut hat diese einmal »Flitterwochen« genannt – die man in schwierigen Situationen wieder herholen kann. Da fällt mir ein aktuelles Erlebnis mit einem Bewohner ein: Alle zusammen verbringen einen angenehmen Tag in der WG und sitzen am Abend noch gemütlich beisammen. Plötzlich sagt dieser Bewohner: »So und jetzt hänge ich mich auf!« Dieser Satz genügt, und der Tag ist im Eimer. In dem Moment ist es mir dann sehr wichtig, doch noch mal zu betonen: Der Tag war trotzdem angenehm, auch wenn du jetzt sagen musst, dass du dich aufhängst. Ich könnte mich auch mit ihm hinsetzen und eine Stunde lang darüber reden, was das jetzt soll, was das heißt, er soll sofort aufhören, das darf er nicht. Ich weiß aber, es gibt bei ihm auch ein Gefühl, wo er sich aufhängen will, das ist so, und das teilt er mir genau dann mit, wenn es schön war. Das gefällt mir nicht, aber ich habe das als seine Realität wahrzunehmen und anzuerkennen.

Marlies: Die Erinnerung an angenehme und schöne Zeiten und vor allem die dazugehörigen Gefühle haben mir oft wieder Kraft gegeben und über schwierige Zeiten hinweg geholfen.

Irene: Im Lauf der Zeit kann ich sagen, wir müssen auch scheitern dürfen. Natürlich wollen wir gute Arbeit leisten und die Bewohnerinnen haben auch ein Recht darauf, aber manche Geschichten lösen sich trotzdem nicht in Wohlgefallen auf und wir müssen lernen damit zu leben.

Marlies: Wir mussten lernen, dass Scheitern zwar schmerzlich ist, aber nicht das Schlimmste, so wie wir uns das oft vorgestellt hatten. Bei Andrea sind wir ja alle miteinander fürchterlich gescheitert, was sicherlich auch mit unserem Allmachtsanspruch zu tun hatte: keine Einrichtung wollte sie auf Grund ihrer Aggressionen aufnehmen, wir haben sie aufgenommen und waren stolz darauf, dass es so lange Zeit gut gegangen ist. Nach dem Mordversuch wollten wir zunächst nicht wahrhaben, dass vielleicht eine andere Einrichtung erfolgreich mit ihr arbeiten könnte. Es galt da zu verstehen, dass es auch in Ordnung ist, jemanden nur ein Stück seines Weges begleiten zu können. Dieses Stück Weg war vermutlich für sie auch sehr wichtig.

Irene: Anfangs war es für uns schwer auszuhalten, als wir erfuhren dass es ihr jetzt woanders besser geht, dass es ihr jetzt gut geht. Das war noch mal eine Kränkung. Wir konnten uns nicht einfach für sie freuen, sondern es gab auch den Wermutstropfen – wir Versager, was haben wir nur gemacht, warum haben wir nicht gemerkt, was da passieren wird! Mittlerweile kann ich es auch so sehen, dass der Prozess, oder das was sie bei uns gelebt hat, wirklich bis hin zu dem Mordversuch an Gudrun und ihrer anschließenden gerichtlichen Verurteilung, für sie eine Notwendigkeit hatte. Für Andrea hat sich dadurch viel zum Positiven (so komisch das auch klingen mag) geändert: Nach ihrem Aufenthalt in der Forensik ist sie in eine andere Einrichtung gekommen, in der es ihr jetzt so viel besser geht.

Vielleicht brauchte sie es auch, dass ihr Tun einmal eine wirkliche Konsequenz hatte, dass sie, ohne jeden diskriminierenden »Behindertenbonus«, als potenzielle Mörderin mit der Bestrafung durch Einweisung in die Forensik ernst genommen wurde; erst danach war sie dann bereit, das Gute, das ihr in ihrer späteren Wohngemeinschaft geboten wurde, auch wirklich anzunehmen.

Marlies: Kannst du dich noch an die Woche erinnern, wo du auf Urlaub warst und Maria im Krankenhaus lag? Ich war die ganze Woche mit der Gruppe allein, und das war wirklich ein einziger Eiertanz. Da hab’ ich in meiner Not Andrea gedroht: In dieser Woche darf nichts passieren, denn sonst flippe ich aus! Das kam bei ihr so an, dass sie sich sehr zusammen riss, und dass auch wirklich nichts Schlimmes passierte. Da war ich identisch mit meinen Gefühlen, und sie konnte gut darauf reagieren. Vielleicht war es mit dieser Einweisung in die forensische Psychiatrie ähnlich.

Irene: Meine Sichtweise gegenüber der Forensik hat sich auch um Einiges verändert durch diese Erfahrung. Das heißt für mich nicht, dass ich alles daran nun schön und gut finde, aber wenn es wirklich so weit kommt, dass jemand versucht, einen Menschen umzubringen, dann muss dies auch Konsequenzen haben. Offensichtlich war es für Andrea ganz wichtig, eingesperrt zu sein, unter dieser totalen Kontrolle zu stehen, wo einfach nichts mehr passieren kann. Vielleicht wollte sie das auch selbst. Was ich aber ganz wichtig finde an dieser von uns aus gescheiterten Geschichte ist, dass wir es geschafft haben, mit Andrea brieflich in Kontakt zu bleiben, obwohl wir sie weder in der Forensik noch in der neuen Einrichtung besuchen konnten.

Besonders eindringlich ist ein Erlebnis Irenes, welches zeigt, dass zwar nicht alles gut gemacht werden kann, dass aber in allem zu ertragenden Leid auch Versöhnung möglich ist: Während der Zeit des Schreibens ist Benjamin, der zurzeit unserer ersten Begegnung Thema eines Rollenspieles wurde, schwer erkrankt und schließlich gestorben. Irene hat ihn am Sterbebett häufig besucht, mit ihm gesprochen, den Abschied sehr ausdrücklich mit ihm zusammen erlebt. Im Gespräch mit Marlies berichtet sie von dieser Erfahrung:

Die Beziehung zu Benjamin war u.a. deshalb wichtig, denke ich, weil es das erste Mal war, dass wir ein Rollenspiel gemeinsam in einem Seminar von Dietmut gemacht haben und wir beide da eine sehr unterschiedliche Ausgangsposition hatten: Ich hatte Benjamin besonders gern, und dich hat er eigentlich eher genervt. Das war ja öfters in unserer Zusammenarbeit so, dass wir mit Leuten gearbeitet haben, denen wir unterschiedlich begegnet sind. Trotzdem konnten wir konstruktiv miteinander arbeiten, diese Spannungen zwischen uns erkennen, bearbeiten und nutzen. Die Geschichte mit Karin zeigt das ja auch besonders deutlich.

Über einen Zeitraum von acht fahren bin ich Benjamin immer wieder begegnet, da er nach seiner ersten misslungenen Ausgliederung (in jener Wohngemeinschaft, in welcher Irene und Marlies vor der Gründung des Trägervereins der WG-Gruppe gearbeitet hatten und aus deren Team sie schließlich auf Grund inhaltlicher Differenzen ausgeschieden waren; DN) in einem der Wohnhäuser unseres Vereins lebte. Das Gefühl, das zwischen uns schon von Anfang an da war, ist irgendwie immer geblieben. Der Bogen spannte sich von dem, dass er beleidigt und sauer war, dass ich nicht mehr mit ihm arbeite bis hin zur Eifersucht auf andere Bewohnerinnen, mit denen ich schon arbeite; bis dorthin, dass wir es auch ganz schön und angenehm zusammen hatten. Das ging so weit, dass er eine Betreuerin, zu der er ebenfalls eine sehr liebevolle Beziehung aufbauen konnte und mich gegeneinander ausspielte.

Wenn wir uns bei verschiedenen Aktivitäten trafen waren setzte er sich z.B. kurz zu dieser Betreuerin und dann zu mir und wechselte ständig hin und her. In diesen Situationen hat er dann unglaublich geschäkert und so richtig gespielt mit unserer Zuneigung, und das hat mir sehr imponiert.

Schon vor einiger Zeit stellte sich heraus, dass Benjamin Darmkrebs hatte. Vor einigen Monaten verschlechterte sich sein Zustand sehr schnell und es wurde klar, dass er sterben würde. Ich habe mit ihm viel darüber gesprochen, dass er jetzt dann gehen wird und dass wir nicht mehr viel Zeit miteinander haben. Dort hat er ein Spiel aufgegriffen, das ich schon früher mit ihm gemacht habe. Als ich ihn kennen lernte, haben wir häufig mit einem Tuch gespielt. Er hat mir immer dieses Tuch weggenommen und ich musste versuchen, es wieder zu bekommen. Manchmal hat er es mir gegeben und manchmal ist er mit dem Tuch um mich tänzelnd hin und her gegangen. Das war unser Spiel. Bei einem meiner ersten Krankenbesuche trug ich nun zufällig einen Seidenschal. Ich setzte mich an sein Bett und das Erste, was er tat – er schnappte sich den Schal, verknüllte ihn und versteckte ihn unter der Bettdecke. Ich sagte: »Na, jetzt hast du wieder meinen Schal, jetzt spielen wir wieder miteinander.« Da hat er Nein gesagt und hat einfach den Schal unter der Decke behalten. Erst als ich ihm erklärte, dass ich gehen müsse, hat er mir den Schal wieder gegeben. Von nun an nahm ich ihn zu meinen Besuchen immer mit und Benjamin hat ihn sich immer geholt. Manchmal schlief er während meiner Besuche ein, wachte aber immer auf, sobald ich gehen wollte und gab mir meinen Schal zurück.

Dieses von Benjamin aufgegriffene, aber veränderte Spiel wie auch sein Einschlafen während der Besuche von Irene zeigt an, dass er im Sterben zu einem inneren Frieden fand, dass dieser so wichtige Teil des Lebens, am Abschluss von vielerlei Scheitern und vielerlei Leid, gelingen konnte. Aus der Supervisionsarbeit kenne ich das Phänomen des Einschlafens Sterbender in Gegenwart einer guten mütterlichen Übertragungsfigur als einen Hinweis darauf, dass das Ende des Lebens angenommen und als ein friedvolles Abschiednehmen erlebt werden kann – dass hier eine Verschmelzung mit dem guten mütterlichen Introjekt gelingt. Auch der zerknüllte, unter der Bettdecke mit ihm vereinte Seidenschal Irenes steht noch einmal, sinnlich-symbolisch, für diese Vereinigung mit einem guten inneren Objekt, indem dieses Spiel anknüpft an das gemeinsam erlebte Gute, dieses jedoch spezifisch verändert. Er spielt nicht mehr das Kämpfen um das Gute – er signalisiert: ich habe es in mir. Auch dies freilich geschieht nicht etwa in Verwechslung Irenes mit einer realen Mutter-Versorgerin, vielmehr symbolisch, mit dem bedeutungsvollen Tuch.

Marlies: Mir scheint manchmal, dass es eine Form von Zusammensein gibt, wo die Grenze zwischen »behindert« und »nicht behindert« verschwimmt. Das sind die Momente, von denen ich sage: das ist gelebte Integration.

Irene: Das war auch in diesem Abschiednehmen so – Benjamin war im Sterben und es ist nicht mehr darum gegangen, was er denn jetzt noch tun kann oder welche Entwicklungen er macht – es war klar Abschied und wir müssen uns trennen. Es gibt keinen Unterschied mehr: Ich werde auch irgendwann sterben, und da hebt sich etwas auf – er geht mir sozusagen voran. Da sind dann viele Dinge nicht mehr wichtig, da ist es dann egal, ob er genervt oder nicht genervt hat, du befindest dich in einer anderen Gefühlslage. Ich glaube, seine Klarheit im Sterbeprozess ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Er hatte überhaupt nichts mehr von diesem psychotischen Agieren nötig, das den Umgang mit ihm vorher für viele so unerträglich gemacht hatte – sein völlig wirres Reden, ständiges Reden, mit dem niemand etwas anfangen konnte, war einfach nicht mehr vorhanden, er war wirklich ganz klar. Es ist für mich sehr stimmig, wenn du sagst, dass das Integration ist. Da gibt es kein Gefälle mehr und es ist vor allem auch keines mehr nötig. Dass dieses Ende möglich war, erscheint mir auch ein Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit, unserem Bemühen, sich den unterschiedlichsten, und besonders eben den negativen Gefühlen stellen. Dass Benjamin und ich das miteinander konnten, hat sicher dazu beigetragen, dass er sich auf diese Weise verabschiedet hat. Ich merke, wie wichtig diese Art zu arbeiten ist, wie das Benjamin und mich begleitet hat – auch durch Krisen. Obwohl ich nicht mehr mit ihm gearbeitet habe und wir wenig Zeit miteinander verbrachten, ist unsere Beziehung tragfähig geblieben.

Ein paar Tage vor seinem Tod habe ich ihn noch besucht und er war ganz ruhig. So eigenartig das auch klingen mag, es war für mich beruhigend, dass er im Sterben noch eine schöne Zeit hatte, dass seine Wohngruppe sich so liebevoll und einfühlsam darum bemühte, es ihm leicht zu machen. Die Atmosphäre in seinem Zimmer war angenehm und ich bin auch immer gerne hingegangen. Ich habe das Gefühl, dass er, obwohl sein Leben so schwierig war und es nicht viel Schönes gab, einen guten Abschied hatte. Es war wie eine Versöhnung.

Marlies: Noch mal zurück zur pädagogischen Allmacht – wir haben sie ja in uns, wir haben auch Konzepte und Vorstellungen in uns, wie wir Ziele erreichen könnten. Dies verstellt oft den Blick auf die Bedeutung des Alltages. Diese wird in den Nebenbeigeschichten sichtbar, hier kommt sie ganz klar zum Vorschein.

Wenn wir in der MIM-Gruppe Alltagstätigkeiten erledigten, rückten die pädagogischen Zielvorstellungen in den Hintergrund, unser Ziel war nur zu kochen, Wäsche zu waschen, usw. Das lässt viel Raum offen, denn kochen war einfach nur kochen – ob zum Beispiel die Feinmotorik eines Bewohners dadurch verbessert werden könnte, war hier nicht Thema. Wir haben da auch nicht darauf geachtet, ob jemand den Kochlöffel richtig hält, es war einfach nur wichtig, dass die Suppe umgerührt wird. Dadurch konnte so viel Entwicklungsraum für die gesamte Gruppe entstehen, wir haben nicht die Defizite fokussiert, sondern das Geschehen laufen lassen. Das »Nebenbei« wurde zum stressfreien Lern- und Entwicklungsraum.

Irene: Heute wird mir immer klarer, wie viel mir von den Erfahrungen in der MIM- Gruppe geblieben ist. Ich merke, dass es auch mit meinem jetzigen Team möglich ist, so zu arbeiten. So kommen wir davon weg, dass ein solches Arbeiten nur in der MIM- Gruppe, oder auf uns persönlich, oder auf irgendwelche super-besetzte Teams beschränkt ist. Es ist natürlich notwendig, dass ein Team bereit ist, sich mit dieser Arbeitsweise auseinander zu setzen, aber es muss kein durchweg analytisch geschultes Personal sein. Wenn die Teamleitung einen psychoanalytischen Zugang hat, ist solche Arbeit auch mit jedem Team möglich, das bereit ist, sich auf Beziehungsarbeit einzulassen. Das ist etwas, was ich aus unserer gemeinsamen Arbeit gelernt habe, und für mich auch weiterhin gilt. Ich bin ja jetzt einsamer als damals, du bist nicht mehr im Verein und ich habe niemanden, der die Leitungsverantwortung mit mir mittragen kann. Aber die Reflexionsgespräche mit dir sind immer noch wichtig und gut für mich. Auch mit Dietmut ist jetzt eine andere Form der Zusammenarbeit entstanden, sie arbeitet ja immer noch im Verein, aber mit anderen Teams. Und außerdem ist die Unabhängigkeit von ihr auch gut, es können neue Dinge geschehen, Dietmut ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Inzwischen hat sich Unabhängigkeit und Autonomie gegenüber der »Frau Dr. aus Hamburg« entwickelt und ihre Deutungen können in Frage gestellt werden.

Marlies: Kannst du das noch ein bisschen erklären?

Irene: Dietmut hat vor einiger Zeit eine Deutung über Sonja angeboten, die sich im Nachhinein als nicht richtig herausgestellt hat. Im Nachhinein bestätigte sich für mich, wie richtig ihre Aussage war, dass es sich zeigen wird, wenn eine Deutung nicht stimmt.

Marlies: Ihr habt also mit der Deutung erst mal gearbeitet, und es ist nichts passiert?

Irene: Nein, es ist nichts Schlimmes passiert, es hat nur nicht geholfen.

Marlies: Das war doch eigentlich unsere Angst – wir könnten, von Dietmut angeregt, etwas fantasieren, das sich als nicht richtig erweist, und das könnte ganz böse Folgen haben!

Irene: Ich hab diese Deutung damals ins Team eingebracht, und das Team war dazu fähig, sie wieder zu verwerfen und etwas Neues zu entwickeln. Diese von uns selbst entwickelte Fantasie passt jetzt viel besser. Aber dazu war die alte Deutung auch wichtig – sie machte uns Mut, selbst mit unseren Fantasien herumzuspielen.

Marlies: Das ist also ein Bereich, wo wir viel mitnehmen konnten. Auch einmal fantasieren zu können, auch waghalsige Hypothesen zu entwickeln, und dann zu schauen, was machen wir damit, passt es noch oder passt es nicht mehr? In der Pädagogik ist noch so viel so absolut. Du musst den »einzig richtigen Weg« nehmen. Den absolut richtigen Weg weiß aber niemand, und du stehst dann da und musst dich als Versagerin fühlen.

Irene: Als Sonja in die WG kam, in der ich jetzt arbeite, wurde dem Team mitgeteilt, dass es wichtig sei, ihre Feinmotorik zu verbessern. Wir sollten mit ihr viel üben und trainieren. In einer Teambesprechung diskutierten wir darüber, ob es sinnvoll sei, sie möglichst viel mit dem Messer schneiden zu lassen usw. Wir einigten uns darauf, einfach nur gemeinsam zu kochen und diesen Zeitraum für intensiven Kontakt mit ihr zu nützen. Wir verrichten etwas Alltägliches und haben dabei die Möglichkeit, viel miteinander zu reden, uns auszutauschen. Wir befinden uns in einer Nähesituation, aber es ist noch etwas zwischen uns, nämlich die Tätigkeit, ein Essen für alle zu kochen, und so kann sich dann ein gemeinsamer Prozess entwickeln. Sonja erzählt beim Kochen immer viel von zu Hause, es entwickeln sich oft intensive Gespräche über alle möglichen Probleme und manchmal ist es auch so, dass wir einfach nur kochen und so vor uns hin werkeln. Das ist auch angenehm und wir haben dann ein gemeinsam geschaffenes Endprodukt, das mehr oder weniger gut schmeckt.

Marlies: Aber auch diejenigen, die nicht aktiv am Kochen beteiligt sind, können am Geschehen teilnehmen. Das Wahrnehmen der Gerüche, die beim Kochen entstehen, wenn zum Beispiel der Geruch der angebräunten Zwiebel durch den Raum schwebt, das Hören der Küchengeräusche – das sind ja Gerüche und Geräusche, die manche oft über Jahrzehnte nicht mehr mitbekamen, weil das Essen schon fertig auf die Stationen kam.

Irene: Ja, diese normalen Situationen herstellen und ihnen Raum geben zu können ist uns auch jetzt im Team wichtiger, als mit Scheuklappen die Feinmotorik von Sonja zu verbessern. Im Nebenbei des miteinander Arbeitens werden oft wichtige Gespräche geführt und das, was rundherum passiert, kann mit einbezogen werden. Das ist nicht möglich, wenn ich mich gänzlich auf die Verbesserung der Feinmotorik konzentrieren muss. Dann habe auch ich keine Offenheit mehr, ich schaue nur mehr auf ihre Hände, muss jedes Mal die Gurke richtig hinlegen, ihre Handstellung richten, usw. Ich bin damit blockiert und kann nicht mehr wahrnehmen, was rund um mich herum passiert. Ich spüre dann auch nicht, in welcher Gefühlslage Sonja oder wir beide gerade sind. Vielleicht ist einer der Gründe, warum Förderprogramme so beliebt sind, der, sich nicht so intensiv auf einen Menschen einlassen zu müssen. Wir werden oft gefragt, welche Förderprogramme wir denn laufen haben. Die Antwort »keines« löst sofort Misstrauen aus: Aha, eigentlich sind die recht faul, die tun ja nichts, was passiert denn da überhaupt? In der WG versuchen wir uns auf das einzulassen, was die Bewohnerinnen hier und jetzt mitbringen, und daraus entstehen Dialoge, die wiederum Entwicklungen Raum geben. Als Betreuerin kann ich mein Ich als Unterstützung herleihen. Ein »Hilfs-Ich« zur Verfügung zu haben ist für die Bewohnerinnen oft sehr wichtig.

Marlies: Diese Art zu arbeiten steht im Gegensatz zu pädagogischen Programmen, die immer etwas Einengendes und Zwingendes haben. Da musst du einfach tun, ganz gleich, ob das jetzt passt oder nicht. Zugleich müssen nachweisbare Erfolge da sein, die dokumentiert werden. Wenn man in diese Schiene hineinkommt, ist es schwierig, wieder auszusteigen.

Irene: Für die Mitarbeiterinnen der MIM ist es eine hohe Anforderung, ohne starren Tagesplan, an den sie sich halten können, arbeiten zu müssen. Wir haben uns als Team bewusst dazu entschieden, damit neben den Alltagstätigkeiten viel freier Raum zur individuellen Gestaltung bleibt. Es gibt nur eine aufs Minimum reduzierte Tagestruktur, mit wenig Regeln, die dann aber eingehalten werden müssen - einfach eine Zeitstruktur, die an den normalen Alltag angepasst ist (z. B. Essenszeiten).

Marlies: Also es bleibt viel Offenes, Ungeplantes. Ich weiß auch noch, um wie viel schwieriger es ist, situativ zu arbeiten, als einfach ein Programm durchzuziehen. Wenn du dich erinnerst an die MIM-Gruppe, immer wenn wir Programme einführten, ist das gescheitert, es hat einfach nicht funktioniert, obwohl wir es ernsthaft versuchten. Das führte immer zu einem Stillstand, zu diesem mühseligen und frustrierten Arbeiten an irgendwas, wo nichts weiter geht. In diesem Stillstand werden aber oftmals nicht die Programme in Frage gestellt, sondern das Scheitern wird an der Behinderung der betroffenen Person fest gemacht.

Irene: Therapien und oder spezielle Förderungen – in welcher Form auch immer – müssen außerhalb des Wohnbereiches stattfinden. Wir sind einerseits nicht dazu ausgebildet, andererseits könnten wir das im Wohnalltag auch gar nicht leisten, ohne unsere eigentliche Aufgabe zu vernachlässigen. Wenn jemand eine spezielle Förderung braucht, wie Logopädie, Physiotherapie oder Psychotherapie, dann gibt es Therapeutinnen und entsprechende Termine außerhalb der WG. Der Wohnbereich soll Raum für die persönliche Entwicklung sein. Wenn ich selbst krank bin oder ein für mich nicht allein lösbares seelisches Problem habe, dann sehe ich ja auch zu, dass ich mir Hilfe von außen hole, statt meine unmittelbare Umgebung zum Krankenhaus zu machen.

Marlies: »Der Abschied von der pädagogischen Allmacht« ist für mich fast so etwas wie ein »Leitgedanke« geworden. Wir haben gelernt, dass es nicht darum geht, mit einer bestimmten Methode und entsprechendem Zwang an vorbestimmten Zielen zu arbeiten, sondern dass wir unsere Arbeitsweise als eine Art »offenes Lernen« begreifen – oder besser: ein offenes Auseinandersetzen. Dazu gehört auch gegenseitige Wertschätzung, Offenheit im Denken, dass man immer bewusst und flexibel bleibt, verändern kann und schauen kann – was läuft denn da wieder ab, was ist das für eine Inszenierung – was bedeutet das, welche Fantasien haben wir dazu – was können wir anbieten.

Irene: Dazu ist es erforderlich, diese pädagogische Allmacht aufzugeben. Also auch ein Stück weit annehmen zu können, dass wir nicht alles leisten können, nicht alles verändern können, dass die Personen oft Schreckliches mitbringen und schreckliche Geschichten haben, die trotz unserer Bemühungen schrecklich bleiben. Diese Allmacht haben wir einfach nicht, diesen »Heilsanspruch«, den müssen wir aufgeben. Fritz wird es immer schwierig haben – das bedeutet nicht, dass er keinen Entwicklungsraum mehr hat, aber wir können seine Geschichte nicht umdrehen, wir können nie eine »heile«, schöne Geschichte daraus machen. Auch bei Gudrun und vielen anderen ist das so – dem müssen wir uns stellen. Das zu akzeptieren bedeutet auch Integration. Entscheidend ist, dass wir fähig sind, an und mit den Dingen zu arbeiten.

Marlies: Mir kommt noch einmal die »Heilige Familie« in den Sinn. Diese ist ja ein Konstrukt in unseren Köpfen, das wir immer wieder herstellen wollen. Dieser Heilsgedanke hat ja auch den Hintergrund, Menschen mit Behinderung »gut« zu machen, zu heilen. Was bedeutet denn dieser Wunsch zu heilen? Was steht dahinter? Damit eifern wir einem Konstrukt von einem sorglosen, glücklichen und wunderschönen Leben nach, das es in der Realität nicht gibt, auch nicht bei nichtbehinderten Menschen. Das muss gesehen und reflektiert werden. Erst wenn wir begreifen, dass es dies nicht gibt, können wir uns davon verabschieden und sind nicht mehr von dem Wunsch besessen, die »Heilige Familie« bieten zu müssen.



[45] Siehe dazu: Jantzen/Lanwer-Koppelin 1996, 44-49

[46] Siehe dazu: Elbert 1982

[47] Die Vorstellung, dass während der gleichen Zeit Mark und auch Gudrun – neben den anderen, z.T. nicht weniger schwierigen Teilnehmerinnen – ihr Recht forderten, ist mir kaum möglich!

[48] persönliche Mitteilung

[49] Diese neuartige Einteilung ist ein wichtiger Fortschritt gegenüber ihrem früheren Brauch, die Freundschaft zwischen Marlies und Irene anzugreifen. Es weist darauf, dass ihr Neid auf das Gute in Irene (also auch auf deren Beziehungsfähigkeit) bereits gemildert ist.

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Quelle

Dietmut Niedecken, Irene Lauschmann, Marlies Pötzl: Psychoanalytische Reflexion in der pädagogischen Praxis. Herausgegeben von Volker Schönwiese und Gabriele Rath. Internet-Volltext-Bibliothek BIDOK: http://bidok.uibk.ac.at/

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.09.2019

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