Selbstbestimmung verbreiten: Freiheit, Autorität, Unterstützung und Verantwortung

Autor:in - Thomas Nerney
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: "Communicating Self-Determination: Freedom, Authority, Support and Responsibility" Der Text ist erschienen beim Center for Self-Determination, 2001, http://www.self-determination.com/publications/tools.html ; Der Text wurde - mit freundlicher Genehmigung von Thomas Nerney - übersetzt von Ulrike Gritsch im Auftrag von SLI und WIBS, Anton Eder Straße 15, 6020 Innsbruck, wibs@selbstbestimmt-leben.at
Copyright: © Thomas Nerney 2001

Die Werkzeuge der Selbstbestimmung

Da sich zur Zeit Selbstbestimmungsprojekte über das ganze Land ausbreiten und die Selbstbestimmungsprinzipien weitgehend akzeptiert werden, kann es hilfreich sein, für einen Moment inne zu halten. Denken wir darüber nach, was wir über einige der technischen und strukturellen Probleme gelernt haben, die den Erfolg von persönlichen Budgets, Unterstützungsvermittlung und Finanzverwaltung bedingen. Nicht jeder Sachverhalt ist jetzt schon ganz klar. Wir nehmen an, dass ein wenig Zwiespältigkeit v.a. bei jenen Projekten übrigbleibt, die immer noch mit Systemveränderungen experimentieren.

Die drei oben genannten Problemkreise schöpfen das weite Gebiet der Systemveränderungen nicht aus. Zum heutigen Zeitpunkt aber scheinen sie von fundamentaler Wichtigkeit für den Erfolg von Selbstbestimmung zu sein und zwar sowohl auf der Ebene des Einzelnen als auch auf der Ebene der Familie. Für typische Dienstleistungsbetriebe ist es sehr schwer diese grundsätzlichen Änderungen zu vollziehen. Auch weitere Veränderungen bei der persönlichen Planung und der Umstrukturierung von Trägervereinen müssen angesprochen werden.

Es scheint, dass das Ansprechen von Interessenskonflikten im gegenwärtigen Dienstleistungssystem der anspruchsvollste Punkt für die Einführung von Selbstbestimmung ist.

  1. Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten jemals Freiheit erreichen sollen, dann müssen die AssistentInnen, die frei ausgewählt werden, selbst auch frei sein. Damit ist ganz einfach gemeint, dass niemand eine behinderte Person oder eine Familie unterstützen kann, wenn er nicht von ihnen dazu eingeladen wurde. Er muss einer behinderten Person verpflichtet sein und nicht bestehenden Dienstleistern oder Organisationen. Wer die neue Rolle der AssistentIn übernimmt, muss dieses Prinzip voll und ganz annehmen. Und damit verbunden ist die Ablehnung von offenen oder verdeckten Interessenskonflikten. Das ist manchmal ein langer und anstrengender Prozess.

  2. Eines der nicht wirklich überraschenden Ergebnisse ist, dass das Vermeiden von Interessenskonflikten mit dem Ausmaß an Kreativität bei Planungsprozessen zusammenhängt. Es scheinen sowohl Freiheit als auch Kreativität notwendig zu sein, um Personen darin unterstützen zu können, sinnvolle Lebensziele zu erreichen (wie das Ziel der Selbstbestimmung). Dasselbe gilt für Wirtschaftlichkeit. Einfach bestehende Angebote zurückzukaufen, wenn es die Möglichkeit gibt, zu anderen Anbietern zu wechseln, trifft das eigentliche Ziel der Selbstbestimmung nicht. Es ist auch nicht wirtschaftlich. Tatsächlich garantiert das staatliche Medic Aid Gesetz zur Zeit die Wahl der Anbieter.

  3. Einerseits haben die meisten Individuen und Familien wenig Erfahrung außerhalb der typischen Dienstleistungen, andererseits trauen sie dem derzeitigen System nicht notwendigerweise zu, dass es sie in einer sinnvollen Art und Weise außerhalb der üblichen Dienstleistungen unterstützen kann. Es sind wichtige Aspekte der Veränderung zu berücksichtigen, damit sich zwischen den Menschen mit Behinderung beziehungsweise ihren Familien und den Vertretern der Dienstleistungen Vertrauen entwickelt und damit sie aus der Erfahrung der Pioniere der Selbstbestimmung lernen.

Neu entstehende "best practise" Beispiele über Selbstbestimmung:

Zwei relativ bahnbrechende Vermutungen beginnen für die Selbstbestimmungsbewegung aller Menschen mit Behinderung wichtig zu werden:

Eine Annahme ist, dass jede Person ihre eigene Wohnung haben soll. Menschen mit Behinderung können natürlich mit anderen Personen gemeinsam leben wollen, aber das soll immer eine frei gewählte Lebenssituation sein, die bei Bedarf geändert werden kann.

Die zweite Annahme ist, dass praktisch alle Individuen an sinnvollen Arbeitsplätzen arbeiten oder ein Einkommen durch die Entwicklung von Kleinunternehmen produzieren können. Immer mehr Projekte im ganzen Land verändern langsam ihr Ziel, uns zwar weg von "einen Job zu bekommen" hin zu "ein Einkommen zu erwirtschaften". Das ermöglicht jedem zu verstehen, dass es sehr viele Wege gibt, um eine Anstellung zu sichern und ein kleines Geschäft zu starten. Individuen können innerhalb ihres Budgets (mit Unterstützung durch unterschiedlichste Quellen) mit Arbeitgebern direkte Verträge über Arbeit, Unterstützung, Transport und sogar Arbeitstraining schließen. Persönliche Budgets können dafür verwendet werden, die Kosten für Ausstattungen, die für Kleinunternehmen notwendig sind, anzuzahlen oder für sie zu haften.

Ideale Standards für persönliche Budgets: Unterstützungskoordination und Finanzverwaltung

1. Persönliche Budgets:

Über gegenwärtige "best practise" Beispiele zu persönlichen Budgets, kann gesagt werden, dass sie die idealen Voraussetzungen für Selbstbestimmung dann treffen, wenn die Budgets von der Person selbst oder wenn nötig durch freiwillig ausgesuchte Verbündete kontrolliert werden. Öffentliche Gelder werden als eine fortlaufende Investition in das Leben eines behinderten Menschen gesehen. Die Verpflichtung, sich sowohl verantwortlich für die Gemeinschaft zu fühlen als auch etwas zu ihr beizutragen, wird Teil der Budgetentwicklung. In vielen Beispielen sind diese idealen Standards nur teilweise erreicht. Aber sie zeigen einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Das bedeutet, dass das Folgende realisiert ist:

1.1. Individuell gestaltet:

Die Person mit Behinderung und ihre frei gewählten Unterstützer aus Familie oder Freundeskreis erstellen persönliche Budgets. Dies schließt die Schaffung von einzigartigen Budgetposten ein, die die ausgeprägten Träume und ehrgeizigen Bestrebungen der Person mit Behinderung widerspiegeln.

1.2. Personalkompetenz:

Jede Person, die für einen Menschen mit Behinderung arbeitet, ist angestellt und kann daher auch entlassen werden. Tatsächlich arbeiten alle Betreuer und Berater für die Person und deren soziales Unterstützungsnetzwerk. Auch, wenn eine andere Organisation die gesetzliche Verantwortung übernimmt und der inoffizielle Arbeitgeber wird, arbeiten deren Personal und Berater für die Person mit Behinderung.

1.3. Flexibilität:

Innerhalb der genehmigten Beträge können Gelder von einem Budgetposten zum anderen bewegt werden, so lange die Basisunterstützung gewahrt wird. Neue Budgetposten können geschaffen und alte eliminiert werden.

2. Unabhängige Koordination der Unterstützung:

Der Kernpunkt für den Erfolg von kreativen, höchst individuellen Budgets und Lebensplänen besteht in einer Aufgabe, die unterschiedlich bezeichnet wird, wie zum Beispiel als "unabhängige Koordination der Unterstützung", als "persönlicher Agent" oder als "unabhängige Vermittlung". Wichtig bezüglich dieser Aufgabe oder Funktion ist das Potential für Interessenskonflikte. Der Unterstützungskoordinator ist eine Person, die beim Pläne entwickeln oder beim Organisieren von einzigartigen Ressourcen, die die behinderte Person braucht, oder bei der laufenden Evaluation dieser Dienstleistungen helfen kann. Es gibt viele Möglichkeiten, wie diese Funktion ausgefüllt werden kann. Sie reichen von Familienmitgliedern bis hin zu "Case Managern", die neue Rollen annehmen. Ein kreatives Projekt erlaubt der Person mit Behinderung irgendjemanden auszusuchen, den sie kennt, dem sie vertraut und den sie, wenn notwendig, getrennt bezahlt. Manchmal ist die regelmäßige und fortlaufende Koordination der Unterstützung nötig und manche Personen planen sie in ihre individuellen Budgets ein, weil sie einer Dienstleistung entspricht. Die Charakteristika einer unabhängigen Vermittlungskoordination schließen ein:

2.1. Unabhängigkeit vom Dienstleister:

Es ist wichtig, diese Funktion von jeder anderen Form von Dienstleistung zu trennen, damit das Auftreten und die Tatsache von Interessenskonflikten vermieden werden. Auch die Vermittler, die große Integrität haben, sollten nicht in die Position geteilter Loyalitäten gebracht werden. Bestehende Systeme, die Dienstleistungen bereitstellen und Unterstützung anbieten, können Jahre dafür brauchen, den Übergang zu bewältigen. Viele behinderte Personen und ihre Familien haben gegenwärtig Beziehungen und Loyalitäten, die während dieses Übergangs respektiert werden müssen.

2.2. Wirkliche Autorität:

Ob die Person nun ein unabhängiger Auftragnehmer ist oder für eine unabhängige Agentur arbeitet, in jedem Fall muss diese Funktion staatlich und öffentlich anerkannte Autorität innehaben. Nur so kann sie die Person mit Behinderung auf angemessene Weise repräsentieren. Es sollte immer wieder klar sein, dass die Person, die die Funktion ausfüllt, für den behinderten Menschen arbeitet. Es ist immer dessen Wahl, wer diese Funktion erfüllt.

3. Finanzverwaltung:

Finanzverwalter sind Organisationen bzw. Orte, wo ein persönliches Budget geparkt oder auf einer Bank deponiert wird. Die Funktionen, die von einem Finanzverwalter ausgeführt werden, beinhalten: Schecks für Rechnungen und persönliche Ausgaben auszustellen, steuerliche Angelegenheiten, Arbeitsunfallversicherung, Gesundheitsversicherung sowie Spenden abhängig vom persönlichen Budget zu bezahlen. Die Funktionen sind aber nicht auf diese Aufgaben begrenzt. Der Finanzvermittler arbeitet für das Individuum und bleibt haftbar für die Einhaltung aller Bundes - und Landesgesetzte.

Minimumstandards schließen ein:

3.1. Die Abgrenzung persönlicher Budgets:

Damit ist gemeint, dass persönliche Budgets einzelner Personen von allen anderen einzelnen Budgets und klarerweise von traditionellen Dienstleistungsverträgen getrennt werden. Das Geld ist gegen Quittung im Rahmen eines genehmigten Budgets verfügbar. Der Finanzverwalter haftet gegenüber der öffentlichen Hand und gegenüber der behinderten Person.

3.2. Frei von Interessenskonflikten:

Finanzverwalter haben keine anderen Aufgaben, die mit ihrer Rolle in Konflikt kommen können. Das heißt, dass sie keine andere Dienstleistungen anbieten. Wenn der Finanzverwalter eine staatliche oder eine regierungsnahe Agentur ist, gibt es spezielle Regeln, die die Verwendung des Geldes für irgendeinen anderen Zweck verbieten.

3.3. Nähe zu der Person und Gemeinschaft:

Finanzverwalter sollten so weit wie möglich von gewöhnlichen nachbarschaftlichen, gemeindenahen Organisationen gestellt werden, um dadurch der Person mit Behinderung zu ermöglichen, Beziehungen mit den Angestellten, die eben dort in regulären Einrichtungen der Gemeinde arbeiten, aufzubauen. Je näher diese Funktion zu einer "Nachbarschaftsbank" wandert, umso besser für die Person mit Behinderung.

Das sind ideale Standards:

Einige Dienstleister können sie schneller einführen, für andere kann es viel länger dauern. Die Standards bedürfen noch mehr Diskussion, Überprüfung und weiterer Umsetzung. Es gibt viele Wege, diese idealen Standards auf lange Sicht gesehen zu erreichen. Weitere Beispiele und sogar Experimente werden neues Wissen und Einblicke in verfeinerte Wege bringen, wie diese idealen Werkzeuge der Selbstbestimmung eingeführt werden können..

Quelle:

Thomas Nerney: Selbstbestimmung verbreiten: Freiheit, Autorität, Unterstützung und Verantwortung.

Aus dem Englischen: "Communicating Self-Determination: Freedom, Authority, Support and Responsibility" Der Text ist erschienen beim Center for Self-Determination, 2001, http://www.self-determination.com/publications/tools.html

Der Text wurde - mit freundlicher Genehmigung von Thomas Nerney - übersetzt von Ulrike Gritsch im Auftrag von SLI und WIBS, Anton Eder Straße 15, 6020 Innsbruck, wibs@selbstbestimmt-leben.at

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Stand: 16.06.2010

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