Entwicklungsdynamische Aspekte der Rhythmik

Die Botschaften in kindlichen Aktivitäten - auch mit Bezug auf Kinder mit eingeschränkten Handlungskompetenzen

Autor:in - Helga Neira-Zugasti
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Berufsverband Rhythmik-Schweiz
Copyright: © Helga Neira 2005

Entwicklungsdynamische Aspekte der Rhythmik

Rhythmik ist für mich ein Verfahren, das die individuelle Entwicklung in einem gemeinschaftlichen Prozess umfassend unterstützt.

Entwicklungsdynamik folgt Lebensgesetzen, die im Wesentlichen allen Lebewesen immanent sind.

Entwicklung allgemein:

Ausgangsstruktur:

Entwicklung vollzieht sich in jedem Lebewesen nach seinen eigengesetzlichen Strukturen und den äußeren Gegebenheiten, die diese Strukturen in wechselwirksamer Weise beeinflussen. Gerald Hüther bezeichnet als innere Bilder, was andere Autoren Struktur, Muster, Schema, Vorstellungen nennen. Der Begriff "inneres Bild" entspricht mehr dem Lebendigen, persönlich Einmaligem, das wir mit den Grundlagen unserer Entwicklung bezeichnen wollen. Entwicklung als Prozess fortschreitender Differenzierung und gleichzeitiger Zentralisierung bildet die Voraussetzung für Lernen, für die latente Verhaltensänderung durch Erfahrung.

Entwicklung hat immer eine Ausgangsstruktur.

Ungeachtet der Lebensform oder des Reifestadiums dieser Lebensform ist das Sosein eines Wesens ein positives Faktum. Jedes Lebewesen hat seinen bestimmten Sinn, seine Aufgabe und seine im Inneren angelegte Strukturierung, nach der es sich organisiert, stabilisiert, selbst optimiert und sein inneres Beziehungsgefüge reproduziert und erneuert. Dieser Umstand ist in jedem Moment eine Chance, die wir (als Pädagogen) nie aus den Augen verlieren dürfen, weil er uns vor Selbstüberschätzung und Urteilen bewahrt. Er zeigt uns auch, dass wir in dieselben Lebens- und Entwicklungsgesetze eingebunden sind wie alle anderen lebendigen Organismen.

Die charakteristische innere und äußere Struktur eines jeden Lebewesens entsteht dadurch, dass seine Bestandteile in bestimmter Art und Weise zueinander in Beziehung stehen. Es ist das Sosein eines Lebewesens nicht in Frage zu stellen und nicht zu beurteilen. Das ist sein Lebensrecht. Das Gefüge von Beziehungen kann jede Art von lebendigem Organismus sein, die Entwicklungsvorgänge sind im Wesentlichen dieselben, nur die Erscheinungsformen und Wirkungsweisen sind unendlich vielfältig. Dabei gilt es in Betracht zu ziehen, dass auch Gemeinschaften, Gesellschaft als solche ebenso lebendige Organismen sind. Sie bestehen aus einer Anzahl unterschiedlicher Individuen, die in diesem Verband auf die Akzeptanz ihrer Ausgangslage angewiesen sind. Selektion verstößt gegen Grundrechte und schafft letztlich nachteilige Entwicklungseffekte aus ganzheitlicher gesellschaftspolitischer Sicht. Ausgrenzung blockiert und bindet Energien, die für gemeinsames Wachstum gebraucht werden.

Die Erkenntnisgewinnung im Laufe der Evolution basiert auf diesem Beziehungsgefüge. Ob eine Zelle durch bestimmte Botenstoffe eine andere Zelle über Veränderungen des Systems informiert oder ob wir inzwischen so weit gediehen sind, dass wir mit Sprache über unsere eigenen inneren Bilder reflektieren können - wir nennen es Beziehung.

Positive Vorbilder:

Die Beziehungsbildung beruht immer auf vorher entstandenen Mustern.

Trifft nun ein neuer Impuls auf dieses Beziehungsgefüge, dann hängt es von vielen Faktoren ab, ob er überhaupt registriert wird. Der Großteil der Reize gelangt über die Wahrnehmungsschwelle nicht hinaus, weil das neuronale System diese entweder nicht erkennt, oder als nicht wichtig genug klassifiziert.

Um Erregungen hervorzurufen sind zwischen Ist - und Sollzustand Reize nötig, die Beziehung zu schon vorhandenen Mustern ergeben, aber auch die Auseinandersetzung mit Neuem verlangen. Entwicklungsdynamisch förderlich wirken sich Erfahrungen aus, die an positive Vorbilder anschließen können, weil die Erhaltung des inneren Gleichgewichts (Homöostase) durch die Interaktion der beteiligten Systeme ohne Blockierungen und ohne negativen Stress möglich wird. Dies gilt sowohl für den gesamten Vorgang als auch für die Ergebnisse der Reizverarbeitung, beides kann mit dem Begriff Wahrnehmung definiert werden( nach Dorsch, 940,1998).

Veränderung, Umorganisation

Ist ein Erregungsmuster intensiv genug, dann hängt es wiederum davon ab, wie "mächtig" es sich auf andere Bereiche des Gehirns ausbreiten kann, wie weit es mit vorhandenen Bildern verglichen werden kann und auch wie stark vernetzt die Wahrnehmungskanäle sind, über die das Gehirn seine Informationen aus der Außenwelt bezieht. Die Impulse müssen einen positiven Konnex haben, um für das betreffende Lebewesen in dieser Situation (sinn)relevant zu werden, Anstoß zu bilden für weitere Differenzierung und Zentralisierung der vorhandenen Muster, Vorstellungen, inneren Bilder. So bewirken sie Aktivitäten, die es ermöglichen, Neues, Anderes, Ungewohntes, Fremdes, Irritierendes zu assimilieren und zu integrieren. Dazu stehen je nach Lebewesen unterschiedlich komplexe neuronale Verschaltungen und unterschiedlich differenzierte bzw. spezialisierte Organe zur Verfügung. Auf diese Weise adaptiert sich der Organismus. Jede dieser Veränderungen bewirkt wieder neue Ausgangslagen für den weiteren Austauschprozess mit dem inneren und äußeren Beziehungsgefüge, in dem dieser Organismus sich gerade befindet. Resultiert daraus eine Verhaltensänderung, dann hat ein Lernprozess stattgefunden.

Entstehen von Neuem durch Hervorgehen aus entwicklungsförderlichen Strukturen.

Es ist die zyklische Bewegung aller Lebensprozesse, der die Wechselwirksamkeit dieser positiven Beziehungsdynamik zu Grunde liegt. Auf diese Weise haben sich im Laufe der Evolution immer komplexere Lebensformen entwickeln können. "Aus den anfangs noch sehr einfachen Bauplänen für die schnell wachsenden Einzeller entstanden so immer komplexere Vielzeller, ....aus den primitiven Nervensystemen der ersten Tiere das komplizierte, lernfähige Gehirn des Menschen....aus dem rein stofflichen Wachstum ist auf diese Weise ein nichtstoffliches, durch Verbreitung von inneren, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Bildern gelenktes, geistiges Wachstum geworden." (G.Hüther, 100)

Viele phylogenetische Entwicklungsstadien finden in der Entwicklung des Individuums sowohl in einzelnen Lernschritten als auch in der gesamten Persönlichkeitsentwicklung ihre Wiederholung.

Der allgemeine Entwicklungsprozess jedes Lebewesens ist von gegenseitiger Abhängigkeit und Gleichwertigkeit mit anderen geprägt. Die aufgezeigte Entwicklungsdynamik ist in jedem pädagogischen Tun relevant, erhält aber ihre besondere Bedeutung auf dem Feld der inklusiven Pädagogik.

Rhythmisch-musikalische Erziehung ist für mich jenes Verfahren, das inklusive Arbeit in bester Weise unterstützen kann.

Individuelle Entwicklung:

Ausgangsstrukturen:

Jedes Kind hat seine individuelle Ausgangsstruktur und auch das Anrecht, dass diese als solche erkannt und akzeptiert wird. Derzeit ist es vielfach so, dass die Fähigkeiten der Kinder den Angeboten entsprechen müssen. Auf dieser Basis können nur segregative pädagogische Modelle exerziert werden, die defizitorientiert wirksam werden müssen.

Für das förderliche Zusammenwirken der unterschiedlichen Fähigkeiten alters - und leistungsheterogener Gruppenkonstellationen ist es wichtig, dass die Handlungspotentiale der einzelnen Mitglieder erkannt werden. Dazu braucht es ein Instrumentarium, das geeignet ist, diese beschreibend, prozesshaft begleitend, subjektbezogen und zielorientiert zu erfassen. Welches sind nun die Ausgangsstrukturen von Menschen mit eingeschränkten Handlungskompetenzen?

Sie werden in unserer Gesellschaft zunehmend wahrgenommen, passen zwar nicht in das übliche Muster, ihr Sosein wird anerkannt, wenn sie die Chance bekommen auch geboren zu werden. Oft wird ihre Identität als Person fälschlicherweise als Krankheitsbild definiert (Xy leidet an Down Syndrom), aber immerhin als Lebensform in Gesetzen und Gesellschaftsstrukturen zunehmend beachtet. Aber immer noch dient die Diagnose meist nicht der unterscheidenden Erkenntnis über das Entwicklungspotenzial, also einem für die Betroffenen positiven Akt, sondern der Etikettierung.

Dennoch geben die Vorbilder, an denen sich Menschen mit Behinderung in allen Altersstufen und Einschränkungsformen orientieren können, zunehmend positive Impulse. Sie machen Mut, die eigenen Möglichkeiten immer mehr wahrzunehmen und Kompetenzen in eigener Weise zu entwickeln. Immer mehr Menschen schaffen es, mit ihrer Behinderung ein ausgeglichenes Verhältnis von Eigenkompetenz und Unterstützung zu leben, das ihnen ein befriedigendes Maß an Würde und Selbstbestimmung ermöglicht. Es gelingt immer mehr, ein positives Selbstbild von Anfang an beizubehalten und sich nach eigenen Vorstellungen und Begabungen zu entwickeln.

Betrachten wir Gesellschaft als lebendigen Organismus, dann ist klar, dass dieser für eine förderliche Entwicklung seiner Kräfte das Zusammenwirken aller Individuen ebenso braucht, wie dies das einzelne Individuum in sich selbst auch. Man könnte vielleicht sagen: das gesellschaftliche Reifestadium befindet sich demnach in unseren Breiten weitgehend in der Phase der sensorischen Integration: wir nehmen die positiven Konnexe, die die Unterschiedlichkeit der individuellen Ausprägungen von Persönlichkeiten bewirken, zunehmend als Bereicherung wahr. Die daraus resultierenden Veränderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins beginnen langsam spürbar zu werden.

Renato Zanella, Balletdirektor der Staatsoper Wien, arbeitete choreografisch mit sechs unterschiedlich behinderten jungen Menschen und sechs Profitänzern der Truppe. Er beschreibt seine Erfahrung mit der völlig unterschiedlichen Wahrnehmung von Raum und Zeit, der Direktheit des Ausdrucks, der Spontaneität und des Vertrauens der einzelnen Mitglieder als derart bereichernd und prägend, dass er sie in seiner Karriere nie missen möchte.

Auf das pädagogische Feld zurückkehrend stellt sich die Frage, wie es zu schaffen ist, auf so vielschichtigen Ebenen, die sich in einer inklusiven Gruppe auftun, positive, handlungsleitende Strukturen für den einzelnen und für die Gruppe zu entwickeln.

Das bedeutet vorerst einmal, ein Klima der Akzeptanz und des Wohlwollens für einander und der Freude miteinander zu schaffen.

Für mich erweisen sich das Verfahren der Rhythmisch-musikalischen Erziehung für die Praxis und der Raster der Entwicklung der psychischen Operationen (siehe Nr. 1 Rhythmik Seite 6 -16)für die Reflexion, Analyse der Beobachtungen und die Dokumentation als zwei sich ergänzende Möglichkeiten, die Fähigkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder in den gegebenen Situationen kennen zu lernen und die Angebote zunehmend genauer auf die Bedürfnisse einzustellen. Deshalb betrachte ich Rhythmik besonders in den Grundschulen als generell zu verankerndes Verfahren.

In rhythmisch-musikalischen Aufgaben gibt es vielerlei Möglichkeiten, sich gegenseitig wahrzunehmen, sich selbst wahrzunehmen, alle Persönlichkeitsbereiche zu aktivieren. Die Bereitschaft, Fähigkeiten zu entfalten wird umso größer, je mehr positive Erfahrungen eine Person mit sich selbst und mit anderen macht.

Der Zielorientiertheit, aber Zweckfreiheit rhythmisch-musikalischer Aufgaben ist es eigen, dass jede/r Teilnehmer/in die Erfahrungen mit jenen Bedeutungen besetzen kann, die für ihn/sie jetzt relevant sind. Da können in einer Aufgabe für ein Kind die Klänge das Wesentliche sein, für ein anderes in derselben Konstellation aber das Zuschauen, wie andere Kinder dazu ihre Tücher bewegen, ein drittes braucht es am meisten, das Tuch fliegen zu spüren. Da können Farben, Klänge, Dynamik, Berührungen ihre Wirkung erzielen und dem einzelnen die Möglichkeit geben, ein neues Bild von seiner Wirklichkeit zu kreieren. Die objektive Wirklichkeit gibt es ja nicht. Auf diese Weise ist in jeder Situation ein breites Feld gestaltbar, auf welchem auch in einer heterogenen Gruppe für den einzelnen in genau jenen Bereichen positive Beziehungen und Vernetzungen stattfinden können und weiter ausgebaut werden können. Diese haben dann besondere Relevanz zu inneren und äußeren schon vorhandenen Mustern und Bildern.

Veränderung

Jeder Versuch, ein inneres Bild von einer Möglichkeit aktiv umzusetzen führt zu einer Erweiterung der Möglichkeiten in den bisherigen Strukturen. Voraussetzung ist die Offenheit für die Modifikation. Wer von sich glaubt, dass er nichts Neues mehr braucht, hat keine Offenheit mehr für Neues. Die neuronalen Strukturen sind für den ständigen Vergleichsprozess und für neue Verbindungen nicht mehr einsetzbar. Auch, wer von sich das innere Bild hat, dass er selbst nichts mehr verändern kann, verschließt seine Kapazitäten für Veränderungen. Die Repräsentanz von früher vorhandenen positiven inneren Bildern ist eine Voraussetzung für die Umorganisation der vorhandenen Strukturen. Robert Kegan sieht Entwicklung als ständige Umorganisation der vorhandenen Möglichkeiten. Diese gelingt nur mit positiven Vorbildern (R. Kegan, 105).

Die positive Beziehungsstruktur ist für jedes Kind eine Entwicklungsvoraussetzung. Gibt es nun ein Spannungsfeld zwischen Ist - und Sollzustand, das zuträglich ist und immer wieder in einen Ausgleich gebracht werden kann, wird sich auch die Entwicklung des Kindes seinen Möglichkeiten nach auch harmonisch vollziehen. Impulse wirken dann anregend, wenn die Verarbeitung den Möglichkeiten entsprechend geschehen kann. Sie bewirken Desinteresse, wenn Möglichkeiten der Reizverarbeitung unterdrückt werden müssen, sie wirken blockierend, wenn mehr Ergebnisse erbracht werden sollen, als das Kind leisten kann.

Veränderungen, Umorganisation, Differenzierung, Zentralisierung - Lernen - braucht Impulse, die die Prozesse der Assimilation und der Akkomodation in Gang setzen. Damit diese Impulse wirksam werden können, sind sowohl komplexe Netze neuronaler Verschaltungen als auch unterschiedliche Organsysteme in Funktion.

Ich möchte nicht die Grundwahrnehmungsbereiche wie

vestibuläre oder Gleichgewichtswahrnehmung

taktile oder Oberflächenwahrnehmung

propriozeptive oder Tiefenwahrnehmung (Döring1996, 12) beschreiben,

deren besonderer Verarbeitungsschwerpunkt im Hirnstamm liegt. Sie stellen das Fundament der Entwicklung dar. Diese Wahrnemungsbereiche sind zentrale Felder der der rhythmisch-musikalischen Praxis. Auch käme es mir vor Eulen nach Athen zu tragen, wenn ich über die im Kortex verarbeiteten Wahrnehmungsbereiche Informationen geben möchte.

Es ist mir aber ein Anliegen, einen Aspekt genauer auszuführen, der sich auf Standardbegriffe der Rhythmik bezieht, die meiner Meinung nach in ihrer entwicklungsdynamischen Bedeutung noch nicht genug erhellt sind: Erleben - Erkennen - Benennen.

Sie schließen den gesamten Wahrnehmungskomplex ein, sowohl den der einzelnen körpernahen Sinne als auch der Fernsinne, ihre Integration als auch die unterschiedlichen Reifestadien der Reizverarbeitung und Handlungsplanung wie modal, intermodal, serial, intentional, symbolhaft, konkret und formal (Nach B. Senckel, 188)

Mimi Scheiblauer bezieht die drei Begriffe Erleben-Erkennen-Benennen bereits auf die Entwicklungsstufen des sensomotorischen Erlebens, auf das anschaulich-gegenständlich Abgeleitete und auf das operativ-formale Denken.

Ariane Bühler und Alice Thaler greifen die Gedanken Mimi Scheiblauers wieder auf..... "Die Schritte "Erleben- Erkennen - Benennen beziehen sich ausdrücklich auf den Aufbau von Lerninhalten und Entwicklungsanregungen und bilden einen Bewusstwerdungsprozess ab...

Erleben betont den gelebten Augenblick, den Kontakt, die vielfältigen Wege vom Ich zum Du und zum Wir. Es beinhaltet Selbsterfahrung in Bezug auf Wirkung und Ursache und auf die Manipulation von Objekten.

Erkennen setzt noch keine sprachliche Zuordnung voraus. Es ist hier vorsprachlich zu verstehen, indem es den Übergang zwischen unreflektiertem Handeln und der sprachlichen Reflexion bildet. "Erkennen" heißt handelnd zuordnen können.

Das Benennen, die sprachliche Inbesitznahme eines Lerninhaltes, erfolgt zuletzt, nach vielfältigen sinnenhaften Erfahrungen.

Rhythmik ist so immer sinnlich und sinnvoll. Ihre Mittel bieten unzählige Ideen und Möglichkeiten für Entwicklungsimpulse und Förderplanungen, die sich an den Teilnehmenden und ihren Potentialen orientieren." (Bühler/Thaler st 43/44)

Andreas Fröhlich stellt in seiner Arbeit über basale Stimulation fest, dass " mit den Sinnesorganen an der jeweils spezifischen Kontaktstelle zur Außenwelt Reizinformation aufgenommen, biologisch kodiert und dann wieder in bedeutungs- und sinnvolle Wahrnehmung transformiert wird. Die Herstellung von bedeutungs- und sinnvollen Zusammenhängen, die unmittelbare Verknüpfung mit Erinnertem stellt eine ganz spezifische Leistung dar, die den Kern der Wahrnehmung erst ausmacht. Wahrnehmung ist also nicht primär die Aufnahme von informativen Reizen, sondern vielmehr deren sinnstiftende Verarbeitung." (Fröhlich, 39)

Die drei Ebenen stellen nicht nur eine eindeutig entwicklungsorientierte didaktische Vorgangsweise dar, der in vielen Unterrichtssituationen zum Nachteil der Entfaltung der kindlichen Fähigkeiten nicht entsprochen wird, es liegt noch ein anderer, speziell für die inklusive Pädagogik bedeutsamer Aspekt zu Grunde.

Es kann das Bild des quasi linearen Fortschreitens von menschlicher Entwicklung auch anders gesehen werden, als es in der theoretischen Auseinandersetzung oftmals erscheint.

Menschliche Entwicklung ist in dem Sinne nicht linear, dass gleichsam von einem Ausgangspunkt weg Meile für Meile auf der Entwicklungsleiter zurückgelegt wird, sondern wir erwerben neue Felder auf neuen Ebenen in neuen Vernetzungen im zirkulären Prozess und können auf alle vorher erworbenen Muster nach Bedarf zurückgreifen.

Je nach Situation und Reife kann sich ein und dieselbe Person in komplexeren, zugleich differenzierteren Feldern artikulieren oder in primären, einfachen, undifferenzierten Feldern mit Welt und sich austauschen.

Durch die tätige Auseinandersetzung mit Inhalten kann eine Person auf jeweils jener Ebene agieren, die ihr als Ausdruck zu diesem Inhalt gemäß ist. Sie kann jene Entscheidungen für den handelnden Ausdruck wählen, die ihr hier und jetzt passend erscheinen und zwischen den drei Stadien pendeln.

In rhythmisch-musikalischen Aufgaben bleiben wir trotz aller Spezialisierungen, Verfeinerungen, Differenzierungen auf einer Basis, in der die immanente Struktur des Erlebens-Erkennens-Benennens durchlässig wirksam ist. Die drei Bereiche sind, soweit das Entwicklungsniveau des einzelnen dies zulässt, immer zugleich präsent und wirksam. Es setzt natürlich Empathie und didaktisches Können voraus, zu merken, welcher Bereich gerade vordergründig aktiviert ist, wie viel Raum dafür gegeben wird, ob Impulse passend sind um in einen der anderen Bereiche überzuleiten, ob die Aufgabe dafür zu modifizieren wäre. Der/die Gruppenleiter/in kann eine Aufgabe so verändern bzw. reflektieren, dass der eine oder der andere der drei Bereiche bedeutsam wird. Es hängt von den Möglichkeiten der Gruppenteilnehmer ab und von den Fähigkeiten der Gruppenleiterin, beobachten und flexibel gestalten zu können, ob das Benennen oder das Erkennen, also das zuordnende Handeln oder das reine Erleben den Ausgang bildet.

Durch dieses Rückgreifen-Können auf die reine Erlebnisebene wird ermöglicht, dass Primärerfahrungen nachgeholt werden können, dass Erfahrungen aus früheren Entwicklungsphasen verfeinert, vertieft werden können, dass man sich erinnern, rückversichern, rückkoppeln und vergewissern kann über seine eigenen inneren Bilder.

Man darf nicht vergessen, dass gerade Menschen mit eingeschränkten Handlungskompetenzen in ihrer Entwicklung oft folgende Konstellation haben:

Zu dem Zeitraum, in welchem ihnen ihre primäre Auseinandersetzung in lebensaltersgemäßer Weise von der Umgebung spontan geboten werden, können sie diese Angebote noch nicht oder nur teilweise umsetzen. Aber dann, wenn sie die Entwicklungsreife dafür hätten, werden diese primären Auseinandersetzungen nicht mehr oder nicht ausreichend angeboten, weil die Person für die Umgebung schon "zu groß" ist, oder die Ausbildungsstruktur nicht mehr danach orientiert ist, oder die Flexibilität fehlt, Operationen aus den früheren Entwicklungsphasen in lebens- und entwicklungsaltersgemäßer Verpackung anzubieten. Die dreifachen Ebenen, die in rhythmisch-musikalische Aufgaben vorhanden sind, bieten für den gesamten Wahrnehmungsbereich ein ideales Feld, um entwicklungsdynamisch die einzelnen TeilnehmerInnen in einer Gruppe passend zu unterstützen.

Entstehen von Neuem:

Eine Pädagogik, die das Prinzip des Rhythmischen beachtet, öffnet den Weg dafür, dass ganzheitliches, inklusives Lernen für alle Beteiligten sinnvoll und fruchtbar wird. Es ist ein Ziel, dass die Fähigkeiten von Menschen mit eingeschränkten Handlungskompetenzen eine aktive, strukturbildende Bedeutung in unserer Gesellschaft haben, dass neue Organisationsformen des Zusammenlebens entstehen, die von allen Mitgliedern wohl unterschiedliche Kompetenzen und Verantwortlichkeiten erfordern, aber respektvolles, gleichwertiges, zufrieden stellendes Miteinander ermöglichen. Das innere Selbstbild und das Fremdbild müssen ein positives, gleich wertvolles, gleich bedeutsames werden.

Transferieren wir nun gedanklich dies vorgelegte Entwicklungsfolge: Ausgangsstruktur-positive Konnexe - Veränderung - entstehen von Neuem auf die rhythmisch-musikalische Erziehung und auf das ihr zu Grunde liegende rhythmische Prinzip, so lassen sich folgende Zusammenhänge erschließen.

Ausgangsstruktur:

Alle Entwicklungsprozesse haben jene Strukturen gemeinsam, die den Eigenschaften des Rhythmus entsprechen.

Eine Pädagogik, die den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entspricht, berücksichtigt diese Eigenschaften, sonst würde sie gegen Lebensgesetze verstoßen.

Wenn wir also eine gültige, lebensentsprechende Basis für unser pädagogisches Tun suchen, muss dieses Prinzip wirksam sein. Es entspricht den Gesetzen der Entwicklung und es ermöglicht eine adäquate Gestaltung des gemeinsamen Lernens in der Gruppe.

Betrachten wir nun eine Reihe von solchen Eigenschaften, dann ergeben sich klare Parallelen zu didaktisch-pädagogischen Prinzipien, die in einer kindgemäßen, entwicklungsgerechten Arbeit gefordert sind.

Rhythmus hat als Eigenschaft das Kontinuum. Die Wiederholung des Wesentlichen einer Struktur in ähnlicher Form ist nur möglich, wenn diese Perioden kontinuierlich erscheinen. Nur so können die Muster gebahnt, gefestigt und stabilisiert werden. Ohne stabile Repräsentanz der inneren Bilder kann keine Einordnung von neuen Eindrücken stattfinden.

Rhythmus entsteht durch die Wiederholung.Rhythmus ist somit Voraussetzung für die Entwicklung aller Funktionen bereits in der sensorischen Phase in Form des sensomotorischen Kreisprozesses. Durch die wiederholte Frequentierung derselben neuronalen Bahnen gelingt es, das als wesentlich Erscheinende einer Information zu festigen, einzelne Teile der Periode zu modifizieren und Unwesentliches zu vernachlässigen.

Rhythmus hat als Eigenschaft die Polarität. Damit ist die homöostatische Wechselwirkung zweier einander bedingender Pole bezeichnet. Die unzähligen bipolaren Prozesse, die die Selbstwirksamkeit eines lebendigen Systems ausmachen, schaffen Spannungsfelder, die ununterbrochen nach Spannungsausgleich streben.

Bussmann, Universität Bielefeld sagt: "Jedes Gleichgewicht bedarf des Ungleichgewicht,s um WERDEN zu können. Jedes Ungleichgewicht bedarf des Gleichgewichts als retrospektiven Ordnungspunkt, um SEIN zu können."

Daher sind die Leistungen des vorherigen Stadiums in der höheren Umstrukturierung aufgehoben. Der Mensch kann auf diese Erfahrungen (innere Bilder) zurückgreifen.

Das Aktivitätsfeld, das in ganzheitlichen Prozessen wie Rhythmik zwischen zwei Polen entsteht und in das alle unsere Funktionen einbezogen sind, stellt die pädagogische Gestaltungsebene dar.

Rhythmus ist ganzheitlich. Rhythmus kann nicht partiell wirken. Auch wenn verschiedene Rhythmen gleichzeitig in einer größeren Ganzheit wirksam sind, müssen sie wiederum in einen übergeordneten Rhythmus einschwingen können, wenn die Entwicklung für alle beteiligten Kräfte konstruktiv sein soll. Wenn wir durch schlechte pädagogische Programme, durch ungeeignete Entwicklungsbedingungen des Umfeldes den Rhythmus der kindlichen Entwicklung stören, ist das Kind als ganze Person betroffen. Dies gilt gleichermaßen für kurze wie für längere Perioden. Der Rhythmus jeder einzelnen Aktivität wirkt auf die Person als Ganzes, denn in jeder Aktivität sind alle Funktionen wirksam, die ein Mensch zum Austausch mit der Welt zur Verfügung hat. Darauf beruht ja die Kompatibilität zwischen Rhythmik und der Theorie der psychischen Operationen.

Rhythmus ist subjektbezogen. Er kann nur im Hier und Jetzt, in der jeweiligen Raum/Zeitgestalt erlebt werden. Er ist nicht übertragbar, sondern nur wieder vom Individuum neu gestaltbar und nachvollziehbar. Jedes Lebewesen schwingt mit seinen subjektiven Kräften auf gemeinsame Rhythmen ein, es spürt mit seinen individuellen Möglichkeiten die Spannungsfelder und sucht nach Ausgleich, nach innerer Ordnung. Rhythmus ist in seiner zeitlich-dynamischen Dimension Ureigenes aller Lebewesen. Wir Menschen können darüber reflektieren. Lernen ist ein Prozess, der nur durch die Aktivierung der individuellen Fähigkeiten möglich ist. Daher ist Individualisierung des Unterrichts ein notwendiges Prinzip. Dieses umzusetzen erfordert, dass Verfahren anzuwenden sind, mit welchen die individuellen Fähigkeiten möglichst genau erfasst werden können.

Rhythmus ist tätigkeitsorientiert. Um Rhythmus erfahren zu können, muss Aktivität stattfinden. Sein Wesen ist nicht ohne Aktivität verwirklichbar. Tätigkeitsorientierter Unterricht ist eine zentrale Forderung aller reformpädagogischen Konzepte.

Rhythmus ist zweckfrei, aber zielorientiert. Die Gliederung der Gestalt trägt die Richtung, in welche sich die Kräfte aktivieren, in sich. Weil die Gestalt gegliedert ist, trägt sie die Möglichkeit in sich, dass in jeder Wiederholung der rhythmischen Periode jene Dynamik wirken kann, die dem Selbsterneuerungskonzept des aktiven Organismus aus der Gesamtheit der inneren und äußeren Gegebenheiten entspricht. Entwicklungsprozesse zweckorientiert zu beeinflussen heißt, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, das Potential des Selbstkonzeptes zu verwirklichen. In der Pädagogik hat dies für die Entwicklung zur vollen Persönlichkeitsreife fatale Folgen.

Rhythmus hat als Eigenschaft die Variation: Martin Held stellt in seinem Buch "Rhythmen und Eigenzeiten" fest: "Das Leben entwickelt sich im Zusammenwirken des linearen und zyklischen Zeitmoments. Rhythmen sind deshalb gerade nicht die ewige Wiederkehr des immer Gleichen, sondern die Wiederkehr des Ähnlichen."

Variabilität ist eine unerlässliche Stufe im Lernprozess zwischen dem Erfassen eines Grundmusters und dem Generalisieren von übergeordneten Daten dieses Musters.

Rhythmus ist ordnend:

Elfriede Feudel spricht von der statischen und der dynamischen Wirklichkeit. Die statische Wirklichkeit bezieht sie auf die Welt des Beharrenden, Zuständlichen, Dinglichen, während sie unter dynamischer Wirklichkeit den Wandel der Erscheinungen, den Veränderungsprozess versteht, der sich zwischen den Dingen vollzieht. In einer handelnden Auseinandersetzung, welche rhythmisch gestaltet ist, geschieht der ordnende Ausgleich zwischen diesen beiden Welten. Die Gliederung der Gestalt ist es, durch welche die strukturierende Eigenschaft des Rhythmus wirksam wird.

Die ordnende Funktion einer rhythmisch-musikalischen Gestaltung bewirkt u.a., dass der einzelne Teilnehmer für sich Kontrolle und Rückkoppelung über seine Aktivität erfährt. Der Effekt stellt sich sehr oft während des Prozesses von selbst ein, kann aber auch gezielt durch Reflexion erreicht werden. Ein wesentliches Kriterium ist dabei, dass nicht beurteilt, bewertet wird, sondern beschrieben und festgestellt.

Rhythmus ist interdependent. Die einzelnen Perioden einer rhythmischen Gestalt sind wechselseitig voneinander abhängig. Ohne die vorhergehende Sequenz könnte sich keine differenzierte, variierte, erweiterte oder anderwärtig veränderte nächste Sequenz bilden. Die gegenseitige Abhängigkeit ist ein stabilisierender Faktor im sensomotorischen Kreisprozess.

Alle hier aufgezählten Qualitäten des Rhythmus sind Qualitäten, die in kindgemäßer, entwicklungsgerechter pädagogischer Arbeit erforderlich sind. Sie bilden die didaktische Grundstruktur für die Inhalte.

Wiederum ist die schon zweimal dargestellte Entwicklungsdynamik beobachtbar:

Eine Ausgangsstruktur, in der sich zeigt, dass das rhythmische Prinzip eine Reihe von entwicklungsdynamisch relevanten Eigenschaften beinhaltet,

lebensentsprechende Prozesse als positiver Konnex,

Veränderung der Ausdrucksmöglichkeiten in Richtung zunehmend differenzierter Entwicklung der Persönlichkeit,

Unterstützung in Richtung voller Persönlichkeitsreife.

Das Verfahren rhythmisch-musikalische Erziehung basiert auf diesen Eigenschaften. Christina Priebsch stellt die Funktion der rhythmisch-musikalischen Erziehung folgendermaßen dar:

"Rhythmik ist ein Verfahren, das lebenseigene, in der natürlichen Entwicklung strukturell vorhandene, immanente Prozesse in ganz bestimmter, von der Situation erforderter und ihr entsprechender Weise herbeiführen und gestalten kann.

Rhythmisch-musikalische Prozesse produzieren gleichsam Konstellationen von Spannung und Spannungsausgleich, durch die handelnde Auseinandersetzung mit Inhalten und Situationen."

Diese Art der pädagogischen Auseinandersetzung führt zu Lebensformen, die eine Veränderung des Selbstwirksamkeitskonzeptes in Richtung höchstmöglicher persönlicher Reife und Autonomie in der Gemeinschaft ermöglichen. Dies ist die Langzeitperspektive. Im alltäglichen Unterricht gelingt es immer wieder, einfach Daseinsfreude zu wecken. Das ist ein Lebensgefühl, das Kinder heute mehr denn je brauchen. Miteinander etwas Schönes, Befriedigendes bewerkstelligen können, eine einfache gute Leistung gemeinsam zu vollbringen, ein Problem im respektvollen Miteinander zu lösen, schafft Momente der Zufriedenheit und Freude.

Hier wird nicht Lebensnähe simuliert, sondern in diesem Verfahren werden tatsächlich aktiv Entwicklungsprozesse angebahnt, unterstützt und stabilisiert.

Angeführte Literatur:

Feudel Elfriede: Durchbruch zum Rhythmischen in der Erziehung, Klett, 1974

Held Martin / Geißler Karlheinz: Von Rhythmen und Eigenzeiten, S. Hirzel, Wissenschaftl. Verlagsgesellschaft, 1995

Hüther Gerald: Die Macht der inneren Bilder, Vandenhoek & Ruprecht, 2004

Kegan Robert: Die Entwicklungsstufen des Selbst, Kindt Verlag, 1986

Quelle:

Helga Neira-Zugasti: Entwicklungsdynamische Aspekte der Rhythmik. Die Botschaften in kindlichen Aktivitäten - auch mit Bezug auf Kinder mit eingeschränkten Handlungskompetenzen

erschienen in: Berufsverband Rhythmik-Schweiz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.05.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation