Minderheit sichtbar machen: Behinderte Menschen, Barrieren und Diskriminierung

Autor:in - Ursula Naue
Themenbereiche: Recht, Disability Studies
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Zeitschrift "Stimme von und für Minderheiten" No. 58/Frühjahr 2006, 20-21.
Copyright: © Ursula Naue 2006

Minderheit sichtbar machen

Barrieren kann man aus verschiedenen Blickrichtungen betrachten: Man kann auf die Person fokussieren, die etwa aufgrund ihrer Beeinträchtigung in einem Rollstuhl sitzt und nicht in der Lage ist, Stufen zu überwinden, um in ein Gebäude zu gelangen. Man kann jedoch den Blick auch darauf richten, dass beispielsweise keine Rampe vorhanden ist, die es dieser Person ermöglichen würde, in das Gebäude hineinzukommen.

Die beschriebenen Möglichkeiten, an das Problem von Barrieren heranzugehen, entsprechen im Großen und Ganzen zwei unterschiedlichen Modellen von Behinderung, nämlich dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung. Ersteres individualisiert Behinderung, indem es Behinderung primär als medizinisch-körperliches Phänomen eines Individuums sieht. Das soziale Modell hingegen nimmt das Umfeld von Menschen mit Behinderungen in den Blickpunkt der Diskussion und betont die Bedeutung des behindernden gesellschaftlichen Kontexts, in dem behinderte Menschen leben (vgl. Naue 2005: 8). Behinderung nicht bloß als körperliches Merkmal einer Person zu sehen, sondern als sozial konstruiert zu verstehen, ist die Voraussetzung dafür, dass behinderte Menschen als Minderheit sichtbar werden.

Ob also auf die Person und deren Körperlichkeit oder auf das gesellschaftliche Umfeld fokussiert wird, ist nicht bloß eine Definitionsfrage per se, sondern hat weitreichende Auswirkungen auf sozio-politische Praktiken, die sich auf Behinderung und behinderte Menschen beziehen und auf deren Leben auswirken. Diese Praktiken, die Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse sind, ziehen wesentliche ökonomische, politische und soziale Konsequenzen nach sich (vgl. Wendell 1996: 23), die unter anderem dazu führen, dass behinderte Menschen diskriminiert und unterdrückt werden und diese Diskriminierung nicht als solche "verstanden" und betrachtet wird. Während also im eingangs erwähnten Beispiel die körperliche Beeinträchtigung des behinderten Menschen zwar die Möglichkeiten seiner Aktivität einschränkt, ist diese Beeinträchtigung zugleich jedoch nicht für die Behinderung dieser Person konstituierend (vgl. Thomas 2002: 43). Diskriminierung ergibt sich in diesem Kontext aus dem Fokus auf das Individuum und seine "Unfähigkeit", eine Aktivität oder Tätigkeit auszuführen - ein Fokus, der davon ablenkt, dass diese "Unfähigkeit" durch eine gesellschaftlich bedingte, ungleiche Ausgangsbasis im Sinne eines auf behinderte Menschen bezogenen "minority-group model" (vgl. Hahn 2002: 171) hervorgerufen wird.

Behinderung und Diskriminierung

Seit vielen Jahren setzen sich Behindertenorganisationen weltweit dafür ein, dass in den jeweiligen Staaten effektive Anti-Diskriminierungsgesetze formuliert und in Kraft gesetzt werden, die es ermöglichen, soziale Ungleichheiten, die behinderte Menschen betreffen, zu beseitigen oder zumindest zu mildern. Als in diesem Kontext wegweisend gilt der American with Disabilities Act (ADA) des Jahres 1990, auch wenn aus amerikanischer Perspektive etliche Kritikpunkte daran formuliert wurden (vgl. Center & Imparato 2003). So werden etwa die im ADA angewandte Definition von Behinderung und die daraus resultierende rechtliche und politische Praxis ebenso wie mangelnde Durchführungsmechanismen und die beschränkte Auswirkung auf die Arbeitssituation behinderter Menschen kritisiert.

In Österreich wird mit 1.1.2006 nach etlichen Jahren der Diskussion um die Formulierung eines derartigen Anti-Diskriminierungsgesetzes das so genannte Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG; BGBl. I Nr. 82/2005) in Kraft treten. Nicht nur der Inhalt dieses Gesetzestextes soll künftig dazu beitragen, dass in Österreich Diskriminierung aufgrund einer Behinderung beseitigt oder minimiert wird. Auch der Entstehungsprozess des Gesetzes an sich kann als wichtiger Beitrag dazu verstanden werden, Diskriminierung in Bezug auf behinderte Menschen zu reduzieren: Die Beteiligung diverser Behindertenorganisationen am Prozess der Gesetzwerdung zeigt, dass sich einiges im Verhältnis der beteiligten Akteursgruppen im Policymaking in Bezug auf Fragen von Behinderung verändert hat. Die Gewichtung unterschiedlichen Wissens verschiedener Akteursgruppen bezüglich Behindertenpolitik hat sich insofern gewandelt, als dass behinderte Menschen - als von diesem Gesetz unmittelbar Betroffene - ihre Erfahrungen sowie ihr Wissen einbringen konnten.

So wurde im Zuge dieser Einbindung von Betroffenengruppen im Juni 2003 der Entwurf des "Forum Gleichstellung", einem Zusammenschluss von ExpertInnen in Sachen Behindertengleichstellung (Krispl 2002), als Basis des Entwurfs jener Arbeitsgruppe der Bundesregierung im Bundeskanzleramt (Verfassungsdienst) heran gezogen (Krispl 2003), die für die Erarbeitung eines Behindertengleichstellungsgesetzes gebildet worden war. Nichts desto trotz verlief die Einbindung von Behindertenorganisationen in den Gesetzwerdungsprozess letztlich eingeschränkt partizipativ. So wurde im Herbst des Jahres 2003 seitens des Sozialministeriums festgehalten, dass der offizielle Ministeriumsentwurf ohne weitere Mitarbeit behinderter Menschen vonstatten gehen sollte (vgl. Ladstätter 2003). Zwar versuchte unter anderem das "Forum Gleichstellung" im Zuge der Vorlage mehrerer Entwürfe durch das Ministerium im Folgenden, durch Stellungnahmen den endgültigen Text des BGStG noch zu beeinflussen, letztendlich blieben aber die Abänderungsvorschläge mehr oder weniger unberücksichtigt (Forum Gleichstellung 2005). Auch in Analogie zur Kritik am ADA 1990 bleibt für das neue BGStG vorläufig offen, in welchem Ausmaß dieses Anti-Diskriminierungsgesetz tatsächlich soziale Ungleichheiten, die behinderte Menschen betreffen, beseitigen oder verhindern kann.

Gleichstellung statt Gleichbehandlung

Ebenso wie die Kritik an der Definition von Behinderung im ADA 1990 stellt auch jene Kritik an den Entwürfen und der Endversion des BGStG keine "rhetorische oder Geschmacksfrage" (Forum Gleichstellung 2004) dar, sondern betrifft unmittelbar rechtliche und politische Praktiken in Bezug auf Behindertenpolitik. Denn ob beispielsweise das Wort "Gleichbehandlung" anstelle des Wortes "Gleichstellung" (vgl. Forum Gleichstellung 2004) im Gesetzestext verwendet wird, hat ebenso weitreichende Auswirkungen, wie die Frage, wer als behinderter Mensch definiert wird und sich somit auf der Basis dieses Gesetzes gegen Diskriminierung wehren kann.

Während Ministerin Ursula Haubner und Staatssekretär Sigisbert Dolinschek darauf hinwiesen, dass behinderte Menschen "durch das Behindertengleichstellungsgesetz endlich jene Anerkennung und Gleichstellung, die ihnen zusteht, um ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen" bekämen (BMSG 2005), war bereits im Vorfeld der Nationalratssitzung im Juli 2005 mehrfach Kritik am BGStG formuliert worden. Die Kritik bezog sich vor allem darauf, dass die Diskriminierung behinderter Menschen durch das Gesetz nicht beseitigt werden könne, wie dies etwa unzureichende Bestimmungen zur Barrierefreiheit zeigen würden (Österreich für Behindertenrechte 2005). Diese und weitere Kritikpunkte am BGStG, die von Behindertenorganisationen vorgebracht wurden, führten dazu, dass nach dem 6. Juli 2005, an dem das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz im Nationalrat ohne Einbeziehung der Abänderungsanträge beschlossen wurde, seitens behinderter Menschen Enttäuschung über die Formulierung des Textes und dessen zu erwartende Auswirkungen ausgedrückt wurde. So stellt etwa Theresia Haidlmayr (Behindertensprecherin der Grünen) fest: "Mit diesem Gesetz kann das Recht auf Gleichstellung behinderter Menschen nicht wirklich durchgesetzt werden." (Grüne 2005).

Ein Anfang, kein Schlusspunkt

Der Anspruch des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes, die Diskriminierung behinderter Menschen zu beseitigen oder zu verhindern und damit die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbst bestimmte Lebensführung zu ermöglichen, ist in § 1 des Gesetzes festgeschrieben. Um diesem Anspruch auch aus Sicht behinderter Menschen gerecht werden zu können, werden eine Reihe von Verhandlungen, etliche Änderungen sowie auch ein Bündelgesetz notwendig sein, in dem diskriminierende Teile anderer Gesetze beseitigt werden. Wie Michael Landau (Caritas Wien) festhält, "Es geht um Rechte, nicht um Mitleid" (Caritas 2005), in deren Kontext eine barrierefreie und nicht-diskriminierende Umwelt tatsächlich durchgesetzt werden kann.

Literaturliste

BMSG (2005). Haubner/Dolinschek: Behindertengleichstellungsgesetz passiert Verfassungsausschuss. http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=6114

Caritas (2005). Landau zu Behindertengleichstellungsgesetz: Muster mit Schönheitsfehlern. http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=6132

Center, C. & Imparato, A. J. (2003). Redefining "disability" discrimination: A proposal to restore civil rights protections for all workers. Stanford Law & Policy Review, 14, pp. 321-345.

Forum Gleichstellung (2004). Stellungnahme des Forum Gleichstellung. 24. März 2004. http://www.gleichstellung.at/ag/texte/forum_stell_040324.doc

Forum Gleichstellung (2005). Stand der Gesetzwerdung: Behinderten-Gleichstellungsgesetz. http://www.gleichstellung.at/ag/index.php?auswahl=F

Grüne (2005). Haidlmayr enttäuscht über schwaches Behindertengleichstellungsgesetz. http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=6139

Hahn, Harlan (2002). Academic Debates and Political Advocacy: The US Disability Movement. In: Colin Barnes, Mike Oliver and Len Barton (eds.): Disability Studies Today. Polity Press: Cambridge: 162-189.

Krispl, M. (2002). Die erste Plenartagung des "Forum Gleichstellung" fand am 25. September in Wien statt. http://www.gleichstellung.at/news.php?nr=129

Krispl, M. (2003). Wird 2004 das Geburtsjahr des Österreichischen Behindertengleichstellungsgesetzes? http://www.gleichstellung.at/news.php?nr=4810

Ladstätter, M. (2003). Der schwierige Weg zu einem Behindertengleichstellungsgesetz. http://www.gleichstellung.at/news.php?nr=4675

Naue, Ursula (2005). Biopolitik der Behinderung: die Macht der Norm und des "Normalen". Politix 19/2005: 7-12. http://www.semiosis.org/philosophie/politix19-2004

Österreich für Behindertenrechte (2005). Behindertengleichstellung: Diskriminierungen prolongiert. http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=6107

Thomas, Carol (2002). Disability Theory: Key Ideas, Issues and Thinkers. In: Colin Barnes, Mike Oliver and Len Barton (eds.): Disability Studies Today. Polity Press: Cambridge: 38-57.

Wendell, Susan (1996). The Rejected Body. Feminist Philosophical Reflections on Disability. Routledge: New York - London.

Autorin

Ursula Naue ist Politikwissenschafterin, Lektorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, sowie Mitarbeiterin des vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderten Projekts "Behinderung, Identität und Politik" am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien

Quelle:

Ursula Naue: Minderheit sichtbar machen: Behinderte Menschen, Barrieren und Diskriminierung

erschienen in: Zeitschrift "Stimme von und für Minderheiten" No. 58/Frühjahr 2006, 20-21.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.02.2008

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