Integrative Schulpädagogik.

Grundlagen, Theorie und Praxis.

Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © Norbert Myschker, Monika Ortmann 1999

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Norbert Myschker, Monika Ortmann (Hrsg.)

Titel:Integrative Schulpädagogik. Grundlagen, Theorie und Praxis

Infos: Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1999; 285 Seiten; ISBN: 3170151231; EUR 22,50

Themenbereich: Theorie, Grundlagen, Praxis

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Andreas Hinz

Der Band "Integrative Schulpädagogik" von Myschker und Ortmann verspricht eine Einführung in die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung zu geben, zudem kann dem Untertitel entsprechend erwartet werden, dass er ihre wesentlichen Theorien und Praxiserfahrungen beleuchtet.

Wer nun das Inhaltsverzeichnis betrachtet, gerät in Verwunderung: Das Thema wird nach zwei allgemeinen Beiträgen entsprechend den traditionellen sonderpädagogischen Fachrichtungen bzw. Sonderschularten gegliedert dargeboten - spätestens seit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur sonderpädagogischen Förderung (1994) und der zunehmenden Problematisierung dieser Systematisierung entsprechend medizinischen Defektkategorien ein obsoletes Vorgehen. Schwer nachzuvollziehen ist insbesondere, dass sich die Integrationsfrage bei Sehbehinderten und Blinden anscheinend derart unterschiedlich darstellt, dass ihnen zwei Kapitel gewidmet werden, während dies bei Schwerhörigen und Gehörlosen in einem geschieht. Die Fachrichtungssystematik führt denn auch zu mehrfach wiederholten Darstellungen in diversen Beiträgen, etwa über die ersten integrativen deutschen Grundschulen. Doch der Reihe nach.

Im ersten übergreifenden Beitrag geben die HerausgeberInnen einen Überblick zur "Gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung". Nachdem sie zunächst Tendenzen von Emotionalisierung und Ideolologisierung in dieser kontroversen Debatte beklagen und zu einem sachlichen Diskurs aufrufen, stellen sie die Kontroverse dar als eine, die zwischen "Verfechtern einer 'totalen Integration', den 'radikalen Integrationisten'", die mit dem Slogan 'Integration ist unteilbar' eine "apodiktische, ja demagogische Behauptung" aufstellen (S. 4), und Vertretern eines Standpunktes "differenzierter Organisation" (S. 12), den "moderaten Differentialisten" (S. 13), die ein "gestuftes System pädagogischer Förderung" favorisieren (S. 4). Logischerweise schließen sich die HerausgeberInnen dem zweiten Standpunkt an, denn wer will schon in einem geforderten sachlichen Diskurs als Demagoge dastehen. So erfüllen die AutorInnen ihren eigenen Anspruch auf Sachlichkeit nicht, denn eine solche Darstellung der Kontroverse schließt unmittelbar an die Zeit krasser ideologischer Auseinandersetzungen in den frühen 80er Jahren an, in denen beispielsweise in einem Vortrag in Berlin von der 'totalisierten Integration als Endziel' gesprochen wurde - man hätte vermuten können, dass solche ideologischen Entgleisungen Ende der 90er Jahre überwunden wären.

Im gleichen Beitrag wird die Integrationspädagogik als 'begriffslogischer' Bestandteil der Sonderpädagogik gekennzeichnet, da es hier um Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gehe (S. 5) und die Sonderpädagogik immer schon Integration gewollt habe (S. 6 f.). Hier tritt wiederum Verwunderung ein, diesmal in zweierlei Hinsicht: War es nicht auch und besonders die Sonderpädagogik, die über die Theorie der Andersartigkeit ihrer Klientel und deren spezifische Bedürfnisse die institutionelle wie anthropologische Trennung zwischen Normalen und Anormalen wissenschaftlich absichern half? Sicherlich hat es immer wieder VertreterInnen mit integrativer Orientierung gegeben, aber dominiert haben sie die Entwicklung der Ausdifferenzierung in Schulsystem und Wissenschaft nicht, sonst hätte sich nicht die immer noch vorrangig vorhandene Sichtweise der ausschließlichen Unzuständigkeit der Schulpädagogik und die ergänzende ausschließliche Zuständigkeit der Sonderpädagogik für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen entwickeln können. Und Integrationspädagogik mit ihrem spezifischen Fokus auf das gemeinsame Leben und Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen zum integralen Bestandteil von Sonderpädagogik machen zu wollen, stellt nicht nur einen Fall von historischer Legendenbildung dar, sondern zeugt auch von einem höchst verkürzten Begriff von Integration, der in der o. g. Trennung steckenbleibt, sie zur rein schulorganisatorischen Veränderung gerinnen lässt und Gemeinsamkeiten zwischen den SchülerInnen mit und ohne zugewiesenem sonderpädagogischen Förderbedarf gerade nicht in den Blick bekommt. Diese traditionelle Theorie der Andersartigkeit von Menschen mit Behinderungen wird sogar explizit bestätigt, wenn darauf hingewiesen wird, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf "grundsätzlich verschiedene Förder- und Entwicklungsbedürfnisse" (S. 13, Hervorhebung A.H.) hätten als andere. Hier wird so getan, als sei immer noch jede schulische Veranstaltung mit behinderten Kindern automatisch und zu allererst eine Sache der Sonderpädagogik, und das in einem Buch, in dessen Titel der Begriff Schulpädagogik das bestimmende Element ist!

Der Einführungsbeitrag - er legt die Basis für alles weitere - schließt mit einem Hinweis auf die Bedeutung einer integrativen Didaktik - so weit so richtig. Dass hier jedoch keinerlei Verweis auf die bisher entwickelten Ansätze integrativer Didaktik gegeben wird, seien es die von Feuser, Reiser, Meier, Wocken oder von anderen, läßt nun nicht mehr nur Verwunderung, sondern Ärger entstehen. Wo, wenn nicht im einführenden Beitrag zu diesem Band, sollte eine Aufarbeitung der wesentlichen theoretischen Ansätze dieses Arbeitsbereiches in Bezug auf Didaktik stattfinden? Dies gilt indes leider nicht nur für didaktische Ansätze, sondern auch für jedwede integrationspädagogische Theorieentwicklung: Weder findet sich im einführenden Beitrag ein Verweis auf die Theorie des gemeinsamen Gegenstandes (Feuser), noch auf die Theorie integrativer Prozesse (Reiser), noch auf den öko-systemischen Ansatz (Sander), geschweige denn auf die inzwischen entwickelten Ansätze einer Pädagogik der Vielfalt (Hinz, Prengel, Preuss-Lausitz) - damit sind die wesentlichen theoretischen Ansätze dieses Arbeitsbereiches nicht vertreten. Hier tun sich enorme Lücken auf, die für ein Buch, das eine Einführung in "Grundlagen, Theorie und Praxis" (Untertitel) darstellen will, unerklärlich sind. Es mag damit zu tun haben, dass die AutorInnen des einführenden Beitrages in sonderpädagogischen Fachrichtungen beheimatet sind und der einzige Beitrag eines Allgemeinen Sonderpädagogen (Antor) sich auf die Normenfrage beschränkt.

Strukturierung und Einführungsbeitrag machen deutlich, dass es sich hier nicht um ein Buch handelt, in dem Schulpädagogik mit integrativer Orientierung skizziert wird und etwa notwendige Veränderungsprozesse in der allgemeinen Schule oder Probleme der Kooperation und Verzahnung zwischen Schul- und Sonderpädagogik thematisiert werden - all dies lässt der Titel vermuten - , sondern um ein Buch, das in die sonderpädagogischen Fachrichtungen einführt und von dort aus die gemeinsame Erziehung von weitgehend sonderschulischen Standpunkten aus kritisch betrachtet. Diese Grundlinie zieht sich mehr oder minder deutlich durch einen großen Teil der Beiträge.

Einzelnen Beiträgen, etwa über Körperbehinderte (Ortmann) oder über Blinde und Sehbehinderte (Rath), ist eine intimere Kenntnis der Theorie- und Praxisentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts in Bezug auf die eigene Fachrichtung anzumerken, in anderen dagegen tauchen deutliche Probleme auf: So fällt z.B. der Beitrag über Geistigbehinderte (Mühl) durch selektive Literaturwahrnehmung auf, so dass dann integrative Modelle mit gemischten Klassen kurz und pauschal, kooperative Modelle mit ausgelagerten Sonderschulklassen in allgemeinen Schulen und punktuellen Begegnungen dagegen detailliert dargestellt werden (S. 167 ff.). Im Beitrag über Sprachbehinderte (Braun) werden die entwickelten integrativen Ansätze (Krämer-Kilic, Lüthje-Klose) immerhin detaillierter wahrgenommen, jedoch letztlich als pädagogisch leichtfertig und unrealistisch, weil LehrerInnen überfordernd, hingestellt (S. 235). Und schließlich findet sich im Beitrag über Lernbehinderte (Schröder) die kaum zu glaubende pauschale Behauptung, dass Integration Lernbehinderter bis heute nicht vollzogen sei, sondern sich nur auf jene Kinder mit leichten Lernproblemen beziehe, die ohnehin in die allgemeine Schule gehörten (S. 204); hier fallen überdies auch persönlich beleidigende Äußerungen über Fachkollegen (S. 208).

Nirgendwo wird jedoch die Frage nach der Möglichkeit oder auch Notwendigkeit der Veränderung von sonderpädagogischer Theorie und Praxis gestellt. Die Devise heißt anscheinend: Ausdehnung von Sonderpädagogik in die allgemeine Schule hinein - ohne jegliche Veränderung. Nirgendwo tauchen die Chancen durch die heterogene Lerngruppe und ihr Anregungsmilieu für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf als zentrales Potential integrativer Erziehung auf. Das ist kein förderlicher Beitrag zu einer "integrativen Schulpädagogik".

Das vorliegende Buch hat den falschen Titel; vielleicht hätte es heissen können: "Integration - Mythos und Realität im kritischen Licht sonderpädagogischer Fachrichtungen". Es kann für diejenigen empfohlen werden, die sich mit einer konservativen Haltung in der Sonderpädagogik zur Integrationsfrage auseinandersetzen wollen und eine vorwiegend abwehrend-distanzierte Sicht kennenlernen möchten. Für eine Einführung in Fragen integrativer Pädagogik eignet sich deutlich mehr das von Hans Eberwein inzwischen in fünfter Auflage 1999 herausgegebene "Handbuch der Integrationspädagogik", in dem zahlreiche ExpertInnen dieses Gebietes wichtige theoretische Beiträge leisten und Praxiserfahrungen reflektieren.

Prof. Dr. Andreas Hinz

Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg

Institut für Rehabilitationspädagogik

Allgemeine Rehabilitationspädagogik/Integrationspädagogik

Postfach

06099 Halle (Saale)

Quelle:

Rezensiert von Andreas Hinz

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 30.03.2006

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