Schulpädagogik

Einführung in ihre aktuellen Fragestellungen

Autor:in - Jakob Muth
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in der Reihe: neue pädagogische bemühungen, Band 75, Herausgeber: Prof. Dr. Werner Loch, Prof. Dr. Jakob Muth. ISBN-Nr. 3-87964-220-6
Copyright: © Neue Deutsche Schule Verlagsgesellschaft mbH, Essen 1978

Vorwort

Noch im 19. Jahrhundert hatten Philosophen an den Universitäten auch die Pädagogik zu vertreten, so z.B. Immanuel Kant. Die Pädagogik hatte in ihrer wissenschaftlichen Vertretung noch keine Eigenständigkeit. Der Nachfolger Kants auf dem philosophischen Lehrstuhl in Königsberg war Johann Friedrich Herbart, der als einer der großen Pädagogen des vorigen Jahrhunderts angesehen wird. Er nahm seinen pädagogischen Lehrauftrag ebenso ernst wie den philosophischen, für den er berufen worden war. Erst in unserem Jahrhundert kam es zu einer eigenständigen Vertretung der Pädagogik an den Universitäten, und zugleich differenzierte sich der weite Bereich der Pädagogik in eine Reihe von Einzeldisziplinen: z.B. die Systematische und Historische Pädagogik, die Erwachsenenbildung und die Wirtschaftspädagogik, die Sozialpädagogik und die Vergleichende Pädagogik und schließlich auch die Schulpädagogik. Es ist deshalb nicht abwegig, wenn anstatt von Pädagogik von Erziehungswissenschaften gesprochen wird.

Die Aufgabe der Lehre und der Forschung in den Hochschulen und Universitäten führte in der Zeit nach dein Zweiten Weltkrieg, vor allem im Zusammenhang mit dem Auf- und Ausbau der Pädagogischen Hochschulen, zu einer Abgrenzung der einzelnen Teildisziplinen und zu einer Ausarbeitung ihrer jeweils spezifischen Inhalte. In diese Entwicklung gehören für die Schulpädagogik die Kapitel der vorliegenden Broschüre. Sie sind aus Vorträgen hervorgegangen, die jeweils Antwort zu geben versuchten auf aktuelle Fragestellungen.

Das gilt für das Problem der Methode in der Schule, das sich heute anders stellt als vom Beginn der Neuzeit an, weshalb die Annahme berechtigt ist, daß sich das Methodendenken in einem Umbruch befindet. Es gilt in anderer Weise für Unterrichtsmedien, die in jüngster Vergangenheit in vielfältiger Form entstanden sind, das Buch aus seiner vorherrschenden Stellung verdrängt haben und nun den Unterricht bestimmen, weshalb es wichtig ist, daß Beurteilungs- und Auswahlkriterien für Medien entwickelt werden. Eine solche aktuelle Antwort ist auch die Auseinandersetzung mit der Differenzierung des Unterrichts, denn sie kam erst mit der Entwicklung Integrierter Gesamtschulen in das Zentrum der schulpädagogischen Diskussion, und das wissenschaftliche Bemühen um die Möglichkeiten und Grenzen eines differenzierten Unterrichts hat eigentlich erst begonnen. Eine solche Aktualität kommt aber auch dem Sachunterricht zu, der im Raum der Curriculumentwicklung Bedeutung gewonnen hat und in dem unter anderem der Versuch zu sehen ist, gegen die problematische Verfachlichung des Unterrichts die Idee der Konzentration durchzusetzen. Schließlich ist in der Prüfung der Möglichkeiten für eine Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht eine Antwort zu sehen, denn parallel zur Differenzierung der Pädagogik in Einzeldisziplinen vollzog sich die Institutionalisierung spezieller Sonderschulen, die bedenkliche Formen angenommen hat.

Bezeichnenderweise liegen bis heute nur Einführungen in die Schulpädagogik oder Darstellungen von Einzelfragen aus der Schulpädagogik vor. Auch die einzelnen Kapitel der vorliegenden Broschüre ergeben keine geschlossene Konzeption für die Schulpädagogik. Dennoch enthalten sie die Substanz für eine zu entwickelnde aktuelle Pädagogik der Schule.

Methode der Schule im Umbruch[1]

In seinem Buch "Existenzphilosophie und Pädagogik" beklagte Otto Friedrich Bollnow im Jahre 1959, daß die Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg "durch eine erschreckende Impuls- und Ideenarmut" gekennzeichnet sei, daß ihr der enthusiastische Schwung fehle, der die zwanziger Jahre ausgezeichnet habe [2]. Eine solche Feststellung ist sicher berechtigt, wenn man an die zwanziger Jahre als das Jahrzehnt der großen pädagogisch-systematischen Entwürfe denkt, die von Nohl über Kerschensteiner bis zu Georg Reichwein reichen, und diese Feststellung hat sicher ihre Richtigkeit im Blick auf die Schulreform der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, der Arbeitsschulbewegung zum Beispiel oder der Landerziehungsheimbewegung oder der Richtung, die eine Gründung von Lebensgemeinschaftsschulen erstrebte. Unsere Zeit ist einerseits durch eine größere Nüchternheit charakterisiert, der die Unbefangenheit zum Entwurf großer pädagogischer Systeme abgeht und die vornehmlich den realen Möglichkeiten im Bereiche der Erziehungswirklichkeit zugewandt ist, weniger aber den naturalistischen Formen erzieherischen Handelns der Schulreformbewegung vom Beginn unseres Jahrhunderts; andererseits ist sie durch ein entschieden stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement gekennzeichnet, das besonders schulstrukturelle Entwürfe hervorbringt, als das in den zwanziger Jahren der Fall war.

Gerade diese Nüchternheit, man könnte auch von einer neuen Sachlichkeit sprechen, und das gesellschaftspolitische Engagement haben eine Reihe fruchtbarer Ansätze in den letzten Jahren in die pädagogische und didaktische Diskussion gebracht, die es möglich werden lassen, Bollnows These nicht mehr so einfach mit zu vollziehen. Im übrigen hat Bollnow selbst durch sein Bemühen um eine Begegnung von Existenzphilosophie und Pädagogik der pädagogischen Diskussion neue Möglichkeiten erschlossen. Aus dem Umkreis der neuen Ansätze soll hier das Problem der Methode in der Schule zur Sprache gebracht werden, denn unverkennbar zeichnet sich in der Methodologie im allgemeinen und im Methodendenken der Pädagogik im besonderen ein Umbruch ab, der über eine bald vierhundertjährige verfestigte Tradition hinausgeht und weiterführende Sichtweisen des Methodenproblems eröffnet.

Grundzüge des Methodendenkens vom Beginn der Neuzeit

Der historische Anfang des Methodenproblems, mithin also der Beginn einer Diskussion der Methode, ist eingebettet in den Aufbruch der Neuzeit; und wenn man nach der Erscheinung fragt, die den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit am stärksten kennzeichnet, so wird man auf die Methode verwiesen und überhaupt auf das Methodendenken. Ja man kann geradezu sagen: Das neuzeitliche Denken setzt am Methodischen ein"[3]. Im Problem der Methode koinzidieren gewissermaßen alle Ereignisse, die gemeinhin als Kennzeichen für das Aufkommen einer neuen Epoche angesehen werden. Erfindungen und Entdeckungen sind ohne den umgreifenden Horizont des Methodendenkens nicht möglich, und selbst die Herauslösung des Menschen aus dem Ordo der mittelalterlichen Welt, die Entdeckung der Würde des Menschen, die im ersten Humanismus ihre erste Ausformung fand, läßt sich wesentlich aus der Sicherheit erklären, die das Methodendenken den Menschen jener Zeit gewährt. Denn es ist der neuzeitliche Mensch, der sich der Methode versichert und der sich auf der Grundlage dieser Versicherung über die Natur erhebt, der zum Herrn der Natur wird, der alles Seiende in seine Verfügung bringt. Es ist der neuzeitliche Mensch, der, wie Petrarca in seinem berühmten Brief über die Besteigung des Mt. Ventoux sagt, achthaben soll auf sich selbst; wir könnten ergänzen: um seiner selbst willen, denn diese Reflexivität, die Rücksichtnahme auf sich selbst, auf eigene Wünsche und Strebungen, charakterisiert das Denken am Beginn der Neuzeit.

Besonders die Philosophie, die Mathematik und die Naturwissenschaften waren am Beginn der Neuzeit von dem Enthusiasmus der Methode besessen. Man muß in diesem Zusammenhang besonders hinweisen auf Bacon, Galilei und Kepler, die das Buch der Natur" lesbar gemacht haben, das heißt mathematisch lesbar. Sie waren erfüllt von der Mathematisierbarkeit der Natur und glaubten sich im Besitz der rechten Methode, mit deren Hilfe die geheimsten Schöpfungspläne erschlossen und in die Verfügbarkeit des Menschen gebracht werden könnten. Der Mensch wollte alles, aber auch alles, in seinen Dienst stellen, man kann schon sagen: in seinen Dienst zwingen. Von Anfang an hat also die Methodologie eine positivistische Note.

Was kennzeichnet nun die Methode am Beginn der Neuzeit? Was ist die Grundstruktur der Methode? - Drei Grundzüge lassen sich herausstellen, die zwar ineinanderliegen, hier aber für das bessere Verständnis gesondert angesprochen werden sollen (wir halten uns für die Aussage dieser Grundzüge an Formulierungen aus dem "Discours de la Methode", jener klassischen Schrift zum Problem der Methode, die Descartes 1637 veröffentlicht hat):

a) Es geht darum, jedes Problem in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist«. Anders ausgedrückt: Es geht um die kleinste, nicht mehr auflösbare Einheit, um den kleinsten Schritt, der die Erreichung eines Großen sichert.

b) Es geht um eine Methode, "die zur Erkenntnis aller Dinge führt". Nicht verschiedene Methoden sind demnach das Ziel der philosophischen Bemühung, sondern die Methode schlechthin.

c) Es geht darum, die Methode überhaupt nicht an "Gegenstände zu binden, damit ... sie nachher um so besser auf alles andere" angewandt werden kann. Und das heißt mit anderen Worten: Es geht um eine Verselbständigung der Methode [4].

Auch diese Grundzüge lassen sich in wenigen Strichen in einen weiteren geistesgeschichtlichen Horizont stellen, aus dem heraus der Enthusiasmus des Methodendenkens zur Einsicht kommt, denn die Zeitalter sind ihrer Natur nach verschieden, wie Dilthey formulierte; jedes trägt aber einen Zusammenhang verwandter Ideen in sich, die in den verschiedensten Gebieten regieren. Dieser Zusammenhang verwandter Ideen liegt am Beginn der Neuzeit in besonderer Weise im Methodenproblem. So hätten wir an Stelle von Descartes auch auf Spinoza zurückgreifen können, denn in seiner rationalistischen Philosophie wird die Wirklichkeit auf wenige Axiome zurückgeführt, gleichsam auf letzte Einheiten, auf kleinste Schritte, die die Verfügbarkeit des Unendlichen sichern.

Josef Dolch weist in seinem "Lehrplan des Abendlandes einem der bedeutenden historischen pädagogischen Werke der letzten Jahrzehnte, darauf hin, daß die Versicherung des kleinen Schrittes, den die Methodologie vornahm, im 17. Jahrhundert das Kontinuum der Zahlenwelt entstehen ließ. "Bis dahin hatte man nur die ganzen Zahlen und einige Brüche, jetzt schließen sich die Lücken mit dem Sieg der Dezimalbrüche, mit den unendlichen Reihen, der Theorie und Praxis der Logarithmen. Ähnliches begegnet uns in der Geometrie jener Zeit. Johannes Kepler rechnet erfolgreich mit der Hilfsvorstellung der ,unendlich kleinen Größe' ... Leibniz entwickelt dann im letzten Drittel des Jahrhunderts aus solchen Ansätzen die Differential- und Integralrechnung, das Rechnen mit dem unendlich Kleinen und Großen" [5].

Man kann darüber hinaus an das 17. Jahrhundert als das klassische Zeitalter der Mühle denken. Auch in ihr sichert der kleine stetige Schritt die unendliche Bewegung. Selbst bis in die Architektur hinein geht der Enthusiasmus der Methode. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daß Descartes in seinem "Discours" die tradierte Wissenschaft mit dem unregelmäßigen, planlosen, unmethodischen Bau mittelalterlicher Städte vergleicht, um die Gründe für den bis in Details geplanten, methodisierten Bau der Städte absolutistischer Herrscher einzusehen. Mannheim und Karlsruhe sind Beispiele dafür.

Von dem Enthusiasmus der Methode wurde auch die Pädagogik ergriffen. Es ist darum durchaus kein Zufall, daß sich am Beginn des 17. Jahrhunderts die Didaktik als eine wissenschaftliche Disziplin etablieren konnte, und es ist kein Zufall, daß die ersten großen Didaktiker, Ratke und Comenius, unmittelbare Zeitgenossen von Descartes, Spinoza, Kepler, Bacon, Galilei und auch noch Leibniz waren, wiewohl ihre Schriften zeitgleich erschienen sind. Aus der Sicherheit heraus, die das Bewußtsein gibt, im Besitz der rechten Methode zu sein, konnte Ratke 1612 vor dem Reichstag in Frankfurt wie ein Geheimkünstler auftreten, der versprach, alle alles zu lehren. (Ihn unterstützte ein so bedeutender Wissenschaftler wie Christoph Helwig von der Universität Gießen.) Der gleiche Anspruch findet sich auch im Titel der Didactica magna" des Comenius. Halten wir uns vorläufig an die "Didactica magna", um jener drei Grundzüge der Grundstruktur methodischen Vorgehens ansichtig zu werden:

a) Der erste Grundzug ist die Bedingung der beiden folgenden. Bei Comenius spricht er sich im siebten Prinzip der allgemeinen Erfordernisse des Lehrens in der "Didactica magna" so aus: "Natura non facit saltum, gradatim procedit. - Die Natur macht keinen Sprung, sie geht schrittweise vor. "

b) Die Propagierung einer allgemeingültigen Methode ist bei Comenius u.a. in die Worte gefaßt: Deshalb werden wir darauf sehen müssen, daß von nun an ... ein und dieselbe Methode bei dem Unterricht in allen Wissenschaften, ein und dieselbe für alle Künste, ein und dieselbe für alle Sprachen angewandt werde. "

c) Damit in engem Zusammenhang steht die Verselbständigung der Methode auch bei Comenius, ihre Unabhängigkeit von den Sachverhalten, die es methodisch zu eröffnen gilt. Er erklärt es als falsch, daß "z.B. Grammatik anders als Dialektik unterrichtet wird, während das doch in gleichförmiger Weise gelehrt werden kann" [6].

In der Wendung "gradatim procedit" des ersten Grundzuges ist die klassische Formulierung jenes Prinzips gegeben, das Leibniz später als "principium continuitatis" in die Philosophieeingeführt hat. Verstehen läßt sich dieser Grundzug der Methode aus dem naturphilosophischen Analogismus des Comenius. Er sah die Gesetzmäßigkeiten in der Natur als in einer Analogie zur Entwicklung des Menschen stehend. Und immer orientiert er in seinen pädagogischen und didaktischen Schriften das, was er für die Erziehung des Menschen sagen will, an Vorgängen in der Natur, weil für ihn "gewiß der Satz als wahr gelten muß, daß die Kunst nur durch die Nachahmung der Natur etwas zu leisten imstande ist". Jene "Ordnung, die für die Kunst, alles zu lehren und zu lernen, durchweg maßgebend sein soll, (kann und darf) nicht anderswoher als von der Natur als Lehrmeisterin genommen werden" [7].

Diese Naturauffassung des Comenius ist, wenn auch in jeweils modifizierter Form, von Montaigne über Rousseau und Pestalozzi bis zu Ellen Key und Berthold Otto in unserem Jahrhundert durchgehalten worden.

Was besagt nun der Satz "Natura non facit saltum" für die Methode in der Schule?

Ähnlich wie in der Natur bei der Entwicklung der Tiere und Pflanzen, das sind Beispiele, auf die Comenius immer wieder rekurriert, soll auch im Unterricht schrittweise, stetig und nicht sprunghaft vorgegangen werden. Dabei ist wesentlich, den kleinen bemessenen Schritt zu bestimmen, der sich in den Zusammenhang vieler Schritte fügt, die zur Erreichung eines großen Zieles begangen werden müssen. Es sollte, wie es der griechische Ursprung des Begriffes Methode sagt - so hatte ihn später Herbart in seiner Artikulation des Unterrichts noch verstanden -, für den Unterricht ein Weg in vielen kleinen kontinuierlichen Schritten auf ein vorgegebenes Ziel hin festgelegt werden. Dieses Infinitesimalprinzip ist das ganze Geheimnis der Didaktiker des 17. Jahrhunderts, wie es überhaupt das Geheimnis der Methodologie vom Beginn der Neuzeit ist. Sicher hat Dietrich Mahnke, der Marburger Philosoph unseres Jahrhunderts, am tiefsten in diesen Zusammenhängen gedacht. Er nannte die Methode des Comenius eine "exakte Methodenmaschine", und nicht von ungefähr hat Comenius das methodische Vorgehen immer wieder am Uhrwerk, am mechanischen Vorgang des Buchdrucks und an anderen technischen Apparaten orientiert. ja, er sprach selber von einer "Machina didactica", die, so Mahnke, "bei der Ausbildung der Sinne und der Vernunft, beim Unterricht des Verstandes und der Erziehung des Willens überall mit gleich natürlicher Notwendigkeit ihr Werk verrichtete, fast so gut wie die von der göttlichen Vernunft vollkommen konstruierte mathematische Weltmaschine. Weiterkann die universelle Mechanisierung der Jugendbildung wohl kaum getrieben werden" [8].

Es soll hier keinesfalls um eine Abwertung der didaktischen Bemühungen des Comenius gehen. Sie sind in seiner Zeit ebenso gebunden, wie unser Denken der historischen Aktualität der Gegenwart verhaftet ist; und zum anderen sind sie hier losgelöst von seinem pansophischen System dargestellt und darum in gewisser Weise verstellt. jedenfalls hatten die didaktischen Bemühungen des Comenius, gerade weil sie in seiner Nachfolge unabhängig von seiner Pansophie aufgegriffen wurden, entscheidende Konsequenzen in der Schulwirklichkeit bis in unsere Zeit; und darauf muß es uns hier ankommen.

Denn hier hat zum Beispiel der Klassenblock seinen Ursprung, in dem die Kinder unabhängig von ihrer jeweiligen Individuallage frontal alle von einer Stufe zur anderen kleinschrittig geführt werden, ganz gleich, ob es sich, wie in unserer Zeit, um eine jahrgangsklasse handelt oder, wie in der unmittelbaren Nachfolge des Comenius, um eine Fachklasse. Von hier bezieht das synthetische Lesen seine Konzeption, denn der Buchstabe oder der Laut, das ist eben der kleine bemessene Schritt, der das Erreichen der Lesefähigkeit sichern soll. Hieraus erklärt sich das zählmethodische Vorgehen im elementaren Mathematikunterricht noch eines Johannes Kühnel in unserem Jahrhundert. Selbst der Stundenaufbau in kleinen Schritten oder bemessenen Stufen läßt sich aus der Methodologie des 17. Jahrhunderts ableiten, wiewohl die methodische Kunst des Lehrers noch gemeinhin darin gesehen wird, einen Sachverhalt in viele kleine, für das Kind leicht verdauliche Häppchen aufzuteilen; man denke dazu etwa an die Theorie und Praxis des Programmierten Unterrichts, der in unserer Zeit zu einem Schwerpunkt der pädagogischen und didaktischen Diskussion werden konnte.

Selbst Pestalozzi erlag der Faszination der Methode. Im Vertrauen auf die Sicherheit, die das Verfolgen des kleinen bemessenen Schrittes scheinbar gewährleistet, konnte er Glayre ostentativ umarmen, als dieser sagte: "Vous voulez mécaniser l'éducation." Dabei war doch gerade er von einer Mechanisierung der Erziehung weit entfernt [9].

Es nimmt nicht wunder, daß unter dem Einfluß des Positivismus im 19. Jahrhundert in der Schule der Herbartianer die methodische Konzeption vom Beginn der Neuzeit ihre größte Ausformung fand. jene Grundstruktur der Methode, die wir angesprochen haben, ist in den formalen Stufen des Unterrichts zum Beispiel von Wilhelm Rein enthalten, und sie lebt weiter in den Schemata für die Vorbereitung von Unterrichtsstunden, wie sie etwa von Scheibner über Eggersdorfer bis in die Gegenwart hinein propagiert werden. Formale Stufen und formale Methoden, das besagt Verabsolutierung und Verselbständigung der Methode, besagt, daß Methode als eine immer identische in gleicher Weise für alle Sachverhalte des Unterrichts und in allen Fachbereichen Gültigkeit haben und allgemein anwendbar sein müsse.

Dahinter steht die optimistische und positivistische Fiktion, als ob den vom Lehrer intendierten Lehrstufen in jedem Falle bestimmte Lernstufen des Kindes adäquat seien, als ob sich das Lehren des Lehrers und das Lernen des Kindes absolut synchronisieren ließen. Dabei ist es doch faktisch so, daß immer eine Inkongruenz zwischen den Maßnahmen des Lehrens und ihren Wirkungen im Kinde angenommen werden muß, zumal sich eine Einsicht im Lernprozeß weder vom Lehrer für das Kind noch vom Kind für sich selbst willentlich erreichen und erzwingen läßt. Jede Einsicht wird vielmehr zuteil, man wird von ihr ergriffen, nicht aber ergreift man sie, wie es in der Verpflichtung tradierten metaphysischen Vorstellungen gegenüber noch gemeint ist. Gerade darum ist das Lernen wesentlich, von seinem Wesen her, ereignishaft. Und in der Orientierung an dieser Ereignishaftigkeit des Lernens wird der Umbruch im methodischen Denken deutlich. Ihm müssen wir uns nun zuwenden.

Infragestellung der Grundzüge des Methodendenkens

1. Einsetzen können wir auch hier wiederum bei Comenius, um zuerst dem Grundzug des kleinschrittigen Vorgehens beizukommen. 1960 ist erstmals sein über Jahrhunderte verschollenes Alterswerk, die "Pampaedia", in Deutschland erschienen. Zwar ist er weithin in diesem Werk, was didaktische Zusammenhänge anbelangt, nicht über die "Didactica magna" hinausgekommen; an einzelnen Stellen jedoch zeigen sich neue Perspektiven. An einer bezeichnenden Stelle, mit der Comenius sagen will, daß alles schnell gelernt werden soll, zieht er die Strategie Alexanders des Großen als Vergleich heran.

"Hatte er eine Stadt oder ein Volk besiegt, hielt er sich dort nicht auf oder ruhte sich aus wie Hannibal in Campanien, sondern er strebte immer weiter. Er eroberte nicht jede einzelne Stadt und Burg - dazu hätte sein Leben nicht gereicht -, sondern nur die wichtigsten. Nach ihrer Überwindung ergaben sich die anderen von selbst" [10].

Durch diese Modellvorstellung - als eine solche muß man diese Stelle ansehen - ist man in einer überraschenden Weise an die Theorie des exemplarischen Lehrens erinnert, sofern sie nicht nur als "Mut zur Lücke", sondern als Korrespondenz der Unstetigkeit und Ereignishaftigkeit des Lernens aufgefaßt wird. Im exemplarischen Lehren und Lernen geht es nicht um ein stetiges, kleinschrittiges Vorgehen, sondern um das Ereigniswerden ausgewählter Stützpunkte, von denen her sich die Bereiche des Geistigen im ganzen eröffnen. Und einem solchen, gewissermaßen unstetigen Vorgehen redet Comenius hier das Wort. Nach seiner Auffassung konnte das strategische Vorgehen Alexanders auch nicht auf eine absolute Kontinuität gerichtet sein, und das Besetzen einer fremden Burg war nicht ohne weiteres identisch mit der Aneignung des kleinsten Schrittes; denn sowohl in der Strategie als auch im Unterricht ist der kleinste Schritt, die letzte Einheit, sehr oft nicht gleichzeitig auch das Einfache und Leichte. Auf die Didaktik übertragen heißt das. Die angenommene kleinste Einheit ist nicht ohne weiteres auch das didaktisch Einfache, von dem her sich dem Lernenden ein neuer Sachverhalt eröffnet, erschließt. (Hier wird übrigens der Irrtum beispielsweise der synthetischen Lesemethoden einsichtig, die im Buchstaben oder Laut als den vermeintlichen Elementen der Sprache auch das didaktisch Einfache sehen [11]).

Über das kleinschrittige Vorgehen kam Martin Wagenschein, einer der namhaften Vertreter des exemplarischen Lehrens, schon allein dadurch hinaus, daß er den sogenannten "Einstieg" an den Beginn des Unterrichts gestellt wissen wollte. Zwar erinnere dieser Begriff an den Einbrecher, meint Wagenschein, er mache aber das andere der didaktischen Auffassung deutlich: Ein Einbrecher kommt nicht zur Türe herein und geht über die einzelnen Treppenstufen, eine nach der anderen, bis zu der Stelle, an der sich etwas holen läßt, sondern er steigt irgendwo ein, vielleicht durch ein abgelegenes Fenster, von dem her sich aber ein Haus aufrollen läßt. Genauso, meint Wagenschein, müsse man im exemplarischen Lehren vorgehen [12].

Konkretisieren wir das kurz an zwei in der didaktischen Literatur schon beschriebenen Beispielen: Norwegen steht im Geographieunterricht an. Den Kindern wird gesagt, daß fast 90 Prozent der Bodenfläche dieses Landes unwirtlich sind und daß es kaum Bodenschätze gibt. Dann folgt die entscheidende Aussage, der Einstieg, das Besetzen einer Burg, von der her sich das Land dem Lernenden im ganzen eröffnet: Und doch gibt es in Norwegen kaum arme Menschen. - Oder in der Politischen Bildung wurde "Robinson" gelesen. Nun soll den Kindern das Mitmenschsein als existenziale Bestimmung des Menschen einsichtig werden. Nachdem alle von der Lektüre umgriffen sind, besonders die jungen gerne wie Robinson leben würden, kommt die Frage: Wolltest du ein Robinson sein? - Solche didaktischen Provokationen sind nicht mehr dem kleinen Schritt vergleichbar. In ihnen aktualisiert sich die Überraschung als pädagogisches Phänomen, die nie in einem kleinschrittigen, stetigen Vorgehen aufkommen kann.

Zweifellos liegt der Einstieg als didaktische Kategorie und überhaupt das von Wagenschein inaugurierte Verständnis des exemplarischen Lehrens in der Nähe dessen, was Friedrich Copei im "fruchtbaren Moment des Bildungsprozesses" expliziert hat, [13] und auch in der Nähe dessen, was Heinrich Roth als pädagogische Situation bezeichnet, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Kinder von sich aus einem Sachverhalt zustreben und nicht erst durch allerlei künstliche Manipulationen geführt werden müssen. Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß nicht aller Unterricht mit der beschriebenen Form des Einstiegs beginnen kann.

Mit diesen Überlegungen, zu denen uns die "Pampaedia" des Comenius gebracht hat, bewegen wir uns noch in einem Vorfeld des Umbruchs im methodischen Denken, obgleich der Umbruch selbst natürlich auch hier schon aufleuchtet, denn jener Grundzug der Kleinschrittigkeit, der die Methode vom Beginn der Neuzeit an charakterisiert, ist durch die angesprochenen neuen didaktischen Bemühungen zumindest erschüttert. Und das sollte hier zuerst herausgestellt werden.

2. Eine tiefere Dimension, besonders hinsichtlich der einen verbindlichen Methode, darin liegt ja ebenfallsein charakteristischer Grundzug, erreichen wir im Blick auf den Lernprozeß selbst. Die vergangenen Jahrhunderte stellten das methodische Vorgehen auf die Fiktion, als ob das Lernen des Kindes in eben den bemessenen Stufen abliefe, die der Lehrer im Lehren verfolgt. Deshalb konnten sie eine bestimmte Methode verabsolutieren. Dabei ist doch alles Lernen letztlich unstetig und in einer prinzipiellen Unverfügbarkeit für den Lernenden und den Lehrenden. Es läßt sich vergleichen mit dem Einheimischwerden in einer fremden Stadt. Auch das ist im Grunde eine Modellvorstellung, die als solche recht instruktiv sein dürfte.

Halten wir uns vorläufig an diesen Vorgang. Er wird von Gabriel Marcel, der, wie überhaupt die Existenzphilosophie, nicht ohne Einfluß auf dieses veränderte methodische Denken ist, in folgender Weise beschrieben:

"Ich bin in ihr (der fremden Stadt) zunichst verloren, was etwa soviel heißt, daß ich nach einigen Minuten auf meinen Forschungsreisen im Kreis gegangen bin und an meinen Ausgangspunkt zurückkehre - oder verschiedene Straßen miteinander verwechsle, weil für mich die eine wie die andere aussieht. Ich beginne mich zurechtzufinden, mich auszukennen, sobald ich weiß, welchen Weg ich einzuschlagen habe, ... die erste Straße rechts, etwas weiter dann die zweite links führt zu dem kleinen Platz. Diese Wegstrecke mag sodann einstweilen gleichsam die Achse bilden, von der aus ich einmal hierher, dann wieder dorthin vorstoße ... Ich habe mich von einem Punkt der Stadt nach dem anderen begeben ... Gewisse Stellen bieten mir Anhaltspunkte, wie etwa das Postamt, das Rathaus, der Dom, das Theater. Diese Stellen muß ich untereinander in Bezug setzen"[14].

Übertragen wir das auf den Lernprozeß, wie er sich im Kinde abspielt: Durch die Konfrontation mit einem neuen Sachverhalt kommt sich das Kind zunächst verloren vor. Es geht im Kreis und verwechselt einzelne Details miteinander, weil es noch in einem vorgängigen Verstehen festgehalten ist. Es beginnt sich zurechtzufinden, wenn die diffusen ersten Eindrücke allmählich prägnanter werden, wenn einzelne Merkmale gleichsam zu Achsen werden, von denen aus es weiter vorstoßen kann, wenn sich ihm einzelne Stützpunkte ergeben haben, die es untereinander in Beziehung setzt. In der Psychologie bezeichnet man einen solchen Prozeß seit den Arbeiten von Friedrich Sander als aktualgenetischen Vorgang. Und damit ist gemeint, daß eine neue Einsicht nicht schrittweise und stetig aufkommt, sondern daß sie sich von diffusen Vorgestalten her allmählich oder auch plötzlich über einzelne Fixpunkte zu prägnanten Endgestalten durchklärt. jene Fixpunkte aber haben eine durchaus individuelle Ausprägung. Sie sind bei jedem Kinde anders. Deshalb können sie in einem schrittweisen Vorgehen, das ausschließlich vom Lehrer ausgeht, nicht planvoll gesetzt werden, vielmehr muß er dem Kinde auf seinen Wegen nachgehen, muß es in dem Neuen und Fremden führen und sich von ihm führen lassen.

Darum liegt die didaktische Weisheit nicht mehr in formalen Stundenschemata, nicht mehr in einer verabsolutierten Methode, sondern in der Bereitschaft und der Fähigkeit des Lehrers zu einem Handlungsdialog mit den Kindern in der Wirklichkeit des Lehrens und Lernens. Der didaktische Meister zeigt sich gerade im mitunter sprunghaften, ständig variierenden, immer erneut sich überholenden Handeln, das durch eine zwischen dem Lehrer und dem Kinde bestehende dialogische Spannung immer von neuem innerviert wird. Damit ist keineswegs dem unterrichtlichen Chaos das Wort geredet, und keineswegs ist damit gesagt, daß sich die Vorbereitung des Unterrichts erübrigt. Vielmehr machen gerade die Unstetigkeit des Lernprozesses und die daraus resultierenden möglichen Imponderabilien eine entschieden intensivere Planung nötig als sie da angebracht ist, wo sich der Lehrer sklavisch einem über der Schulwirklichkeit und nicht in ihr liegenden kleinstufigen Stundenschematismus verschreibt.

Nur aus der Sicherheit einer guten Vorbereitung heraus, die nicht auf einen bestimmten Weg festgelegt, sondern freie Beweglichkeit gewährleistet, kann sich der Lehrer der vermeintlichen Unsicherheit ausliefern, die doch die eigentliche Sicherheit ist. Aus der meditierten Antizipation des mutmaßlichen künftigen Unterrichtsgeschehens heraus kann er den Gang einer Entwicklung im Augenblick ändern, weil er vielleicht durch die Kinder, durch ihren fragenden Blick und ihren Gesichtsausdruck, durch ihre Einwände und ihren Widerstand, vielleicht auch durch ihre Unaufmerksamkeit, gleichsam also durch die Erfahrung der Erfahrung des anderen" dazu aufgerufen ist. Nicht eine absolute Methode als festgelegter Weg des Unterrichts kann darum die didaktische Devise sein, sondern der Handlungsdialog zwischen Lehrer und Kind, der, wenn man so will und am Begriff der Methode festhält, eine kaum ausschöpfbaren Methodenreichtum gleichkommt [15].

3. Nun bleibt uns noch, abschließend auf den dritten Grundzug einzugehen, den wir in der Verselbständigung der Methode gesehen haben, in ihrer Unabhängigkeit von den Sachverhalten, die es methodisch zu eröffnen gilt: All, sich im 19. Jahrhundert die Lehrerseminare konstituierten, bestand ihre wesentliche Aufgabe darin, den jungen Lehramtskandidaten in das Handhaben einer formalen Methode einzuführen, die gewissermaßen von außen über alle Sachverhalte gestülpt werden konnte. Jede Stunde als unterrichtliche Zeiteinheit hatte die gleiche Artikulation, gemäß der methodischen Tradition vom Beginn der Neuzeit an. Sie begann mit einer Vorbereitung oder Hinführung, durfte die Zielangabe nicht vermissen lassen, was freilich das Moment der Überraschung ausschloß, setzte sich fort über die Darbietung des setzte sich fort über die Darbietung des Neuen, kam dann zur Assoziation des Neuen mit schon vorhandenen Vorstellungen und zur Zusammenfassung oder Einordnung in den Gedankenkreis und endete schließlich mit der Anwendung des Gelernten.

Man hat dieses Formalstufenschema der Herbartianer in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder kritisiert. Bei aller Kritik sollte man aber sehen, daß damit in den historischen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts der Pädagogik ein eigener Gegenstandsbereich erschlossen wurde, der sie als Wissenschaft unter anderen Wissenschaften gewissermaßen hoffähig machte. Darin liegt zweifellos ein Verdienst der Herbartianer. Außerdem wäre es auch heute für den Unterricht so manchen Lehrers gut, wenn er überhaupt eine Gliederung, und sei es die herbartianische, erkennen ließe. Wenn es aber in unserem Jahrhundert eine große, wenngleich geradezu selbstverständliche didaktische Einsicht gibt, so ist es die, daß der Sachverhalt des Unterrichts nicht an der Methode, sondern umgekehrt die Methode an dem Sachverhalt orientiert werden muß. Methode läßt sich nicht von außen über die Sachverhalte des Unterrichts stülpen, sondern sie muß aus der Mitte der Sachverhalte heraus gewonnen werden.

Darum wird methodisches Vorgehen in der Schule ein je anderes sein, immer entsprechend den jeweiligen Sachverhalten, die im Unterricht vorkommen. So muß zum Beispiel in den Naturwissenschaften, wenn die Eigengesetzlichkeit naturwissenschaftlicher Sachverhalte gewahrt werden soll, das methodische Arrangement anders sein als im Geschichtsunterricht. Und selbst innerhalb eines Fachbereiches kann Methode nicht als eine identische durchgehalten werden. Ein Lied beispielsweise läßt sich vom Rhythmus her als dem didaktisch Einfachen eröffnen, ein anderes vielleicht von der Methode her, ein drittes erschließt sich möglicherweise über den sprachlichen Inhalt. Selbst im Leseunterricht, wenn die Kinder Lesestücken nahegebracht werden, kann es kein verbindliches methodisches Vorgehen geben; es muß vielmehr von jedem Lesestück her neu meditiert werden.

Das aber stellt den werdenden Lehrer in eine hohe Aufgabe. Neben seinen pädagogischen und didaktischen Studien ist für ihn ein intensives Studium der Fächer notwendig, die er später in der Schule unterrichtet. Wer die Kinder des ersten Schuljahres in elementar-mathematische Zusammenhänge einführt, der muß Einsicht in die Mengenlehre haben, weil anders nur ein vordergründiges Handhaben eines methodischen Instrumentariums zustande kommt. Und wer die Kinder im Religionsunterricht mit einem Gleichnis konfrontiert, der muß selber vom Worte Gottes, das sich in dem Gleichnis ausspricht, betroffen worden sein.

Nur über die Härte eines intensiven Fach- und Sachstudiums neben dem Studium der Pädagogik und ihrer Disziplinen und nur über das Betroffensein und Engagiertsein von den Sachverhalten des Unterrichts rechtfertigt sich ein wissenschaftliches Studium aller Lehrer, das über eine bloß romantisierende "Lehrerausbildung" hinausführt.



[1] Der hier abgedruckte Aufsatz ist die überarbeitete Fassung der Rede, die bei der Übernahme des Rektorates an der Pädagogischen Hochschule Kettwig am 2. Mai 1962 gehalten wurde. Sie erschien zuerst in: Pädagogische Rundschau, 16. Jg. (1962), S. 645-653.

[2] Vgl. Otto F. Bollow: Existenzphilosophie und Pädagogik.

[3] Theodor Ballauff: Die Wissenschaft vom Leben. Eine Geschichte der Biologie. Bd. I: Vom Altertum bis zur Romantik. München/Freiburg: Alber 1954, S. 121.

[4] Rene Descartes: Discours de la Methode. Übersetzt und herausgegeben von Lyder Gabe. Hamburg: Meiner 1960, vgl. S. 29 ff.

[5] Vgl. auch für das Folgende: Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte. Ratingen: Henn 1959, S. 295 f. - Josef Do "gradatim procedit", in: Welt der Schule, 10 Jg. (1957), S. 49 ff.

[6] J. A. Comenius: Große Unterrichtslehre. Herausgegeben von C. Th. Lion. 6. Aufl. Langensalza: Beyer 1927, vgl. S. 126 f.

[7] Ebd., S. 89 ff.

[8] Dietrich Mahnke: Der Barock-Universalismus des Comenius, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. 21. Jg. (1931), S. 115.

[9] Später hat Pestalozzi sich revidiert. Er sagte: "Ich dachte mir, er (Glayre) wollte sagen, ich suche die Mittel der Erziehung und des Unterrichts in psychologisch geordnete Reihenfolge zu bringen." Vgl. Mahnke, a.a.0., S. 122.

[10] J. A. Comenius: Pampaedia. Herausgegeben von Dmitrij Tschizewski in Gemeinschaft mit H. Geissler und K. Schaller, Heidelberg: Quelle & Meyer 1960, S. 209. Vgl. auch Josef Dolch, a.a.0.

[11] Zum didaktisch Einfachen vgl. Jakob Muth: Die Frage nach dem didaktisch Einfachen für das Unterrichten. In: Von acht bis eins. Essen: Verlag Neue Deutsche Schule, 3. Aufl. 1970, S. 48 ff.

[12] Martin Wagenschein: Zum Begriff des exemplarischen Lehrens. Weinheim, Beltz o.J., S. 7 f. (erstmals als Aufsatz in ZfP, 3/1956).

[13] Vgl. Friedrich Copei: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß. Heidelberg: Queue & Meyer, 4. Aufl. 1958.

[14] Gabriel Marcel: Geheimnis des Seins. Übertragen von Hanns von Winter. Wien: Herold 1952, S. 191 f. - Vgl. auch Gerhard Velthaus: Das ganzheitliche Rechnen. Eine Revision des Unterrichtens, in: Bildung und Erziehung, 14. Jg. (1961), S. 280.

[15] Vgl. dazu meine Schrift: Pädagogischer Takt, Heidelberg: Quelle & Meyer 1962, 2. Aufl. 1967.

Beurteilungs- und Auswahlkriterien für Unterrichtsmedien[16]

Die Definitionen, die verschiedene Autoren für den Begriff "Unterrichtsmedien" publiziert haben, lassen sich trotz einer Anzahl von Varianten, die in der pädagogischen Literatur feststellbar sind, auf folgenden Konsensus bringen: Medien für den Raum der Schule sind alle Mittel, die in den Lernprozessen für die Schüler zur Vermittlung von Wissen eingesetzt werden. Ein so weit gefaßter Begriff schließt die Sprache des Lehrers ebenso ein wie das Lehrbuch, technische Geräte, die im Unterricht eingesetzt werden, und audiovisuelle Hilfen. Der weite Begriff verdeutlicht aber auch, daß Unterricht immer an Medien gebunden ist, und zwar unabhängig davon, ob er sich als Selbstunterricht eines jungen Menschen oder eines Erwachsenen oder als Fremdunterricht vollzieht, der von einem Lehrer durchgeführt wird.

Allerdings dominierte von der Erfindung der Buchdruckerkunst an über Jahrhunderte das Buch als Medium des Unterrichts, wenn man von der Sprache des Lehrers einmal absieht [17]; denn durch die beweglichen Lettern, die im 15. Jahrhundert von Johannes Gutenberg in Mainz erfunden wurden, und die durch sie bedingte Ablösung statischer Druckstöcke im Buchdruck war die preisgünstige Verbreitung von Druckerzeugnissen und die Herstellung von Büchern möglich. Sie sind überhaupt zu einer Voraussetzung für die Einrichtung von Schulen geworden, die breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich sein konnten. Die Möglichkeit, Bücher in großer Zahl zu produzieren, ließ Gesetze zur Einführung der Schulpflicht in der zivilisierten Welt überhaupt erst zu. Dennoch konnte sich die Schule als Angebot für die gesamte heranwachsende Generation bis heute nicht in allen Staaten durchsetzen. Wo aber Schulen bestanden haben und bestehen, da war das Buch fast das einzige Medium. in den Prozessen des Lehrens und Lernens.

Erst in unserer Zeit ist das Buch aus seiner dominierenden Stellung verdrängt worden. Eine Vielzahl anderer Unterrichtsmedien konnte sich im Raume der Schule durchsetzen. Die dadurch eingeleiteten neuen Möglichkeiten für die Durchführung des Unterrichts werden mitunter als "Kopernikanische Wende" der Didaktik bezeichnet. Vielleicht ist ein solcher Vergleich unangemessen. Er kennzeichnet dennoch treffend den Umbruch, der sich seit geraumer Zeit in der Reform des Lehrens der Lehrer und des Lernens der Schüler in der Schule vollzieht, denn das Lehren und Lernen wird, was die Methoden der Vermittlung betrifft, die Organisation und die Organisationsformen des Unterrichts, die Anschauung, die als innere Anschauung im Schüler entstehen soll, einem Veränderungsprozeß unterzogen, der keinen Vergleich in der Vergangenheit hat.

Dieser Umbruch ist ausgelöst worden durch die technische Entwicklung, wie sie in Industriestaaten außerhalb der Schule, aber mitbedingt durch die Schule, vor sich geht. Die technische Entwicklung ist ein permanenter Prozeß, der weiter auf die Schule wirken und die Möglichkeiten des Lehrens weiter verändern wird. Zu der Vielfalt der heute schon angebotenen Unterrichtsmedien werden darum im Laufe der Zeit neue Medien treten, an die wir heute vielleicht noch nicht denken und die einen Unterricht ermöglichen können, der aus der gegenwärtigen Perspektive noch utopisch erscheinen mag.

Diese Situation zwingt dazu, Kriterien aufzustellen, die dem Lehrer und der Schulverwaltung bei der Beurteilung und Auswahl von Unterrichtsmedien helfen können und die zugleich maßgeblich sind in der Entwicklung neuer Medien für den Unterricht. Um die Formulierung solcher Kriterien geht es hier, nachdem der zentrale Begriff definiert ist und der historische Zusammenhang und die aktuelle Situation aspektartig aufgewiesen worden sind.

Die Kriterien, die didaktisch relevant sind, werden in zwei Gruppen gegliedert. In der ersten Gruppe sollen Kriterien für die Beurteilung und Entwicklung von Unterrichtsmedien dargestellt werden, die generell gelten. Die zweite Gruppe behandelt Kriterien, die nur eine partielle Geltung beanspruchen können, aber nicht minder wichtig sind. In jeder Gruppe können die sehr differenten Aspekte in jeweils drei Kriterien subsumiert werden.

Kriterien, die generell gelten

1. Ein Unterrichtsmedium muß den zu vermittelnden Sachverhalt adäquat repräsentieren

Dieses Kriterium kann als das Grundaxiom der Mediendidaktik angesehen werden. Um das zu verdeutlichen, ist ein kurzer Exkurs in die Theorie der Schule notwendig. Schule ist in der industriellen Entwicklung in die Arbeitsteilung, die für alle Industriestaaten kennzeichnend ist, einbezogen worden. Das hat seinen Grund darin, daß in Industriestaaten die heranwachsende Generation die Lehre, die für das Bestehen oder das Bewältigen von Lebenssituationen im Erwachsenenalter notwendig ist, nicht mehr ausschließlich in Primärsituationen als Primärerfahrung gewinnen kann, also in der Wirklichkeit selbst. Das mag traditionellen Agrarverhältnissen noch weitgehend möglich gewesen sein. In modernen technisierten Agrarstrukturen ist selbst für Erwachsene, die der Lehre bedürfen, die Primärerfahrung nicht mehr als ausschließlich Mittel realisierbar.

Hinzu kommt, daß die industrielle Realität sich so sehr differenziert, daß sie für den jungen Menschen unüberschaubar geworden ist. So spielen sich z.B. Produktionsprozesse für die heranwachsende Generation weithin anonym ab. Junge Menschen haben keinen Einblick in Produktionsprozesse, und wo sie Einblick gewinnen, kann sich immer nur um einen Ausschnitt handeln, der nicht das Ganze der industriellen Realität repräsentiert. Primärerfahrungen als Vorbereitung auf die Ansprüche des wachsenenalters sind deshalb kaum mehr möglich, was nicht ausschließt, daß sich die Schule, etwa im Zusammenhang des Polytechnischen Unterrichts oder der Wirtschafts- und Arbeitslehre, unter anderem auch um Primärerfahrungen bemühen muß. Das geschieht zum Beispiel in Praktika in Betrieben und Verwaltungen. Es kann aber auch in Produktionsschulen geschehen, wie sie etwa Blonski konzipiert oder Makarenko in der Dsershinski-Kommunde realisiert hat oder wie sich Schule neuerdings in Benposta in Spanien vollzieht.

Vornehmlich ist aber die Schule in Industriestaaten Institution, die Sekundärerfahrungen zu vermitteln also Erfahrungen, die nicht in der Wirklichkeit selbst gewonnen werden, sondern in einem Vorfeld der Wirklichkeit, Für die Vermittlung dieser Sekundärerfahrungen ist im Zusammenhang der Arbeitsteilung ein eigener Berufstand, der Lehrberuf, professionalisiert worden. Die Beschränkung der Schule auf Sekundärerfahrungen ist nicht nur ein beklagenswerter Zustand, sondern zugleich eine Chance. In industriellen Gegebenheiten wäre es sicher kein Idealzustand, wenn alles Lernen sich in Primärsituationen vollziehen könnte.

Komplexe technische Vorgänge zum Beispiel würden für den Lernenden in ausschließlichen Primärerfahrungen nicht mehr durchschaubar. Ein Hochofenprozeß etwa bleibt uneinsichtig, wenn die Schüler ihm allein in der Wirklichkeit konfrontiert sind. Schemata und verbale Information weitab von der Realität, also Sekundärerfahrungen, vermögen für die Einsicht in einen solchen Sachverhalt mehr zu leisten. - Das wird auch am Beispiel des Motors deutlich Das Schnittmodell eines Motors anstatt der Beobachtung des in Betrieb befindlichen Motors rationalisiert die Vermittlung der Einsicht in die Kenntnis der Arbeitsweise eines Motors [18]. In einer solchen Rationalisierung, die zu einer höheren Effizienz des Lernens führt, kann man unter anderem die Chance der Sekundärerfahrung sehen, die durch den Einsatz von Unterrichtsmedien möglich wird.

Die Schule jedenfalls ist in Industriestaaten im Rahmen der Arbeitsteilung eine Institution, die neben der Vermittlung von grundlegenden Kenntnissen zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vornehmlich Sekundärerfahrungen für die Bewältigung von Lebenssituationen im Erwachsenenalter zu leisten hat. Für die Vermittlung dieser Erfahrungen können heute Unterrichtsmedien in vielfältiger Form eingesetzt werden. An diese Medien allerdings ist die Forderung zu stellen, daß sie die nicht möglichen Primärerfahrungen adäquat repräsentieren.

Das heißt in anderen Worten, daß die Medien so angelegt sein müssen, daß sie dem Schüler ein Vorverständnis für zu lernenden Sachverhalt bereiten, das später in der Wirklichkeit zum Verständnis des Sachverhalts führt. Für den Schüler muß also ein Transfer der durch das Unterrichtsmedium in einer Unterrichtssituation vermittelten Kenntnis zur Wirklichkeit hin möglich sein. Das Unterrichtsmedium hat deshalb eine stellvertretende Funktion für die nicht mögliche Primärerfahrung. Darum muß die Struktur des Mediums der primären Situation oder dem tatsächlichen Sachverhalt adäquat sein. Das Unterrichtsmedium muß die Bedingung der Ermöglichung primärer Erfahrung sein. Erfüllt das Medium diese Forderung nicht, so entbehrt der Unterricht der Sachangemessenheit oder Sachlichkeit; er kann nicht mehr stringent auf seine Ziele hin angelegt und durchgeführt werden, und das Lernen der Schüler kann unnötigen Belastungen ausgesetzt sein.

2. Ein Unterrichtsmedium muß der individuellen Situation der Schüler, für die es eingesetzt wird, adäquat sein

Die Ausgangslagen der Schüler für das Lernen sind verschieden, und darum ist die Lernfähigkeit der einzelnen Schüler, die in einer Klasse zusammengefaßt sind, jeweils individuell disponiert. Schon im Lerntempo und im Arbeitsrhythmus treten erhebliche Unterschiede auf. Das gilt aber auch für das Alter der Schüler, von dem her sich die Lernmöglichkeiten bestimmen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Schüler in ihrer Intelligenz, ihrer Auffassungsgabe, ihrer geistigen Beweglichkeit, ihrer Konzentrationsfähigkeit, dem Vorverständnis für die zu lernenden Sachverhalte, ihrer Lernintensität, ihrem Sprachvermögen und der Motivation für das Lernen. Neben diesen hier gemeinten interindividuellen Unterschieden, die sich aus der unterschiedlichen Lernfähigkeit der Schüler ergeben, spielen aber auch intraindividuelle Unterschiede eine Rolle, die sich für einen einzelnen Schüler aus seiner unterschiedlichen Disposition für die verschiedenen Lernbereiche der Schule ergeben; er entspricht den Anforderungen zum Beispiel in den Fremdsprachen qualitativ anders als etwa in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern [19].

Auf diese Unterschiede muß der Lehrer in der Lehre Rücksicht nehmen, weil es seine Aufgabe ist, den einzelnen Schüler an die Grenze seiner individuellen Lernfähigkeit zu führen, ohne dabei ein gemeinsames Fundamentum für alle Schüler zu negieren.

Darin kann überhaupt eine der gewichtigen Aufgaben der Schule gesehen werden, daß sie den einzelnen Schüler an die Grenze seiner je eigenen Lernfähigkeit führt. Daraus wird deutlich, daß dieses Kriterium, was den Individualisierungscharakter der Unterrichtsmedien betrifft, nicht bedeuten kann, daß für jeden einzelnen Schüler jeweils ein Medium bereitgestellt werden muß. Auch eine ganze Klasse bringt eine individuelle Situation hervor, und in Klassen, deren Lernsituationen sich entsprechen, können ebenso identische Medien eingesetzt werden wie bei einzelnen Schülern, deren Lernsituationen ähnlich sind. jedenfalls stellt die Aufgabe einer Individualisierung der Unterrichtsprozesse für den Lehrer häufig eine Überforderung dar, weil er seinen Unterricht differenzieren muß. Durch den Einsatz von Unterrichtsmedien kann er heute dieser Aufgabe eher gerecht werden als früher, weil Medien eine Differenzierung des Unterrichts ermöglichen, wie sie bisher durch die Sprache des Lehrers und das Lehrbuch nicht gegeben sein konnte. Allerdings müssen diese Medien der Individualität der Schüler oder der Schülergruppen, ihren individuellen Lernmöglichkeiten entgegenkommen.

Der weitere Zugang wird aus folgenden Beispielen deutlich: Unterrichtsprogramme mit einer schriftlich fixierte verbalen Vermittlung der Aufgaben können nicht in Schülergruppen eingesetzt werden, die im Leselernprozeß noch noch nicht so weit gefördert sind, daß sie die Aufgabe sinnentnehmend lesen können. Es wäre aber auch verfehlt, Unterrichtsprogramme mit einem kleinschrittigen Aufbau und damit einem reduzierten Aufgabencharakter bei Schülern einzusetzen, die eines kleinschrittigen Aufbaus nicht mehr bedürfen, weil sie zur Bewältigung komplexer Aufgaben fähig sind; eine kleinschrittige Führung dieser Schüler durch ein Programm könnte, zu einem Verlust der Lernmotivation führen.

Aus dem Individualisierungskriterium, das bei der Auswahl und dem unterrichtlichen Einsatz von Medien zu beachten ist, ergibt sich aber auch, daß vorhandene Medien nicht mehr in den Unterricht einbezogen werden sollten, wenn die Schüler die Stufe der Konkretion oder Abstraktion, auf die das Medium hin angelegt ist, schon überschritten haben. Es ist also zum Beispiel im fremdsprachlichen Unterricht nicht mehr angebracht, Substantive durch Bilder zu festigen, wenn die Substantive den Schülern mit den zugehörigen Wortinhalten geläufig sind. Oder es ist unangemessen, ein Medium zur äußeren Veranschaulichung in den Unterricht einzubeziehen, etwa einen Film oder ein Anschauungsbild, wenn die Schüler von der betreffenden Sache schon eine innere Anschauung, also einen Begriff haben; es sollte immer Ziel der äußeren Veranschaulichung durch Medien sein, daß für die Schüler eine innere Anschauung entsteht. Vielleicht ist Anschauung der zentrale Begriff der Didaktik, und eine neue Didaktik könnte von diesem Begriff her konzipiert werden.

3. Ein Unterrichtsmedium muß das Lehren und Lernen effektiver machen

Fragt man nach einer Begründung für den Einsatz von Medien im Unterricht, so lassen sich alle möglichen Antworten in dem einen Satz zusammenfassen, daß Medien das Lehren des Lehrers und das Lernen des Schüler effektiver machen müssen. Würden sie das Lernen komplizieren, zeitaufwendig und unrationell werden lassen, so hätten sie keine Existenzberechtigung in der Schule [20]. Auf der Seite des Lehrers wird das Medium vor allem eine entlastende und ergänzende Funktion haben. Zwar hat die Sprache des Lehrers Anschauungskraft, und die Berücksichtigung des Prinzips der Anschaulichkeit im Unterricht ist deshalb wesentlich auch durch die Sprache zu gewährleisten. Was aber die Sprache des Lehrers für das Verstehen von Sachverhalten nicht oder nur unzureichend zu leisten vermag, das kann von Medien übernommen und konkretisiert werden. Und was der Lehrer bei der Durchführung des Unterrichts an zeitaufwendigen Techniken aufwenden muß, Anschreiben an die Tafel, Anzeichnen von Schemata, Darstellen prozessualer Abläufe und dergleichen, das kann durch Medien effizienter werden. Medien vermögen Bewegungsabläufe zu verlangsamen oder gar festzuhalten, um sie durchschaubarer zu machen; sie können komplexe, statische Sachverhalte auflösen und schrittweise aufbauen, um den Schülern die Einsicht zu erleichtern; sie können Sachverhalte überzeichnen, um das Wesentliche für die Schüler zu akzentuieren.

Die Effizienz der Medien wird auf der Seite der Schüler vor allem gewährleistet, wenn für sie eindeutig, ist, welche Aktivitäten sie fordern. Dafür reicht es nicht aus, daß etwa das Beobachten als eine Aktivität oder das eigenständige Handeln als eine andere aus dem Medium deutlich den. Die Beobachtungsaufgabe, die ein Medium verlangt, muß dezidiert sein, wenn der Schüler nicht auf der Eben der Konsumenthaltung verbleiben soll, die etwa den Fernsehzuschauer außerhalb der Schule charakterisiert, der nicht in Lernprozessen engagiert ist, wenn er an ein Sendung teilnimmt. Und das vom Schüler durch ein Medium verlangte eigenständige Handeln muß erkennbar werden; weil es sehr stark differenziert sein kann: der Schüler muß erkennen können, ob er selbständig oder mit andere einen Versuch durchführen soll, ob lediglich die Lösung einer Aufgabe in schriftlicher Form verlangt wird, ob eine gestellte Aufgabe weiterführen soll, ob er über das im Medium Geforderte hinaus Probleme formulieren und lösen darf usw. Das Medium selbst muß didaktisch konzipiert sein.

In der Medienpädagogik wird mitunter die Auffassung vertreten, daß die Effizienz des Lernens von der Realitätsnähe eines Mediums abhängig ist. Sicher spielt der Abstand zur Wirklichkeit, den ein Medium aufbringt, eine Roll in der Wirkung, die es hat [21]. Aber es wäre falsch, diese Aspekt zu generalisieren und anzunehmen, daß die größere Realitätsnähe zu einer höheren Effizienz des Lernen führt. Das Lernen einer fremden Sprache im Sprachlabor zum Beispiel vollzieht sich immer in einer Distanz z Wirklichkeit. Gerade deshalb ist es in den Anfangsphase dem Lernen in der Wirklichkeit einer ausschließlich fremdsprachlichen Umgebung überlegen. Außerdem schafft der Einsatz eines Mediums im Unterricht eine eigene Realität, die geeignet sein kann, das Medium aus der Zweck- Mittel-Relation herauszuführen, in der es steht, weil es nur Mitte für einen bestimmten Zweck ist und keinen Sinn in sich selbst hat. Vielleicht müssen wir in der Theorie der Unterrichtsmedien diesem Aspekt der Problematisierung des Zweck-Mittel-Verhältnisses künftig mehr Aufmerksamkeit widmen. Das Lernen in der Schule zum Beispiel ist in dem Augenblick denaturiert, in dem ihm ein eigener Sinn abgesprochen wird, weil man der Auffassung ist, es gelte das Prinzip des Altertums: non scholae sed vitae discimus. Damit läßt sich kaum ein Schüler für das Lernen motivieren, zumal für ihn die Zwecke der Zukunft verborgen sind.

Einschränkend muß im Zusammenhang dieses Kriteriums festgestellt werden, daß bis heute empirische Untersuchungen auf breiter Basis fehlen, die jeweils spezifisch die überlegenheit der Medien hinsichtlich der Effizienz des Lernens im Vergleich zum traditionellen Unterricht sichern. Die Forschung hat hier noch ein weites Feld.

Kriterien, die partiell gelten

1. Unterrichtsmedien sollen dem didaktischen Prinzip einer mehrfachen Exposition der zu vermittelnden Sachverhalte gerecht werden

Dieses Kriterium gilt nur partiell, weil es Medien gibt, die nur einmal eingesetzt werden können und dann verbraucht sind, zum Beispiel Buchprogramme, oder weil Medien geschlossene Lehrgänge darstellen und sich deshalb gegen einen Einsatz außerhalb dieser Lehrgänge sperren, was allerdings eine Verwendung dieser Medien in verschiedenen Zeiten nicht ausschließt; das kann z.B. für ein Schulbuch in einem bestimmten Unterrichtsfach der Fall sein. Solche monovalenten Medien sind durchaus gerechtfertigt. Unter didaktischem Aspekt meint die in diesem Kriterium angesprochene Polyvalenz aber noch etwas andere Wenn ein Lehrer nur ein Medium für das Lernen der Schüler im Unterricht einsetzt, wenn er sich also zum Beispiel auf die verbale Vermittlung beschränkt, so sind seine methodischen Möglichkeiten, einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten her zu betrachten, in verschiedene Zusammenhänge einzuordnen, von verschiedenen Zugängen her zu erschließen, zu stark eingeschränkt. Die mehrfache Exposition eines Sachverhaltes sollte aber gerade darauf zugehen, daß unterrichtliche Sachverhalte von verschiedenen Zugängen hererschlossen werden, daß sie in größere Zusammenhänge eingeordnet und von verschiedenen Seiten her beleuchtet werden. Die Berücksichtigung dieses Aspektes des Medieneinsatzes kommt einer Auffassung entgegen, die das Lernen als ein Eröffnen oder ein Stiften von Beziehungen definiert, womit zugleich gemeint ist, daß isolierte Lerninhalte für die Bildung des Gedankenkreises eines Lernenden nicht hilfreich sind und, weil sie nicht im Gedächtnis bleiben, keine Zukunftsrelevanz für das Lernen haben.

In diesen Überlegungen liegt die didaktische Begründung dessen, was in der Medienpädagogik als "Medienverbund" bezeichnet wird, daß nämlich für die Lernprozesse verschiedene Medien konsequent in einen Kontext gebracht werden. Eine mehrfache Exposition eines Sachverhaltes durch verschiedene Medien kann aber auch die Effizienz des Lernens steigern. Schüler, die bei einer ersten Darbietung noch nicht verstanden haben, vielleicht bei der verbalen Darstellung des Lehrers, werden möglicherweise durch eine zweite Darbietungsform mit Hilfe eines Mediums zum Verständnis geführt oder erst bei einer dritten Darbietungsform durch ein weiteres Medium; oder aber das Verstehen eines schwierigen Problems, einer schwierigen Aufgabe erleichtert und differenziert sich für einen Schüler, wenn er den Sachverhalt in mehrfacher, unterschiedlicher Weise erschlossen bekommen hat.

Diese mehrfache Exposition eines Sachverhaltes ist in einer horizontalen Form möglich: sie vollzieht sich zeitlich im Rahmen einer Lernsequenz. Sie ist aber auch in einer vertikalen Form derart zu realisieren, daß in aufeinanderfolgenden Lernsequenzen und damit in größerem Abstand, etwa in aufeinanderfolgenden Schuljahren oder Schulstufen, die gleichen Sachverhalte im Sinne eines Spiralcurriculums variiert vorkommen. Man kann darin ein didaktisches Prinzip sehen, das sich als Mehrdarbietung" bezeichnen läßt. Vielleicht ist es eines der wichtigen didaktischen Prinzipien, und es wird besonders durch die Entwicklung von Unterrichtsmedien realisierbar.

2. Unterrichtsmedien sollen die Schüler für das Lernen motivieren

Auch dieses Kriterium kann keine generelle Gültigkeit beanspruchen, weil die Lernmotivation von sehr verschiedenen Faktoren abhängig ist. Wenn ein Schüler für das Lernen eines Sachverhaltes schon hinreichend motiviert ist, so bedarf es keiner besonderen Motivation mehr, die durch ein Unterrichtsmedium ausgelöst wird, zumal die Gefahr besteht, daß Medien, die vor allem unter dem Aspekt der Motivation entwickelt und ausgewählt werden, eine vordergründige Attraktivität verfolgen, die gerade keine vom Sachverhalt her bedingte primäre oder intrinsische Motivation hervorbringt. In diesem Falle wenden die Schüler ihre Aufmerksamkeit dem Medium zu, weniger aber dem Sachverhalt, der durch das Medium vermittelt werden soll.

Man sollte dann nach und nach die Attraktivität des Mediums reduzieren, seine farbliche Gestaltung zum Beispiel oder seinen technischen Reiz, auf den ein Schüler anspricht.

Im Zusammenhang dieses Kriteriums wird es vor allem auch darauf ankommen, daß ein Unterrichtsmedium die Schüler maßvoll überfordert, denn weder die Unterforderung kann den Schüler für das Lernen motivieren, weil sie ihm keinen Widerstand bietet und deshalb gleichgültig dem zu lernenden Sachverhalt gegenüber sein läßt, noch vermag die maßlose Überforderung zu motivieren, weil sie zu Frustrationen führt. Die durch das Medium vermittelte Aufgabe sollte dem Schüler Widerstand bieten, den er überwinden kann und der ihn ermutigt. Deshalb kann die Medienentwicklung nicht pauschal unter die Forderung einer Erleichterung des Lernens gestellt werden. Ohne eine maßvolle Überforderung kommt ein Progreß im Lernen nicht zustande [22]. Hier ist übrigens ein Widerspruch zu Kerschensteiners Grundaxiom des Bildungsprozesses zu sehen: Ist die Struktur des zu lernenden Sachverhaltes der individuellen Struktur des Schülers in einer absoluten Weise adäquat, wie es Kerschensteiner formuliert hat, so kann es keinen Progreß im Lernprozeß geben.

3. Unterrichtsmedien sollen den Schülern Freiraum für eigene Aktivitäten lassen

Dieses Kriterium läßt sich von einem Beispiel her konkretisieren: Beim Einsatz von linearen Lernprogrammen kommt es darauf an, daß ein beabsichtigtes Endverhalten des Schülers durch eine geradlinige, kleinschrittige Führung erreicht wird. Hier bleibt dem Schüler kein Freiraum für eigene Lösungswege, kein Freiraum selbst für Irrwege. Medien, die in der Art linearer Programme für Schüler auf ganz bestimmte Wege und ganz bestimmte Ziele des Lernens festlegen, haben immer eine Berechtigung im Unterricht. Deshalb kann dem hier formulierten Kriterium zwar keine generelle Gültigkeit zugesprochen werden. Es ist aber eine permanente Aufgabe des Unterrichts, vielleicht das Wichtigste Ziel der Erziehung, daß der Schüler selbständig wird, eigene Initiativen zeigt und zur Kreativität im Handeln fähig ist; deshalb kommt es in der Medienentwicklung vorrangig auf die Berücksichtigung dieser Liberalität und dieses Zieles an.

Aktivität, Initiative und Kreativität als Ziele des Unterrichts können nur erreicht werden, wenn der Unterricht selbst die Möglichkeit dazu schafft, wenn also der Lernprozeß selbst immer von seinem Endziel her durchdrungen ist. Darum sollten die Unterrichtsmedien die Schüler überall da, wo es möglich ist, freisetzen in eigene Möglichkeiten, sie sollten ihnen Spielraum lassen. Das bedeutet zugleich, daß Medien nicht alles vorformuliert und perfektionistisch vorgeben dürfen. Wird zum Beispiel das Thema Magnetismus im Unterricht der Grundschule verfolgt, so würde es dem hier angesprochenen Prinzip widersprechen, wenn die Magnete eine farbige Markierung der Pole hätten, weil dadurch den Schülern die Möglichkeit genommen wäre, die Gesetzmäßigkeiten der Pole selbst zu finden.

Hier verdient, wie immer und überall in der Didaktik, das Prinzip von Maria Montessori berücksichtigt zu werden: Hilf mir, es selbst zu tun! Der Freiraum, den die Medien eröffnen sollten, kann je nach den didaktischen Situationen so groß sein, daß die Schüler gar auf Irrwege in den Lernprozessen geschickt werden, wenn es sich als pädagogisch erweist. Dieser Einstellung spricht Goethe im "Wilhelm Meister" didaktische Weisheit zu. Er sagt:

"Nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer" [23] .

Weiterführung in ökonomische Zusammenhänge

Die hier angesprochenen Kriterien zur Entwicklung, Auswahl und Beurteilung von Unterrichtsmedien sind ausschließlich von einer pädagogischen und didaktischen Position her formuliert worden. Es ließen sich natürlich eine Reihe anderer Kriterien zusätzlich anführen, die bewußt vernachlässigt wurden, weil sie weniger in didaktische als vielmehr in ökonomische Zusammenhänge gehören. So ist es zum Beispiel wichtig, daß bei der Herstellung der Medien auf Solidität der Ausführung geachtet wird, was freilich dem Lernen zugute kommt. Vor allem aber sollte der zeitliche und materielle Aufwand, der für die Herstellung eines Mediums notwendig ist, in einem ökonomischen Verhältnis zu der im Unterricht zu erreichenden Wirkung stehen. Ist diese Wirkung begrenzt und war das Medium zu teuer in der Anschaffung oder für den Lehrer zu zeitaufwendig in der Herstellung, so ist zu fragen, ob es überhaupt angeschafft oder vom Lehrer selbst hergestellt werden sollte. Der Unterricht im allgemeinen und der Einsatz von Medien im besonderen muß immer auch unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehen werden [24].



[16] Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der im November 1973 auf der Internationalen Schulausstellung in Moskau gehalten wurde. Er erschien zuerst in einer Broschüre, die der Deutsche Lehrmittel-Verband unter dem Titel "Was in Moskau interessierte" herausgebracht hat.

[17] Vgl. Alfons O. Schorb: Der Programmierte Unterricht - Automatisierung der Bildung? Essen: Verlag Neue Deutsche Schule 1966, S. 9.

[18] Vgl. Wilhelm H. Peterßen: Über den Einsatz von Medien im Unterricht - Ein Beitrag zu den Bestimmungsgründen der Medienwahl. In: aula, Heft 5, 1973, S. 440.

[19] Vgl. Jakob Muth: Akzente der Grundschulreform. Essen: Neue Deutsche Schule 1971, S. 10 f.

[20] Vgl. Wilhelm Peterßen, a.a.0., S. 441.

[21] Vgl. dazu eines der in den USA erschienenen grundlegenden Werke der Medienpädagogik von E. Dale: Audio-Visual Methods in Teaching, New York 1969.

[22] Vgl. dazu Heinz Heckhausen: Förderung der Lernmotivation und der intellektuellen Tüchtigkeiten. In: Heinrich Roth (Hrsg.): Begabung und Lernen. Stuttgart: Klett, 2. Aufl. 1969, S. 193 ff. (Reihe: Deutscher Bildungsrat: Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 4). Heckhausen nennt die dosierte Überforderung des Schülers "Passung".

[23] Das Zitat findet sich in Wilhelm Meisters Lehrjahre, 7. Buch.

[24] Eine umfassende Bibliographie zur Medienpädagogik findet sich in: Joachim H. Knoll/Jürgen Hüther (Hrsg.): Medienpädagogik. München: Nymphenburger Verlangshandlung 1976, S. 229-243.

Stufenspezifische Formen der Differenzierung des Unterrichts[25]

Zur Begründung der Differenzierung des Unterrichts

Differenzierung des Unterrichts ist besonders seit der Einrichtung von integrierten Gesamtschulen zu einem Schwerpunkt der pädagogischen Diskussion und Forschung geworden. Die traditionellen weiterführenden Schulen scheinen sich von der Aufgabe der Differenzierung des Unterrichts entlasten zu können, weil sich durch das Nebeneinander verschiedener Schulformen eine gewisse Selektion der Schüler schon vom 5. Schuljahr an vollzieht und weil darüber hinaus durch die Entlassung von Schülern vor dem Erreichen des jeweiligen Schulziels oder ihre Überweisung in andere Schulformen (vor allem der Hauptschule) vor der Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht eine permanente, Selektion möglich ist. Tatsächlich aber kommen dadurch weder homogene Gruppen für das Lernen zustand, von denen angenommen wird, daß sie gute "Lerngruppen" sind, was hier offenbleiben kann, noch ermöglicht sich durch eine solche äußere Selektion eine intensivere Berücksichtigung des individuellen Lernvermögens und der unterschiedlichen Begabungsdispostionen. Deshalb stehen heutzutage auch die Gymnasium und Realschulen, gleich dem Gesamtschulen, vor der Aufgabe einer weitgehenden Differenzierung des Unterrichts. Die institutionelle Differenzierung, die sich in verschiedenen Schulformen manifestiert, entlastet nicht von der Differenzierung des Unterrichts.

Auf die Frage, aus welchen Gründen der Unterricht überhaupt differenziert werden soll oder gar differenziert werden muß, sind im wesentlichen drei Antworten möglich:

1. Der Unterricht muß differenziert werden, damit die Schüler mehr lernen als in einer undifferenzierten Schularbeit

Diese Antwort resuliert daraus, daß die Schule als Lernschule zu verstehen ist. Es gibt keinen Grund von dem werden könnte als vom Lernen her, das sich im Unterricht als der Mitte aller vollzieht. Allerdings muß sich diese Auffassung der Schule als Lernschule im Verständnis der Lehrer erst wieder durchsetzen, nachdem sie durch gewisse Fehlentwicklungen der Schulreformbewegung der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhundert verschüttet worden ist[26].

Nun darf aber das Verständnis der Schule Lernschule nicht verwechselt werden mit der Auffassung der Schule als einer zu Recht verrufenen Paukschule, in der die Individualität des einzelnen Schülers mißachtet wird und alle Schüler einer Klasse auf ein Niveau festgelegt werden. Gerade die Differenzierung des Unterrichts verhindert es, daß die Schule als Lernschule mißverstanden und zu einer Paukschule denaturiert wird, denn die Differenzierung des Unterrichts gerichtet. Anders formuliert heißt das: Differenzierung des Unterrichts impliziert immer zugleich auch Individualisierung des Unterrichts.

2. Der Unterricht muß differenziert werden, weil die Schüler verschieben sind

Im wesentlichen lassen sich von der Verschiedenheit der Schüler her drei Motive für die Differenzierung des Unterrichts formulieren:

a) Ein erstes Motiv liegt darin, daß sich die Schüler in ihrem Lerntempo und in ihrem Arbeitsrhythmus unterscheiden. Darum wird die Zeit, die Schüler brauchen, um eine Aufgabe zu erfüllen oder einem Prozeß des Lehrens zu folgen, individuell bemessen werden müssen. Darin zeigt sich schon, daß die Differenzierung eine Individualisierung des Unterrichts einschließt, die sich konkret so auswirkt, daß zu fragen ist, ob beispielsweise alle Schüler im Englischunterricht auf die gleiche Wochenstundenzahl festgelegt werden sollten. Gibt man bestimmte Lernziele für den Englischunterricht vor, bezogen etwa auf bestimmte Schülerjahrgange oder Altersgruppen, so lassen sich für einzelne Schülergruppen die Stundenzahlen reduzieren, für andere aber müssen sie vielleicht erhöht werden, oder es lassen sich bei gleicher Stundenzahl verschiedene Abschlüsse erreichen.

b) Ein zweites Motiv für die Differenzierung des Unterrichts ist in dem unterschiedlichen Lernvermögen der Schüler gegeben. In einer Klasse oder einer zeitlich konstanten Schülergruppe können nicht alle Schüler auf das gleiche Anspruchsniveau festgelegt werden. Sie unterscheiden sich in ihrer Intelligenz, ihrer Auffassungsgabe, der vom sozialen Milieu her bestimmten Intellektualität, dem Vorverständnis für die Sachverhalte des Unterrichts, der Lernintensität und der Motivation für. das Lernen. Darum muß die Schule entlastet werden von dem Anspruch auf ein Pensum, das für alle Schüler in gleicher Weise als Soll gilt. Es muß verbindliches Ziel der Arbeit in der Schule werden, daß in ihr der einzelne Schüler nach Möglichkeit an die Grenze seiner individuellen Lern- und Leistungsfähigkeit geführt wird. Diese Grenze ist nicht objektiv festlegbar, sondern nur in Lernprozessen, auch im Erwachsenenalter, auszumachen. Wollte man sie für alle auf einem Niveau halten, so käme es nicht nur zu Überforderungen vieler Schüler, sondern auch zu erheblichen Unterforderungen.

Die sich aus diesem Motiv für die Differenzierung des Unterrichts ergebende Individualisierung schließt nicht aus, daß in den einzelnen Lernbereichen der Schule verbindliche Basisanforderungen gestellt werden, die alle Schüler erfüllen müssen. Denn es kann nicht darum gehen, den Unterricht so weit zu individualisieren, daß kein verbindlicher Kanon des Grundwissens mehr für alle bleibt. Erst auf der Grundlage der allgemeinen Notwendigkeiten in einem Lernbereich lassen sich Überlegungen hinsichtlich der Differenzierung der Ansprüche und auch hinsichtlich verschiedener Abschlüsse anstellen. Freilich ist mitunter schon für das Erreichen der Basisanforderungen eine Differenzierung des Unterrichts notwendig. Hier zeigt sich, daß das Problem der Differenzierung des Unterrichts nicht losgelost von der Curriculumentwicklung gesehen werden kann.

c) Ein drittes Motiv, von dem her der Unterricht vor allem in höheren Altersstufen differenziert werden kann, ist in den speziellen Begabungsdispositionen der Schüler zu sehen. Ihnen kann man zum einen in fakultativen Arbeitsgemeinschaften, in besonderen Verfügungsstunden, aber auch in Sonder- oder Förderkursen gerecht werden, deren Besuch nicht verpflichtend sein muß und darum in die Verantwortung der (älteren) Schüler gegeben ist. Zum anderen kann dafür Wahlpflichtunterricht vorgesehen werden; damit ist ein Kanon von Fächern gemeint, aus dem ein Fach ausgewählt wird, was zugleich die Abwahl der übrigen Fächer dieses Kanons bedeutet. Schließlich kann dieses Motiv im Angebot von Wahlfächern realisiert werden, für die sich der Schüler frei entscheidet. In der gymnasialen Oberstufe ist dieses Motiv in einer teilweise problematisch werdenden Form realisiert.

3. Der Unterricht muß differenziert werden, weil auf einen Lehrer eine größere Anzahl von verschiedenen Schülern kommt

Die bis zu dieser Stelle angesprochenen Motive für die Differenzierung des Unterrichts gehen alle zurück auf interindividuelle Unterschiede; damit sind Unterschiede gemeint, die in der Lern- und Leistungsfähigkeit zwischen den Schülern einer Klasse bestehen. In der dritten Antwort auf die Frage, warum der Unterricht differenziert werden muß, treten die sogenannten intraindividuellen Unterschiede in den Blick; das sind Unterschiede, die für ein einzelnes Kind innerhalb der Fächer der Schule gegeben sind. Kaum ein Kind entspricht den Anforderungen in den verschiedenen Fächern gleich gut.

Wo Einzelunterricht in einem Fach erteilt wird, da stellt sich das Problem der Differenzierung nicht; wird allerdings für ein Kind in verschiedenen Fächern Einzelunterricht gegeben, so müssen, wegen der intraindividuellen Unterschiede, die Ansprüche von Fach zu Fach der je eigenen Leistungsfähigkeit des Kindes in den einzelnen Fächern angemessen werden, denn die Ansprüche lassen sich nicht auf einem Niveau in allen Fächern normieren. Hier im Einzelunterricht zeigt sich eine Identität von Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts.

Das zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen Lehrern und Schülern hat im 19. Jahrhundert zur Jahrgangsklasse als Organisationsform des Unterrichts geführt. In ihr sind in der Regel Schüler des gleichen Alters zusammengefaßt, nicht aber Schüler des gleichen Lern- und Leistungsvermögens. Darum ist die Jahrgangsklasse zwar die am besten zu organisierende Gruppe für die Schularbeit, keineswegs aber eine gute Lerngruppe für die Vielzahl der Fächer, die in ihr unterrichtet werden, was allerdings nicht bedeuten kann, daß die Jahrgangsklasse aufgegeben wird; sie wird im Bereich der Primarstufe, aber auch zum Teil noch in der Sekundarstufe I wegen der in ihr möglichen Stabilisierung der Sozialisationsprozesse die vorherrschende Organisationsform für die Unterrichtsprozesse bleiben müssen [27].

Die historische Alternative des Jahrgangsklassensystems ist das Fachklassensystem, das zuerst in den Schulen von August Hermann Francke realisiert wurde [28]. Wollte man dieses System auf unsere Schulverhältnisse übertragen, so müßte im Extremfall jeder Schüler im Unterricht jedes Faches einer anders zusammengesetzten Gruppe oder Klasse angehören. In der Sekundarstufe zum Beispiel, in der nebeneinander mehr als zehn Fächer unterrichtet werden, gehörte demzufolge der Schüler mehr als zehn Fachklassen an. Ein solches System ließe sich nur durch eine radikale Verminderung der Schulfächer in einem Schuljahr verwirklichen. Diese Überlegung ist nicht einmal utopisch, denn die Verminderung der Schulfächer brauchte sich nur auf ein Schuljahr oder eine noch kürzere Zeitspanne, nicht aber auf die ganze Schulzeit zu beziehen. Dadurch käme eine Periodisierung der Fächer in der Art des Epochenunterrichts zustande, die verhindern könnte, daß einzelne Fächer mit geringer Wochenstundenzahl über größere Zeiträume streuen und darum in ihrer Effektivität beeinträchtigt werden.

Jede derzeit bekannte Form der äußeren Differenzierung des Unterrichts, die das Jahrgangsklassensystem in Frage stellt und es partiell oder generell zu überwinden versucht, ist dem Fachklassensystem verwandt, sofern es unabhängig von der Klassenzugehörigkeit eines Schülers zur Bildung von Gruppen speziell für das Lernen in einem Fach kommt. Dabei stehen die Differenzierungsmöglichkeiten der Primarstufe dem Jahrgangsklassensystem noch näher als die der Sekundarstufe, auf der sich Übergangsformen von der Jahrgangsklasse zur Fachklasse verwirklichen lassen; in der Sekundarstufe II kann das Jahrgangsklassensystem vollkommen überwunden werden, denn auf dieser Stufe lassen sich Organisationsformen des Unterrichts verwirklichen, die das Fachklassensystem in einer zeitgemäßen Weise modifizieren, was wir heute in den Gruppierungen der Schüler der gymnasialen Oberstufe vor uns haben.

Die organisierten Lernprozesse der Schule reichen von der Aufnahme der vielleicht Fünfjährigen in Vorschulklassen bis zur Schulentlassung der Neunzehnjährigen. Eine so bis zur Altersspanne macht es notwendig, daß verschiedene Formen der Differenzierung verwirklicht werden. Diese Formen ergeben sich unter anderem aus dem unterschiedlichen Anspruchsniveau der verschiedenen Lebensalter der Schüler und aus den spezifischen Notwendigkeiten des Unterrichts in den drei horizontalen Stufen. Es gibt also geradezu eine Affinität zwischen bestimmten Formen der Differenzierung einerseits und Schulstufen andererseits, die zu einer stufenspezifischen Differenzierung des Unterrichts führt. Das schließt nicht aus, daß daneben stufenübergreifende Formen der Differenzierung möglich sind.

Differenzierung des Unterrichts in der Primarstufe

Die Notwendigkeit zur Differenzierung des Unterrichts schon in der Grundschule wird heute nicht mehr bestritten. Sie zeigt sich gerade in unserer Zeit schon zu Beginn des ersten Schuljahres, in das Kinder aufgenommen werden, die zum Teil schon lesen können oder keines elementaren Rechenlehrgangs mehr bedürfen und die sich sprachlich differenziert ausdrücken können, weil sie vielleicht aus einem Milieu kommen, das ihr vorschulisches Lernen angeregt und motiviert hat. Andere Kinder dagegen, die in das erste Schuljahr eintreten, können nur als bedingt schulreif und lernfähig angesehen werden; ihr schulisches Lernen muß in allen Bereichen gleichsam an einem Nullpunkt beginnen. Diese starke Diskrepanz stellt den Lehrer vor erhebliche methodische und didaktische Schwierigkeiten, denen er mit Maßnahmen eines differenzierenden Unterrichts zu begegnen versuchen kann.

Aber auch in den Lernprozessen schon des ersten Schuljahres zeigen sich starke Unterschiede, die durch das Lerntempo, den Arbeitsrhythmus und das differente Lernvermögen der Kinder hervorgerufen werden. Das führt beispielsweise dazu, daß in den Phasen des Leselehrgangs nach einigen Monaten einige Kinder jeder Klasse den Durchbruch zum selbständigen Erlesen neuer Wörter und einfacher Texte geschafft haben, andere sich aber noch mit den Schwierigkeiten des Erkennens der Einzelbuchstaben und ihrer Lautqualitäten auseinandersetzen müssen und schließlich ein Teil der Kinder noch in der Wortbildspeicherung befangen ist und darum keinen wesentlichen Lernfortschritt vollzogen hat. Solche interindividuellen Unterschiede treten in jeder Klasse der Primarstufe in allen Lernbereichen, aber auch in den späteren Schulstufen auf. Schon in den zwanziger Jahren wurde diesen Schwierigkeiten durch eine innere Differenzierung des Unterrichts begegnet, die jeweils auf eine Jahrgangsklasse bezogen war. An dieser inneren Differenzierung ist auch heute noch festzuhalten, und zwar nicht nur in der Primarstufe, sondern auch in allem Unterricht der Sekundarstufen; denn selbst die Bildung von Fachleistungskursen in späteren Stufen wird keine absolute Homogenität der Gruppen für das Lernen erreichen, weshalb um der Individualisierung des Unterrichts willen die Ansprüche an die Schüler differenziert werden müssen. Ihren besonderen Schwerpunkt aber wird die innere Differenzierung in den ersten Schuljahren haben, in denen sie sich vor allem durch den Abteilungsunterricht, wie er an wenig gegliederten Landschulen entwickelt wurde, mit jeweils relativ homogenen Gruppen, durch die Gruppenarbeit vornehmlich im arbeitsgleichen Verfahren und durch die Einzelarbeit der Schüler verwirklicht, die mit Hilfe von Arbeitsmitteln, Programmen und individuell formulierten Aufgaben beansprucht werden. Über diese Grundformen der inneren Differenzierung hinaus kommt es für den Lehrer darauf an, daß er seine Hilfe dem Lernvermögen des einzelnen Kindes angepaßt, daß er im Niveau der Anforderungen differenziert und auch in der Anzahl der Aufgaben, die er den Kindern stellt [29].

Die Möglichkeiten der inneren Differenzierung in den ersten Schuljahren sind abhängig von den Klassenfrequenzen. Es läßt sich geradezu als didaktische Gesetzmäßgigkeit formulieren, daß in zahlenmäßig sehr starken Klassen notgedrungen der undifferenzierte Frontalunterricht vorherrschen wird; mit dem Absinken der Frequenzen aber kann die individuelle Besorgung der Kinder in den Formen der inneren Differenzierung zunehmen. Dennoch stellt sich auch bei niedrigen Frequenzen in der Primarstufe die Aufgabe einer äußeren Differenzierung des Unterrichts, denn auch sie hat den Charakter der Lernschule, und auch in ihr wird ein zahlenmäßiges Mißverhältnis zwischen Lehrern und Schülern in die Zukunft hinein bestehen bleiben. Drei Faktoren vor allem schränken die Möglichkeiten der äußeren Differenzierung in den ersten Schuljahren ein und geben zugleich die Richtung an, in der eine stufenspezifische Form der Differenzierung entwickelt werden kann [30]:

1. Das Kind der Primarstufe kann noch nicht dem Wechsel der Lehrer von Fach zu Fach ausgesetzt werden, weil ihm die Einstellungsfähigkeit auf wechselnde Lehrer, deren Eigenarten und Methoden fehlt. Es bedarf starker als das altere Kind der Anleitung durch einen Lehrer, zu dem es eine ebenso persönlich wie sachlich bestimmte Beziehung aufnehmen kann. Von daher rechtfertigt sich für die ersten Schuljahre das Klassenlehrerprinzip, in dem ein Lehrer den größeren Teil des Unterrichts in einer Klasse oder einer konstanten Gruppe verantwortet. Er kann durch die hohe Wochenstundenzahl, die er in der betreffenden Klasse unterrichtet, pädagogische Intensität allein schon dadurch gewinnen, daß er die Eigenarten jedes einzelnen Kindes kennenlernt und darum weiß, wie er ihnen gerecht werden kann. Außerdem rechtfertigt sich eine gemäßigte Form des Klassenlehrerprinzips in der Primarstufe auch dadurch, daß es dem einzelnen Lehrer möglich ist, die verschiedenen fachspezifischen Anforderungen weitgehend zu erfüllen.

2. Das Kind der Primarstufe sollte noch nicht dem Wechsel von Lerngruppen in der Art ausgesetzt werden, daß es sich z.B. im Leseunterricht in einer anders zusammengesetzten Gruppe als im Mathematikunterricht, im Sachunterricht in einer anderen Gruppe als im Musikunterricht befindet. Es muß im Raume der Schule in einer sozialen Gruppe heimisch werden können, die zeitliche Konstanz hat. Die Jahrgangsklasse oder andere Organisationsformen für zeitlich konstante Gruppen ermöglichen das Heimischwerden des Kindes in einem sozialen Beziehungsgefüge, das die für das Kind notwendigen Sozialisationsprozesse leistet, das Vereinsamung verhindert und das in einem so frühen Alter das Medium für das Lernen darstellen kann.

3. Dem Kind der Primarstufe ist es noch nicht zuträglich, daß es sich im Laufe eines Schultages oder einer Schulwoche einem häufigen Wechsel der Raume fügen muß, in denen die verschiedenen Fächer oder Lernbereiche unterrichtet werden. Kindern dieses Alters muß die Möglichkeit des Bleibens in übertragenem Sinne des Wohnens in einem bestimmten Raum und an einem bestimmten Platz gewahrt werden. Sie sind, wenn sie nicht angesiedelt werden in einem vertrauten Raum und an einem festen Platz, ohne innere Beziehung zur Umgebung und darum unsicher und mitunter ängstlich und von daher in ihrem Lernen beeinträchtigt. Die noch elementaren fachspezifischen Anforderungen der Primarstufe sind auch noch nicht auf Fachraume angewiesen, wenn man von Spiel und Sport und einzelnen Akzenten des Sachunterrichts einmal absieht.

Diese drei Faktoren (gemäßigtes Klassenlehrerprinzip, zeitlich konstante Gruppen und ein Raum für den größeren Teil des Unterrichts einer Klasse) Lassen folgende Form der äußeren Differenzierung des Unterrichts zu: Dem Klassenlehrer sollte die Möglichkeit gegeben sein, kleinere Gruppen aus seiner Klasse zu besonderen Förderstunden aufzugliedern und zu unterrichten. Haben z.B. einige Kinder erhebliche Schwierigkeiten im Lesen, so nehmen sie zwar am Leseunterricht ihrer Klasse teil, werden darüber hinaus aber in einem Förder- oder Sonderkurs betreut. Das gilt ebenso für das Schreiben, die Mathematik, vielleicht für ein besonderen Sprachtraining und die Rechtschreibung, aber auch für den Sport, in dem es besonders in der Koordination der Bewegungen und in der allgemeinen Kondition erhebliche Unterschiede zwischen den Schülern gibt.

In diesen Sonderkursen kann aber auch das Jahresklassensystem durchbrochen werden, weil es gilt, alle Kinder, die in einem Lernbereich einer besonderen Förderung bedürfen, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit in Kleingruppen individuell zu betreuen. Die Kleingruppen können sowohl Kinder paralleler Klassen als auch Kinder aufeinanderfolgender Klassen umfassen. Sobald ein Kind, gemessen am Stand seiner Klasse, einer besonderen Betreuung in einem Lernbereich nicht mehr bedarf, wird es von der Teilnahme am Unterricht in dem betreffenden Sonderkurs befreit. Das allein entspricht der Dynamik, die allen Formen der äußeren Differenzierung eigen sein sollte. Wo die Differenzierung in Sonderkursen und später in Fachleistungskursen über längere Zeiträume statisch bleibt, da ist eines ihrer wesentlichen Charakteristika verlorengegangen.

Die Lehrer einer Primarstufe können sich für die Sonderbetreuung spezialisieren: Ein Lehrer stellt sich vielleicht auf die leseschwachen Kinder, ein anderer auf Kinder, die Schwächen in der Rechtschreibung haben usw. Vom Organisatorischen her ist es dazu allerdings nötig, daß die Förderstunden in der gleichen Zeit für- die verschiedenen Klassen vorgesehen werden, daß die Lehrer Absprachen treffen und ständig untereinander Kontakt halten. Das Verhältnis des Sonderunterrichts zum Klassenunterricht kann sich so gestalten, daß der Lehrer die Differenz, die zwischen seiner Stundenauflage und der Wochenstundenzahl seiner Klasse besteht, für die Sonderkurse vorsieht. Natürlich läßt sich die Stundenzahl, die als Klassenunterricht erteilt wird, zugunsten der Stundenzahl für die Sonderkurse verringern, was z.B. in schwedischen Grundschulen der Fall ist. In keinem Falle aber sollten für den Klassenunterricht weniger Stunden zur Verfügung stehen als für den Sonderunterricht. Allein durch die Dominanz des gemeinsamen Unterrichts für alle Kinder einer Klasse kann die soziale Intention für die Primarstufe durchgehalten werden, die am Beginn der Weimarer Zeit für die Einrichtung der Grundschule bestimmend war. Eine stärkere äußre Differenzierung würde sich dem Mannheimer System annähern, das Sickinger nach der letzten Jahrhundertwende entwickelt hat und in dem die Schüler alle Lernbereiche auf der Grundlage ihrer Leistungen in separate Zweige eingewiesen wurden. Soziale Koedukation wäre durch die Annäherung an solches System in den ersten Schuljahren nicht mehr gegeben, weil sich vornehmlich die Kinder gehobener Sozialschichten in den höheren Kursen oder den anspruchsvollen Zweigen zusammenfanden. Die gleiche Gefahr tritt auf, wenn schon in den ersten Schuljahren der Primarstufe neben dem Kernunterricht sogenannte Fachleistungskurse in der Mathematik, im Lesen und in der Rechtschreibung eingeführt werden. In den gehobenen Kursen werden sich in einem so frühen Alter vornehmlich die ohnehin schon sozial privilegierten Kinder befinden, weil sie aus einem anregungsreichen Milieu kommen.

Differenzierung des Unterrichts in der Sekundarstufe I

Als stufenspezifische Form der äußeren Differenzierung gilt für die Sekundarstufe vor allem das Kern- und Kursverfahren. In ihm findet ein Teil des Unterrichts in den Jahrgangsklassen oder zeitlich konstanten Gruppen statt (das ist der Kernunterricht), ein anderer Teil wird in wechselnden Gruppierungen durchgeführt (das ist der Kursunterricht). Der Begriff "Kern und Kurse" geht auf Wolf Bader und Sebald Schwarz zurück, die am Beginn der 20er Jahre diese Differenzierungsform an der Oberrealschule zum Dom in Lübeck realisiert haben [31].

Schon die kurze Charakterisierung des Kern- und Kursunterrichts zeigt, daß der Klassen- und Förderunterricht der Primarstufe eine Modifikation dieses Verfahrens ist. Diese Modifikation sollte auch in der Sekundarstufe weiterbestehen, um Schülern mit Ausfallen in einzelnen Lernbereichen, die nicht immer ihren Grund im unzureichenden Lernvermögen haben müssen, sondern beispielsweise durch längere Krankheit bedingt sein können, eine besondere Betreuung angedeihen zu lassen. Dafür müßten in der Sekundarstufe besondere Verfugungsstunden im Wochenablauf vorgesehen werden, in denen Unterricht in Kleingruppen (oder gar Einzelunterricht) erteilt wird, und zwar so lange, bis die Schüler (oder der einzelne Schüler) Anschlug an den Unterricht ihrer Klasse gefunden haben. Durch diese Verfugungsstunden könnte die Sitzenbleiberquote erheblich gesenkt werden. Es ist auch ein Unding und es zeigt den geringen Wirkungsgrad, mit dem in der Schule gearbeitet wird, daß ein Schüler, der in vielleicht zwei Fächern mangelhafte Leistungen hatte, in allen anderen Fächern aber ausreichend oder gar besser zensiert worden ist, alle diese Fächer - es sind mehr als zehn - wiederholen muß, und das für die Dauer eines Jahres.

Neben dem Förderunterricht treten in der Sekundarstufe, für die ein gemäßigtes Fachlehrerprinzip gilt, drei weitere Formen des Kern- und Kursverfahrens auf, die allerdings ein unterschiedliches Gewicht haben und zum Teil nicht unproblematisch sind.

1. Die Kernfächer sind für alle Schiller obligatorisch. Sie finden in den Jahrgangsklassen (oder zeitlich konstanten Gruppen) statt. Außerdem gibt es Kursfächer, die ebenfalls obligatorisch durchgeführt werden, in denen aber eine Überwindung des Jahrgangsklassensystems möglich ist. Kernfächer werden darum alle Fächer sein, die sich ohne besondere methodische Schwierigkeiten in Klassen mit einem starken Gefalle zwischen dem besten und dem schlechtesten Schüler unterrichten lassen, weil in ihnen die darstellende Methode dominiert (was in der Sekundarstufe z.B. für den Geschichtsunterricht gilt), in denen die Information überwiegt (was etwa für den Religionsunterricht gesagt werden kann) und nicht der Lernprozeß, der in einem Lehrgang erforderlich ist, oder in denen ohnehin ein individualisierender Unterricht und damit die Extremform der Differenzierung verfolgt wird (was beispielsweise für die Kunsterziehung gilt, aber auch für den am Experiment des Schülers orientierten naturwissenschaftlichen Unterricht).

In die Kurse dagegen werden Fächer einbezogen, die lehrgangsartig unterrichtet werden und Kontinuität im Lernprozeß verlangen. Das sind in der Sekundarstufe vor allem der fremdsprachliche Unterricht, die Mathematik und partiell auch der Deutschunterricht, soweit er die Rechtschreibung betrifft. Sobald ein Kind zureichende Sicherheit in der Rechtschreibung erreicht hat, sollte es von besonderen Rechtschreibkursen befreit werden. Für die Bildung der Kursgruppen kommt es auf eine weitgehende Homogenität der Schüler im Leistungsstand und im Leistungsvermögen an, weil sich homogene Gruppen in den genannten Fächern, die stark an die Kontinuität im Lernfortschritt gebunden sind, besser unterrichten lassen als in Gruppen mit einem zu hohen Leistungsgefalle; das jedenfalls ist die theoretische Vorgabe für diese Differenzierungsform. In der Regel werden darum Fachleistungskurse auf verschiedenen Leistungsebenen gebildet, die sich z.B. als A-,B-,C-, D-Kurse bezeichnen lassen.

Der Wechsel innerhalb dieser Kursgruppen sollte sich nicht an den Jahresrhythmus halten, der die Schularbeit heute noch bestimmt. Angemessen ist ein Halbjahres- oder gar ein Trimesterrhythmus. Das heißt also, daß ein Schüler auf der Grundlage seiner Leistungen nach einer gewissen Zeit beispielsweise von einem B- in einen A-Kurs oder auch von einem B- in einen C-Kurs überwiesen werden kann. Ein solcher Wechsel ist weniger ein Aufstieg oder Abstieg wie heute noch der Wechsel von einer Schulform in die andere, weil der Schüler im Kernunterricht in seiner angestammten Klasse oder Gruppe bleibt und weil er gerade beim Wechsel der Kurse erfahren sollte, daß es dabei eigentlich um seine individuelle Förderung geht. Ein Wechsel im Jahresrhythmus würde das Gefälle in den Fachleistungskursen zu groß werden lassen und mithin den Unterricht erschweren, und ein Wechsel in zu kurzen Zeitabstanden würde die kontinuierliche Arbeit in den Kursen beeinträchtigen.

Tatsächlich aber zeigt sich gegenwärtig besonders in den Hauptschulen und in Gesamtschulen, die Fachleistungskurse eingeführt haben, daß der Wechsel innerhalb der Kurse nur schwer möglich ist. In den A-Kursen sind vornehmlich Kinder zusammengefaßt, die ein günstigeres Lerntempo als die Kinder der B- und C-Kurse haben. Darum entfernen sich die A-Kurse so weit von den B-Kursen, da8 ein Wechsel von B nach A nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme ist. Das gilt entsprechend für jeden Wechsel von einem niedrigeren auf ein höheres Niveau. Diese Schwierigkeit verfestigt die Kurse. Dabei sollte aber die innere und äußere Differenzierung dynamische und flexible Organisationsformen des Unterrichts ermöglichen, weil anders die Gefahr auftritt, daß die Gesamtschulen in ihrer Organisation die Dreigliedrigkeit des Schulwesens reproduzieren und daß sich diese Dreigliedrigkeit, die durch die Gesamtschule überwunden werden soll, als neue Versäulung in den Fachleistungskursen etabliert.

Nun ist es aber nicht vertretbar, den Lernfortschritt der einzelnen Kurse auf einem Niveau zu halten, um einen Wechsel zu ermöglichen, weil dadurch dem Prinzip der Schule, jedes Kind an die Grenze seiner Lernfähigkeit zu bringen, entgegengearbeitet würde. Im wesentlichen werden die folgenden Möglichkeiten diskutiert und z.T. praktiziert, um der Verfestigung der Fachleistungskurse auf der Sekundarstufe zu begegnen:

a) Auf einem Niveau lassen sich die Fachleistungskurse wenigstens zeitweilig halten, wenn für die Kurse, in denen sich die Schüler durch ein gutes Lernvermögen und ein gutes Lerntempo auszeichnen, ein vermehrtes Angebot für das Lernen vorgesehen wird. Wird etwa in einem A-Kurs im Fach Englisch die Wochenstundenzahl reduziert, so läßt sich für. die Schüler dieses Kurses z.B. eine zweite Fremdsprache zusätzlich anbieten oder das Angebot im Rahmen des Fachs Englisch um Sachverhalte erweitern, die nicht in den eigentlichen Lehrgang gehören; eine solche Erweiterung könnte etwa landeskundliche Inhalte umfassen. Sicher läßt sich diese Möglichkeit nicht für die ganze Dauer der Sekundarstufe durchhalten.

b) Fun Wechsel zwischen den Fachleistungskursen wird durch die Einrichtung von Zwischenkursen ("Liftkursen") möglich. Damit ist gemeint, daß Schüler, die sich auf einem niedrigen Niveau so bewahrt haben, daß ihnen die Mitarbeit auf einem höheren Niveau keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, für eine kurze Zeitspanne, vielleicht für wenige Wochen, in einer Kleingruppe betreut werden, so daß sie den Anschluß an den höheren Kurs gewinnen können. Diese besondere Betreuung braucht sich nicht nur auf die Stundenzahl zu beschränken, die ohnehin für die Fachleistungskurse des betreffenden Fachs vorgesehen ist. Hier tritt uns wieder eine Form des Sonderunterrichts entgegen, für den besondere Verfügungsstunden vorgesehen werden sollten; sie müssen nicht fest im Stundenplan eingebaut sein, sondern können von Fall zu Fall eingerichtet werden.

c) Für Schüler, die sich in einem A- oder B-Kurs befinden und Lernschwierigkeiten haben, so daß sie möglicherweise in einen niedrigeren Kurs eingewiesen werden müßten, läßt sich zusätzlich ein "Stützkurs" einrichten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, das einmal erreichte Niveau zu halten.

Trotz dieser organisatorischen Maßnahmen, die auf die Ermöglichung der Durchlässigkeit zwischen den Fachleistungskursen gerichtet sind, wurden in den letzten Jahren andere Bedenken laut, die zu einer Problematisierung der Fachleistungsdifferenzierung geführt haben. Vor allen Dingen ist geltend zu machen, daß solche organisatorischen Formen das unpädagogische Verständnis der Schule als Leistungsschule verstärken. Außerdem ist bis heute empirisch nicht eindeutig zu belegen, daß in homogenen Leistungsgruppen eine höhere Effizienz des Lernens zustande kommt als in heterogenen Gruppen; Untersuchungen scheinen zu belegen, daß gute Schüler in heterogenen Gruppen zumindest nicht benachteiligt werden und daß weniger gute Schüler eine stärkere Motivation für das Lernen erfahren als in homogenen Gruppen. Darüber hinaus bringt der Unterricht in Fachleistungskursen die Gefahr auf, daß sich die Erwartungsvorstellungen der Lehrer hinsichtlich der Lernfähigkeit der Schüler am Niveau des jeweiligen Kurses orientieren ("Pygmalioneffekt"), wie andererseits die Schüler ihre Lerneinstellung dem jeweiligen Kursniveau anpassen, was zu einer Stabilisierung der Kurse beiträgt.

Die empirische Forschung wird in diese Zusammenhänge in den nächsten Jahren noch größere Klarheit bringen müssen. Jedenfalls läßt sich heute schon feststellen, daß in den ersten Klassen der Sekundarstufe I die Fachleistungsdifferenzierung nach Möglichkeit vermieden werden sollte und daß sie, wenn sie etwa von der 7. Klassenstufe an eingeführt wird, sich auf zwei Leistungsniveaus beschränken kann; die dadurch zustande kommende relative Heterogenität der Kursgruppen erhöht die Durchlässigkeit und erhalt die Motivationsmöglichkeiten, die in heterogenen Gruppen gegeben sind.

2. Die zweite Form des Kern- und Kursverfahrens besteht darin, daß die Kernfächer wiederum für alle Schüler obligatorisch sind und in den heterogenen Jahrgangsklassen (oder konstanten Gruppen) unterrichtet werden, daß aber die Teilnahme an den Kursfächern fakultativ ist und daß in diesen Kursfächern das Jahrgangsklassensystem überwunden sein kann. Diese Kurse sind entweder Arbeitsgemeinschaften, deren Themen außerhalb der im Fächerkanon auftretenden Bereiche liegen (beispielsweise Laienspielgruppen, Fotoarbeitsgemeinschaften usw.), oder es handelt sich um ausgesprochene Wahlfächer, die über den Fächerkanon der Schule hinausreichen (und darum z.B. romanische Sprachen umfassen).

Diese Form entspricht dem Ursprung des Kern- und Kursverfahrens, wie es von Bader und Schwarz entwickelt wurde. Sie führten neben den verbindlichen Fächern, die sie als Kern ansahen, vor allem den Unterricht in den nordischen Sprachen in fakultativen Kursen ein. Der Grund für diese Reform war vor allem darin zu sehen, daß die wirtschaftlichen Beziehungen der Lübecker Kaufleute, deren Söhne im wesentlichen das Gymnasium besucht haben, hauptsachlich in die nordischen Länder reichten. Das zeigt die Bedenklichkeit dieser Form des Kern- und Kursverfahrens, sofern das Wahlfachangebot in zu frühe Altersstufen reicht. In dieser Form nämlich können die Anspruche außerschulischer Instanzen in die Schule eindringen und den Unterricht in den verbindlichen Bereichen beeinträchtigen. Ein Bereich, in dem die Schüler aus einem Angebot frei wählen können, läßt sich schon in der Grundschule rechtfertigen, zumal immer dann mit einer hohen Lernmotivation gerechnet werden kann, wenn die Schüler einen Entscheidungsspielraum zugebilligt bekommen und Verantwortung für ihr Lernen übernehmen können. Jedoch sollte selbst in der Sekundarstufe I die Wochenstundenzahl des Kernunterrichts, in dem die Schüler einer Klasse oder Stammgruppe gemeinsam unterrichtet werden, nur allmählich reduziert werden und noch in den oberen Klassenstufen mehr Zeit beanspruchen als die drei verschiedenen Kursformen. Ein zu stark ausgedehnter Wahlbereich in der Sekundarstufe I kann zu einer Beeinträchtigung des Kernunterrichts führen und zu einer Spezialisierung zu einer Zeit, in der spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten den Schüler noch zu sehr festlegen und ihm die Eröffnung der vielfaltigen Möglichkeiten des Lernens und damit auch des Begabtwerdens verstellen.

3. Die dritte Form des Kern- und Kursverfahrens sieht wiederum einen Kern von Fächern vor, der für alle Schüler verbindlich unterrichtet wird. Daneben treten Wahlpflichtfächer auf, die man als Kurse auffassen kann. Dabei geht es darum, daß der Schüler aus einer Gruppe von Fächern ein Fach auswählt; die Wahl dieses Faches impliziert die Abwahl der anderen Fächer, die in die Wahlpflichtfachgruppe gehören. Solche Fachgruppen gibt es heutzutage in allen Schulformen der Sekundarstufe I und II, und auf diesem Wahlpflichtfachprinzip basiert im wesentlichen die gymnasiale Oberstufenform. Es wird darauf ankommen, für die künftige Entwicklung noch andere Möglichkeiten zu erproben, und zwar auch solche, die selbst über die in den Gymnasien eingeführten Wahlpflichtfachgruppen hinausreichen. Diese Möglichkeiten dürfen sich z.B. nicht beschranken auf die Wirtschaftslehre, die etwa in Gesamtschulen als Alternative zur zweiten Fremdsprache vom 7. Schuljahr an auftreten kann und als abiturfähig anerkannt wird; sie dürfen vor allem auch nicht allein vom Abitur hergedacht sein.

In den schwedischen Grundschulen z.B. werden im 7. Schuljahr schon fünf Wahlpflichtfachgruppen angeboten, die einerseits auf die Begabungsrichtungen der Schüler Rücksicht nehmen und andererseits die späteren Bildungswege prädisponieren. Für die Wahlpflichtfächer sind jeweils fünf Wochenstunden vorgesehen; diese Zahl steigert sich in den folgenden Schuljahren. Es gibt in diesem schwedischen Wahlpflichtfachsystem für das 7. Schuljahr erstens eine Alternative zwischen Deutsch und Französisch als zweiter Fremdsprache. Zum zweiten ist der Unterricht in Deutsch oder Französisch als Alternative mit drei Wochenstunden möglich; die verbleibenden zwei Wochenstunden können entweder für Mathematik oder für Schwedisch vorgesehen werden. In der dritten Wahlfachgruppe sind noch einmal Deutsch oder Französisch mit drei Wochenstunden vertreten, daneben tritt Maschineschreiben mit zwei Stunden auf. Die vierte Möglichkeit sieht Maschineschreiben oder Werkunterricht mit drei Wochenstunden vor, außerdem Mathematik oder Schwedisch mit zwei Stunden. Schließlich wird fünftens Werkunterricht mit fünf Wochenstunden zur Wahl gestellt. (Diese Konzeption ist sicher noch nicht beispielhaft; sie zeigt aber andere Gruppierungen im Wahlpflichtfach, als sie hierzulande üblich sind.)

In einem weiteren Sinne läßt sich selbst die progressive Differenzierung noch in den Rahmen des Kern- und Kursunterrichts einordnen. In dieser Differenzierungsform werden die Lernprozesse konsequent individualisiert. Dazu ist es nötig, daß für die einzelnen Fachbereiche aufeinanderfolgende Lerneinheiten formuliert werden, die von den Schülern unabhängig von bestimmten zeitlichen Bindungen zu absolvieren sind. Am Anfang eines solchen Lehrgangs werden Basiseinheiten stehen, die für alle Schüler verbindlichen Charakter haben. Wer sie qualifiziert absolviert hat, kann die Arbeit in den kontinuierlich geordneten Aufstiegseinheiten aufnehmen. Die Form der programmierten Instruktion kann wesentliche Vorgaben für dieses System leisten, in dem jeder Schuler für sich arbeitet und jeder freigesetzt ist, seinem individuellen Lerntempo und seinem Lernvermögen gemäß fortzuschreiten. Selbst diese extreme Individualisierung schließt nicht aus, daß der Lehrer für den einzelnen Schüler helfend, beratend und belehrend da ist. Darüber hinaus kann er kleine Gruppen von Schülern, die ein bestimmtes Niveau erreicht haben, zusammenfassen und für eine kurze Zeit gemeinsam unterrichten, damit sie mit einer vielleicht höheren Effektivität die Einzelarbeit wiederaufnehmen können.

Ein solches System kann nicht auf alle Bereiche der Schularbeit ausgedehnt werden; in der Leibeserziehung z.B. ist für bestimmte Spiele und Übungen das Miteinander der Schüler notwendig. Es sollte auch nicht auf alle Bereiche der Schule ausgedehnt werden, weil es Sozialisationsprozesse nahezu ausschließt; ein Planspiel über die Bedeutung von Arbeitskräften in der modernen Wirtschaft zum Beispiel, in dem kontroverse Auffassungen formuliert werden, bedarf des Gegeneinanders, weshalb es nicht progressiv differenziert oder programmiert werden kann. Deshalb läßt sich die progressive Differenzierung noch im Kontext Kern- und Kursverfahrens sehen: Es bleibt für eine Klasse oder eine konstante Gruppe ein verbindlicher Kern gemeinsamen Unterrichts; daneben kommt die progressive Differenzierung in individualisierenden Kursen vor.

Hier tritt natürlich, wie überhaupt im Zusammenhang der Fachleistungsdifferenzierung im Kern- und Kursverfahren, das Problem der Zensierung auf. Solange die Kurse absolut aufeinander bezogen bleiben, läßt sich etwa die Note 3 im Kurs A der Note 2 in B oder der Note 1 in C gleichsetzen. Eine solche absolute Bezogenheit der Fachleistungskurse dürfte für längere Zeitspannen nicht zu verwirklichen sein. Es kann einem Schüler aber auch testiert werden, was er mit Erfolg absolviert hat (die Dreisatzrechnung, das Wurzelziehen usw.). Unabhängig von allen Überlegungen zur Zensierung sollte sich im Selbstverständnis der Lehrer endlich durchsetzen, daß die Zensur kein genuin pädagogischer Sachverhalt ist, sondern der Schule von außerpädagogischen Instanzen aufgedrängt wurde. Allein dieses Wissen kann die Lehrer vor einer Oberschatzung der Zensur bewahren.

Differenzierung des Unterrichts in der Sekundarstufe II

Der Schüler der Sekundarstufe II sollte allein schon durch sein Alter und den vorausgegangenen Unterricht ein so großes Maß an Selbständigkeit gewonnen haben, daß er sein Lernen weitgehend selbst verantworten kann. Es ist auch nicht zu erwarten, daß Selbständigkeit als Endpunkt des Erziehungsprozesses je erreicht wird, wenn die Lehrer nicht im Erziehungsprozeß selbst den Schiilern diese Selbständigkeit immer wieder zumuten. Das heißt mit anderen Worten: Der Endpunkt des Erziehungsprozesses muß überall da, wo es möglich ist, im Erziehungsprozeß selbst aktualisiert werden. Das gilt schon für die Primarstufe, besonders aber für die beiden Sekundärstufen.

Ursprünglich ist dieses systematische Prinzip im sogenannten Buxtehuder Modell verwirklicht worden, das sich auf die beiden Primen bezog. Dieses Modell ist von der Kultusministerkonferenz mit einigen Abwandlungen übernommen und als gymnasiale Oberstufenreform in allen Bundesländern eingeführt worden. Deshalb dürfte es angebracht sein, die Vorstellungen für die Differenzierung in der Sekundarstufe II an dem Beispiel, das seit 1966 an der Halepaghenschule in Buxtehude verwirklicht wurde, zu verfolgen. Die Klassenverbände waren aufgelöst. An ihre Stelle traten Kursgruppen, die in der Regel nicht mehr als 20 Schüler umfaßten. Diese Gruppen bildeten sich durch die freie Entscheidung der Schüler; sie wurde dadurch ermöglicht, daß die Lehrer Themen für eine begrenzte Zeitspanne anboten. Natürlich mußten die Zeitspannen für die jeweiligen Angebote gleich sein, damit sich die Organisation eines so sehr differenzierten Systems leistenließ. Die Angebote der Lehrer, die sich auf alle Pflichtfächer und Wahlpflichtfächer der beiden Primen bezogen, durften sich nicht auf formale Themenangaben beschränken (z.B.: Die deutsche Klassik), sondern sie mußten differenziert die Inhalte oder eine Gliederung dessen angeben, was in einem Semester oder einem Trimester erarbeitet werden sollte; allein dadurch konnte sich die Entscheidung der Schuler versachlichen. Im Jahre 1966 beispielsweise wurden in Buxtehude sechs Kurse im Fach Deutsch zur Wahl gestellt. Dadurch hatten die Schuler die Möglichkeit, zwischen sechs verschiedenen Themen, aber auch zwischen sechs verschiedenen Lehrern zu wählen. Eine Ankündigung für das Fach Deutsch war folgendermaßen formuliert: "Der Mensch und die Gesellschaft: Grimmelshausen (Simplizius Simplizissimus), Lessing (Emilia Galotti), Schüler (Kabale und Liebe), Ibsen (Wildente), Kafka (Der Prozeß), Brecht (Der gute Mensch von Sezuan), Johnson (Mutmaßungen über Jakob)." [32]

Die Frequenzen in den Gruppen wurden dadurch niedrig gehalten, daß jeder Primaner für ein Fach neben der ersten Wahl eines Themas auch eine zweite und eine dritte angab. Das ermöglichte es den Lehrern, sofern ihre Gruppen überzeichnet waren, die Schüler auszuwählen, mit denen sie arbeiten wollten. (Der Wahl der Lehrer durch die Schüler korrespondierte also eine, wenn auch eingeschränkte, Wahl der Schiller durch die Lehrer.) Die vorherrschende Unterrichtsform war bei der niedrigen Frequenz der Gruppen das Gespräch, in den Experimentalfächern aber auch die vom Lehrer betreute selbständige Einzelarbeit, die sich nicht nur auf einzelne Stunden beschranken mußte, sondern auf längere Zeitspannen hin angelegt sein konnte. Überhaupt war allein schon durch die generelle Einführung der Blockstunde für den Unterricht in den beiden Primen ein ständiger Wechsel der methodischen Formen angebracht.

Zur Freizügigkeit der Schüler und ihrer eigenen Verantwortung für ihr Lernen schreibt Diedrich Hinrichs:

"Zum Stil des Primenunterrichts gehört ebenfalls, daß für die Gruppen bei einer Verhinderung des Lehrers keine Vertretungen angesetzt werden. Den Schülern bleibt es freigestellt, die Zeit zum Selbststudium für eine Arbeit in Kleingruppen, zur Teilnahme am Unterricht einer Parallelgruppe - oder zum Spazierengehen zu verwenden. Nach den Erfahrungen ... wurde von den Schülern während solcher Freistunden selbständig gearbeitet, wenn ihnen Aufgaben gestellt waren, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckten, wenn sie über den Fortgang des Gruppenthemas informiert waren und wenn im Unterrichtsraum ausreichendes Arbeitsmaterial zur Verfügung stand. Voll konnte diese Freizügigkeit in den geisteswissenschaftlichen Fächern gewahrt werden, während sie in den experimentellen Fächern gewissen durch Sicherheitsmaßnahmen bedingten Beschränkungen unterlag." [33]

Dieses Kurssystem, das schon durch Wahlmöglichkeiten in früheren Schulstufen vorbereitet worden ist, kann zu einem Ineinander einer vertikalen und einer horizontalen Form führen. Damit ist gemeint, daß einzelne Themen für die Schuler unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Klassenstufe angeboten werden (vertikale Form), andere aber auf die Klassenstufe bezogen sind (horizontale Form). Besonders die horizontale Organisationsform macht es notwendig, daß zu jeder Klassenstufe eine entsprechend groß Anzahl von Schülern und mithin auch von Lehrern gehört, denn nur dadurch kann die Mannigfaltigkeit des Lehrangebots und damit auch die Wahlmöglichkeit gewährleistet werden.

Für den Bereich der Sekundarstufe II hat sich das Kurssystem durchgesetzt. Die Vorschlage der Kultusministerkonferenz zur Reform der gymnasialen Überstufe greifen darauf zurück, aber auch etwa das Modell einer Kollegstufe, in der Allgemeinbildung und Berufsbildung integriert sein sollen, wie sie in Nordrhein-Westfalen erprobt wird, und auch die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates "Zur Neuordnung der Sekundarstufe II" nehmen Anregungen aus dem Buxtehuder Modell auf.

Neben dem Kurssystem sollten aber auch für diese Stufen besondere Verfugungsstunden vorgesehen werden, um einzelnen Schülern zu helfen, wo es gerade nötig ist; außerdem werden sich vielleicht auch Sonderkurse als notwendig erweisen, in denen Schuler im Kleingruppenunterricht gefördert werden; schließlich kann außer Arbeitsgemeinschaften auch die progressive Differenzierung, die beispielsweise mit Hilfe von Programmen durchgeführt wird, eine Form rein, die sich für die Sekundarstufe II anbietet. Abschließend sei auf das Team-Teaching als eine progressive Differenzierungsform hingewiesen, die in den USA entwickelt wurde. Es ist eine Organisationsform des Unterrichts, in der die Zusammenarbeit der Lehrer um einer höheren Effizienz des Unterrichts willen institutionalisiert wird. [34] Bis heute besteht noch Unsicherheit darüber, ob die Organisationsform des Unterrichts auf die deutschen Schulverhältnisse generell übertragen werden kann; denn die Konzeption des Team-Teaching war in den USA vor allem eine Antwort auf die unzureichende fachliche Qualifikation der Lehrer für einen anspruchsvollen Unterricht. Die Kooperation der Lehrer aber als entscheidende Forderung des Team-Teaching ist auch für alle Formen der Differenzierung zu fordern, und das Fachlehrersystem, wie es auf der Sekundarstufe in den Schulen der Bundesrepublik praktiziert wird, enthalt schon wesentliche Elemente des Teams, wenngleich es Kooperation der Lehrer nicht als Voraussetzung hat. Durch die Kooperation im Team-Teaching wird Einzelunterricht, Unterricht in Kleingruppen, in Gruppen mittlerer Großgruppe und selbst in Großgruppen möglich, wie es in der flexiblen Unterrichtsorganisation vorgesehen ist. Selbst in der Primarstufe müßte die Organisationsform des Team-Teaching versucht werden, weil ein Lehrerteam wie "ein" Lehrer fungieren kann, der flexible Großraum den Schuler heimisch werden läßt und die Großgruppe wie die traditionelle Klasse wirken kann, in der Kommunikation möglich ist und sich soziale Beziehungen stabilisieren.

Die Differenzierung des Unterrichts in den mannigfaltigen Möglichkeiten der beschriebenen Formen für die verschiedenen Schulstufen kann in der Halbtagsschule nur in unzureichender Weise geleistet werden. Das entlastet die Lehrer der Halbtagsschule aber nicht von der Aufgabe, eine innere und äußere Differenzierung in dem begrenzten zeitlichen Rahmen zu versuchen und zu verwirklichen, soweit sie möglich ist. Jedoch wird erst die Tagesform der Schule die Zeit zur Verfügung stellen, die das Nebeneinander und Ineinander verschiedener Formen der Differenzierung erforderlich macht. In der notwendigen Differenzierung des Unterrichts ist eines der gewichtigsten Argumente für die Einrichtung von Tagesschulen zu sehen.



[25] Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der auf der Jahrestagung der Gemeinschaft Evangelischer Erzieher am 4. Januar 1969 im Haus der Begegung in Mülheim/Ruhr und auf der Studientagung der Studiengruppe Lehrer/Dozenten am 21. 6. 1969 an der PH Heidelberg gehalten wurde. Er ist in unterschiedlichen Fassungen veröffentlicht worden in: Bildung und Erziehung, 22. Jg. (1969), Heft 2 und in: Unterricht heute, 20. Jg. (1969), Heft 9.

[26] Das Verständnis der Schule als Lernschule ist weiter ausgeführt in meiner Schrift: Schülersein als Beruf. Heidelberg: Quelle & Meyer 1966.

[27] Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Auseinandersetzung von Herbart und Graff um das Jahresklassensystem. In: Pädagogische Rundschau, 30. Jg. (1976), S. 715-727.

[28] Vgl. dazu A. H. Francke: Ordnung und Lehrart, wie selbige in dem Pädagogio zu Glaucha an Halle eingeführt ist. In: Kramer: A. H. Franckes Pädagogische Schriften. Langensalza: Beyer 1876.

[29] Vgl. dazu Richtlinien und Lehrplane für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf: Henn Verlag 1973, S. 14 f. (Schriftenreihe des Kultusministeriums, Bd. 42.) - Außerdem: Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn: Bundesdruckerei 1973, S. 74 ff.

[30] Vgl. Die folgenden drei Faktoren wurden in die Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen übernommen. Vgl. a.a.0. S. 5 f.

[31] Vgl. Bader/Schwarz: Kern und Kurse. Ein Versuch zu freierer Gestaltung unserer Lehrpläne. Leipzig: Quelle & Meyer 1922.

[32] Diedrich Hinrichs: Primaner gestalten ihren Ausbildungsgang verantwortlich mit, in: wir machen mit. Zeitschrift für Schülermitverantwortung, Jg. 1967, Heft 1, S. 10. Ich hake mich in den Ausführungen über das Buxtehuder Modell u.a. an diesen instruktiven Bericht.

[33] Ebd., S. 7. Vgl. auch H. Wilde: Die "formierte" Prima. Erfahrungen mit dem Buxtehuder Modell, in: wir machen mit. Jg. 1967, Heft 4, S. 1-5.

[34] Rainer Winkel: Theorie und Praxis des Team-Teaching. Braunschweig: Westermann 1974. Diese Arbeit ist eine Monographie dieser neuen Organisationsform des Unterrichts.

Neue Tendenzen im Sachunterricht unter dem Aspekt der Curriculumentwicklung[35]

Die historische Dimension des Sachunterrichts

Wir vernachlässigen in der pädagogischen Diskussion der Gegenwart häufig die historische Dimension pädagogischer und didaktischer Tatbestande und Fragestellungen und begeben uns damit der Möglichkeit differenzierter Einsichten. Das wird z.B. im Zusammenhang des curricularen Aspektes des Sachunterrichts in der Grundschule deutlich. Die historische Betrachtung in der Pädagogik als einer Geisteswissenschaft ist kein Wert an sich; und in die Pädagogik gehört auch der Sachunterricht. Geisteswissenschaftliche Phänomene, so stellte Wilhelm Dilthey in seiner Philosophie fest, sind immer an den geschichtlichen Prozeß ihres Werdens gebunden, können nicht von ihrer geschichtlichen Entwicklung isoliert werden und sind voll verständlich nur auf ihrem historischen Hintergrund. In den Naturwissenschaften dagegen gilt vorrangig das erreichte Ergebnis, und zwar unabhängig von seinem historischen Hintergrund. Darin kann auch in der wissenschaftstheoretischen Diskussion der Gegenwart noch ein grundlegender Unterschied zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften gesehen werden.

Das bedeutet für die Bemühungen um den Sachunterricht, der in den Zusammenhang der Pädagogik der Schule gehört, daß die Berücksichtigung der Curriculumtheorie, wie sie sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat, immer auch abhängig ist von historischen Vorleistungen; sie gehen ein in den aktuellen Stand der Diskussion und sind in ihm im hegelschen Sinne aufgehoben. Darum ist die Frage nach historischen Vorformen des Sachunterrichts gerechtfertigt.

Drei Vorformen sollen hier kurz verfolgt werden, wovon die dritte unmittelbar gegenwartsbezogen ist:

1. Eine historische Vorform des Sachunterrichts ist der besonders aus der Pädagogik Pestalozzis entwickelte Heimatkundeunterricht[36], der unter diesem Begriff erstmals im Jahre 1844 in einer Schrift von Friedrich August Finger aufgetreten ist. [37] Heimatkunde wurde im 19. Jahrhundert als geographische Propädeutik verstanden. Sie sollte sich besonders mit dem regionalen Bereich befassen, den die Schüler unmittelbar erfahren konnten. Von diesem ihnen nahen Bereich her sollte für sie in der Geographie in einer späteren Schulstufe die Welt im ganzen eröffnet werden. So war es von Finger schon intendiert worden. Der für ihn und seine Schüler nahe Bereich war die Bergstraße, wo er in Weinheim als Lehrer wirkte. Und der Übergang zur Geographie sollte mit dem Unterricht über den Lauf des Rheins geleistet werden, den die Schüler von den Hangen des Odenwaldes aus sehen konnten.

Diese frühe Intention des Heimatkundeunterrichts ist auch im Sachunterricht der Gegenwart vorhanden. Er ist wie die Heimatkunde geographische Propädeutik, nur ist er es nicht mehr vorrangig oder ausschließlich, weil andere Inhalte, die im Leben der Kinder relevant sind, in ihm ebenfalls berücksichtigt werden sollen. Und wie die Heimatkunde verfolgt auch der Sachunterricht das in langer Tradition gewachsene didaktische Prinzip "Vorn Nahen zum Fernen". Im Buck auf das Kind unserer Zeit stellt sich aber die Frage, ob das, was ihm räumlich nahe ist, auch als das psychisch Nahe angenommen werden kann. Häufig machen wir die Erfahrung, daß mitunter das räumlich Ferne dem Kind psychisch nahe ist, was nicht zuletzt durch moderne Kommunikationsmittel verursacht sein dürfte. Allein diese Feststellung schon mußte zu einer Revision oder einer Weiterentwicklung der traditionellen Heimatkunde führen, ohne ihre ursprüngliche Intention zu negieren, und das Prinzip "Vom Nahen zum Fernen" bedarf in diesem Zusammenhang einer veränderten Definition dessen, was unter dem Nahen zu verstehen ist. Jedenfalls kann dieser Begriff nicht mehr nur das räumliche Nähe meinen.

2. In der Zeit der Schulreformbewegung ging in die Heimatkunde die Theorie der volkstümlichen Bildung ein, die überhaupt in der Pädagogik der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt hat, was u.a. auf das naturalistische Verständnis des Erziehungsprozesses in den einzelnen Richtungen der Schulreform zurückzuführen ist und auf die Wurzeln der Schulreform in der "Deutschen Bewegung", deren Ursprunge Hermann Nohl in der Zeit des Sturm und Drang aufgewiesen hat. [38] Die vom Geographischen her bestimmte inhaltliche Dimension der Heimatkunde wurde nun um die emotionale Dimension ergänzt. Deutlichen Ausdruck fand dieser neue Akzent in dem bekannten Vortrag von Eduard Spranger aus dem Jahre 1923 über den Bildungswert der Heimatkunde, in dem es wörtlich heißt: "Heimat ist erlebbare und erlebte Totalverbundenheit mit dem Boden. Und noch mehr: Heimat ist geistiges Wurzelgefühl." [39] Die im Kontext der volkstümlichen Bildung akzentuierte emotionale Dimension der Heimatkunde wurde in der Diskussion des Sachunterrichts in den letzten Jahren immer wieder kritisiert, weil Sachunterricht wissenschaftsorientiert sein sollte und darum die kognitive Dimension in den Vordergrund zu treten hätte.

Diese Argumentation geht nicht zuletzt auf die Curriculumtheorie zurück, die in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt der pädagogischen Diskussion geworden ist, und die Kritik an der emotionalen Dimension der Heimatkunde ist einer der Gründe dafür, daß es zur Konzeption des Sachunterrichts kommen konnte. Dennoch ist es an der Zeit, einen Konsensus dahingehend zu erreichen, daß im Sachunterricht die emotionale Dimension nicht vernachlässigt werden darf, auch wenn sie sich nicht in operationalisierten Lernzielen fassen Nicht alles, was Aufgabe der Schule und des Unterrichts ist, kann operationalisiert werden. Es bedürfte auch keines professionalisierten Lehrers mehr, sondern vielleicht nur noch eines Curriculumfunktionärs, wenn evaluierte Curricula keinen Spielraum mehr für die Kreativität und die Gefühlsdispositionen des Lehrers und der Schüler ließen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß die curricularen Aspekte des Sachunterrichts nicht ahistorisch verfolgt werden können. Die emotionale Komponente der volkstümlichen Bildung ist auch finden Sachunterricht bedeutsam, womit freilich nicht gemeint ist, daß sie in der gleichen Weise aktuell ist wie im pädagogischen Naturalismus der Schulreformbewegung.

3. Schulreformerische Bemühungen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg einsetzten, wollten die Heimatkunde und im Zusammenhang mit ihr auch den Gesamtunterricht der ersten Schuljahre als Umwelt- oder Anschauungsunterricht verstanden wissen. Zu erinnern ist hier an den Leipziger Lehrerverein und seine Konzeption, aber auch an die Erlebnispädagogik mit Scharrelmann und Gansberg und auch an Johannes Kühnel, der als Rechenmethodiker bekannt geworden ist, darüber hinaus aber auch für andere Lernbereiche der Grundschule Bedeutung hat. Die Heimatkunde erhielt mit der Umweltbezogenheit einen Akzent, der sie über die Geographie-Propädeutik hinausführte. Diese Umweltbezogenheit gilt auch für den Sachunterricht. Sie ist aber ein geschichtliches Phänomen, weil sie in jeder Epoche neu bestimmt werden muß, denn Umwelt verändert sich; sie ist nicht identisch über alle Zeiten hinweg. Die industrialisierten Bezüge unserer Zeit konstituieren für die Kinder bis in die Familiensituation hinein andere Umweltgegebenheiten als in Agrarverhältnissen.

Das Prinzip selbst, das die Heimatkunde bestimmt, ist demnach auch in unserer Zeit bedeutsam. Es muß aber den in unserer Zeit geltenden Bedingungen angepaßt, die im Vergleich zur Vergangenheit veränderte Umwelt muß berücksichtigt werden. Das heißt konkret, daß sich der Sachunterricht vor allem nicht mehr vor naturwissenschaftlichen und technischen Inhalten verschließen kann, die in unserer Zeit im Vergleich zur Vergangenheit eine ungleich stärkere Rolle spielen, und er muß politische Inhalte aufnehmen, denn auch sie bestimmen wesentlich die Welt des Kindes in unserer Zeit. Sachunterricht ist deshalb inhaltlich entschieden weiter gefaßt, als das für die Heimatkunde der Fall war.

Hier ließe sich einwenden, daß durch solche neuen Inhalte die Gefahr einer Verfrühung und einer Überforderung der Kinder aufkommt. Einem solchen Einwand kann mit den Ergebnissen der Begabungsforschung der letzten Jahre begegnet werden [40]. Wenn die Lernfähigkeit und die Lernmöglichkeit nicht mehr nur als von einem genetischen Potential abhängig definiert werden, sondern ihre Abhängigkeit auch von Umweltfaktoren erwiesen ist, dann hat die Umwelt mit ihren Gegebenheiten und sozialen Bedingungen für das Lernen, die Motivation und die Intellektualität des Kindes Bedeutung. Dabei kommt es zum einen darauf an, daß Inhalte aus der Umwelt den Unterricht in einer für die Kinder altersadäquaten Form bestimmen, zum anderen gilt es zu bedenken, daß der Unterricht selbst ein wesentlicher Teil der Umwelt der Kinder ist, also auch am Prozeß des Begabens der Kinder teilnimmt.

Die Konzeption des Sachunterrichts und seiner Ziele

Nach dieser Einleitung, in der drei Schwerpunkte der geschichtlichen Entwicklung der Heimatkunde zur Sprache gekommen sind, die für den Sachunterricht wesentlich sind, geht es nun um die Konzeption des Sachunterrichts und um seine Ziele, wie sie sich in der Gegenwart übereinstimmend in Richtlinien und Lehrplanen verschiedener Länder und nach dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion darstellen lassen.

  1. Sachunterricht ist ein vorfachlicher und zugleich ein überfachlicher Lernbereich.

Der vorfachliche Charakter begründet sich von daher, daß in der Grundschule die Fächer noch nicht auftreten, die den Unterricht der Sekundarstufe bestimmen und die an wissenschaftlichen Disziplinen orientiert sind, denn die Kinder der Grundschule durchschauen die Fächer als Ordnungskategorien des menschlichen Wissens und Forschens noch nicht; sie erleben die Welt in einer individuell bestimmten Ordnung und Gliederung. Deshalb ist der Sachunterricht der Grundschule den Fächern vorgeordnet. Er hat eine mehr allgemeinwissenschaftliche, noch keine fachwissenschaftliche Orientierung und von daher zugleich die Aufgabe, den Kindern die Heller als Ordnungskategorien ihres Weltverständnisses allmählich zu eröffnen. Mit diesem vorfachlichen Charakter hangt zugleich der überfachliche Charakter des Sachunterrichts zusammen. Inhalte, die Fächern zugeordnet und systematisch in Fächern angeordnet Sind, treten hier aspektartig auf: biologische, physikalische und chemische Sachverhalte etwa, aber auch technische und außerdem geschichtliche, geographische und soziologische. Alle diese einzelnen Aspekte gilt es in den Unterrichtsprozessen in eine Verbindung zu bringen. Sachunterricht kann darum auch als Fachverbund bezeichnet werden, der dem traditionellen Gesamtunterricht verwandt ist.

Bei aller Kritik, die der Gesamtunterricht erfahren hat, muß man sehen, daß die Integration der verschiedenen fachwissenschaftlichen Aspekte im Sachunterricht möglich ist, wenn der positive Kern des Gesamtunterrichts, der in einer didaktischen Konzentration zu sehen ist, übernommen wird. Eine Konzentration des Unterrichts, wie sie von Tuiskon Ziller im 19. Jahrhundert und auch wie sie in unserem Jahrhundert immer wieder gefordert wurde, zuletzt in dem Bemühen der Curriculumentwicklung um einen fachübergreifenden Unterricht auch in der Sekundarstufe [41], bestimmt auch die Konzeption des Sachunterrichts in der Grundschule und läßt ihn, soweit das heute gesehen werden kann, zu einem Vorlauf der Curriculumreform der Sekundarstufe werden. Sachunterricht wird von diesen Überlegungen her als Epochenunterricht oder als Periodenunterricht, wie Herbart das nannte, durchzuführen sein. Damit ist gemeint, daß ein Thema des Sachunterrichts nicht sporadisch mit vielleicht zwei Wochenstunden über einen längeren Zeitraum auftritt, sondern daß in einer periodischen Konzentration eine zeitliche Massierung für die unterrichtliche Behandlung eines solchen Themas vorgenommen wird. Ein Thema wird vielleicht zwei oder drei Wochen lang täglich den Unterricht bestimmen. Danach tritt dann ein anderes Thema auf, das vielleicht ganz anders akzentuiert ist. So erfolgt im Laufe eines Schuljahres ein rhythmischer Wechsel der einzelnen Akzente des Sachunterrichts für die Kinder.

Durch den Epochenunterricht verspricht man sich, dad sich die Kinder in einer Thematik gewissermaßen ansiedeln können, daß durch die Konzentration der Thematik eine Konzentration der Kinder selbst sich vollzieht. Das bedeutet aber auch zugleich für den Lehrer, daß er einen ständigen methodischen Wechsel vornehmen muß. Er kann, wenn er in dieser Weise unterrichtlich konzentriert, nicht in jeder einzelnen Unterrichtsstunde, wie das im traditionellen Unterricht vorherrschend war, die Kinder nur verbal berieseln, weil sie dadurch nicht zum Durchhalten in einer solchen Thematik kommen. Zugleich kann aber auch im Epochenunterricht die Eigengesetzlichkeit eines Sachverhaltes gewahrt werden, weil er gewissermaßen als ein Leitmotiv das unterrichtliche Geschehen bestimmt.

2. Welche Ziele und Aufgaben kommen dem Sachunterricht zu?

Er soll, allgemein formuliert, dem Kind die Welt, in der es lebt, eröffnen, erschließen, er soll das Kind in die Welt einfahren, er soll dem Kind die Welt verständlich machen. Dazu wird es nötig sein, daß der Sachunterricht die außerschulischen Erfahrungen des Kindes aufgreift, ordnet, läutert, systematisiert. Die Kinder unserer Zeit machen im Unterschied zu den Kindern vergangener Jahrzehnte und moderne Kommunikationsmittel und eine veränderte Umwelt viel stärkere und intensivere außerschulische Erfahrungen. Auf diese Erfahrungsvermittlung außerhalb der Schule kann die Schule nicht verzichten. Sie kann sich nicht mehr nur auf Schulbuch und Sprache des Lehrers zurückziehen, denn gerade der Sachunterricht muß diese außerschulischen Erfahrungen der Kinder thematisieren.

Darum wird es notwendig, daß der Lehrer im Sachunterricht zuerst einmal eine Bestandsaufnahme dessen vornimmt, was die Kinder schon wissen, verstehen oder nicht verstehen, um von daher den Sachunterricht aufbauen zu können. Vorherrschend wird diese Bestandsaufnahme im ersten Schuljahr sein, sie wird später zurücktreten, aber nie ganz aufhören, weil es immer nötig sein wird, in den Sachunterricht die außerschulischen Erfahrungen der Kinder einzubeziehen. Für diese Konzeption des Sachunterrichts wird hier auf den analytischen Unterricht zurückgegriffen, wie er von Herbart am Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert worden war. Analytischer Unterricht im Verständnis Herbarts sollte auch auf Erfahrungen und Umgang der Kinder zurückgreifen und dem synthetischen, lehrgangsartigen Unterricht vorausgehen [42]. An dieser Stelle wird wie an anderen deutlich, daß die Pädagogik Herbarts, die über lange Zeit abgelehnt worden ist, für uns eine hohe Relevanz hat.

Zum anderen geht es im Sachunterricht darum, daß eine zielgerichtete Erschließung der die Kinder umgebenden Welt erreicht wird, in der das Kind lernt, bewußt aufzufassen, zu entdecken, in der es dazu findet, eine seinem Alter gemäße Theoriebildung zu finden. Diese Theoriebildung soll an einem Beispiel verdeutlicht werden, damit nicht der Eindruck entsteht, daß die hier vorgetragene Konzeption des Sachunterrichts an der Realität der Grundschule vorbeigeht: Jedes Kind hat eine Plastikschale vor sich, die mit Wasser gefüllt ist, dazu einen Tonklumpen, der in diesem Wasser versinkt. Die Kinder bekommen den Auftrag, den Tonklumpen so auszuformen, daß er vom Wasser getragen wird. In der Phase, in der der Tonklumpen schwimmt, kann der Lehrer die Kinder auf der Grundlage der Frage, warum der Ton jetzt schwimmt, zu einer angemessenen Theoriebildung bringen, ohne daß er den Kindern Lösungen vorgibt.

3. Der Sachunterricht soll den späteren Fachunterricht motivieren oder die Kinder für diesen späteren Fachunterricht motivieren.

Damit ist gemeint, daß der Sachunterricht die Bereitschaft der Kinder für die später auftretenden Fächer nicht verschütten darf. Mancher Erwachsene hat sicher keine Beziehung zu bestimmten Fächern der Schule gewonnen, weil es den Lehrern nicht gelungen ist, gerade beim Start der Fächer in der Schule entsprechende Motivationen für diese Fächer zu schaffen, den Zauber der Fächer und ihrer Fragestellungen schon am Anfang für die Kinder wirklich werden zu lassen. Der Sachunterricht soll ein Bereich sein, in dem der spätere Unterricht motiviert wird. Ein solches Ziel 1äßt sich nicht erreichen, wenn der Sachunterricht mehr verbaler Unterricht ist, nur ein Unterricht, in dem die Sprache des Lehrers im Vordergrund steht, verbunden mit der Tafel und der Kreide. Die vorherrschende Methode des Sachunterrichts muß der handelnde Umgang der Kinder sein, weil nur in ihm die Kinder Methoden für ihre eigene Welterschließung gewinnen können.

Mit dem handelnden Umgang sind Arbeitsformen gemeint, in denen sich - wie aus dem Beispiel mit dem Ton deutlich geworden ist - die Aktivität des Kindes vollziehen kann, nicht so sehr die Aktivität des Lehrers. Das bedeutet konkret, daß die Kinder selbst die Dinge untersuchen, daß sie Versuche durchführen, Vergleiche anstellen sollen hinsichtlich Größe, Form, Mächtigkeit, Beschaffenheit der Dinge, daß sie Entwicklungsgange beobachten, daß sie Wirkungszusammenhange verfolgen, daß sie wagen und messen und eben alle die Tätigkeiten selbst vollziehen, die eine Abkehr vom bloß verbalen Unterricht bedeuten. Dazu heißt es in den Richtlinien für die Grundschule des Landes Nordrhein-Westfalen:

"Der Sachunterricht erschöpft sich also nicht im Reden und Schreiben über Sachen. Dennoch ist Sprache eng mit dem Sachunterricht verbunden; erst die Versprachlichung eines Sachverhaltes oder Funktionsablaufes macht diese begreifbar und mitteilbar. Das Verhältnis von Sache und Sprache muß ständig aktualisiert werden. Sachunterricht und Sprachunterricht verstehen sich in weiten Gebieten nur in gegenseitiger Verschränkung. Sprachliches Gestalten bestimmt oftmals den Sachunterricht, wie sachlicher Umgang in gleicher Weise sprachlichem Gestalten zugrunde liegt." [43]

Sachunterricht und Medien

Der Verbalunterricht der Vergangenheit, der ja heute noch in der Schularbeit weithin vorherrscht, brauchte kaum Lehr- und Lernmittel. Der Sachunterricht mit dem handelnden Umgang der Kinder als vorherrschender Methode ist elementar auf den Einsatz vielfaltiger differenzierter Unterrichtsmedien angewiesen. Anders läßt er sich in der konzipierten Form nicht verwirklichen. Gerade die aktuelle Konzeption des Sachunterrichts macht deutlich, daß in der Grundschule ein immenser Nachholbedarf in der sachlichen Ausstattung besteht. Sachunterricht ist ohne Medien nicht durchführbar [44]. Das ist die Voraussetzung, mit der der Sachunterricht steht und fällt. Häufig bedarf es für einen effektiven Unterricht nicht nur eines einzelnen Mediums, etwa eines Buches, eines Bildes, einer Karte, sondern verschiedener Medien, die in einen Verbund gebracht werden. Damit ist gemeint, daß nicht mehr nur ein Medium für ein Thema angeboten wird, ein Lehrmittel, ein Arbeitsblatt zum Beispiel, sondern daß verschiedene Medien konzipiert werden, die konsequent aufeinander bezogen Sind, was also beinhaltet, daß der Einsatz eines Mediums durch den Lehrer im Unterricht für den handelnden Umgang der Schuler den Einsatz des zweiten und des dritten und der folgenden nach sich zieht. Diese enge Koppelung der Medien soll ebenfalls an einem Beispiel erläutert werden:

In allen neuen Richtlinien für den Sachunterricht in der Grundschule ist das Thema Magnetismus vorgesehen. Die unterrichtliche Behandlung dieses Themas setzt voraus, daß jedes einzelne Kind einen Magneten in die Hand bekommt, wenn dieser Unterricht den angesprochenen Zielen des Sachunterrichts gerecht werden soll. Dieser Magnet sollte farblich nicht gekennzeichnet sein, er sollte keine Kennzeichnung der Pole haben, denn es muß für den Sachunterricht in der Grundschule beachtet werden, daß alles Material nicht zu perfekt sein darf. jedes einzelne Material muß dem Kind noch Spielraum lassen für eigene Phantasietätigkeit. Zu diesem Magneten muß dem Kind im Sinne des Medienverbundes einmal Material gegeben werden, das von Magneten angezogen wird, zum anderen aber auch Material, das nicht angezogen wird, damit das Kind entsprechende Versuche machen kann.

In den Medienverbund gehören aber auch Arbeitskarten, Versuchskarten vielleicht, auf denen Versuche beschrieben werden oder auf denen Versuche illustrativ angestoßen werden, denn man muß immer bedenken, daß die Lesefähigkeit der Kinder der Grundschule noch nicht so weit fortgeschritten ist, daß sie jedweden Text, der ihnen einen Versuch vermitteln soll, sinnentnehmend lesen können [45]. In diesen Medienverbund gehört aber auch beispielsweise ein Arbeitsheft für die Hand der Schuler, in dem vorformulierte Aufgaben erfüllt werden können, in dem Auftrage auszuführen sind, in dem Ergebnisse festgehalten werden. Ein solches Heft 1äßt sich aufbauen wie ein Unterrichtsprogramm. Aber auch Dias und Filme, in denen vielleicht Magnetfelder veranschaulicht sind, können hinzutreten. Schließlich gehören in den Medienverbund für diese Thematik auch Kompaß und Globus, denn über sie weitet sich das Thema Magnetismus aus, vertieft sich und gewinnt eine Anwendungsmöglichkeit.

Durch den Einsatz verschiedener Medien kann im Sachunterricht das didaktische Prinzip der Mehrdarbietung verfolgt werden. Ein einmal von einem Kinde gelernter Sachverhalt tritt hier in neuen, veränderten, anderen Zusammenhängen wieder auf. Dadurch erweitert und vertieft sich das Verständnis des Kindes für den jeweiligen Sachverhalt. Wenn ein Lehrer nur ein Medium für das Lernen der Schüler im Unterricht einsetzt, wenn er sich also zum Beispiel auf die verbale Vermittlung beschränkt, so sind seine methodischen Möglichkeiten, einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten her zu betrachten, in verschiedene Zusammenhange einzuordnen, von verschiedenen Zugängen her zu erschließen, stark eingeschränkt. Die mehrfache Exposition eines Sachverhaltes sollte aber gerade darauf zugehen, daß unterrichtliche Sachverhalte von verschiedenen Zugängen her erschlossen werden, daß sie in größere Zusammenhänge eingeordnet und von verschiedenen Seiten beleuchtet werden.

Die Berücksichtigung dieses Aspektes des Medieneinsatzes kommt einer Auffassung entgegen, die das Lernen als ein Eröffnen oder ein Stiften von Beziehungen definiert, womit zugleich gemeint ist, daß isoliert vermittelte Lerninhalte für die Bildung des Gedankenkreises eines Lernenden nicht hilfreich sind und, weil sie nicht im Gedächtnis bleiben, keine Zukunftsrelevanz für das Lernen haben. Die mehrfache Darbietung eines Sachverhaltes durch verschiedene Medien kann aber auch die Effizienz des Lernens steigern. Schüler, die den Sachverhalt bei einer ersten Darbietung noch nicht verstanden haben, vielleicht bei der verbalen Darbietung des Lehrers, werden möglicherweise durch eine zweite Darbietungsform mit Hilfe eines Mediums zum Verständnis geführt oder erst bei einer dritten Darbietungsform durch ein weiteres Medium. Diese mehrfache Exposition eines Sachverhaltes ist in einer horizontalen Form möglich: Sie vollzieht sich zeitlich im Rahmen einer Lernsequenz. Sie ist aber auch in einer vertikalen Form derart zu realisieren, daß in aufeinanderfolgenden Lernsequenzen und damit in größerem zeitlichem Abstand, etwa in aufeinanderfolgenden Schuljahren, die gleichen Sachverhalte im Sinne eines Spiralcurriculums variiert vorkommen; dieser Sachverhalt läßt sich in Anlehnung an amerikanische Publikationen auch als "Overlearning" bezeichnen [46].

Curriculumtheorie und Sachunterricht

In einem abschließenden Teil sollen nun aus der Curriculumtheorie einige wesentliche Konsequenzen für den Sachunterricht, speziell für die Entwicklung von Richtlinien für den Sachunterricht in der Grundschule gezogen werden. Ich gehe dazu von einer pragmatischen Auffassung der Curriculumentwicklung aus, die auf eine inhaltliche Reform der Schule in der Gegenwart und nicht erst in einigen Jahrzehnten gerichtet ist. Und zum anderen kommt es mir auf ein offenes Curriculum an. "Es sucht Vorzüge des herkömmlichen Unterrichts (Beweglichkeit, Situationsbezogenheit) und Anspruche der Curriculumentwicklung (systematische Vorbereitung und Überprüfung) miteinander zu verbinden und ihren jeweiligen Gefahren (Beliebigkeit einerseits, Starrheit andererseits) zu entgehen." [47]

1. Richtlinien und Lehrplane können nicht mehr durch die Kultus- und Schulverwaltungen dezisionistisch, das heißt ohne Begründungszusammenhang, verordnet werden. Sie sind vielmehr unter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen und wissenschaftlicher Kompetenz zu entwickeln und zu erproben, bevor sie verbindlich werden. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat eine Kommission, die vom Kultusminister berufen wurde, von 1969 an Richtlinien in 200 ausgewählten Schulen in eine Erprobungsphase gegeben. Erst 1973 wurden diese Richtlinien eingeschränkt für die ersten Klassen verbindlich. Bis zu ihrem Verbindlichwerden in allen Grundschulen zum Beginn des Schuljahres 1976/77 waren Korrekturen möglich, konnten die Lehrer sich darauf einstellen und die Schulträger für die angemessene Ausstattung der Grundschulen sorgen. Fast ein volles Jahrzehnt war bis dahin zwischen der Berufung einer Kommission und dem Verbindlichwerden der Richtlinien verflossen. Speziell für den Sachunterricht kann eigentlich neben einem Curriculum nur freie Gestaltungsmöglichkeit für den Lehrer angeordnet werden, so paradox das auch klingen mag; denn Sachunterricht ist umweltabhängig und deshalb innerhalb einer größeren Stadt, wenn eine Grundschule etwa in Arbeiterwohnsiedlungen liegt, eine andere im Wohnbereich gehobener Sozialschichten, in seinen Inhalten partiell unterschiedlich. Damit ist zumindest für den Sachunterricht eine der wichtigen Vorgaben aus der Lehrplantheorie Herbarts erfüllt. Schon Herbart lehnte es ab, "daß ein ganzes Land hinsichtlich des Lehrens und Lernens gleichsam Uniform trage". [48]

2. Der Richtlinienentwicklung muß die Formulierung allgemeiner Lernziele vorausgehen. Das ist das am schwierigsten zu lösende Problem der Curriculumentwicklung, denn hinsichtlich allgemeiner Lernziele sollte ein gesellschaftlicher Konsensus erreicht werden, der allerdings nicht dadurch erreichbar ist, daß in einer Kommission Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen repräsentiert sind. Allgemeine Lernziele sind nicht operationalisierbar; sie beschreiben vielmehr den Geist, der die Curriculumentwicklung bestimmen soll und der durch die Curricula für die Schularbeit maßgeblich ist. Gemeinhin kann man davon ausgehen, daß diese allgemeinen Lernziele durch Verfassungen vorgegeben sind oder daß Verfassungen zumindest Vorgaben für die Formulierung allgemeiner Lernziele enthalten. Denn jedes gesellschaftliche System, sei es sozialistisch oder kapitalistisch, versucht seine Zukunft in der Schule zu sichern, was u.a. durch die Vorgabe allgemeiner Lernziele in Verfassungen und Gesetzen unternommen wird. Allgemeine Lernziele gelten für den Sachunterricht in der gleichen Weise wie für alle anderen Lernbereiche der Schule.

3. Es geht in der Richtlinienentwicklung um die Operationalisierung von Feinlernzielen und um die Festlegung oder die Empfehlung von Lerninhalten, mit deren Hilfe diese Feinlernziele erreicht werden können. Beide Prozesse sind wechselseitig bedingt. Mehr und mehr setzt sich aber gegen eine positivistische Curriculumtheorie die Auffassung durch, daß nicht alles, was in der Schule gelernt werden soll, in Feinlernzielen operationalisiert werden kann. Einer absoluten Festlegung des Lehrers kann schon allein dadurch begegnet werden, daß er alternative Inhalte für die Erreichung von Lernzielen und verschiedene Methoden verfolgen kann. Das genügt aber ganz sicher für die Durchführung eines situationsbezogenen Unterrichts nicht. Gerade die Umweltbezogenheit des Sachunterrichts verlangt, daß dem Lehrer größerer didaktischer Spielraum zukommt, als durch alternative Inhalte und verschiedene Methoden erreicht werden kann. "Freie Beweglichkeit" für den Lehrer forderte Herbart am Beginn des vorigen Jahrhunderts. Darin ist ein wesentliches Charakteristikum seiner Curriculumtheorie zu sehen.

4. Richtlinien können keine endgültige Form und damit Verbindlichkeit für längere Zeitraume gewinnen. Deshalb muß für jeweils neue Erfahrungen, die im Unterricht gewonnen werden, ein Rücklauf in die Entwicklungsgremien vorhanden sein, die Veränderungen vornehmen können. Dadurch werden die Lehrer konkret in die Revision einbezogen, wie es überhaupt wichtig ist, daß sie auch an der Entwicklungsarbeit beteiligt sind. Mit der permanenten Curriculumrevision kann allerdings nicht gemeint sein, daß in jedem Jahrfünft eine radikale Curriculumreform stattfinden soll. Veränderungen sollten zurückhaltend vorgenommen werden, denn die Arbeit der Schule braucht eine gewisse Stetigkeit für die Lehrer und für die Schüler.

5. In die Curriculumentwicklung muß zugleich die Entwicklung von Unterrichtsmedien einbezogen werden. Das ist besonders für den Sachunterricht wichtig, weil er, wie hier ausgeführt wurde, ohne den Einsatz vielfaltiger Medien nicht realisiert werden kann. Während die traditionellen Lehrplane vornehmlich die Inhalte des Unterrichts fixierten, umfaßt ein Curriculum das gesamte Unterrichtsgeschehen, also auch die Frage der Medienbereitstellung und des Medieneinsatzes. Über die Curriculumenentwicklung für einen Lernbereich, zum Beispiel also den Sachunterricht, sollten deshalb Verlage und Lehrmittelhersteller rechtzeitig informiert werden, damit sie zu qualifizierten Angeboten kommen können. Nicht alles, was es in dem großen Medienangebot heute schon gibt, eignet sich für einen effektiven Unterricht. Unzulänglichkeiten gehen oft auf die unzureichende Information der Hersteller zurück. In dem Maße, in dem sie stärker über die Curriculumentwicklung informiert sind, kann die Medienentwicklung realistischer werden.

6. Eine wesentliche Stufe in der Curriculumentwicklung ist in der Ausbreitung der Curricula zu sehen, der dissemination, wie es in der amerikanischen Diskussion heißt. Diese Stufe wird häufig vernachlässigt. Neue Curricula können nicht gegen die Lehrer und gegen die Öffentlichkeit durchgesetzt werden. Deshalb bedarf es einer weitreichenden Information und Aufklärung mit dem Ziel, Lehrer und Öffentlichkeit für das Neue bereitzumachen. Darüber hinaus gilt es aber auch, die Lehrer zu befähigen, die neuen Curricula zu realisieren. Mit dem Prozeß der Ausbreitung muß darum die Weiterbildung der Lehrer verbunden werden.

Ausblick auf die Kooperation der Lehrer im Sachunterricht

Im Sachunterricht kann man die Mitte der inhaltlichen Reform der Grundschule sehen. Für seine Durchführung wird es wegen seiner vielfaltigen Aspekte notwendig, daß die Lehrer in stärkerem Maße kooperieren, als das in der Vergangenheit der Fall war. Die Kooperation kann so arrangiert werden, daß beispielsweise zwei Lehrer für den Sachunterricht in einer Klasse zuständig sind: der eine starker für den Bereich der sozialen Studien, der andere mehr für naturwissenschaftliche Themen. Bei der epochalen Arbeitsweise im Sachunterricht dürfte das ohne Schwierigkeiten zu realisieren sein.

Kooperation ist aber auch schon in der gemeinsamen Vorbereitung des Unterrichts, dem Gespräch über unterrichtliche Möglichkeiten, der gegenseitigen Hospitation und der gleichzeitigen unterrichtlichen Betreuung einer Klasse oder Gruppe durch zwei Lehrer oder ein Lehrerteam gegeben. Selbst die Vorbereitung des einen Lehrers kann durchaus eine wertvolle Hilfe für den anderen Lehrer sein. Nur durch die Kooperation kann es vermieden werden, daß der Grundschullehrer im Bereich des Sachunterrichts in den Dilettantismus verfallt, zu dem der Volksschullehrer der Vergangenheit genötigt war.



[35] Der Aufsatz ist als Vortrag zuerst im Herbst 1973 vor Dozenten der Pädagogischen Akademien Österreichs in Innsbruck gehalten worden. Er wurde nachgedruckt in: Erziehung und Unterricht. Österreichische Pädagogische Zeitschrift. 124. Jg. (1974), S. 376-385.

[36] Für die Herleitung der Heimatkunde wird besonders auf die "Abendstunde eines Einsiedlers" von 1780 zurückgegriffen. Vgl. Hartwig Fiege: Die Heimatkunde. Weinheim: Beltz 1958.

[37] Die Schrift von Finger hat den Titel: Anweisungen zum Unterricht in der Heimatskunde. Sie ist im 19. Jahrhundert in sieben Auflagen erschienen. Die letzte Auflage erschien 1893 in der Weidmannschen Buchhandlung, Berlin.

[38] Vgl. dazu H. Nohl: Die deutsche Bewegung. Hrsg. von O. F. Bollnow und F. Rodi. Göttingen: Vandenhoeck Ruprecht 1970.

[39] Eduard Spranger: Der Bildungswert der Heimatkunde. Stuttgart: Reclam 1952, S. 12.

[40] Vgl. Heinrich Roth (Hrsg.): Begabung und Lernen. Stuttgart: Klett. (Reihe: Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission. Bd. 4.)

[41] Vgl. dazu Altekamp-Grunfeld: Sachunterricht in der Sekundarschule. Braunschweig: Westermann 1972. (Reihe: Grundthemen der pädagogischen Praxis.)

[42] Ich greife in diesem Zusammenhang auf einen Vortrag zurück, den ich vor dem Deutschen Lehrmittel-Verband e.V. in Badenweiler gehalten habe. Vgl. J. Muth: Die neue Konzeption des Sachunterrichts in der Grundschule. Düsseldorf: Hagemann 1970.

[43] Richtlinien und Lehrplane für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Ratingen: Henn 1973, S. SU. 3. (Reihe: Die Schule in Nordrhein-Westfalen, Bd. 42.) Ich folge in diesem Zusammenhang dem Richtlinientext, weil ich Vorsitzender der Kommission war, von der die Richtlinien entwickelt wurden, und weil ich die den Sachunterricht einleitenden Partien selbst geschrieben habe.

[44] Mit den Richtlinien für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, vgl. Anm. 8, wurden für die Schulträger Empfehlungen für die Ausstattung der Grundschule entwickelt. Sie beschreiben die Ausstattung, die für die Erfüllung der Richtlinien zum Beispiel auch im Zusammenhang des Sachunterrichts gegeben sein sollte. Damit sind den kommunalen Schulträgern zum ersten mal konkrete Handhaben gegeben worden, die dankbar aufgenommen wurden und die sich in den Etatansätzen zum Teil schon niedergeschlagen haben. Vgl. dazu J. Muth: Wie soll eine Grundschule ausgestattet sein? In: Schulmanagement, Jg. 1975, S. 41 ff.

[45] In einer Untersuchung zum Erstleseunterricht wurde festgestellt, daß etwa die Hälfte der Kinder der ersten Klasse am Ende des ersten Schuljahres die Lesefähigkeit noch nicht erreicht hat. Vgl. J. Muth/W. Topsch: Erstleseunterricht an Grundschulen in Nordrhein-Westfalen. Ratingen: Henn 1973, S. 28 ff. (Reihe: Die Schule in Nordrhein-Westfalen, Bd. 41/3.)

[46] Vgl. dazu den Aufsatz in dieser Broschüre: Beurteilungs- und Auswahlkriterien für Unterrichtsmedien, besonders das Kriterium: Unterrichtsmedien sollen dem didaktischen Prinzip einer mehrfachen Exposition der zu vermittelnden Sachverhalte gerecht werden.

[47] Deutscher Bildungsrat: Zur Förderung praxisnaher Curriculum-Entwicklung. Bonn 1974, S. 21 (Empfehlungen der Bildungskommission).

[48] Vgl. Johannes Friedrich Herbart: Pädagogische Schriften. 7. Aufl., Langensalza: Beyer & Sane, 1906, 2 Bande (Manns Bibliothek Pädagogischer Klassiker). Das Zitat findet sich im Band H, S. 458 - Vgl. dazu auch J. Muth: Lehrplantheorie im pädagogischen Denken Herbarts. In: Unsere Volksschule, 10. Jg. (1959), S. 197 bis 206 und 299 bis 305.

Möglichkeiten und Grenzen schulischer Integration behinderter Kinder[49]

Integration als dominierende Tendenz im Bildungswesen

Die Forderung einer weitgehenden schulorganisatorischen Integration behinderter Kinder ist keine auf die Bundesrepublik beschränkte Erscheinung, sondern eine Tendenz, die sich im internationalen Bereich abzeichnet und die sich auch schon in einigen Ländern als Praxis durchzusetzen beginnt. In der Bundesrepublik selbst ordnet sich diese Forderung in das Integrationsbemühen im Raume der Schule und Hochschule, das als eine dominierende Tendenz in der Schul- und Hochschulpolitik unserer Zeit angesehen werden kann.

Diese Tendenz konkretisiert sich in der Entwicklung integrierter Gesamtschulen, die das traditionelle Schulsystem mit seinen getrennt nebeneinander bestehenden Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Sonderschulen, berufsbildende Schulen) in Frage stellen; mehr als hundert solcher integrierter Gesamtschulen befinden sich derzeit in der Bundesrepublik im Aufbau.

Im gleichen Zusammenhang läßt sich an die Bestrebungen erinnern, die für den Bereich der Sekundarstufe II unseres Schulwesens, also für die Altersstufe der 15- bis 18- oder 19jahrigen, auf eine Integration von Allgemeinbildung und Berufsbildung gerichtet sind; hier handelt es sich um Bestrebungen, die eine Überwindung der neuhumanistischen Bildungstheorie versuchen, denn in ihr wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts die Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung grundgelegt.

Schließlich ist hinzuweisen auf die geplante Integration im tertiären Bildungsbereich, durch die getrennt nebeneinander bestehende Hochschuleinrichtungen (Universitäten, Fachhochschulen, Akademien) in Gesamthochschulen organisatorisch zusammengeführt und die Studiengange curricular aufeinander bezogen werden sollen; die Errichtung der ersten Gesamthochschulen ist in den vergangenen Jahren durchgeführt worden.

Dem Integrationsbemühen in diesen drei Bereichen ordnet sich die Forderung einer schulorganistorischen Integration behinderter Kinder als vierter Bereich zu. Der identische Grundzug dieses Integrationsbemühens in allen Bereichen dürfte darin zu sehen sein, daß es sich um ein primär gesellschaftspolitisches Phänomen handelt, das in der fortschreitenden Profilierung demokratischen Bewußtseins seinen Grund hat. Es richtet sich konkret auf die Überwindung hierarchischer Strukturen im Bildungswesen und mithin auf den Abbau sozialer Diskriminierung.

Denn die getrennten Einrichtungen im Hochschulbereich und die jeweils separat nebeneinander bestehenden Schulformen sind keine generell gleichrangigen Institutionen, sondern sie stellen eine Rangordnung dar. In ihnen gibt es ein Oben und Unten, ein Hoch und Nieder, ein Zugelassensein, aber auch ein Ausgesperrtsein. Darum ist heute noch der Weg junger Menschen durch diese Einrichtungen von Selektionsprozessen gesteuert, die einerseits zu einer sozialen Favorisierung, andererseits aber auch zu einer sozialen Diskriminierung führen, die der gesellschaftlichen Situation des Menschen in einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen widersprechen.

Gegen die Integrationstendenzen im Bildungswesen wird immer wieder eingewandt, daß sie auf eine Nivellierung der jungen Menschen gerichtet seien, die einer Entfaltung individueller Eigenarten entgegenstehe. Dem muß man entgegenhalten, daß es für die Selektionsprozesse im Bildungswesen charakteristisch ist, daß sie an unreflektiert aus der Historie überkommenen Normen des Lernens orientiert sind, denen unabhängig von individuellen Eigenarten allgemeine Verbindlichkeit zuerkannt wird. Deshalb kann man feststellen, daß weniger die Integrationstendenz als vielmehr die Verbindlichkeit der Normen die jungen Menschen festlegt und nivelliert, nicht aber den Einzelnen freigibt in seine individuelle Eigenart.

Diese Verbindlichkeit gilt selbst für das behinderte Kind; es wird an Normen gemessen, denen es wegen seines Andersseins nicht durchweg und nicht voll entsprechen kann. Seine Behinderung kann deshalb nicht nur als gegebenes Faktum interpretiert werden; sie ist immer auch das Produkt sozialer Gegebenheiten.

Die entscheidende Aufgabe des Integrationsbemühens ist deshalb in einer Veränderung der sozialen Bedingungen des Lernens zu sehen; das impliziert, daß die Eigenart des Einzelnen in den Lern- und Sozialisationsprozessen respektiert wird. Vorrangig ist in diesem Verständnis darum die dem Einzelnen gemäße individuelle Förderung, nicht die von vermeintlichen allgemeinen Verbindlichkeiten her vorzunehmende Selektion.

Nun muß man allerdings akzeptieren, daß der schulorganisatorischen Integration behinderter Kinder eine auch in der Gegenwart noch aktuelle Separierungstendenz entgegensteht, die sich auf humanitäre Argumente beruft. Dieser Tendenz zufolge sollen behinderte Kinder jedweder Behinderungsart und jedweden Behinderungsgrades urn ihrer selbst willen in eigens für sie eingerichteten schulischen Institutionen unterrichtet und therapiert werden. Sie sollen unter sich bleiben, weil, so wird argumentiert, in der Isolierung ihrem individuell unterschiedlich reduzierten und retardierten Lernvermögen und dem von einer angenommenen Norm abweichenden Lernverhalten am besten entsprochen werden könne.

Wer deshalb eine weitgehende schulorganisatorische Integration behinderter Kinder vertritt, der muß einerseits die Mange ihrer separierten Unterrichtung aufweisen und andererseits belegen, daß die spezifischen unterrichtlichen und therapeutischen Notwendigkeiten, die für behinderte Kinder praktiziert werden müssen, in einer Schule, deren Unterrichtsprozesse auf Integration hin organisiert werden, keine Vernachlässigung erfahren.

Damit ist zugleich auch die Gliederung unserer Überlegungen vorgegeben: Es wird erstens darum gehen, die Probleme einer isolierten Unterrichtung behinderter Kinder aufzuweisen, zweitens werden die Bedingungen anzusprechen sein, die eine Integration ermöglichen, und drittens wird es um eine Darstellung der Organisationsform des Unterrichts für.die Integration Behinderter gehen.

Probleme einer isolierten Unterrichtung

Für den Aufweis der Probleme, die sich aus der schulischen Isolierung behinderter Kinder ergeben, soll hier zuerst von den Nichtbehinderten gesprochen werden, denn sie gehören in den gesellschaftlichen Kontext der Behindertenproblematik. Es ist unzureichend, die Integrationstendenz nur aus der Perspektive der Behinderten zu sehen und nur isoliert von ihnen her zu diskutieren. Die Behinderten leben als eine Minorität in der Welt der Nichtbehinderten. Diese Welt ist vornehmlich von den Normen und Maximen der Nichtbehinderten bestimmt. Darin haben die Behindertenprobleme vor allem ihren Ursprung. Die Integration der Behinderten in die Schule und die Gesellschaft ist deshalb mehr eine Aufgabe, die den Nichtbehinderten aufgegeben ist als eine Aufgabe, die sich den Behinderten stellt.

Vorrangig wird es darauf ankommen, daß die Behinderten von den Gesunden oder Nichtbehinderten human angenommen, akzeptiert werden. Diese humane Annahme ist nur in Lernprozessen für die Nichtbehinderten erreichbar. In ihnen muß zuerst das Informationsdefizit der Nichtbehinderten überwunden werden. Sie wissen zu wenig um die Probleme, die Eigenarten und den Lebensvollzug der Behinderten, und darüber hinaus bleibt ihr eigenes Verhältnis zu Behinderten in einer Welt, in der Behinderte und Nichtbehinderte zusammen leben, in den organisierten Lernprozessen der Schule aber getrennt bleiben, weitgehend unreflektiert.

Aus diesem unzureichenden Wissen und der mangelnden Reflexion erwachsen auf der Seite der Nichtbehinderten massive Vorurteile gegenüber den Behinderten, wie ja überhaupt Vorurteilsbildung eine wesentliche Komponente in unzureichendem Wissen hat. Die Vorurteile gegenüber Behinderten haben Diskriminierung zur Folge, für die freilich auch die übertriebene Leistungsorientierung unserer Industriegesellschaft, die Einschätzung des Menschen von seiner Brauchbarkeit im Wirtschaftssystem her und die Überbewertung kognitiver Fähigkeiten schon in der Schule eine Rolle spielen. Wir müssen uns einfach wieder darauf verständigen, daß die Menschlichkeit eines Menschen nicht abhängig ist von der individuell erbrachten Leistung. Individuelle, häufig egozentrisch gerichtete Leistung verhindert das Erreichen der Menschlichkeit des Menschen.

Dieser Zusammenhang mit seinen medizinischen, psychologischen, vor allem aber auch soziologischen und gesellschaftspolitischen Implikationen ist künftig in den Curricula der Schule für die Lernprozesse aller jungen Menschen zu berücksichtigen, wenn eine Integration der Behinderten in den allgemeinen Unterricht und außerhalb der Schule, neben ihr und nach ihr, eine Integration der Behinderten in die Gesellschaft geleistet werden soll.

Das aber reicht nicht aus, um hei Nichtbehinderten eine Bewußtseinsänderung herbeizuführen als Bedingung für die humane Akzeptierung Behinderter. Differenziertes Wissen und Informiert sein könnte sich auf karitative Hilfen konzentrieren, wie wir sie kennen: Distanzierte Hilfe durch die Einrichtung von vermeintlichen Schonraumen für Behinderte weitab vom realen gesellschaftlichen Leben; durch gesetzliche Bestimmungen, die von unmittelbarer Hilfe entlasten; durch Hilfsorganisationen, deren Spendenaufkommen vom Engagement in der Realität der Behindertenprobleme freisprechen. Solche karitative Hilfe ist wichtig. Man muß aber sehen, daß sie die Isolation der Behinderten verstärken kann, weil sie vom unmittelbaren Engagement in der Welt der Behinderten entlastet.In die Lernprozesse der Nichtbehinderten gehören deshalb neben Curricula über Behindertenprobleme vor allem die tägliche Erfahrung und der dauernde Umgang mit Behinderten. Das heißt mit anderen Worten: Die Nichtbehinderten müssen das Zusammenleben mit Behinderten lernen; ein solcher Lernprozeß bliebe steril, wenn er nur aus verbaler Belehrung bestände. Allein in der Gemeinsamkeit des Zusammenlebens von Behinderten und Nichtbehinderten können sich Kommunikationsmöglichkeiten ergeben, die Vorurteile abbauen, Diskriminierung verhindern und zu einer humanen Akzeptierung der Behinderten durch Nichtbehinderte führen. In diesem Zusammenhang dürfte das gewichtigste Argument für die schulorganisatorische Integration behinderter Kinder gegeben sein.

Wenden wir uns nun den Problemen zu, die sich aus der Perspektive der Behinderten durch die Isolierung ergeben. Behinderte leben in der Welt der Nichtbehinderten in einer Außenseiterposition, die nicht zuletzt durch ihre frühe schulische Ausgliederung zustande kommt. Diese schulische Absonderung setzt sich in das Erwachsenenleben hinein fort und führt ihnen ihre Unzulänglichkeiten immer wieder neu vor Augen, und um über ihre Unzulänglichkeiten hinwegzukommen, orientieren sie ihr Handeln am Lebensvollzug der Nichtbehinderten, was ihnen freilich nicht generell gelingen kann.

Die Gruppe der Nichtbehinderten stellt für sie in dieser Orientierung gewissermaßen die positive Bezugsgruppe dar, wie andererseits die Behinderten für die Nichtbehinderten eine negative Bezugsgruppe sind, von der her sie, durch die Distanzierung von dieser Gruppe, den Status ihres Nichtbehindertseins bestimmen können in der egozentrischen Art des Pharisäers, von dem das Neue Testament berichtet: "Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin ...wie dieser Zöllner."

Die schulorganisitorische Integration lost allerdings das Problem der Orientierung der Behinderten am Lebensvollzug der Nichtbehinderten noch nicht, und allein die Integration als eine organisatorische Maßnahme hebt die Insuffizienzen der Behinderten nicht auf. Der Behinderte muß lernen, seine Behinderung zu akzeptieren und mit ihr mit Nichtbehinderten zusammen zu leben. So wie es für den Nichtbehinderten eine Aufgabe ist, den Behinderten human anzunehmen, ihn in seinem Anderssein zu respektieren und zu akzeptieren, so muß analog dazu der Behinderte zu sich selbst stehen.

Auch das wiederum kann nur Ergebnis eines Lernprozesses sein. Nun könnte man aber argumentieren, dieser Lernprozeß sei für die Behinderten am besten in der Absonderung zu vollziehen. Eine solche Argumentation übersieht zum einen die Interdependenz des Integrationsbemühens: Der Behinderte kann sich nicht von sich aus in die Gesellschaft integrieren, wenn ihm die humane Annahme von Nichtbehinderten versagt bleibt und wenn ihm in der Gesellschaft kein freier Raum gewährt wird, in dem er seinen spezifischen Möglichkeiten gemäß handeln kann und Verantwortung zu übernehmen in der Lage ist; die Möglichkeit des Handelns und des Verantwortungübernehmens ist die anthropologische Voraussetzung dafür, daß er zu sich selbst stehen kann. Zum anderen übersieht diese Argumentation, daß soziale Lernprozesse, wenn sie sich in sozialen Ernstsituationen vollziehen, hier also im realen Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten, viel effektiver sein können als ein soziales Lernen, das in einer Treibhausatmosphäre geschieht, also beispielsweise in der hermetischen Absonderung der Behinderten. Hier ist eine Einschränkung zu formulieren: Das Integrationsbemühen kann nicht so verstanden werden, daß es gilt, alle behinderten Kinder in die allgemeinen Unterrichtsprozesse zu integrieren. Das Spektrum dessen, was der Begriff Behinderung deckt, ist vielfaltig. Es reicht, wenn man Extreme aufweist, von der einfachen Lernbehinderung eines in seiner Entwicklung geringfügig retardierten Kindes bis zur schweren geistigen Behinderung. Deshalb läßt sich in der Regel immer nur für den individuellen Fall auf dem Hintergrund einer flexiblen Schulorganisation die Integrationsmöglichkeit und die Separationsnotwendigkeit für ein behindertes Kind ausmachen; denn das sollte Devise der Schulorganisation der Zukunft sein: Integration des behinderten Kindes sollte gewährleistet werden, soweit sie möglich ist; Separation des behinderten Kindes sollte beschränkt werden auf das, was unabdingbar notwendig ist. Das bedeutet, daß die Separierung nur Bann und nur insoweit vorgenommen werden sollte, als die spezielle Integration nicht oder nicht ausreichend durchgeführt werden kann und als sich die Gefahr zeigt, daß das behinderte Kind bei der Integration in den allgemeinen Unterricht gravierende psychosoziale Deviationen ausbildet.

Diese Devise, an anderer Stelle als weitgehende Integration formuliert, läßt sich verfolgen, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist, deren Nichterfüllung gegenwärtig die gemeinsame Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder erheblich erschwert. Man sollte nämlich realistisch sehen: Die Schule, wie sie heute ist, kann die weitgehende Integration behinderter Kinder nicht ohne gravierende Schwierigkeiten leisten.

Bedingungen für die Integration

Was sind nun Bedingungen für die Ermöglichung einer weitgehenden Integration behinderter Kinder in die allgemeinen Unterrichtsprozesse? Hier ist es angebracht, den Begriff Integration für unsere Überlegungen zu definieren: Integration meint die überwiegend gemeinsame Unterrichtung und Erziehung der behinderten und nichtbehinderten Schüler. Das schließt nicht aus, daß behinderte Kinder neben der gemeinsamen Unterrichtung mit nichtbehinderten Kindern partiell für einen spezifischen Unterricht und für notwendige therapeutische Maßnahmen separiert werden.

1. Eine erste Bedingung für die so verstandene weitgehende Integration ist in der Früherkennung von Behinderungen zu gehen. Häufig werden Behinderungen erst beim Beginn der Schulpflicht eines Kindes auffällig. Dadurch bleibt die durch neuere Forschungen für das Lernen als bedeutsam aufgewiesene frühe Kindheitsphase ungenutzt; diese Phase beginnt eigentlich schon in den ersten Lebensmonaten eines Kindes. Damit ist schon ausgesagt, daß Früherkennung eine wirkungslose Maßahme bleibt, wenn ihr nicht eine frühe Förderung behinderter Kinder folgt, die Behinderungen begegnet und die konsekutiven Beeinträchtigungen primärer Behinderungen reduziert.

2. Die zweite Bedingung für die schulorganisatorische Integration besteht darin, daß in die Studiengänge aller Lehrer sonderpädagogische Inhalte aufgenommen werden. Die beabsichtigte Integration ist nicht zu leisten, wenn die Lehrer nichts wissen von Behindertenproblemen, von dem spezifischen Lernvermögen der Behinderen, von den primären Ursachen, die Behinderungen hervorrufen, und von den didaktischen Möglichkeiten, die in der gemeinsamen Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten zu praktizieren sind. Vor allem aber wird es schon im Studium der Lehrer darum gehen müssen, daß sich ein Bewußtsein für die Integration der Behinderten entwickelt. Von einer solchen Bewußtseinsdisposition her kann sich die heutige Selektionspraxis unserer Schulen verändern.

3. Das Studium sonderpädagogischer Curricula in allen Studiengängen der Lehrer schließt nicht aus, daß es auch weiterhin Lehrer geben muß, die in den einzelnen sonderpädagogischen Disziplinen spezialisiert sind. Es muß also weiterhin Lehrer für Lernbehinderte, für Sprachgeschädigte, für Körperbehinderte, für Blinde usf. geben. Die dritte Bedingung aber für das Integrationsbemühen besteht darin, daß diese für einzelne sonderpädagogische Disziplinen spezialisierten Lehrer nicht mehr nur darauf eingestellt sind, an separaten Sonderschulen zu unterrichten, sondern auch in frühpädagogischen Einrichtungen und in allgemeinen Schulen, die behinderte Kinder der von den betreffenden Lehrern vertretenen Behinderungsarten aufgenommen haben.

4. Die vierte Bedingung ist in der Überwindung der Starrheit der in der Gegenwart geltenden Lehrer-Schüler-Relationen zu sehen. Der Gesetzgeber legt fest, wie viel Lehrer pro Schulklasse vorgesehen werden müssen. Eine schulorganisatorische Integration der behinderten Kinder macht es aber notwendig, daß im Unterricht das Prinzip der Individualisierung der Lernprozesse verfolgt werden kann; damit ist gemeint, daß jedes Kind seiner individuellen Lerndisposition gemäß am Lernangebot partizipiert. (Dieses Individualisierungsprinzip ist im Strukturplan des Deutschen Bildungsrates akzentuiert worden.) Nur auf seiner Grundlage 1äßt sich die Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht überhaupt beabsichtigen, weil dieses Prinzip der Anpassung der Schüler an ein für alle verbindliches Niveau entgegensteht.

5. In Zusammenhang mit dieser vierten Bedingung für die Integration steht die fünfte; in ihr geht es um die Klassenfrequenzen. Solange der Gesetzgeber in der Grundschule zu hohe Klassenstärken zuläßt, ist eine Ausgliederung der in irgendeiner Form negativ von der "Norm" abweichenden Kinder häufig unvermeidlich, weil eine Individualbesorgung dieser Kinder sich bei solchen Zahlen als unmöglich erweist. Klassenfrequenzen müssen generell gesenkt und flexibel gehalten werden können; das bedeutet zum Beispiel, daß sie für eine Klasse, in der einige Kinder mit Körperbehinderungen gemeinsam mit gesunden Kindern unterrichtet werden, anders festzusetzen sind als für Klassen anderer Zusammensetzung. Das Beispiel ließe sich ausdehnen auf andere Behinderungsarten und auf Gastarbeiterkinder.

6. Die sechste Bedingung ist auf die materielle Ausstattung der Schulen gerichtet. Ohne ausreichende Ausstattung mit technischen Medien und Materialien für individualisierendes Lernen ist individuelle Förderung nur in beschränktem Umfang denn die fehlende Ausstattung führt zu einer Dominanz des Verbalunterrichts, der vom Lehrer ausgeht und nivellierende frontale Formen annimmt, weshalb er nicht dem Auffassungsvermögen aller Schüler gerecht werden kann. Deshalb steht die mangelnde materielle Ausstattung der Schulen der Verwirklichung des Individualisierungsprinzips und damit der Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht entgegen.

7. Die siebte Bedingung ist ebenfalls im Individualisierungsprinzip begründet. In ihr geht es um den Abbau des Leistungsdrucks in unseren Schulen, der vor allem dadurch entsteht, daß unser Schulwesen hierarchisch gegliedert ist und deshalb Selektionsmechanismen braucht, um Schüler für die jeweils höheren Schulformen oder Bildungsstufen auszulesen. Dieser Leistungsdruck, der Behinderte benachteiligt und Behinderungen immer wieder neu produziert - darüber muß man sich im klaren sein, daß die Schule manche Behinderungen geradezu "macht" kann eigentlich nur abgebaut werden, wenn sich das Individualisierungsprinzip für die Lernprozesse allgemein durchsetzt, wenn das Berechtigungswesen, das auf der Grundlage schulischer Leistungen, vorwiegend kognitiver, etabliert ist, negiert wird und wenn die Schule sich nicht mehr an den Anspruchen außerschulischer Instanzen orientiert, die Konkurrenz und Leistung fordern, weil wir, wie sie vorgeben, in einer Leistungsgesellschaft leben.

Es stellt sich doch die Frage, ob der Schüler in der Schule der Gegenwart nicht einem härteren Leistungsstreß ausgesetzt ist als der Erwachsene in der vielberufenen Leistungsgesellschaft der Erwachsenen. Ich meine, daß die Ansprüche auf Pünktlichkeit, Ordnung, Einfügung in eine Klasse neben dem permanenten Anspruch des Lernens in den verschiedenen Lernbereichen der Schule schon die Sechsjährigen stark fordern. Daneben schaffen Versetzungen, Zeugnisse, Klausuren und Prüfungen für die Kinder Ernstsituationen, die rücksichtsloser sein können als die Ansprüche, die in der Welt der Erwachsenen aufkommen, zumal der Erwachsene immer noch die Möglichkeit hat, zu kündigen und seinen Arbeitsplatz zu wechseln, was für den Schüler nicht gilt. Das Leistungsprinzip, das in unserer Gesellschaft verherrlicht wird und dem sich die Schule weithin unterworfen hat, verhindert die Emanzipation bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, vor allem der Behinderten in unserer Welt.

Das konsequente Verfolgen des Individualisierungsprinzips sollte dazu beitragen, den Leistungsdruck der Schule aufzuheben, der u.a. durch die Konkurrenzsituationen des Unterrichts entsteht, die eigentlich nur dem Egozentrismus der intellektuell Starken entgegenkommen, mit dem Erreichen von Sozialverhalten aber nichts zu tun haben. Ich meine, selbst auf die Gefahr hin, der Sozialromantik verdächtigt zu werden, die Schule müßte eine Stätte sein, in der sich Kinder glücklich fühlen, in der also das Lernen sich für behinderte und nichtbehinderte Kinder in einer freien und befreienden Atmosphäre vollziehen kann.

Organisationsformen für die Integration

Für.die Darstellung der Organisationsformen zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht halten wir uns an die Empfehlung "Zur pädagogischen Forderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher", die von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates am Ende des Jahres 1973 den Regierungen von Bund und Ländern übergeben worden ist [50]. Diese Empfehlung enthalt Vorschlage, deren Verwirklichung dazu führen wird, daß entschieden mehr Schülern mit Lernschwachen innerhalb der allgemeinen Schule eine besondere Hilfe und Förderung zuteilwird, als bisher in die Sonderschule, vor allem in die Schule für Lernbehinderte, überwiesen wurden. Tatsächlich hat eine viel größere Zahl von Schülern erhebliche Probleme in den Lernprozessen als die rund 6 Prozent eines Schülerjahrganges der Altersstufe der Zwölfjährigen, die sich derzeit in Sonderschulen befinden. Das hat die schwedische Schulreform schon gezeigt. Während der Dauer der Schulpflicht eines Altersjahrganges werden in diesem Land mehr als 20 Prozent der Schüler mit Lernschwierigkeiten in besonderen Organisationsformen des Unterrichts der allgemeinen Schulen zeitweise gefördert.

Im wesentlichen sind es drei Organisationsformen für die Differenzierung des Unterrichts, die in der Empfehlung der Bildungskommission vorgeschlagen werden und die besonders im Blick auf die lernschwachen Kinder konzipiert sind: Erstens innere Differenzierung des Unterrichts, zweitens Förderstunden und drittens Förderkurse. Jede dieser drei Formen erstrebt eine Individualisierung des Unterrichts. In der Empfehlung hat es dazu, "daß die Lernzielfolge nicht an einen empirisch ermittelten Durchschnitt gebunden werden darf, der voraussetzt, daß alle Lernenden auf dem gleichen Wege und zur gleichen Zeit das gleiche Ziel erreichen können. Anstelle einer Durchschnittsorientierung muß die Curriculumanordnung vom individuellen Bildungsbedarf auch des schwächsten Kindes ausgehen. Deshalb müssen in individuell organisierten Lernprozessen die Gemeinsamkeiten des Lernens und der Kommunikation aller Kinder gesucht werden." [51]

Vor allen denkbaren Möglichkeiten der Differenzierung des Unterrichts sollte die innere Differenzierung (Binnendifferenzierung) praktiziert werden [52]. Damit ist eine Differenzierungsform gemeint, bei der die Klassen oder Schülergruppen bei gleicher Zusammensetzung in allen Fächern unterrichtet werden. Für den Lehrer kommt es in der inneren Differenzierung darauf an, daß er den einzelnen Schüler individuell fördert, ohne ihn von der Klasse oder Gruppe zu isolieren und einer anderen Lerngruppe zuzuführen. Die innere Differenzierung konkretisiert sich

  • in der differenzierten Hilfe des Lehrers, die sich nach den individuellen Lernfähigkeiten der Kinder richten sollte;

  • im unterschiedlichen Niveau der Anforderungen, das dem Entsprechungsniveau der Schüler angepaßt werden muß, womit also eine qualitative Differenzierung gemeint ist;

  • in der unterschiedlichen Anzahl der Aufgaben, die den Schülern gestellt werden und deren Anzahl für die Schüler differieren sollte, was auf quantitative Differenzierung hinauslauft;

  • in der unterschiedlichen Zeitbemessung für das Bewältigen der Aufgaben und das Durchlaufen der Lernprozesse;

  • im Einsatz verschiedener Medien, die zur Individualisierung des Unterrichts beitragen;

  • in der Einrichtung flexibler Lern- und Fortschrittsgruppen, die zeitlich begrenzt zusammengesetzt werden.

Die zweite Organisationsform wird unter der Überschrift "Förderstunden" in der Empfehlung der Bildungskommission folgendermaßen beschrieben: "Insbesondere im Primarbereich (Klassen 1-4) ... sollten im Rahmen der verbindlichen Lehrer-Wochenstundenzahlen mindestens drei Stunden für einen zusätzlichen Unterricht der Schüler in die freie Disposition der Lehrer gegeben werden. In diesen Stunden sollte ein Lehrer in Kleingruppen Schüler mit Lerndefiziten zusätzlich unterrichten. Der Schwerpunkt dieses Unterrichts sollte in der Sprache und in der Mathematik liegen (dabei muß beachtet werden, daß im Lernbereich Sprache der Rechtschreibung nur eine geringe Bedeutung zukommt). Für den zusätzlichen Unterricht, der für einen Schüler immer zeitlich begrenzt ist, wählt der Lehrer die Schüler aus. Er sollte einer möglichen Diskriminierung der Schüler, die zusätzlich unterrichtet werden, entgegenwirken." ([53]

Disponible Lehrerstunden werden vor allem für den Primarbereich vorgeschlagen, weil die Überweisungen in die Schule für Lernbehinderte vornehmlich aus der Grundschule erfolgen. Mehr als die Hälfte dieser Überweisungen ist mit dem Ende des zweiten Schuljahres schon abgeschlossen. Es ist aber auch durchaus vorstellbar, daß diese Organisationsform in höheren Schulstufen eingerichtet wird. Die Realisierung dieser Förderstunden könnte den Nebeneffekt haben, daß das Bewußtsein der Lehrer stärker auf die individuelle Hilfe als auf Aussonderung der Schuler gerichtet wird.

Die dritte Organisationsform, der sogenannte Förderkurs, ist den schwedischen Schulkliniken verwandt [54]. Die Zielgruppe, für die diese Form gedacht ist, wird in der Empfehlung der Bildungskommission folgendermaßen beschrieben: "Ein Förderkurs wird eingerichtet für Schüler mit partiellen und temporaren Lernstörungen oder Lernrückstanden, die verschiedene Ursachen haben können, oder mit definierbaren Ausfallen, zum Beispiel Legasthenie, oder auch für Kinder, die infolge einer abweichenden Situation im Lernbereich (zum Beispiel anregungsarmes Elternhaus), im Verhaltensbereich (zum Beispiel im subkulturellen Grastadtmilieu), im Sprachbereich (zum Beispiel Gastarbeiterfamilien) oder aufgrund längerer Abwesenheit vom Unterricht (zum Beispiel durch Krankenhausaufenthalt) Lerndefizite aufweisen und deshalb auch von Verhaltensstörungen bedroht sind." [55]

Die Struktur der Förderkurse und ihre Organisation, wie sie in der Empfehlung beschrieben sind, lassen sich in zehn Punkten konkretisieren:

  • Ziel des Förderkurses ist es, dem Schuler so viel individuelle Hilfe zu gewahren, daß er wieder zur vollen Mitarbeit in seiner Klasse befähigt wird, das Wiederholen einer Klasse zu vermeiden und segregierende Maßnahmen, wie die totale, zeitlich nicht begrenzte Ausgliederung von Schülern, zu verhindern.

  • Der Unterricht im Förderkurs kann sich auf ein Fach oder auf mehrere Fächer erstrecken. In jedem Falle werden es die Fächer sein, in denen für ein Kind Schwierigkeiten aufgetreten sind.

  • In allen Fächern, in denen ein Kind nicht am Förderkurs teilnimmt, das wird in jedem Falle die Mehrzahl der Fächer sein, bleibt es in den Unterricht seiner Klasse oder Stammgruppe integriert.

  • Der Förderkurs wird als Einzelunterricht oder als Unterricht in Kleingruppen durchgeführt. Durch die Individualisierung des Lernens wird er lernintensiver sein können als der Klassenunterricht.

  • Die Teilnahme am Förderkurs wird für das Kind zeitlich begrenzt sein, weil sie jeweils abhängig ist von der Überwindung der individuellen Lernschwierigkeiten. Die Einweisung in den Förderkurs und die Rücküberweisung in die Klasse kann zu jeder Zeit des Schuljahres erfolgen.

  • Die Zusammensetzung der Fördergruppen wird variabel sein, und die Gruppen werden keine zeitliche Konstanz haben. In den Gruppen können Schuler aus verschiedenen Klassen und auch Schüler verschiedenen Alters zusammengefaßt werden, weil die Förderung weitgehend individualisiert erfolgt.

  • Nach Möglichkeit sollte der Förderunterricht für ein Kind kein zusätzlicher Unterricht sein. Das 1äßt sich bewerkstelligen, wenn zum Beispiel an die Stelle des Mathematikunterrichts in der Klasse die Förderung in Mathematik im Förderkurs tritt. Natürlich kann es auch vorkommen, daß die Stundenplanorganisation eine solche Überlappung nicht gestattet.

  • Der Unterricht im Förderkurs soll von Sonderpädagogen der Fachrichtung Lernbehinderte verantwortet werden. Als günstig erweist es sich, wenn sie als zweite Fakultas Sprachbehinderten- oder Verhaltensgestortenpädagogik haben. Der Fachunterricht, der von ihnen im Förderkurs nicht abgedeckt werden kann, sollte von allgemeinen Lehrern übernommen werden.

  • Die Zusammenarbeit der allgemeinen Lehrer und der Sonderpädagogen bedarf der Institutionalisierung, um Überweisungen, Rücküberweisungen und Informationen über Lernfortschritte der Klasse bzw. des Kindes im Förderkurs verbindlich zu gestalten.

  • Für den Förderkurs der Schule sind in einer Schule eigene Räumlichkeiten notwendig, die sich für Einzel- und Kleingruppenunterricht eignen. Darüber hinaus ist aber auch eine ausreichende Ausstattung mit Materialien notwendig, die über Lernschwierigkeiten hinweghelfen und einen individualisierenden Unterricht erlauben.

Zur Qualifizierung der Lehrer für einen differenzierenden und individualisierenden Unterricht und mithin für die Praktizierung der drei beschriebenen Organisationsformen schlägt die Bildungskommission in ihrer Empfehlung vor, daß alle Lehrer in ihrem Studium eine sonderpädagogische Grundqualifikation erreichen sollen, die sie auch befähigt, drohende und auftretende Schwierigkeiten in den Lernprozessen zu erkennen und ihnen soweit zu begegnen, wie es ihnen möglich ist. Deshalb sollten alle Lehrer in ihrem Studium mit sonderpädagogischen Inhalten konfrontiert werden. Für Grundschullehrer sollte ein Zehntel des Studienumfangs sonderpädagogischen Inhalten vorbehalten sein.

Eine weitere Organisationsform für die Integration behinderter Kinder besteht in einer behinderungsspezifischen Förderung. Sie erfaßt behinderte Kinder, die, bei voller Integration in den allgemeinen Unterricht, eine zusätzliche auf ihre Behinderung bezogene Unterrichtung oder Therapie erhalten: Bewegungstherapie bei Körperbehinderten, Sprachtherapie bei Sprachbehinderten usf. Während es also bei dem vorhin beschriebenen Förderunterricht um die Betreuung der Kinder bei vorhandenen Lerndefiziten geht, ist hier eine durch die Behinderungsart des Kindes sich als notwendig erweisende Forderung gemeint. Dazu werden Sonderpädagogen und Therapeuten in den allgemeinen Schulen tätig werden müssen, denen die Aufgabe zukommt, die Einzel- oder Kleingruppentherapie und den spezifischen Unterricht durchzuführen. Es ist denkbar, daß einzelne allgemeine Schulen, jeweils regional verteilt, Kinder einer primären Behinderungsart und einer häufig von ihr ausgelosten konsekutiv auftretenden zweiten Behinderung aufnehmen. Würden mehr als zwei oder drei Behinderungsarten in die Unterrichtsprozesse einer Schule integriert, so entstünde möglicherweise eine Überpopulation behinderter Kinder, die zu einer neuen Separierungstendenz führen könnte. Außerdem muß man berücksichtigen, daß eine Schule, die Kinder einer bestimmten Behinderungsart aufnimmt, die entsprechende sachliche und materielle Ausstattung für die Forderung der Kinder im allgemeinen und im speziellen Unterricht sowie die Therapie in einer optimalen Weise haben muß; man braucht nur an die notwendige apparative Ausstattung für die Betreuung von Kindern mit Gehörschädigungen zu erinnern. Auch von daher erscheint es nicht ratsam, eine Massierung von Kindern mehrerer Behinderungsarten an einer Schule vorzunehmen.

In einer flexiblen Unterrichtsorganisation hat darüber hinaus eine additive Angliederung von Gruppen behinderter Kinder, für die eine Teilintegration in die allgemeinen Unterrichtsprozesse ermöglicht wird, eine wichtige Funktion. Die Vielfalt der Unterrichtsfächer in den aufeinanderfolgenden Schulstufen umfaßt vom Politischen Unterricht über die Religion, den Werkunterricht, die Sprachen bis zu den Naturwissenschaften und der Mathematik mehr als ein Dutzend spezieller Lernbereiche, die jeweils andere Anspruche an das Lernen der Kinder und das methodische Arrangement der Lehrer stellen. Diese Vielfalt schafft die Möglichkeit, für jedes behinderte Kind zu prüfen, inwieweit eine Sonderbetreuung notwendig ist.

Die partielle Integration, die hier gemeint ist, kann bei einem Unterrichtsfach beginnen und sich im Laufe der Schulzeit auf andere Fächer ausdehnen, möglicherweise bis hin zur vollen Integration mit einer zusätzlichen behinderungsspezifischen Forderung. Über die obligatorischen Fächer hinaus können natürlich auch Wahlfächer und Arbeitsgemeinschaften in diese vierte Integrationsform einbezogen werden.

Schließlich ist eine additive Angliederung von Gruppen behinderter Kinder oder ganzer Sonderschulformen an allgemeine Schulsysteme realisierbar. Die in den einzelnen Bundesländern in den vergangenen Jahren veröffentlichten Erlasse zur Errichtung von Schulzentren bedürfen deshalb einer Erweiterung in dieser Hinsicht. Eine additive Angliederung ohne Teilintegration ermöglicht besonders in Schulen in Tagesform das Arrangement von Kontakten zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern in einem Schulleben, das über den Unterricht hinausreicht.

Selbst diese Organisationsform, die auf eine weitgehende Separierung behinderter Kinder gerichtet ist, kann sich einordnen in das flexible System integrativer Organisationsformen, denn die Entscheidung, ein Kind einer Sonderschulform zuzuführen, die lediglich additiv einer allgemeinen Schule angegliedert ist, muß nicht ein für allemal gelten. Für jedes Kind sollte die Möglichkeit einer Überführung in andere Organisationsformen eröffnet werden. Darin unterscheidet sich das hies in kurzen Zügen dargestellte flexible System grundsätzlich von der bisherigen Praxis, in der die Einweisung in eine Sonderschule kaum mehr revidierbar ist.

Schlußbemerkung

Die Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht ist eine gewichtige Voraussetzung für die Integration in die Gesellschaft. Allerdings ist die Integration auf diesen beiden Ebenen nur auf der Grundlage einer Bewußtseinsänderung zu leisten, die sich für die Lehrer wie für alle Menschen unserer Gesellschaft vollziehen muß. Denn die Integration in die allgemeinen Unterrichtsprozesse ist nicht gegen die Lehrer zu realisieren. Und die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft ist nicht zu leisten, wenn der inhumane Egozentrismus, der in unserer Gesellschaft noch verbreitet ist, nicht überwunden wird.

Natürlich gibt es auch in diesem Zusammenhang Interdependenzen. So kann zum Beispiel die Integration behinderter Kinder in die allgemeinen Unterrichtsprozesse nicht aufgeschoben werden bis zu dem Tag, an dem das Bewußtsein aller Lehrer dafür aufgeschlossen ist, weil die Integration selbst das Bewußtsein der Lehrer verändern wird. Überhaupt ist es vorstellbar, daß sich die Schule, so wie sie heute ist, im ganzen verändert, wenn behinderte Kinder in die allgemeinen Unterrichtsprozesse aufgenommen werden. Und die humane Annahme der Behinderten durch die Gesellschaft ist wiederum abhängig von den Voraussetzungen, die in der Schule geschaffen werden.

An dieser Stelle zeigt sich, daß nicht jede Bedingung, die hier für die schulorganisatorische Integration behinderter Kinder gilt, optimal erfüllt sein muß, um die Integration zu realisieren. Die Integration kann in Ansätzen jetzt schon beginnen, weil sie aus sich selbst heraus die Verhältnisse ändert und sich die Bedingungen ihrer Ermöglichung schafft. Sie hat auch in einer ermutigenden Form schon begonnen [56].

Quelle:

Jakob Muth: Schulpädagogik. Einführung in ihre aktuellen Fragestellungen.

Erschienen in der Reihe: neue pädagogische bemühungen, Band 75, Herausgeber: Prof. Dr. Werner Loch, Prof. Dr. Jakob Muth. ISBN-Nr. 3-87964-220-6

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 11.02.2013



[49] Der Aufsatz ist in seinem ersten Teil die für den Druck überarbeitete Fassung eines Vortrags, der zuerst im September 1972 anläßlich der Ersten Neustifter Gespräche für Sozialpädiatrie in Brixen/Südtirol und im zweiten Teil ein Vortrag, der auf einer Grenzlandtagung deutscher und niederländischer Pädagogen im November 1974 in Amersfoort in Holland gehalten wurde. Gedruckt wurde der erste Teil unter dem Titel "Zur schulorganisatorischen Integration behinderter Kinder" in: Theodor Hellbrügge (Hrsg.): Probleme des behinderten Kindes. München: Urban & Schwarzenberg 1972, der zweite Teil in: neue deutsche Schule, 27. Jg. (1975), Heft 4, unter dem Titel: Organisationsformen für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern.

[50] Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn 1973.

[51] ebd., S. 70.

[52] In der Darstellung der inneren Differenzierung des Unterrichts hat sich die Empfehlung der Bildungskommission eng an die Darstellung angelehnt, wie sie enthalten ist in "Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen", Ratingen: Verlag Henn 1973, besonders S. 14 f.

[53] a.a.0., S. 83.

[54] Vgl. J. Muth/W. Topsch: Schulkliniken in Schweden. EM Modell für die Förderung lernschwacher Kinder. In: Sonderpädagogik, 2. Jg. (1972), S. 117-124.

[55] a.a.0., S. 83 f.

[56] Vgl. dazu J. Muth/A. Knie/W. Topsch: Schulversuche zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht. Braunschweig: Westermann 1976 (Reihe: Deutscher Bildungsrat, Materialien zur Bildungsplanung, Heft 6) - Rudolf Schindele (Hrsg.): Unterricht und Erziehung Behinderter in Regelschulen. Reinstetten: Schindele Verlag 1977.

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