Integration von Behinderten

Über die Gemeinsamkeit im Bildungswesen

Autor:in - Jakob Muth
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen bei Neue-Deutsche-Schule-Verlagsgesellschaft, Essen. ISBN 3-87964-255-9
Copyright: © Neue Deutsche Schule Verlagsgesellschaft mbH, Essen 1986

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Meist werden die Vorworte von Büchern zum Schluß geschrieben, wenn der Text abgeschlossen ist und vielleicht sogar die Korrekturen schon gelesen sind. Für das hier vorliegende Buch ergibt sich aus dieser Praxis die Möglichkeit, auf einige aktuelle Ereignisse des Sommers 1986 aus dem Zusammenhang der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten hinzuweisen:

  • in Rüsselsheim findet das 4. Bundestreffen der Vereinigung "Eltern gegen Aussonderung behinderter Kinder" statt. Wer die Treffen von Bremen an über Bonn und Saarbrücken verfolgt hat, der kann ermessen, was gemeint ist, wenn die Prognose gewagt wird, daß die Initiative von Müttern und Vätern in wenigen Jahren ein Aufbegehren geworden ist, das Schule verändern wird.

  • In Berlin haben in den vergangenen Jahren zwei integrative Schulen beispielhaft für viele Schulen in anderen Bundesländern gearbeitet. Die derzeitige Berliner Schulsenatorin wird mit dem Beginn des neuen Schuljahres die Zahl der Schulen deutlich ausweiten, die behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam besuchen. Es bleibt zu wünschen, daß nicht schon vor dem Beginn der neuerlichen integrativen Arbeit einzelne behinderte Kinder ausgeschlossen werden, denn Integration ist unteilbar.

  • In Nordrhein-Westfalen und im Saarland sind die Kulturverwaltungen bemüht, die allgemeinen Schulen in verstärktem Maße für behinderte Kinder zu öffnen. Entsprechende Erlasse werden vorbereitet. Sie erstreben zugleich, sonderpädagogische Kompetenz in die allgemeinen Schulen zu bringen, ohne das Sonderschulwesen in Frage zu stellen. Auf längere Sicht wird freilich eine Umorientierung des Schulwesens im ganzen unvermeidbar sein.

  • In diese Situation hinein erscheinen in den nächsten Monaten die ersten Studienbriefe des Deutschen Instituts für Fernstudien an der Universität Tübingen, mit denen die Lehrer allgemeiner Schulen aufgeklärt werden über Behinderungen, ihre Ursachen und ihre Auswirkungen und vor allem über die Förderung behinderter Schüler im allgemeinen Unterricht. Die Sanktionierung der Weiterbildung der Lehrer für die neue Aufgabe ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit.

Für mich ist die Integration von Behinderten im Deutschen Bildungsrat und in seinem Ausschuß Sonderpädagogik im Jahre 1970 zur Aufgabe geworden. Sie konkretesierte sich in Gutachten, um die ich gebeten wurde, in Vorträgen, die ich gehalten habe, in Aufsätzen, die in Zeitschriften und Handbüchern zerstreut sind, und vor allem auch in der Arbeit, die ich dank zweier Forschungsaufträge verfolgen konnte, die der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen finanziert hat. Alle diese Äußerungen sind mehr oder weniger ausführlich in den Text dieses Bandes zur "Integration von Behinderten" eingegangen.

Zu danken ist dem Minister; er hat sich mit der Finanzierung der beiden Projekte offen für die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im Bildungswesen gezeigt. Danken möchte ich aber auch allen, die mich durch Kritik und Widerspruch zum Nachdenken gebracht, besonders aber auch denen, deren Zustimmung und Unterstützung mich ermutigt haben.

Heiligenhaus und Bochum, im Mai 1986

Jakob Muth

1. Zur Vorgeschichte und Begründung des integrativen Bemühens im Bildungswesen der Bundesrepublik

1.1 Integration und Demokratisierung

Im Jahre 1973 wurde die erste geschlossene Konzeption für die Integration behinderter Kinder in das allgemeine Schulwesen vorgelegt. Es handelt sich dabei um eine Empfehlung des Deutschen Bildungsrates mit dem Titel: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Integration wird in dieser Empfehlung als eine neue Konzeption verstanden, "die eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung mit Nicht-behinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontakte mit Nichtbehinderten ermöglicht."[1]

Die Forderung einer weitgehenden schulorganisatorischen Integration behinderter Kinder ist keine auf die Bundesrepublik beschränkte Erscheinung, sondern eine Tendenz, die sich im internationalen Bereich abzeichnet und die sich in einigen Ländern als Praxis durchgesetzt hat oder durchzusetzen beginnt. Besonders das integrative Bemühen der skandinavischen Länder ist in den letzten Jahren bekannt geworden und auch die integrative Entwicklung im Schulwesen Italiens seit der Mitte der siebziger Jahre, die im übrigen ausgelöst wurde in der 68er Bewegung durch das Aufgebehren der Studenten und Arbeiter. Aber auch andere europäische und außereuropäische Länder unternahmen und unternehmen Anstrengungen, um schon im Bereich der Kindergärten und in den Schulen die Behinderten zu integrieren.

In der Bundesregierung ordnet sich die Forderung einer weitgehenden schulorganisatorischen Integration der Behinderten in das Integrationsbemühen im Raume der Schule und Hochschule ein, das als eine dominierende Tendenz in der Schul- und Hochschulpolitik unserer Zeit angesehen werden kann. Eigentlich ist die Integrationstendenz in Deutschland seit dem Beginn der Weimarer Zeit feststellbar, in der es auf der Grundlage der Weimarer Verfassung zur Einrichtung der Grundschule kam, in der alle Kinder des Volkes in den ersten vier Schuljahren gemeinsam unterrichtet und erzogen werden. Die Grundschule kann als eine Konsequenz des sich ausbreitenden demokratischen Bewußtseins im deutschsprachigen Raum gesehen werden. Hier schon, bei ihrer Einrichtung von 1919 an, wurde der Zusammenhang von Demokratisierung und Integration einsichtig.

Seit dem Ende der sechziger Jahre konkretisierte sich diese Tendenz in der Bundesrepublik vor allem in der Entwicklung Integrierter Gesamtschulen im Bereiche der Sekundarstufe I, die eine Alternative bilden zum traditionellen Schulsystem mit seinen getrennten voneinander bestehenden Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Sonderschulen, Berufsbildende Schulen). In den Gesamtschulen setzt sich eine Entwicklung fort, die von der Weimarer Verfassung ausgelöst worden war, denn schon die Grundschule ist als eine horizontale Schulstufe eine Gesamtschule in integrierter Form eingeschränkt auf die Altersstufe der Sechs- bis Zehnjährigen. In der Schulpolitik aber gibt es noch Kontroversen um die Gesamtschule als integriertes Schulsystem. Das spricht nicht gegen die Gesamtschule als integrative Schule der Sekundarstufe I. Sie ist weiterhin in einer allmählichen Ausbreitung begriffen, und der Anteil der Schüler, die in der Sekundarstufe I eine Gesamtschule besuchen, wächst, auch durch die Einrichtung von Förder- oder Orientierungsstufen in den Klassen fünf und sechs, deutlich über die Zehn-Prozent-Marche hinaus.

Im gleichen Zusammenhang läßt sich auf die Bestrebungen hinweisen, die für den Bereich der Sekundarstufe II unseres Schulwesens, also für die Altersstufe der Fünfzehn- bis Achtzehn- oder Neunzehnjährigen, auf eine Integration von Allgemeinbildung und Berufsbildung gerichtet sind. Hier handelt es sich um Initiativen, die eine Überwindung der neuhumanistischen Bildungstheorie versuchen, denn in ihr wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts die Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung grundgelegt. Etwa zwanzig sogenannte Kollegschulen, in denen Schüler die Hochschulreife und eine berufliche Qualifikation erreichen können, in denen also die Integration von Allgemeinbildung und Berufsbildung praktiziert wird, sind in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren entstanden. Inzwischen beschränken sich Einrichtungen, die eine Doppelqualifikation ermöglichen, nicht mehr auf dieses eine Bundesland und nicht mehr auf das öffentliche Schulwesen. Manche gymnasiale Oberstufe ermöglicht durch Ausbau und Erweiterung im Bereich der Leistungskurse den Schülern zumindest eine angenäherte Doppelqualifikation, und einzelne Waldorfschulen und Landerziehungsheime haben diese Form der Integration schon praktiziert, bevor das öffentliche Schulwesen sich damit zu beschäftigen begann.

Hinzuweisen ist aber auch auf die begonnene Integration im Hochschulbereich, durch die die getrennt nebeneinander bestehenden Hochschuleinrichtungen (Universitäten, Fachhochschulen, Akademien) in Integrierten Gesamthochschulen organisatorisch zusammengeführt und die Studiengänge curricular aufeinander bezogen werden sollen. Die Errichtung der ersten Gesamthochschulen ist in den siebziger Jahren durchgeführt worden. Selbst wenn es danach nicht mehr zur Gründung weiterer kam, muß doch gesehen werden, daß die integrative Idee zu einer Binnenreform in den bestehenden Hochschulen geführt hat. Die gleiche Erscheinung war auch im Schulwesen feststellbar. Die Ausbreitung und die Existenz von Integrierten Gesamtschulen hat zu einer deutlichen Binnenreform der bestehenden, traditionellen Schulen geführt.

Schließlich ordnet sich hier auch das Bemühen um die Integration von Kindern ausländischer Mitbürger besonders in die Grundschule und die Hauptschule ein. Die Diskussion beispielsweise um die türkischen Kinder läßt neuerdings selbst im öffentlichen Bewußtsein deutlich werden, daß Integration nicht die Nivellierung individueller Eigenarten meint, sondern ihre Respektierung im Zusammenleben, nicht die Leugnung ethnischer Profile, sondern das Wissen darum, daß Gemeinsamkeit nur hervorgebracht werden kann in der Wahrnehmung der Unterschiede. Mit Theodor Ballauff läßt sich sagen, daß gerade deshalb die "Allgemeinbildung" noch stärker zur Aufgabe der Schule wird als in der Vergangenheit: "Als Bildung im Gemeinsamen, im Allgemeinen und als Bildung, aller", weil wir nicht mehr eine gemeinsame "Religion", "Konfession", "Weltanschauung" und ethnische Herkunft haben, "die deligieren, restringieren, dirigieren. Erst heute ist uns alles offen und die menschliche Gemeinsamkeit im Gedanklichen, Sprachlichen, Wissenschaftlichen, Politischen, Künstlerischen, Wirtschaftlichen erschlossen."[2]

Dem Integrationsbemühen in diesen vier Bereichen - Gesamtschule, Sekundarstufe II, Gesamthochschule und Kinder ausländischer Mitbürger - ordnet sich die Forderung einer schulorganisatorischen Integration behinderter Kinder als fünfter Bereich zu. Diese Forderung hat ihren konkreten Ausdruck in der genannten Empfehlung gefunden, mit der die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates "der bisher vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schulische Integration entgegen" stellt[3], aber auch in der Gründung einer Reihe integrativer Schulen, die mehr oder weniger eng an den konzeptionellen Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates orientiert sind und inzwischen alle Behindertenarten umfassen, schließlich in dem Bemühen, behinderte Kinder stärker als in den vergangenen Jahrzehnten in den allgemeinen Schulen zu behalten, also nicht in Sonderschulen zu überweisen.

Der identische Grundzug des Integrationsbemühens in allen Bereichen dürfte darin zu sehen sein, daß es sich um ein gesellschaftspolitisches Phänomen handelt, das in der fortschreitenden Profilierung demokratischen Bewußtseins seinen Grund hat und das seit 1789 in einem Prozeß der Ausbreitung begriffen ist, der auch zweihundert Jahre nach der französischen Revolution noch fortdauert. Demokratisierung ist immer ein Integrationsprozeß. Es geht in ihm um das humane Miteinander verschiedener sozialer Schichten, um den Abbau von Vorrechten einzelner Schichten und um die Überwindung hierarchischer Strukturen, es geht um die Menschenwürde jedes einzelnen. Deshalb ist Integration kein Problem, dessen Für und Wider diskutiert werden kann, sondern eine Aufgabe, die den Menschen in einer demokratischen Gesellschaft aufgegeben ist.

Auch die Integrationsbemühungen in Schule und Hochschule richten sich auf die Überwindung hierarchischer Strukturen und mithin auf den Abbau sozialer Benachteiligung im Bildungswesen. Denn die getrennten Einrichtungen im Hochschulbereich und die jeweils separat nebeneinander bestehenden Schulformen sind bis heute noch keine generell gleichrangigen Institutionen geworden, sondern sie stellen eine Rangordnung dar. In Ihnen gibt es ein Oben und Unten, ein Hoch und Nieder, ein Zugelassensein, aber auch ein Ausgesperrtsein.

Darum ist heute noch der Weg junger Menschen durch diese Einrichtungen von "Auslesen" bestimmt, diesen Prozessen "aus der Welt der Züchter und Biologen", von Prüfungen und Sonderungsverfahren, die einerseits zu einer sozialen Favorisierung, andererseits aber auch zu einer sozialen Diskriminierung führen können, die der gesellschaftlichen Situation des Menschen in einem demokratischen verfaßten Gemeinwesen widersprechen. Die Gefahr einer sozialen Diskriminierung stellt sich besonders für behinderte Kinder und Jugendliche, und eine Schule, die Kinder in erschwerten Lebenssituationen aussondern kann, wird pädagogisch ärmer. Pädagogisch - und demokratisch - ist es, sich um die Zugehörigkeit jedes jungen Menschen zur Gemeinsamkeit aller zu bemühen.

1.2 Zur Geschichte des Sonderschulwesens bis zum Jahre 1960

In der Entwicklung der Sonderschulen und mithin in der Förderung der Behinderten in der Bundesrepublik markiert das Jahr 1960 eine deutliche Zäsur. In ihm ist in der Verantwortung der Ständigen Konferenz der Kultusminister ein "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" erschienen. Was die Frage einer integrativen oder separaten Förderung behinderter Kinder betrifft, knüpfte es eigentlich an die Auffassungen der Reichsschulkonferenz an, die im Jahre 1920, also am Beginn der Weimarer Zeit, in Berlin stattgefunden hatte. Sie ist als das bedeutendste pädagogische Diskussionsforum im deutschsprachigen Raum in unserem Jahrhundert anzusehen. Alle Bereiche des Bildungswesens, die am Beginn der Demokratisierung des öffentlichen Lebens in Deutschland von Bedeutung waren, wurden in den Plenarsitzungen und in den Arbeitsgruppen thematisiert: die Jugendwohlfahrt, die Kindergärten, der Arbeitsunterricht, die Lehrerausbildung, Strukturfragen der Schule und viele andere mehr.

Im Zentrum der Überlegungen und Diskussionen stand die sogenannte Einheitsschule. Unter diesem Begriff wurden seit der Französischen Revolution jene Schulsysteme verstanden, in denen alle Schüler gemeinsam unterrichtet werden sollten. Aber diesem Verständnis ist weder die Theorie noch die Praxis der Einheitsschule gerecht geworden. Das zeigt sich deutlich am Beispiel der Behinderten im schulpflichtigen Alter. Entweder waren sie von der Schulpflicht ausgenommen oder sie wurden in eigens für sie geschaffenen Einrichtungen unterrichtet, gefördert oder betreut. Freilich gab es immer behinderte Kinder, die in allgemeinen Schulen Aufnahme fanden. Das hing jedoch wesentlich von der Initiative ihrer Eltern und der Bereitschaft der Lehrer ab. Und selbst in den konzeptionellen Vorstellungen von Einheitsschulen, die während der Revolutionszeit der Marquis de Condorcet in der Nationalversammlung vorgestellt hatte, blieben Behinderte unberücksichtigt. Die Einheitsschule war in der ganzen Geschichte der Einheitsschulbewegung nicht für behinderte Kinder und Jugendliche gedacht.

Sie standen auch auf der Reichsschulkonferenz in Berlin nicht eigens auf der Tagesordnung. Fritz Karsen zum Beispiel, der zum Kreise der Entschiedenen Schulreformer gehörte, führte in den Leitsätzen zur Konferenz aus: "Daß geistig zurückgebliebene Kinder entsprechend durch Hilfsschulklassen besonders gefördert werden, damit auch sie von sich aus das Leben finden, bedarf kaum einer Erwähnung."[4] Karsen redete demnach einer separaten Förderung behinderter Kinder das Wort. In Hilfsschulklassen konnten Kinder mit einer Legasthenie, aber auch beispielsweise Kinder mit Down-Syndrom (Mongolismus) eingewiesen werden. Eine ähnliche Position nahm auch Johannes Tews ein, einer der bedeutenden Verfechter des Einheitsschulgedankens. Er erklärte in den Leitsätzen zur Reichsschulkonferenz: "Von der Grundschule zweigen sich Hilfsschulen und hilfsschulartige Einrichtungen ab, die ihre Schüler nach den für diese Begabungshöhen und Begabungsrichtungen berechneten Unterrichtsweisen erziehen und bilden" (S. 152f).

Für den "Verband der Hilfsschulen" nahm der Stadtschulrat Julius Grote aus Hannover an der Reichsschulkonferenz teil. In seinen Ausführungen finden die auf Eigenständigkeit der Sonderschulen gerichteten Einstellungen einen beredten Ausdruck, zumal er für einen Verband sprach, also Interessenvertreter war: "Ich nehme an, daß die heilpädagogischen Schulen und Anstalten, die ich hier zu vertreten habe, in ihrem Wesen die Zustimmung der Versammlung ohne weiteres für sich in Anspruch nehmen können. Die heilpädagogischen Schulen sind auch ein Teil der Einheitsschule. Das ist das erste, was ich hier zum Ausdruck bringen möchte." In diesen Ausführungen wird deutlich, daß zu dieser Zeit der Begriff Einheitsschule ein polylogische Vielfalt angenommen hatte. Grote jedenfalls verstand darunter das gesamte Schulwesen im deutschen Reichsgebiet. Deshalb konnte er auch die heilpädagogischen Schulen als Teil der Einheitsschule ansehen. Im gleichen Sinne ließe sich heutzutage das Schulwesen der Bundesrepublik mit allen seinen Schulformen und -typen und -zweigen als Gesamtschule bezeichnen. Grote setzte dann fort: In die heilpädagogischen Schulen hinein "geschieht die erste Aussonderung der Kinder, damit jedes Kind auf den Platz gestellt wird, an dem es am besten erzogen und für das wirtschaftliche Leben brauchbar gemacht werden kann, die erste Aussonderung, damit die normalbegabten einen ruhigen und ungehemmten Fortschritt in der Grundschule und den weiteren Zweigen der Einheitsschule erfahren können'. (S. 521)

Die Argumentation ist einfach und durchsichtig: Es geht erstens um die Aussonderung der behinderten Kinder zur individuellen Förderung um ihrer Brauchbarkeit im wirtschaftlichen Leben willen, und es geht zweitens um die Aussonderung um der Nichtbehinderten willen, die einen ungehemmten Lernfortschritt haben sollen. Man mag über eine solche Auffassung aus dem Jahre 1920 die Nase rümpfen. Auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit hinein wurde die Aussonderung der Behinderten mit den gleichen Argumenten begründet und gerechtfertigt. Dennoch verwundert es, daß die Forderung nach Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten in der Schule auf dem Höhepunkt der Schulreformbewegung und am Beginn der Ausbreitung demokratischen Bewußtseins in Deutschland nicht erhoben wurde. Einschränkend muß man allerdings feststellen, daß zu dieser Zeit eine große Zahl von Behinderten verschiedener Behinderungsarten sich in allgemeinen Schulen befand, wie es wohl auch in früheren Jahrzehnten schon der Fall war. Man braucht sich nur einmal vor Augen zu halten, daß auf der Reichsschulkonferenz der Stadtschulrat Grote ausführen konnte: "Wir haben im Deutschen Reich an Hilfsschulen, in runden Zahlen angegeben, schon reichlich 1.800, in denen mindestens 40.000 Kinder eingeschult sind. An einer solchen Schulorganisation kann auch die Reichsschulgesetzgebung nicht vorübergehen." (S. 521f.) Nimmt man einmal die von Grote angegebene Zahl von 40.000 behinderten Kindern als realistisch an, die sich damals im Reichsgebiet in Sonderschulen befunden haben, so kann man feststellen, daß sie nicht einmal 0,5% der Bevölkerung zwischen sechs und fünfzehn Jahren ausgemacht haben; sie betrug am Beginn der Weimarer Zeit annähernd neun Millionen. Von solchen Zahlen her ist die Annahme berechtigt, daß viele behinderte junge Menschen zu dieser Zeit in allgemeinen Schulen unterrichtet worden sind, daß viele aber auch überhaupt keine Schule besuchten. Auch das braucht nicht zu verwundern. Die Vernachlässigung zum Beispiel der Geistigbehinderten wird allein schon daraus ersichtlich, daß nach einer Erhebung der Kultusministerkonferenz von 1970 noch etwa 60% der notwendigen Schulplätze für geistigbehinderte Schüler gefehlt haben. Ein so hoher Fehlbedarf war in der damals noch immer verbreiteten Auffassung zu sehen, daß Geistigbehinderte bildungsunfähig seien oder bestenfalls praktisch bildbar. Auch heute noch bilden die Geistigbehinderten eine Gruppe, um deren Integration in das allgemeine Schulwesen kontrovers diskutiert wird.

Gravierende Änderungen in der Zahl der Hilfsschüler und in der Frage ihrer Integration in allgemeine Schulen oder ihrer Separation in Hilfsschulen gab es während der Weimarer Zeit und in den Jahren des Nationalsozialismus nicht. Die Zahl der Kinder, die separat unterrichtet wurden, stieg kontinuierlich an. Ihr Anteil an den Volksschülern lag 1931, also am Ende der Zeit der Weimarer Republik und der Schulreformbewegung, noch unter einem Prozent. Die Volksschüler hinwiederum machten in diesen Jahren noch annähernd 90% der gesamten Schülerzahl aus. Bis 1939, das ist das Jahr des Beginns des Zweiten Weltkrieges, stieg der Anteil der Hilfsschüler an den Volksschülern auf 1,29%; das waren in absoluten Zahlen 96.591 Kinder[5] Deutliche Veränderungen zeigten sich auch nicht in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1945.

Der Ausbau des allgemeinen und des beruflichen Schulwesens nach dem Zweiten Weltkrieg forderte besonders durch die Vielzahl der Neubauten und der sachlichen Ausstattungen der Schulen für einen ordnungsgemäßen Unterricht so große öffentliche Mittel von den Ländern und Gemeinden, daß die Sonderschule und überhaupt die Aufmerksamkeit für behinderte Kinder und Jugendliche im Schatten der Bildungspolitik blieben. Es scheint so zu sein, daß in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität vor allem die jungen Menschen besondere Zuwendung erfahren, auf die die Wirtschaft rechnet. Das waren vornehmlich die Schüler der Volksschule, der Realschule und des Gymnasiums, nicht aber die Schüler der Hilfsschulen. Eine solche Überlegung mag abwegig scheinen. Sie verdeutlicht aber, daß unser allgemeines Schulwesen viel enger mit dem Beschäftigungssystem verkoppelt ist als es von der Idee der Bildung her gerechtfertigt werden kann. Es ist an der Zeit, daß dieser Zusammenhang von der Bildungspolitik und der Pädagogik gesehen wird, denn auch in den Jahren der hohen Jugendarbeitslosigkeit, wie wir sie in der Gegenwart erleben und von der Behinderte in besonders starkem Maße betroffen sind, wird in geradezu inhumaner Weise das Desinteresse der Wirtschaft an behinderten jungen Menschen offensichtlich.

Die Vernachlässigung der Behinderten im Schulwesen nach dem Zweiten Weltkrieg wird unter anderem auch aus der Arbeit des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen ersichtlich. Dieses Gremium war 1953 ins Leben gerufen worden mit der "Aufgabe, die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern".[6] Von den nahezu dreißig Empfehlungen, die der Deutsche Ausschuß bis zu seiner Auflösung im Jahre 1965 herausgebracht hat, befaßt sich nicht eine einzige mit der Pädagogik der Behinderten, ihrer Förderung in Sonderschulen oder ihrer Integration in die allgemeine Schule und in die Gesellschaft. Auch die bekannteste Empfehlung des Deutschen Ausschusses, der "Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens", macht keinerlei Aussagen über den Unterricht und die Förderung von Behinderten! Er war im Jahre 1959 veröffentlicht worden, und obgleich der Deutsche Ausschuß keine legislative Funktion haben konnte, sondern lediglich empfehlende und beratende Aufgaben wahrzunehmen hatte, datiert mit der Übergabe des Rahmenplans an die Öffentlichkeit der Beginn der strukturellen Reform der Schule nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Rahmenplan war das fünfte und sechste Schuljahr als Förderstufe für die Zehn- und Elfjährigen vorgesehen worden. Sie wurde der Angelpunkt einer breiten, öffentlichen und fachlichen Diskussion. Aus ihr erwuchsen auch die Auseinandersetzungen um die Gesamtschule. Den Begriff gab es allerdings in diesen Jahren noch nicht.[7]

Erst im Kontext dieser Diskussionen und Auseinandersetzungen bemühte sich die Ständige Konferenz der Kultusminister um die Pädagogik der Behinderten. Das führte zur Formulierung und Veröffentlichung ihres Gutachtens zur Ordnung des Sonderschulwesens im Jahre 1960.

1.3 Das "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" (1960) und seine Wirkungen

Die Ständige Konferenz der Kultusminister war unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, noch vor der Verabschiedung des Grundgesetzes entstanden. Sie gab sich selbst die Aufgabe, "Angelegenheiten der Kulturpolitik von überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen" zu behandeln.[8] Eine solche Angelegenheit von überregionaler Bedeutung war auch das Schulwesen für Behinderte. Ihm nahm sie sich in dem "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" an. In der Einführung des Gutachtens heißt es, bezugnehmend auf die jüngste Vergangenheit unseres Volkes: "Das Ansehen der Sonderschulen in der Öffentlichkeit muß gehoben werden. Das deutsche Volk hat gegenüber den Menschen, die durch Leiden oder Gebrechen benachteiligt sind, eine geschichtliche Schuld abzutragen. Sie dürfen nicht als weniger wertvoll betrachtet oder behandelt werden. Das deutsche Volk muß die Aufgabe wieder ernst nehmen, allen Kindern und Jugendlichen, die die allgemeinen Schulen nicht mit Erfolg besuchen können, den Weg zu einem sinnerfüllten Leben zu bereiten."[9]

Die wenigen Sätze aus der Präambel verdeutlichen den humanen und politischen Impetus des Gutachtens der Kultusminister, sie zeigen aber auch, daß es um separate Sonderschulen geht. Das ist so sehr selbstverständlich, daß die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten nur an zwei Stellen des Gutachtens angesprochen wird. An der ersten Stelle heißt es: "Sofern es für die Erziehung zur Gemeinschaft als dienlich erscheint, ist daher die Gemeinsamkeit zwischen Schülern der Sonderschulen und der allgemeinen Schulen zu pflegen." (S. 10) Dieser Satz rüttelt nicht an der Eigenständigkeit der Sonderschule, denn er meint lediglich die Kontaktmöglichkeiten von Schülern der selbständigen Sonderschule mit Schülern der unabhängig von ihr bestehenden allgemeinen Schule. Noch bezeichnender für die Position der Kultusminister ist die zweite Stelle: "In den Fällen, in denen der Aufenthalt Sonderschulbedürftiger in allgemeinen Schulen sowohl für diese selbst als auch für die übrigen Schüler einen pädagogischen Gewinn darstellen würde, muß die Frage der Unfallverhütung und -haftung vorsorglich geklärt werden" (S. 11) In einer solchen Aussage massieren sich alle Vorurteile hinsichtlich der Gemeingefährlichkeit der Behinderten, wie sie später durch die Untersuchungen von Helmut von Bracken empirisch aufgewiesen worden sind.[10]

Sieht man von den beiden zitierten Sätzen einmal ab, so ist das Gutachten im ganzen vom Geiste der Eigenständigkeit der Sonderschulen beherrscht. Die Präambel weist die Richtung der Entwicklung der Schulen für Behinderte. "Die gesunde Weiterentwicklung des Sonderschulwesens setzt voraus, daß die Eigenständigkeit der Arbeit in Sonderschulen gewährleistet wird und klare Rechtsgrundlagen geschaffen werden." (S. 8) Das besondere Verdienst allerdings des Gutachtens der Kultusminister, sieht man es aus den zeitlichen Umständen des Jahres 1960, besteht darin, daß es allgemeine Richtlinien für die Einrichtung von Sonderschulen in allen Bundesländern, die einheitliche Benennung dieser Sonderschulen, die Regelung der Ausbildung der Lehrer, die Klassenfrequenzen in den Schulen für Behinderte, die Schulaufsicht, die Praxis der Überweisungen und alle übrigen formalen Notwendigkeiten vorgeschlagen hat. Auf dieser Grundlage er¬fuhren die Behinderten eine bis dahin in der Geschichte der Schule unbekannte Zuwendung, die sich vor allem in einem immensen Ausbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik realisierte. Er wird aus einigen Zahlen aus der Zeit von 1960 bis 1973 deutlich, die vom Sekretariat der Kultusminister als Ergebnis einer Auswertung der amtlichen Schulstatistik mitgeteilt wurden:[11]

  • "Der Bestand an Sonderschulen (1960 = 1.106; 1973 = 2.574) ist mehr als verdoppelt worden.

  • Außer der Zahl der Schulen wuchs auch deren durchschnittliche Aufnahmekapazität: 1974 kamen 27 Schüler, 4 Klassen und 5 Lehrer mehr auf eine Sonderschule als 1960.

  • Die Zahl der Klassen (1960 = 6.480; 1973 = 24.657) wurde fast vervierfacht. Gleichzeitig konnten die Klassenstärken von 20,5 auf 15,4 Schüler je Klasse verringert werden.

  • Mehr als vervierfacht wurden die Lehrerzahlen: 1960 unterrichteten an den Sonderschulen 6.237 hauptamtliche und hauptberufliche Lehrer; 1973 waren es dagegen 27.422. Da die Vergrößerung der Lehrerbestände das Wachstum der Schülerbestände noch übertraf, konnte die Betreuungsquote (Schüler je Lehrer) von 21,3 auf 13,8 gesenkt werden."

Zwischen 1960 und 1973 hat sich die Zahl der Kinder, die in Sonderschulen unterrichtet wurden, fast verdreifacht. Sie stieg von rund 133.000 im Jahre 1960 auf etwa 380.000 im Jahre 1973, und sie erreichte in den Jahren darauf gar die 400.000. Waren es 1960 noch 2,24% der schulpflichtigen Kinder, die eine Sonderschule besuchten, so stellte der Deutsche Bildungsrat für das Jahr 1973 und die siebte Jahrgangsstufe 5,3% fest. Dieser Prozentsatz ist ein Mittelwert. In Bayern waren lediglich 3,8% der Schüler in Sonderschulen der siebten Jahrgangsstufe, in Schleswig-Holstein dagegen 7,2%. Jedenfalls befand sich 1973 im Bundesdurchschnitt jedes zwanzigste Kind der siebten Jahrgangsstufe in einer Sonderschule.[12] Das Anwachsen der Zahl der Sonderschüler muß aber auch auf dem Hintergrund der rückläufigen Geburtenzahlen in der Bundesrepublik gesehen werden, weil sich dadurch seine Bedeutung voll erschließt und seine Dimension auch über die siebziger Jahre hinweg profiliert. Während es im Jahre 1964 in der Bundesrepublik noch über eine Million Geburten gab, war die Zahl bis 1972 auf 700.000 gesunken. Sie ging in den folgenden Jahren so weit zurück, daß 1978, verglichen mit 1964, der Rückgang 45% betrug.[13]

Der Ausbau des Sonderschulwesens hatte im Jahre 1973 seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Vornehmlich waren nämlich über die sechziger Jahre hinweg die Schulen für Lernbehinderte ausgeweitet worden. Das zeigt beispielhaft die Abbildung über das Anwachsen der Schule für Behinderte im allgemeinen und der Schulen für Lernbehinderte im besonderen im Lande Nordrhein-Westfalen zwischen 1960 und 1973. Die Darstellung verdeutlicht in der oberen Kurve, daß es 1960 erst 391 Schulen für Behinderte in Nordrhein-Westfalen gab. Bis 1973 waren es annähernd 700 Schulen geworden. Die Anzahl der Schulen für Lernbehinderte stieg im gleichen Zeitraum von 321 auf 514. (Sie hatte 1969 schon 519 betragen und war danach wieder etwas rückläufig.)

Abb. 1: Das Anwachsen der Schule für Lernbehinderte und der Schulen für Behinderte x insgesamt in NRW von 1960 bis 1973

Das starke Anwachsen der Schule für Lernbehinderte hat einen wesentlichen Grund in der Leistungsorientierung der allgemeinen Schule. Mit dem Gutachten der Kultusminister von 1960 hatte nämlich das Verständnis der Schule als Leistungsschule gewissermaßen seine offizielle Legitimierung erfahren. Das läßt sich aus den Formulierungen des Gutachtens erschließen. Beispielsweise sollte für die Einweisung in eine Sonderschule geprüft werden, "ob und inwieweit Sonderschulbedürftige ihre Mitschüler in der allgemeinen Schule stören oder gefährden". (S. 11) Im Zusammenhang der Sprachheilschule ist in dem Gutachten davon die Rede, daß Kinder separiert werden sollen, wenn sie "dem Unterricht in den allgemeinen Schulen nicht folgen können oder dort ihre Mitschüler erheblich hemmen und besonders deren Sprachentwicklung ungünstig beeinflussen". (S. 23) Bis, in die Formulierung hinein hatte sich die Kultusministerkonferenz hier eine Begründung des BVerwG von 1958 zu eigen gemacht. Sie zeigt, daß hier die Separation der behinderten Kinder weniger von ihrer Behinderung und den speziellen Förderungsnotwendigkeiten her als vielmehr von den Nichtbehinderten und ihrem vermeintlichen Wohlergehen in der allgemeinen Schule her begründet wird. Die Nichtbehinderten sollen durch die Behinderten nicht behindert werden. Diese Argumentation der Kultusminister ist die offizielle Begründung der geradezu perversen Leistungsorientierung unserer allgemeinen Schulen vom Beginn der sechziger Jahre an. In der Konfrontation mit dem Entlastungsgedanken verlieren die Argumente, die für die Separation um einer qualifizierten Hilfe für Behinderte willen vorgebracht werden, ihre Glaubwürdigkeit.

Wer als Kind einmal in eine Sonderschule überwiesen ist, der verliert fast jegliche Kontaktmöglichkeiten mit Kindern allgemeiner Schulen. Sie besuchen in der Regel Halbtagsschulen in ihrer Wohnumgebung. Die Sonderschüler dagegen werden häufig in Ganztagseinrichtungen gefördert, die mitunter außerhalb ihres Wohnbereichs liegen. Aber auch die nichtbehinderten jungen Menschen verlieren dadurch die Möglichkeit zur Interaktion mit Behinderten. Beiden Gruppen, der Gruppe Behinderter und der Nichtbehinderter, fehlen deshalb Situationen des Umgangs miteinander. Und Rücküberweisungen aus der Sonderschule in die allgemeine Schule gibt es außer aus den Schulen für Sprachbehinderte nur in einem nicht nennenswerten Umfang. Die Sonderschule würde sich und ihre Aufnahmeverfahren auch ad absurdum führen, wenn sie hohe Rücküberweisungsquoten aufweisen könnte. Faktisch ist für ein Kind die Überweisung in eine Sonderschule gleichsam eine Ein-für-allemal-Entscheidung.

1.4 Die Selektionspraxis der allgemeinen Schule

Das "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" der Kultusminister führte nicht nur zum Ausbau der Schulen für Lernbehinderte im Laufe der sechziger Jahre und in einem geringeren Umfang, im Verhältnis gesehen, zu einem Ausbau der acht weiteren Formen des Sonderschulwesens für Behinderte in der Bundesrepublik, sondern es löste auch erhebliche Veränderungen im allgemeinen Schulwesen aus.[14] Das läßt sich am Beispiel der Grundschule konkretisieren, die auf der Grundlage des Artikels 146 der Weimarer Verfassung als eine für alle Kinder gemeinsame Schule, und durch das Grundschulgesetz von 1920 als Schulstufe von vierjähriger Dauer festgelegt worden war. Vom Beginn der sechziger Jahre an kehrte sich die Grundschule von der Intention ab, eine Schule zu sein, in der sich soziale Koedukation durch die gemeinsame Unterrichtung und das Zusammenleben aller Kinder in einer gemeinsamen Schulstufe ereignet. Die Grundschule entwickelte sich besonders kraß seit 1960 zu einer Leistungsschule, in der Selektionsmechanismen realisiert wurden, die bis in die Gegenwart hinein noch nachwirken. Drei Praktiken der Selektion können die Entwicklung belegen, die bar jeder pädagogischen Begründung war:

1. Die Selektionspraxis der Grundschule begann schon bei der Schulaufnahme der Kinder, die aufgrund ihres Lebensalters schulpflichtig geworden waren. In allen Bundesländern hatten sich in dieser Zeit Schulreifeuntersuchungen durchgesetzt, die mit Hilfe sogenannter Schulreifetests durchgeführt wurden. Das heißt mit anderen Worten: Kinder, die in die Grundschule aufgenommen werden sollten, mußten sich einer Prüfung unterziehen. Während in den sechziger Jahren die Aufnahmeprüfungen für weiterführende Schulen weitgehend abgeschafft worden waren, errichtete die Grundschule eine Barriere vor den ersten Schuljahren, die sich so auswirkte, daß ein gewisser Prozentsatz der Kinder, die sich in den Tests als nicht schulreif erwiesen, weil Schulkindergärten nicht überall vorhanden waren, in das anregungsarme Sozialmilieu zurückverwiesen wurden, das dafür verantwortlich war, daß sie Lerndefizite hatten. Nach einem Jahr standen sie dann wieder zur Schulaufnahme an, waren in ihrer geistigen Entwicklung aber kaum weitergekommen, weil in ihrem Sozialmilieu kaum Lernanregungen aufkommen konnten. Diese Praxis hatte sich durchgesetzt, obgleich der Begriff "Schulreife" nicht eindeutig definiert war. Er ist es auch heute noch nicht.

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Untersuchung vom Anfang der 70er Jahre, die in Nordrhein-Westfalen an 148 Grundschulen im Rahmen des Schulversuchs durchgeführt wurde, in dem neue Richtlinien und Lehrpläne zu erproben waren. Drei Ergebnisse dieser Untersuchung seien kurz skizziert:[15]

  • Der prozentuale Anteil der Rückstellungen schwankte zwischen 0% und 25%, so daß es mehr vom Wohnort eines Kindes als von seiner "Schulreife" abhing, ob es eingeschult wurde oder nicht. Man muß sich einmal ernsthaft fragen, welcher Geist in einer Grundschule zu dieser Zeit geherrscht hat, in der jedes vierte Kind zurückgestellt wurde!

  • Der Zeitpunkt, zu dem die Schulreifeuntersuchungen durchgeführt wurden, schwankte im Mittel um rund zwanzig Wochen, wobei von extremeren Schwankungen sogar abgesehen ist. Die Vergleichbarkeit solcher Ergebnisse war mehr als fraglich.

  • Die in die Untersuchung einbezogenen Grundschulen hatten etwa genauso viele Kinder, die noch nicht schulpflichtig waren, vorzeitig eingeschult, wie schulpflichtige Kinder auf der Grundlage der Testergebnisse zurückgestellt wurden. Man mag einwenden, daß die 148 Grundschulen nicht repräsentativ sein konnten für alle Grundschulen des Landes Nordrhein-Westfalen. Dem läßt sich entgegenhalten, daß zu Beginn des Schuljahres 1971/72 in diesem Bundesland noch 8,3% aller schulpflichtigen Kinder nicht in die Schule aufgenommen wurden.

Hier wurde, das zeigen diese Befunde, mit Hilfe von Schulreifeprüfungen eine Selektion vorgenommen, die verhinderte, daß die Grundschule eine Stätte sozialer Koedukation sein konnte, die sich für die gemeinsame Unterrichtung aller Kinder verantwortlich wußte. Für die Gegenwart und die Zukunft wird aus den Erfahrungen der Schluß gezogen werden müssen, daß es pädagogisch ist, die "Schulreife der Grundschule" für die Kinder mehr im Auge zu haben als die "Schulreife der Kinder" für die Grundschule.

2. In einer zweiten Untersuchung wurde für das Schuljahr 1969/70 an 157 Grundschulen des Landes Nordrhein-Westfalen die Anzahl der Schüler ermittelt, die eine Klasse wiederholen mußten.[16] Gerade das Repetieren von Klassen, das Sitzenlassen, ist ein Selektionsinstrument, das in Schulen der vergangenen Jahrzehnte teilweise inhuman gehandhabt wurde. Die Mittelwerte für die Nichtversetzung, die in der Untersuchung für die Grundschule eruiert werden konnten, lagen für die einzelnen Schuljahre mit geringfügigen Differenzen zwischen 4,8% und 6,3% der Schüler einer Schule. Für das Schuljahr 1971/72 lag die Sitzenbleiberquote in den Grundschulen des Landes Nordrhein-Westfalen insgesamt bei etwa 6%.

Man mag einen solchen Prozentsatz noch für akzeptabel halten. In jedem Falle stimmt aber die Variationsbreite der Sitzenbleiberquote in den untersuchten Grundschulen bedenklich. Immerhin konnten 5 von 157 Schulen ermittelt werden, deren Nichtversetzungsquote unter einem Prozent blieb. Das läßt den Schluß zu, daß sich die Kollegen dieser Schulen gegen das Sitzenbleiben gesperrt haben. Das andere Extrem sah so aus: An 15 Schulen mußten jeweils mehr als 10% der Schüler ein Schuljahr wiederholen. Das kaum überbietbare Maximum an Nichtversetzungen hielt eine Grundschule mit 89 Sitzenbleibern, das waren 16,6% ihrer Schüler. Die Chance, diese Schule in vier Jahren ohne Wiederholung eines Schuljahres zu durchlaufen, hatte nach diesem hohen Prozentsatz vielleicht nur jeder zweite Schüler.

3. Im wesentlichen ergab sich zu dieser Zeit aus den Sitzenbleiberquoten die Zahl der Schüler, die in Sonderschulen für Lernbehinderte überwiesen wurden, denn sieht man von Intelligenzuntersuchungen, die sich in der Feststellung eines Intelligenzquotienten niederschlagen, einmal ab, so war das zweimalige Sitzenbleiben eines Kindes der Anlaß für seine Überweisung in die Sonderschule. Die Überweisungspraxis war das dritte Selektionsinstrument, das der Grundschule, soweit sie es praktizierte oder gar strapazierte, das Profil einer Leistungsschule gab. Wilhelm Topsch wies damals mit eindringlichen Zahlen auf Ungleichheiten hin, die sich in der Praxis der Schulen ergeben hatten. Er stellte fest, daß im Jahre 1970 zum Beispiel in Castrop-Rauxel jedes fünfzehnte Grundschulkind nicht versetzt wurde, im Kreis Monschau aber, ebenfalls also im Lande Nordrhein-Westfalen, nur jedes fünfzigste Kind. Übrigens ermittelte er eine Korrelation zwischen der Häufigkeit von Nichtversetzungen und der Herkunft der Kinder aus Arbeiterfamilien von rund 0.5.[17] Diese hohe Signifikanz erklärt, warum zwischen achtzig und neunzig Prozent der Schüler in den Schulen für Lernbehinderte aus unteren Sozialschichten kamen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Deshalb ist es berechtigt, den größeren Teil der Kinder, um die es in den Überweisungen aus den Grundschulen ging und geht, mehr als sozial benachteiligt denn als lernbehindert zu bezeichnen, zumal der Begriff Lernbehinderung, wie Wilhelm Topsch feststellt, ein "Schulversagen unterschiedlicher Genese" zusammenfaßt, und er täuscht nach seiner Auffassung "Homogenität vor, wo in Wirklichkeit Heterogenität besteht".

Die Daten und Fakten zeigen, daß sich die Grundschule in den sechziger und den frühen siebziger Jahren mitunter vorschnell von Schülern "entlasten" konnte und entlastet hat, mit denen sie nicht zurechtzukommen glaubte. Sie erweckte den Anschein, als wolle sie sich wortwörtlich an die Empfehlung der Kultusminister von 1960 halten. Es muß aufhorchen lassen, wenn man erfährt, wie sehr der Entlastungsgedanke, der in unserem Volke faschistisch belastet ist, noch um 1960 und danach Juristen, Politiker und Pädagogen faszinieren konnte. Für die Grundschule setzte erst mit dem bundesweiten Grundschulkongreß des Jahres 1969 und der Arbeit an neuen Richtlinien und Lehrplänen in verschiedenen Bundesländern in dieser Zeit eine Wende ein. Sie brachte auch die Überlegungen zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht auf, die Forderung nach der Gemeinsamkeit behinderter und nichtbehinderter Schüler im Raume der Schule, für die der Deutsche Bildungsrat im Jahre 1973 eine Konzeption vorgelegt hat. Eigentlich ist es nicht verwunderlich, daß in den Überlegungen und konzeptionellen Vorstellungen die Grundschule einen besonderen Stellenwert bekam.

1.5 Zur Begründung der Integration[18]

Die Forderung zur Integration von Behinderten in die allgemeine Schule erfährt ihren Sinn vor allem dann, wenn ihr Prozesse der Desintegration vorausgegangen sind. In unserer Zeit brauchte die Aufgabe, Behinderte in die Schule und in die Gesellschaft zu integrieren, nicht formuliert zu werden, wenn es die separate Förderung in Sonderschulen nicht gäbe und wenn Behinderte im gesellschaftlichen Leben nicht in der Gefahr stünden, eine desintegrierte Randgruppe zu sein oder auch zu werden. Allerdings darf man die Integration nicht allein aus der Perspektive der Behinderten sehen. Die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten, die der Begriff Integration zum Ausdruck bringt, geht alle Menschen an. Es wäre unzureichend, immer nur den Blick auf die zu richten, die gehörlos sind oder eine Beeinträchtigung ihrer Sprache haben, die geistigbehindert oder in ihren Bewegungen eingeschränkt sind usf., zumal sie Probleme haben, sich zu integrieren. Ebenso wichtig dürfte es sein, die Aufgabe der Integration auch aus der Perspektive der Nichtbehinderten in den Blick zu bringen.

Die Behinderten leben als eine Minderheit in der Welt der Nichtbehinderten. Diese Welt ist vornehmlich von den Normen der Nichtbehinderten bestimmt, die als Gesetze fixiert sind oder ungeschrieben wie eine "kollektive Moral" gelten. Behinderte sollen deshalb zum Beispiel nach geltenden Vorschriften verkehrsreiche Straßen überqueren, Texte mit Vorschriften sinnentnehmend lesen, Arbeitszeiten durchhalten, durch ihr Aussehen und ihren Habitus nicht auffallen. Die Erfüllung solcher Normen bereitet ihnen Schwierigkeiten. Darin haben die Behinderten-Probleme vor allem ihren Ursprung. Wie Behinderte sich ihnen stellen, ob sie sie erfüllen können oder nicht, das muß auch ein Problem, eine Aufgabe, der Nichtbehinderten, der Gesunden sein. Die Integration der Behinderten in die Schule und in die Gesellschaft ist deshalb auf der einen Seite ebenso sehr eine Aufgabe, die den Nichtbehinderten aufgegeben ist, wie sie sich auf der anderen Seite den Behinderten stellt. Viele Behinderte können sich kaum von sich aus in die Gesellschaft integrieren, wenn ihnen die Nichtbehinderten ihre Hilfe versagen und sie nicht unterstützen.

Vorrangig wird es darauf ankommen, daß die Behinderten von den Gesunden oder Nichtbehinderten human angenommen, akzeptiert werden. Diese humane Annahme ist nur in Lernprozessen für die Nichtbehinderten erreichbar. In ihnen muß zuerst das Informationsdefizit der Nichtbehinderten überwunden werden. Sie wissen zu wenig um die Behinderungen, ihre Ursachen und Auswirkungen, um die Probleme, die Eigenarten und den Lebensvollzug der Behinderten. Darüber hinaus bleibt ihr eigenes Verhältnis zu Behinderten in einer Welt, in der Behinderte und Nichtbehinderte zusammenleben, in den organisierten Lernprozessen der Schule aber getrennt bleiben, weitgehend unreflektiert. Aus diesem unzureichenden Wissen und der mangelnden Reflexion erwachsen auf der Seite der Nichtbehinderten mitunter massive Vorurteile gegenüber den Behinderten, wie ja überhaupt die Vorurteilsbildung eine wesentliche Komponente in unzureichendem Wissen hat. Die Vorurteile gegenüber Behinderten haben Diskriminierung zur, Folge. Das Verhältnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten wird durch die Vorurteile belastet, und die Beziehungen zwischen ihnen können sich nicht in natürlicher Weise entwickeln. Behinderte werden oft von den Nichtbehinderten gemieden, distanziert oder gar offen abgelehnt. Wer dazu findet, seine Vorurteile in Frage zu stellen, sie zu problematisieren und gar zu überwinden, der tritt gewissermaßen gegen sich selbst an und kommt auf den Weg der Wahrheit, auf dem er, wie es das griechische Wort Aletheia meint, die Dinge und Phänomene der Welt und die Menschen unverhüllt, unverborgen sieht.

Die Diskriminierung der Behinderten hat aber auch in der übertriebenen Leistungsorientierung unserer Industriegesellschaft, der Einschätzung des Menschen von seiner Brauchbarkeit im Wirtschaftssystem her und der Überbewertung kognitiver Fähigkeiten schon in der Schule einen gewichtigen Grund. Wer die Integration der Behinderten ernsthaft anstrebt, für den darf die Menschlichkeit eines Menschen nicht nur abhängig von einer individuell erbrachten Leistung im Wirtschaftssystem sein. Häufig verhindert die individuelle, egozentrisch nur auf sich selbst bezogene Leistung eines Menschen das Erreichen der Menschlichkeit für ihn. Menschlichkeit bestimmt sich wesentlich auch durch die Hilfe, die ein Mensch anderen Menschen zu geben bereit ist, durch die Zuwendung, die er anderen schenkt, durch die Offenheit für andere.

Dieser Zusammenhang muß künftig in den Curricula der Schule für die Lernprozesse aller jungen Menschen berücksichtigt werden, wenn eine Integration der Behinderten in den allgemeinen Unterricht und außerhalb der Schule, neben ihr und nach ihr, eine Integration der Behinderten in die Gesellschaft geleistet werden und auch gelingen soll. Die betreffenden Inhalte des Unterrichts können in verschiedenen Fächern vorkommen, können also als Unterrichtsprinzipien verfolgt werden, weil sie gesellschaftspolitische, medizinische, psychologische, besonders aber auch pädagogische Aspekte haben. Die Integration kann aber auch in fächerübergreifenden Projekten auf verschiedenen Schulstufen vorkommen. Wo es zum Beispiel in der Projektarbeit um die Erstellung eines Führers für die Behinderten in einer Stadt geht, der sie über Parkmöglichkeiten informiert, über die Standorte von Behinderten-Telefonen, über abgeschrägte Bürgersteige, die Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude usw., da wird jeder Schüler, der engagiert bei der Sache ist, mit Problemen von Behinderten konfrontiert.

Für eine Disposition des Bewußtseins der Nichtbehinderten reicht es allerdings nicht aus, wenn im Unterricht und in Projekten die Probleme der Behinderten thematisiert werden. Differenziertes Wissen und Informiertsein über Behindertenprobleme könnten sich auf caritative Hilfen konzentrieren. Sie bestehen zum Beispiel in der distanzierten Hilfe durch die Einrichtung von vermeintlichen Schonräumen für Behinderte weitab vom realen gesellschaftlichen Leben; in gesetzlichen Bestimmungen, die von unmittelbarer Hilfe entlasten; in der Gründung von Hilfsorganisationen, deren Spendenaufkommen vom Engagement in der Realität der Behindertenprobleme freisprechen. Solche caritative Hilfe ist wichtig. Man muß aber sehen, daß sie die Isolation der Behinderten verstärken kann, weil sie vom unmittelbaren Engagement in der Welt der Behinderten entlastet. In die Lernprozesse der Nichtbehinderten gehören deshalb neben Curricula über Behindertenprobleme vor allem die tägliche Erfahrung und der dauernde Umgang mit den Behinderten. Das heißt mit anderen Worten: Die Nicht-behinderten müssen das Zusammenleben mit den Behinderten in der Unabsichtlichkeit des dauernden Miteinanders lernen. Ein solcher Lernprozeß bliebe steril, wenn er nur aus verbaler Belehrung bestünde. In der Gemeinsamkeit des Zusammenlebens von Behinderten und Nichtbehinderten ergeben sich Kommunikationsmöglichkeiten, die Vorurteile abbauen, Diskriminierung verhindern und den andern so zu nehmen lehren, wie er ist, und die deshalb zu einer humanen Akzeptierung der Behinderten durch die Nichtbehinderten führen.

Darin dürfte eines der gewichtigen Argumente für die schulorganisatorische Integration behinderter Kinder gegeben sein, und weil frühe Lernprozesse bedeutsam sind, sollte mit der Integration schon im frühen Alter begonnen werden. Das Kind, das schon im Kindergarten seinem spastischen Freund den Speichel wie selbstverständlich vom Mund wischt, weil es ihm das Sprechen erleichtern möchte, wird auch im späteren Alter zur Hilfe bereit sein. Vielleicht stellt es, wenn es erwachsen ist, die Hilfe als soziales Lernziel über mögliche kognitive Ziele. Das wird vielleicht jenen Kindern einer Grundschulklasse ebenso ergehen, mit denen 1981 das "Jahr der Behinderten" thematisiert werden sollte; sie hatten schon die Kindergartenzeit gemeinsam mit einem schwer körperbehinderten Kind verbracht. Es saß nun schon vom ersten Schultag an mit allen anderen in einem Raum. Als die Lehrerin zur Einleitung des neuen Unterrichtsthemas fragte, wer einen behinderten Menschen kennt, meldete sich niemand. Der Umgang mit einem behinderten Kind, das tägliche Zusammensein mit ihm, war für alle Kinder so sehr selbstverständlich und natürlich, daß sie in dem behinderten Klassenkameraden keinen Behinderten sahen.

Es ist aber auch notwendig, den Begründungszusammenhang der Integration aus der Sicht der Behinderten selbst zu sehen. Sie leben in der Welt der Nichtbehinderten in einer Außenseiterposition, die nicht zuletzt durch ihre frühe schulische Ausgliederung zustande kommt. Die schulische Absonderung setzt sich in das Erwachsenenleben hinein fort, und weil die Behinderten erst in ihm den ersten konkreten Umgang mit Nichtbehinderten haben, erfahren sie täglich neu ihre Unzulänglichkeiten: daß sie vielleicht nicht so viel Kraft haben wie Nichtbehinderte, daß sie nicht so leicht Kontakt zu anderen finden, daß ihnen möglicherweise das Konzentrationsvermögen fehlt, das andere haben, daß sie sich nicht so schnell bewegen können und so fort. In den Behinderten erwacht deshalb der Wunsch, über ihre Unzulänglichkeiten hinwegzukommen. Sie orientieren ihr Handeln am Lebensvollzug der Nichtbehinderten, was ihnen freilich nicht durchweg gelingen kann, weil sie behindert sind. Die Gruppe der Nichtbehinderten stellt für sie in dieser Orientierung gewissermaßen eine positive Bezugsgruppe dar. (In der Fachterminologie wird dieser Zusammenhang mit dem Begriff "Referenzgruppe" bezeichnet.) Das bringt Unzufriedenheit für viele Behinderte. Sie erfahren, daß sie durch ihr Stottern in ihren sozialen Beziehungen beeinträchtigt sind, sie werden mißtrauisch, weil sie durch ihr geringes Hörvermögen nicht alles verstehen, sie werden unsicher, weil ihr Sehvermögen reduziert ist usf. Andererseits sind die Behinderten für die Nichtbehinderten eine negative Bezugsgruppe, von der her sie, durch die Distanzierung von dieser Gruppe, den Status ihres Nichtbehindertseins bestimmen können in der selbstrechtfertigenden Art des Pharisäers, von dem das Neue Testament im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner berichtet. "Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie ... dieser Zöllner," sagte der Pharisäer. "Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe." (Lukas-Evangelium, 18. Kap.) Zuerst distanziert sich also der Pharisäer vom Zöllner. Im Anschluß daran bestimmt er seinen Status in selbstrechtfertigender Art als Mensch, was ihm möglich ist, weil es den Zöllner gibt, einen Menschen mit niedrigerem sozialen Ansehen.

Die schulorganisatorische Integration löst allerdings das Problem der Orientierung der Behinderten am Lebensvollzug der Nichtbehinderten noch nicht, und allein die Integration als eine organisatorische Maßnahme hebt die Unzulänglichkeit der Behinderten nicht auf. Jeder Behinderte sollte früh lernen, seine Behinderung zu akzeptieren und mit ihr mit Nichtbehinderten zusammenzuleben. So wie es für den Nichtbehinderten eine Aufgabe ist, den Behinderten human anzunehmen, ihn in seinem Anderssein zu respektieren, so muß analog der Behinderte zu sich selbst stehen, er muß sich annehmen, muß stimmig mit sich sein. Das ist in sozialen Beziehungen, in die auch Nichtbehinderte gehören, eher zu erreichen als in der Isolation. Allerdings wird es schwer für ein behindertes Kind, sich selbst anzunehmen, wenn beispielsweise in seinem Beisein seiner Mutter von der Nachbarin wiederholt gesagt wird, wie leid sie ihr tue, weil sie eine so schlimme Belastung habe. Oder wenn der Sehbehinderte, der das Leben als lebenswert empfindet, immer wieder bedeutet bekommt, wie sehr es doch zu bedauern sei, daß er nicht genug sehe. Wie anders sollten Nichtbehinderte dazu kommen, ihr Vorwissen und ihre Vorurteile zu korrigieren und auch Behinderten gegenüber taktvoll zu sein, als im tagtäglichen Umgang von Kindesbeinen an? Und wie anders sollten Behinderte die Kraft gewinnen, auch Taktlosigkeiten der Nichtbehinderten durchzustehen, als in der Kommunikation mit ihnen vom frühen Alter an? Die Annahme seiner selbst ist für jeden Menschen, auch für den Behinderten, nicht in einem kommunikationsfreien Raum zu gewinnen, sondern immer nur im Zusammensein mit anderen, im mitmenschlichen Umgang, in der Achtung der Würde des anderen.



[1] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn 1973, S. 15f.

[2] Theodor Ballauff: Funktionen der Schule. 2. Aufl. Köln/Wien: Böhlau 1984, S. 379

[3] Deutscher Bildungsrat, a.a.O., S. 16

[4] Reichsministerium des Innern: die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen. Leipzig 1920, S. 111 (die folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text jeweils mit der betreffenden Seitenzahl angegeben)

[5] Manfred Höck: Die Hilfsschule im Dritten Reich. Berlin: Marhold 1979, S. 193

[6] Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen: Empfehlungen und Gutachten. Gesamtausgabe. Stuttgart: Klett 1966, S. 966

[7] Vgl. Jakob Muth: Das Ende der Volksschule. Essen: Neue Deutsche Schule 1963

[8] Ständige Konferenz der Kultusminister: Handbuch für die Kultusministerkonferenz 1969-1970. Bonn 1969, S. 13

[9] Ständige Konferenz der Kultusminister. Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens, Bonn 1960, S. 7

[10] Helmut von Bracken: Vorurteile gegen behinderte Kinder, ihre Familien und Schulen. Berlin: Marhold 1976

[11] Ständige Konferenz der Kultusminister: Die Sonderschule in der bundeseinheitlichen Statistik 1960/61-1973/74. Bonn o.J. (1975), S. 1

[12] Deutscher Bildungsrat: Bericht 1975. Entwicklungen im Bildungswesen. Bonn 1975, S. 428f.

[13] Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1973, S. 12

[14] Eigentlich gibt es in der Bundesrepublik neun Schulen für Behinderte, die an unterschiedlichen Behinderungsarten orientiert sind: die für Blinde, Gehörlose, Geistigbehinderte, Körperbehinderte, Lernbehinderte, Schwerhörige, Sehbehinderte, Sprachbehinderte und Verhaltensgestörte (Erziehungsschwierige). Dazu kommt als zehnte Form die Krankenhausschule und der Hausunterricht für längerfristig kranke Kinder. Der Ausbau dieser zehnten Form hat eigentlich erst in den achtziger Jahren auf breiterer Basis eingesetzt.

[15] Vgl. dazu Otto Ewert: Bericht über die Erhebung zur Durchführung von Schulreifeuntersuchungen . In: Grundschulen in Nordreihn-Westfalen im Schulversuch. Berichte und Auswertungen von Erhebungen. Band 1. Ratingen: Verlag Henn 1972, S. 30ff. (Schriftenreihe des Kultusministers, Bd. 41)

[16] Vgl. Jakob Muth/Rudolf Biermann: Erhebung zur Situation der Versuchsgrundschulen in Nordreihn-Westfalen. In: Grundschulen in Nordreihn-Westfalen im Schulversuch. Berichte und Auswertungen von Erhebungen. Ratingen: Verlag Henn 1972, S. 26 ff. (Schriftreihe des Kultusministers, Bd. 41)

[17] Wilhelm Topsch: Grundschulversagen und Lernbehinderung. Essen: Neue Deutsche Schule 1975

[18] Der hier dargestellte Begründungszusammenhang folgt dem Vortrag, den ich im September 1972 anläßlich der Ersten Neustifter Gespräche für Sozialpädiatrie in Brixen/Südtirol gehalten habe. Er ist in die Arbeit des Ausschusses Sonderpädagogik des Deutschen Bildungsrates eingegangen. Vgl. die erste Veröffentlichung des Vortrags unter dem Titel: Zur schulorganisatorischen Integration behinderter Kinder. In: Theodor Hellbrügge (Hg.): Probleme des behinderten Kindes. München: Urban & Schwarzenberg 1973.

2. Der Deutsche Bildungsrat und seine integrative Empfehlung

2.1. Der Bildungsrat im Kontext der Beratungsgremien in der Bundesrepublik

Der deutsche Bildungsrat, der seine sonderpädagogische Empfehlung 1973 vorlegte, hat bis zum Jahre 1975 bestanden. Er war 1965 auf der Grundlage eines Abkommens zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesländer gegründet worden. Drei Aufgaben wurden ihm in diesem Abkommen gestellt. Er sollte

  • Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen entwerfen;

  • Vorschläge für die Struktur des Bildungswesens machen und den Finanzbedarf berechnen;

  • Empfehlungen für eine langfristige Planung des Bildungswesens aussprechen.

Zur Formulierung dieser Aufgaben war es gekommen, weil die Länder der Bundesrepublik in der Schulgesetzgebung eigenständig sind. Der Bund kann ihnen keine Vorschriften hinsichtlich des Schulwesens machen. Dieser gesetzliche Tatbestand wird als Kulturhoheit der Länder bezeichnet. Ihr positiver Sinn liegt vor allem darin, daß sich im Schulwesen kulturgeschichtlich unterschiedliche Traditionen der deutschen Länder berücksichtigen lassen. Man muß auch sehen, daß durch positive Entwicklungen im Schulwesen des einen Landes so etwas wie ein Seitendruck auf andere Bundesländer entsteht. Dadurch kommt ein Progreß zustande, ein Veränderungsprozeß, der nicht durch eine Zentrale angeordnet wird, sondern sich frei ergibt. Es wäre kurzschlüssig, wenn die Kulturhoheit ausschließlich kritisch gesehen würde, wozu die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik neigt. Dennoch bringt sie auch Probleme auf. Vor allem können sich im Bildungswesen der Länder der Bundesrepublik Unterschiede herausbilden, die sich nicht mehr positiv als Mannigfaltigkeit interpretieren lassen, weil sie sich zum Nachteil der Kinder, der Eltern und überhaupt der Entwicklung des Schulwesens auswirken.

Seit die Bundesrepublik besteht wird deshalb versucht, den Problemen der Kulturhoheit der Länder zu begegnen. Von 1949 an koordiniert die Ständige Konferenz der Kultusminister die schulische Entwicklung. Es ist ihr Verdienst, daß sich eine weitgehende Gemeinsamkeit in der Kultur- und Schulpolitik der Bundesrepublik durchsetzen konnte. Diese Gemeinsamkeit ist nicht gleichbedeutend mit Einheitlichkeit. Vielleicht verbergen sich in dem häufigen Beklagen fehlender Einheitlichkeit autoritäre Grundzüge unserer Volksseele. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde deutlich, daß die Koordinierung als Aufgabe und die jeweils an die Aktualität gebundene politische Verantwortung der Minister es unmöglich machten, durch die Ständige Konferenz längerfristige Planungen und Perspektiven für die Entwicklung des Bildungswesens zu entwerfen.

Deshalb wurde im Jahre 1953 der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen ins Leben gerufen. Er ressortierte beim Bundesinnenminister. Daraus wird deutlich, welche Probleme in der Politik des Bundes damals in Bildungsfragen bestanden. Die Aufgabe des Deutschen Ausschusses sollte es sein, "die Entwicklung des Erziehungs- und Bildungswesens zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern". Insgesamt neunundzwanzig Empfehlungen und Gutachten hat dieses Gremium erarbeitet, die alle Bereiche des Deutschen Bildungswesens berührten. Deshalb wurde seine Aufgabe im Jahre 1965 als erfüllt angesehen, was zu seiner Auflösung führte. Trotz seiner umfassenden und für die Konsolidierung des Bildungswesens der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit verdienstvollen Tätigkeit muß für unseren Zusammenhang festgestellt werden: Der Deutsche Ausschuß hat das Sonderschulwesen, die Probleme der Behinderten im Bildungswesen, die Sonderpädagogik nicht in seine Arbeit einbezogen.

Die Nachfolge des Deutschen Ausschusses trat der Deutsche Bildungsrat an. Er war, wie gesagt, auf der Grundlage eines Bund-Länder-Abkommens zustande gekommen. Während dem Deutschen Ausschuß keine politisch Verantwortlichen angehörten, wurden für den Deutschen Bildungsrat zwei Kommissionen gebildet: eine Bildungskommission und eine Regierungskommission. Jede dieser beiden Kommissionen hatte achtzehn Mitglieder. Während der Bildungskommission im wesentlichen Sachverständige aus verschiedenen Bereichen angehörten, also nicht etwa nur Erziehungswissenschaftler, wurde die Regierungskommission im wesentlichen von den Kultusministern der Länder und Mitgliedern der Bundesregierung gebildet. Sachverstand und Politik waren demnach im Deutschen Bildungsrat in Kooperation gebracht. Die Adressaten der Empfehlungen, die von der Bildungskommission erarbeitet wurden, gehörten als Regierungskommission dem Deutschen Bildungsrat an.

Abb. 2: Die Organisationsstruktur des Deutschen Bildungsrates

Der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates kam es zu, die im Bund-Länder-Abkommen formulierten Aufgaben wahrzunehmen. Dazu konnte sie Fachausschüsse bilden, die ihr sozusagen zuarbeiteten. Die bekannteste Empfehlung des Deutschen Bildungsrates ist der "Strukturplan für das Bildungswesen", wie der Rahmenplan des Deutschen Ausschusses ein Strukturkonzept, das im Jahre 1970 den Regierungen von Bund und Ländern, also den Auftraggebern, überreicht wurde. Für die Entwicklung der Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher" wurde unter der Bezeichnung "Sonderpädagogik" ein Ausschuß gebildet, dem namhafte Wissenschaftler sonderpädagogischer Disziplinen angehörten. Außerdem waren die Dezernenten für das Sonderschulwesen aus den Schulverwaltungen der Länder Mitglieder in diesem Ausschuß. Hier galt also auch das Prinzip, daß die Adressaten einer Empfehlung, in diesem Falle die Verantwortlichen der Schulverwaltung, in die Entwicklungsarbeit einbezogen worden waren.

Durch eine Änderung des Grundgesetzes (Art. 91b) wurde 1970 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung eingerichtet, deren Aufgabe es noch heute ist, Bund und Länder in Fragen der Bildungsplanung zusammenzuführen, zur Gemeinsamkeit zu bringen. Im Jahre 1973 hat die Bund-Länder-Kommission den Bildungsgesamtplan vorgelegt, in dem die Entwicklung des Bildungswesens vorläufig für die Zeit bis 1985 planerisch fixiert wurde. Eine so detaillierte und umfassende planerische Leistung hatte es in der Geschichte des Deutschen Bildungswesens noch nicht gegeben. Sie wurde zugleich ein Beispiel für andere Bereiche des öffentlichen Lebens.

Zur Integration von behinderten Kindern in das allgemeine Schulwesen heißt es im Bildungsgesamtplan: "Bei der Einrichtung des Sonderschulwesens ist eine möglichst enge Verzahnung mit dem allgemeinen Bildungswesen anzustreben. Art und Grad der Behinderung entscheiden über das Ausmaß der möglichen Integration und der notwendigen Differenzierung in pädagogischer und institutioneller Hinsicht. Insgesamt wird also die Sonderpädagogik nicht mehr auf das Sonderschulwesen begrenzt sein."[19]

Schon 1972 hatte die Bund-Länder-Kommission einen Zwischenbericht zum Bildungsgesamtplan veröffentlicht, in dem die Absicht, im deutschen Bildungswesen die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen zu fördern, mit der gleichen Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht worden war. Der Ausschuß Sonderpädagogik des Deutschen Bildungsrates hatte zu dieser Zeit seine Arbeit noch nicht abgeschlossen. Dennoch war er soweit, daß sich schon 1972 die Umrisse seiner Konzeption absehen ließen. Deshalb leistete er schon für den Zwischenbericht der Bund-Länder-Kommission konkrete Formulierungshilfe.

2.2 Prinzipien aus dem "Strukturplan" als Vorgaben der integrativen Empfehlung

Im Jahre 1970, am Ende seiner ersten Amtsperiode und am Beginn der zweiten, übergab die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates den "Strukturplan für das Bildungswesen" den Regierungen von Bund und Ländern. Dieser Plan enthält Vorschläge für die Entwicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik, die zur Grundlage der Arbeit der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung geworden sind. Während der "Bildungsgesamtplan", wie wir gesehen haben, im Jahre 1973 schon konkrete Aussagen über die Integration von Behinderten machte, enthält der "Strukturplan" noch keine ausgeführten Überlegungen zur Förderung von Behinderten. Im Vorwort des Vorsitzenden heißt es dazu lediglich: "Einige wichtige Themen, die ihren Platz im Strukturplan gehabt hätten, bleiben späterer Behandlung vorbehalten. Dazu gehört der Bereich der Sonderschulen, dem eine erhöhte Bedeutung zukommt".[20]

Darüber hinaus ist im Strukturplan gesagt, daß die Erzieherin, die im Kindergarten tätig ist, in der Lage sein soll, mit behinderten Kindern verantwortungsvoll zu handeln. In dieser Aussage kommt zum Ausdruck, daß die Bildungskommission an die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern des Kindergartenalters gedacht hat.

Schließlich wurde der Integrationsgedanke auch schon im Zusammenhang der Darstellung der Grundschule, des im Strukturplan so genannten Primarbereichs, formuliert: "Das Prinzip, daß die Lernvoraussetzungen der Kinder von der Schule berücksichtigt werden müssen, verpflichtet die Lehrer, sich auch mit schwerer erkennbaren Lernschwierigkeiten und Problemen auseinanderzusetzen. Es muß gerade für solche "schwierigen" Kinder, die bisher häufig in die Sonderschulen überwiesen wurden, nach Formen der Integration gesucht werden."[21]

Unabhängig von der Sonderpädagogik und der Förderung von Behinderten sind im Strukturplan drei pädagogische Prinzipien angesprochen und teilweise ausgeführt worden, die als gewichtige Vorleistungen für die Entwicklung einer Empfehlung zur pädagogischen Förderung Behinderter angesehen werden können. Es handelt sich dabei um

  • die individuelle Förderung des einzelnen Schülers

  • die horizontale Gliederung des Schulwesens

  • die Betonung der Bedeutung früher Lernprozesse.

1. Der Strukturplan sieht eine individuelle Förderung des einzelnen Schülers vor, was gleichbedeutend ist mit einer Individualisierung der Lernanforderungen. Durch sie soll jedem jungen Menschen die Möglichkeit gegeben werden, seinem Lernvermögen gemäß an den Lernprozessen zunehmen und so weit gefördert zu werden, wie es für ihn möglich erscheint. Das bedeutet zum Beispiel, daß er die Chance haben soll, den Möglichkeiten und Grenzen seiner Behinderung entsprechend zu lernen. Oder es kann bedeuten, daß er, entsprechend seiner überdurchschnittlichen Lerndisposition, zu weiterführenden Lernzielen geführt wird als andere. "Nur wenn der Unterricht so weit individualisiert wird, daß von den tatsächlich vorhandenen Lernvoraussetzungen beim Einzelnen ausgegangen werden kann, ist die Häufung von Mißerfolgen zu vermeiden ... Schüler dürfen also nicht überfordert werden, sondern sie sollen Schritt um Schritt durch Erfolgserlebnisse zu anspruchsvolleren Lernzielen hingeführt werden."[22]

Diese Vorgabe des Strukturplans hat die Empfehlung zur Förderung Behinderter in ihre Vorschläge zur Differenzierung des Unterrichts in allgemeine Schulen voll integriert. Differenzierung des Unterrichts ist immer in der Individualisierung der Lernanforderungen begründet und auf eine Individualisierung gerichtet, denn in allen differenzierenden Maßnahmen im Unterricht geht es eigentlich immer um eine Individualisierung der Lernanforderungen. Deshalb muß Individualisierung "als durchgehendes methodisches Prinzip in allen Lernbereichen der Schule verstanden werden, aber auch als inhaltliches, denn durch individualisierende Curricula läßt sich eine spezifische Profilierung der Lernmöglichkeiten des einzelnen Schülers erreichen."[23]

Wo der Versuch unternommen wird, die Differenzierung des Unterrichts zu begründen, da werden die Argumente vornehmlich um die Individualität des Schülers zentriert. Schüler unterscheiden sich vor allem in ihrem Lernvermögen. Damit ist ihre Intelligenz gemeint, ihre Auffassungsgabe, die vom sozialen Milieu her bestimmte Intellektualität, aber auch das Vorverständnis für die Sachverhalte des Unterrichts, ihre Lernintensivität, die Motivation für das Lernen, die Fähigkeit, die Forderungen des Lernens durchzuhalten usf. Die Verschiedenartigkeit der Schüler zeigt sich aber auch in den unterschiedlichen Zeiten, die sie nötig haben, um eine Aufgabe zu erfüllen, einem Prozeß des Lehrens zu folgen und ihn aufzunehmen oder einen Sachverhalt zu lernen. Schließlich ist die Verschiedenartigkeit der Schüler in den speziellen Begabungsdispositionen begründet; ebenso gut ließe sich von den verschiedenen Interessenrichtungen oder Lernfähigkeiten sprechen, weil der Begabungsbegriff durch die Forschung der vergangenen Jahre problematisiert worden ist. Diese Verschiedenartigkeiten sind ein Grund dafür, daß es zu Überforderungen vieler Schüler, aber auch zu erheblichen Unterforderungen käme, wenn man die Ansprüche im Unterricht für alle auf einem Niveau halten wollte.

Es kommt eben darauf an, den einzelnen Schüler nach dem Maß seiner Möglichkeiten lernen zu lassen, oder, von der Seite des Lehrers her gesehen, daß der Lehrer den einzelnen Schüler individuell "besorgen" kann. Die Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten und Grenzen der Schüler bedeutet zugleich die Abkehr von der Form des Frontalunterrichts. Er hat eine seiner Voraussetzungen in dem Bestreben, alle Schüler auf einem Niveau festzulegen. Deshalb besteht in ihm immer die Gefahr einer Mißachtung der Individualität. Die Schulgeschichte eines Spastikers, der die Realschule in der gleichen Klasse besuchte wie seine Schwester, kann veranschaulichen, was mit dem Individualisierungsprinzip konkret gemeint ist. Er schreibt: "Mußte etwas an der Tafel angeschrieben oder aufgezeichnet werden, so mußte ich dem Lehrer genau diktieren, ggf. sogar buchstabieren, oder genaue Anweisungen geben, wie die Zeichnung anzufertigen sei. Letzteres wurde besonders im Fach Geometrie zum Problem. Da ich handwerklich nicht mit Lineal, Zirkel und Winkelmesser umgehen konnte, durften meine Schwester und ich die entsprechenden Hausaufgaben gemeinsam anfertigen, wobei sie das Zeichnen besorgte und ich die Rechnungen durchführte ... als Wurzelzeichen vereinbarte ich mit unserem Mathematiklehrer den großen Buchstaben W. Bei Klassenarbeiten in Deutsch, Englisch und Mathematik erlaubten mir in den ersten Monaten die Lehrer, länger als meine Schulkameraden zu schreiben, weil sie sahen, daß ich nicht so schnell schreiben konnte wie die anderen. Diktate wurden etwas langsamer verlesen oder mir nachdiktiert."[24]

Das Individualisierungsprinzip gilt für Behinderte in gleicher Weise wie für Nichtbehinderte. Es ist deshalb abwegig zu behaupten, wie es im Zusammenhang juristischer Argumentationen aufkam, daß das Individualisierungsprinzip die Schule als Institution auflöse; man müsse deshalb Bedenken haben, dem Gedanken der Integration näherzutreten. Eine solche Argumentation verkennt die generelle pädagogische Bedeutung des Individualisierungsprinzips, aber auch den Anteil der Behinderten an der Gesamtheit der Schüler. Die individuelle Besorgung des einen geistigbehinderten Kindes auf annähernd zweihundert Kinder einer Grundschule löst die betreffende Schule nicht auf; oder die integrative Unterrichtung des einen blinden Kindes auf annähernd 8.000 Kinder durch die Praxis des individualisierenden Unterrichts kann unmöglich die schulischen Institutionen der Sekundarstufe I in einer Region destruieren.

2. Der Strukturplan sieht für das Schulwesen der Bundesrepublik eine horizontale Gliederung in Schulstufen vor. Zumindest dominiert diese Vorstellung in ihm. Dieser Auffassung lag die Überlegung zugrunde, daß im Verlaufe einer längerfristigen Reform die separat nebeneinander bestehenden Schulformen durch aufeinander folgende Schulstufen abgelöst werden sollten. Schon vor der Übergabe des Strukturplans hatte der Bildungsrat seine Empfehlung "Zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen" (1969) herausgebracht. Sie schlug vor, bundesweit ein Versuchsprogramm mit mindestens vierzig Integrierten Gesamtschulen im Bereich der Sekundarstufe I durchzuführen und wissenschaftlich begleiten zu lassen, um die Ergebnisse zu sichern. Die Grundschule ist schon seit dem Beginn der Weimarer Zeit eine solche horizontale Stufe von vierjähriger Dauer. Dem Bildungsrat ging es also um die Ausdehnung dieser Horizontalität in höhere Klassenstufen. Wörtlich heißt es dazu im Strukturplan: "Die Bereiche des Lernens sollen in sich und im Verhältnis zueinander horizontal

nach Schulstufen gegliedert sein."[25]

Der Vorschlag des Deutschen Bildungsrates enthält eine Infragestellung der traditionellen, vertikal gegliederten Schulformen und mithin auch des herkömmlichen Sonderschulwesens, denn die Überführung etwa der Hauptschule, der Realschule und des Gymnasiums in eine Schulstufe, in der alle Schüler gemeinsam unterrichtet werden, kann die Behinderten mit guten Gründen nicht mehr weiterhin in eigenständigen Schulen belassen. Es ist auch einleuchtend, daß die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten eher bewerkstelligt werden kann, wenn es statt drei verschiedenen Schulformen in der Sekundarstufe I nur eine für alle gemeinsame Schulstufe gibt. Vielleicht ist darin mit ein Grund dafür zu sehen, daß in anderen Ländern die behinderten Kinder stärker in das allgemeine Schulwesen integriert sind als in der Bundesrepublik. Durchweg haben sich in anderen Ländern, von Ausnahmen abgesehen, horizontale Schulgliederungen stärker durchgesetzt als hierzulande.

Die Gesamtschule ist eine solche horizontale Schulstufe, in der die traditionellen Schulformen integriert werden. Sie würde ihrem Anspruch, eine Schule für alle Kinder zu sein, nicht gerecht, wenn sie auf Dauer ohne eine Integration der Behinderten organisiert würde. Allerdings sind die Gesamtschulen unserer Zeit noch nicht so weit. In ihnen herrscht noch immer eine Dominanz kognitiver Lernziele. Sie sehen sich in der Konkurrenz zu traditionellen Schulen, bestimmen ihr Selbstverständnis wesentlich auch (und noch immer) vom Abitur her, und die Bildungspolitik leistet Vorschub dazu durch Vereinbarungen wie die über die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen. Selbst der Deutsche Bildungsrat hatte sich in der Empfehlung über die Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen den Behinderten gegenüber noch nicht offen gezeigt. Unmißverständlich wurde in der Empfehlung gesagt: "In der Mittelstufe der Gesamtschule wird die Trennung von Schulzweigen mit unterschiedlichen Bildungzielen aufgehoben. Alle Schüler - ausgenommen die Sonderschüler - besuchen in der Mittelstufe eine gemeinsame Schule."[26] Die Sonderschüler, also die Behinderten, sollten nicht in die Gesamtschule aufgenommen werden! Darin drückt sich ein gravierendes Mißverständnis von Gesamtschule aus. Sie mußte eigentlich ein Torso von Gesamtschule bleiben, wie schon ehedem die Einheitsschulkonzeptionen am Beginn der Weimarer Zeit ein Mißverständnis von Einheitsschule waren.

Die Formulierung der Empfehlung zur Integration von Behinderten ist in dem vollen Bewußtsein vorgenommen worden, daß die Konzeption einer horizontalen Schulgliederung durch den Strukturplan und mithin also die Vorstellung einer Integrierten Gesamtschule im Bereich der Sekundarstufe I eine wesentliche Vorleistung für die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im allgemeinen Schulwesen ist. Trotzdem taucht der Begriff "Gesamtschule" in der Empfehlung nur an einer einzigen Stelle auf: Im Zusammenhang der Darstellung der Differenzierung des Unterrichts wird festgestellt, daß es "innerhalb der traditionellen Schulformen und auch der Gesamtschulen" nicht darum gehen könne, "Fachleistungskurse einzurichten."[27] Es waren ausschließlich taktische Überlegungen, von Gesamtschule in der Empfehlung über diese eine Stelle hinaus nicht zu sprechen. Die Möglichkeit der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten mußte in der ersten Hälfte der siebziger Jahre aus schulpolitischen Kontroversen, wie sie um die Gesamtschule entstanden waren, herausgehalten werden. Implizit war von Gesamtschule von Anfang bis zum Ende des Empfehlungstextes immer wieder die Rede. Schon in der Einleitung wurde auf die horizontale Gliederung des Schulwesens zugegangen. Da heißt es: "Die im Strukturplan dominierende horizontale Gliederung des Schulwesens und die von daher zu realisierende Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen legt es nahe, auch das bisherige Sonderschulwesen mit jeweils seperaten Schularten für die einzelnen Behinderungsformen grundsätzlich neu zu ordnen. In einer Empfehlung für die Reform des Sonderschulwesens, die als Fortschreibung des Strukturplans zu verstehen ist, müssen darum Überlegungen vorrangig sein, die auf eine Entwicklung neuer Formen für die Förderung behinderter Kinder und Jugendlicher gerichtet sind. Diese neuen Formen sollten die Durchlässigkeit zwischen Einrichtungen für eine sonderpädagogische Förderung und allgemeinen Schulen auch für behinderte Kinder und Jugendliche auf allen Schulstufen praktikabel werden lassen und nach Möglichkeit eine Isolierung Behinderter vermeiden."[28]

3. Der Strukturplan hat die Bedeutung früher Lernprozesse im Anschluß an empirische Untersuchungen besonders aus den fünfziger und sechziger Jahren akzentuiert. Wörtlich heißt es dazu: "Dem frühen Lernen kommt heute eine besondere Bedeutung für die intellektuelle und emotionale Entwicklung des Kindes, insbesondere für die Entwicklung seiner Lernfähigkeit zu"[29] Die Ergebnisse der Forschungen, die für das frühe Lernen wichtig sind, lassen sich so zusammenfassen:

  • In keiner späteren Lebensphase ist das Kind und der junge Mensch in so hohem Maße lernfähig und bildbar, wie in der frühen Kindheit.

  • Deshalb läßt sich in einem späteren Lebensalter kaum mehr nachholen, was im frühen Lebensalter an Lernmöglichkeiten versäumt worden ist.

Deshalb wurde im Strukturplan 1970 ein Ausbau der Kindergärten vorgeschlagen, der so weit gehen sollte, daß für jedes Kind, für das ein Kindergartenplatz von den Eltern begehrt würde, auch tatsächlich ein Platz zur Verfügung stünde. Inzwischen ist dieser Vorschlag durch die weite Verbreitung von Kindergärten und besonders auch durch den Geburtenrückgang Wirklichkeit geworden. Sehen wir einmal ab von der Konzeption eines Elementarbereichs für die Altersstufe der Drei- und Vierjährigen und einer Eingangsstufe in die Grundschule für die Fünf- und Sechsjährigen, wie sie im Strukturplan vorgeschlagen worden war, zumal diese strukturellen Vorstellungen auf starken Widerstand stießen. Unabhängig davon kann der Ausbau der Kindergärten, wie er sich vollzogen hat, dazu führen, daß behinderte Kinder früher als bisher erkannt und einer frühen Förderung zugeführt werden und daß dem Entstehen von Behinderungen rechtzeitig vorgebeugt wird. Auch heute noch werden häufig behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder manchmal erst am Beginn der Unterrichtsprozesse in der Schule oder noch später auffällig. Dabei ist gerade das frühe Erkennen von Behinderungen und die sich daran anschließende frühe Förderung von großer Bedeutung für die schulische Integration und die soziale Integration Behinderter im Erwachsenenalter.

In der Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher" beginnt das Kapitel über Früherkennung und Frühförderung mit einigen Beispielen, die als Belege für die Bedeutung früher Lernprozesse angesehen werden können:

  • "Das Einprägen von Fehlbewegungsmustern bei einer zerebralen Schädigung kann durch krankengymnastische Behandlung von den ersten Lebensmonaten ab weitgehend vermieden werden.

  • Die Ausbildung von falschen Hörschemata bei hörgeschädigten Kindern, die später kaum korrigierbar sind, aufgrund inadäquater Hörreize in den ersten zwei bis drei Lebensjahren, können durch technische Hörhilfen in Verbindung mit einem Hör-Sprach-Training vermieden werden. Dadurch wird der Erwerb der Lautsprache erleichtert.

  • Retardierungen, die sich später als Schulversagen manifestieren, lassen sich bei Kindern, die in der frühen Kindheit aufgrund soziokultureller Benachteiligung mangelnde Lernanregung im perzeptiven, sprachlichen und motorischen Bereich erhalten haben, durch geeignete Förderprogramme weitgehend vermeiden."[30]

Die Beispiele ließen sich vermehren. Die Bildungskommission war der Auffassung, es müsse ausgeschlossen werden, daß zum Beispiel ein schwerhöriges Kind erst am Beginn der Schulzeit als behindert erkannt wird, wo es doch heutzutage möglich ist, Schwerhörigkeit schon vom achten Lebensmonat an zu diagnostizieren. Eine der vorrangigen Aufgaben sei es, der im öffentlichen Bewußtsein verbreiteten irrigen Auffassung zu begegnen, Behinderungen müßten als schicksalhaft gegeben hingenommen werden. Im Sinne einer Fortschreibung des Strukturplans wird deshalb die Institutionalisierung der Früherkennung und Frühförderung vorgeschlagen. Es wirkte sich nachteilig aus, "daß es keine ausreichende institutionelle und organisatorische Basis gibt, von der aus Maßnahmen zur Früherkennung für das gesamte Säuglings- und Kleinkindalter (0-6 Jahre) und für alle Arten von Behinderungen durchgeführt werden können, daß der weithin auf Freiwilligkeit abgestellte gesetzliche Rahmen zur Früherfassung keine hinreichende Grundlage darstellt, wenn nicht Zusatzmaßnahmen ergriffen werden, und daß die Kompetenzen für das frühe Lebensalter der Kinder auf allen Verwaltungsebenen in verschiedene Ressorts aufgesplittert sind."[31] Der Vorschlag zur Institutionalisierung der Früherkennung und Frühförderung, den der Ausschuß Sonderpädagogik für die Bildungskommission erarbeitet hat, sieht so aus, daß in der Bundesrepublik auf eine Bezugsgröße von 200.000 Einwohnern jeweils ein Zentrum für pädagogische Frühförderung eingerichtet werden soll, das in einer Abteilung diagnostische und beratende Aufgaben wahrzunehmen hat und eine aktive, aufspürende Früherkennungsarbeit leisten soll, während eine zweite Abteilung die notwendige Frühförderung von behinderten Kindern zum Teil übernehmen, aber auch in Koordination mit bestehenden Einrichtungen organisieren soll. Dabei wird auch für dieses frühe Alter schon der Grundsatz verfolgt, daß so viel Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern zu realisieren sei, wie es möglich ist und eine separate Förderung von behinderten Kindern nur vorgenommen werden soll, wenn es für das einzelne behinderte Kind und sein Wohl unabdingbar notwendig ist.

Abb. 3: Gliederung und Aufgaben des Zentrums für pädagogische Frühförderung

Der Vorschlag der Bildungskommission, ein Netz von dreihundert Zentren für pädagogische Frühförderung in der Bundesrepublik zu errichten, ist wegen der dafür erforderlichen Kosten, die in der Empfehlung geschätzt wurden, auf Kritik gestoßen. Dieser Kritik wurde in der öffentlichen Diskussion mit dem Argument begegnet, daß die für Behinderte in der Früherkennung und Frühförderung investierten Kosten in den später auftretenden Sozialfolgekosten eingespart werden könnten. Ein solches Argument muß problematisiert werden, weil es Behinderte in das ökonomische Denken einer leistungsorientierten Gesellschaft einordnet und weil die humanen Aspekte der Behindertenhilfe dabei in den Hintergrund treten. In einer demokratisch verfaßten Gesellschaft muß sich die Einsicht allmählich durchsetzen, daß die Hilfen für einen Behinderten nicht von der Frage bestimmt sein dürfen, ob er "ein nützliches Glied der Gesellschaft" werden kann, sondern von seiner elementaren Hilfsbedürftigkeit her.

2.3. Die allgemeine Schule unter dem Aspekt der Integration

Der Ausschuß Sonderpädagogik und mit ihm die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates waren sich darüber im klaren, daß die allgemeinen Schulen nicht ohne weiteres mit der Aufgabe der gemeinsamen Unterrichtung und Erziehung behinderter und nichtbehinderter Schüler konfrontiert werden konnten. Vielmehr sollte eine Binnenreform der allgemeinen Schulen eingeleitet werden, die sie im Vergleich zur schulischen Realität der sechziger und beginnenden siebziger Jahre aufnahmebereiter für behinderte und von Behinderung bedrohte Schüler werden ließen. Die Binnenreform sollte nach den Vorstellungen der Bildungskommission so weit gehen, "daß so viel gemeinsamer Unterricht wie möglich durchgeführt wird und daß eine isolierte Förderung der behinderten Kinder nur vorgenommen wird, wo sie notwendig ist."[32] In der Diskussion um die Empfehlung des Bildungsrates ist diese Formulierung besonders von Befürwortern der Integration kritisiert worden. Sie ist jedenfalls nicht so auszulegen, als wollte sie den Zustand und das Nebeneinander der allgemeinen Schule und der Sonderschule der sechziger Jahre und der siebziger Jahre in die Zukunft hinein stabilisieren. Isolierte Förderung ist schon gegeben, wo zum Beispiel einem legasthenischen Kind in der Grundschule neben dem allgemeinen Unterricht eine zusätzliche, auf seine Schwierigkeiten bezogene Hilfe zuteil wird; aber auch in dem Fall, in dem zum Beispiel ein schwer verhaltensgestörtes Kind zeitweise in eine stationäre Therapie überwiesen wird. Man muß diese Weite der Formulierung sehen, um ihre Abstraktheit angemessen auszulegen.

Das allgemeine Ziel der Binnenreform aller allgemeinen Schulen sollte, der Intention der Empfehlung von 1973 entsprechend, die Reduzierung der Anzahl der Schüler sein, die in Sonderschulen überwiesen wurden. Das waren in dieser Zeit zum Beispiel in Essen-Vogelheim, einem Stadtteil im nördlichen Ruhrgebiet, bis zu annähernd 20% der Kinder eines Geburtsjahrgangs; sie wurden vornehmlich der Schule für Lernbehinderte überstellt.[33] Das war zwar zu dieser Zeit ein Extrem. Gerade deshalb verdeutlicht es aber anschaulich die Berechtigung des allgemeinen Ziels der Binnenreform. Der durchschnittliche Prozentsatz der Kinder, die sich zu dieser Zeit in der Bundesrepublik in Sonderschulen befunden haben, lag immerhin über 4%. (Die Aufklärung der Eltern und Lehrer, die sich von 1974 an für die Durchführung eines integrativen Schulversuchs in Vogelheim vollzog, hatte eine Halbierung der Zahl der Überweisungen in die Sonderschule zur Folge. Die Analyse eines solchen Befundes verdeutlicht, wie wichtig für die Integration von Behinderten in die allgemeine Schule eine entsprechende Bewußtseinsdisposition der Lehrer und Eltern ist.)

Die Reduzierung der Zahl der Überweisungen bis zur Vermeidung der Aussonderungen hat zur Folge, daß die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten realistisch ermöglicht werden muß. Dazu machte die Empfehlung des Bildungsrates eine Reihe von Vorschlägen zur Differenzierung des Unterrichts, wobei die Innere Differenzierung akzentuiert wird. (Vgl. zur Differenzierung des Unterrichts insgesamt das dritte Kapitel.) In diesem Zusammenhang der Binnenreform der allgemeinen Schule wurden in der Empfehlung die Schüler-Lehrer-Relationen und die Klassenfrequenzen angesprochen. Das ist nicht verwunderlich, denn es läßt sich geradezu als Gesetzmäßigkeit formulieren, daß mit steigenden Klassenfrequenzen die Möglichkeiten zur Inneren Differenzierung des Unterrichts absinken, und daß mit dem Absinken der Frequenzen die Möglichkeiten zur Inneren Differenzierung steigen. Die Empfehlung weist zwar darauf hin, daß hohe Klassenfrequenzen die Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht erschweren. Sie geht aber über die allgemeine Forderung einer Senkung der Frequenzen hinaus, indem sie die starre Anwendung festgelegter Größen für die Klassenbildungen innerhalb einer Schule ablehnt, "weil sie vielfach die Organisation differenzierender und individualisierender Maßnahmen verhindern; insbesondere erschweren sie die Integration behinderter Kinder." - "Aber auch die starre Anwendung festgelegter Klassenfrequenzen innerhalb einer Schule ist nicht angebracht, weil die Zusammenfassung der Schüler in Klassen mit bestimmter Schülerzahl sich nicht für alle unterrichtlichen Situationen eignet. Klassen- und Gruppenfrequenzen müssen flexibel sein. Sie sind an Lernbereichen, Altersstufen und den individuellen Lernmöglichkeiten der in einer Gruppe zusammengefaßten Schüler zu orientieren. Das bedeutet, daß die Frequenzen zum Beispiel in einer Gruppe, in der einige Kinder mit bestimmten Sprachbehinderungen gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet werden, anders festzulegen sind als in Gruppen, in denen ausschließlich nichtbehinderte Kinder unterrichtet werden."[34]

Die einzelne Schule sollte in der Festlegung der Klassenstärken eigenverantwortlich auf der Grundlage der geltenden Lehrer-Schüler-Relationen handeln können. Die Realisierung dieses Vorschlags kann konkret dazu führen, daß in einer Schule parallele Klassen unterschiedlich große Schülerzahlen haben, weil die Bedingungen des Lehrens und Lernens in ihnen unterschiedlich sind. In der Zeit, in der sich die Bildungskommission mit der Empfehlung zur Integration behinderter Kinder und Jugendlicher beschäftigte, war sie auch in Empfehlungen zur Reform der Schulverwaltung engagiert, die darauf hinausliefen, den Schulen eine verstärkte Selbständigkeit und Partizipation in administrativen Verantwortlichkeiten zu sichern. Das ist der Kontext, in dem der Vorschlag zur Eigenverantwortlichkeit der Schulen in der Festlegung unterschiedlicher Klassenfrequenzen gesehen werden muß.[35]

Große Bedeutung wurde in der Binnenreform der Schule aber auch den Lehrern zugemessen. "Die erste Bedingung ist darin zu sehen, daß alle Lehrer künftig für den Umgang mit Kindern, die in den Bereichen des schulischen Lernens, des sozialen Verhaltens und der sprachlichen Kommunikation auffällig sind, vorbereitet und über die Probleme anderer Behinderungsarten orientiert sein müssen, um die gegenwärtig vorherrschende Ausgliederungstendenz von behinderten und sozial benachteiligten Kindern zu reduzieren und die Förderung behinderter Kinder im kommunikativen Beziehungsgefüge der Klassen oder Gruppen, denen sie angehören, im Rahmen der allgemeinen Schule zu ermöglichen"[36]

Die sonderpädagogisch relevanten Studien und Ausbildungsanteile sollten in der ersten und zweiten Ausbildungsphase 1/10 des Studienumfangs der Grundschullehrer betragen "und auch in das Studium der anderen Lehrer kontinuierlich einbezogen" werden. (S. 128) Die Empfehlung formuliert gar die Schwerpunkte, die in den Curricula des besagten Zentels berücksichtigt werden sollen:

  • "Kenntnisse über häufig auftretende oder drohende Behinderungen im Lernen, Verhalten, in der Sprache und im psychomotorischen Bereich, einschließlich psychologischer und soziologischer Fragestellungen;

  • Überblick über unterrichtliche Maßnahmen für Behinderte, einschließlich der Befähigung zu differenzierenden und individualisierenden Maßnahmen vorbeugender Art;

  • Überblick über sonderpädagogische Einrichtungen im vorschulischen, schulischen und nachschulischen Bereich;

  • Befähigung zur Durchführung vorbeugender Maßnahmen bei von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen;

  • Praktika und Hospitationen in sonderpädagogischen Einrichtungen im schulischen und außerschulischen Bereich" (S. 120)

Es war die Absicht der Verfasser der Empfehlung, das sonderpädagogische Grundstudium aller Lehrer allen Schülern der allgemeinen Schule zugutekommen zu lassen, es war nicht ihre Absicht, den speziellen Sonderpädagogen abzuschaffen. Der Sonderpädagoge sollte allerdings nicht mehr ein Lehrer sein, der ausschließlich an der Sonderschule tätig werden kann, sondern sein Tätigkeitsfeld sollte auch die allgemeine Schule umfassen. In diesem Sinne wird in der Empfehlung gesagt: "Für Klassen, in denen behinderte Kinder mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet werden, muß neben dem Lehrer, der den allgemeinen Unterricht erteilt, je nach den individuellen Hilfen, deren die behinderten Kinder im allgemeinen Unterricht bedürfen, die Tätigkeit eines Sonderpädagogen oder eines Behindertenerziehers oder eines Helfers möglich sein. Darüber hinaus sollte es nicht ausgeschlossen werden, daß Sonderpädagogen als Klassen- oder Fachlehrer in Klassen tätig sind, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden:" (S. 73) Der spezielle Sonderpädagoge sollte zwei sonderpädagogische Disziplinen studieren und sich in ihnen qualifizieren. Um seinen Einsatz in allgemeinen Schulen effektiv und realistisch zu ermöglichen, wird für das Studium die Kombination von zwei Behindertenarten in folgender Weise vorgeschlagen: "Die beiden Fachrichtungen sollten so aufeinander bezogen sein, daß die mit der primären Behinderung häufig parallel oder konsekutiv auftretenden Behinderungen berücksichtigt werden. In der Regel werden deshalb als zweite Fachrichtung besonders Lernbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik oder Verhaltensgestörtenpädagogik studiert, die auch als erstes Fach gewählt werden können." (S. 122)

Schließlich enthält die Empfehlung, die primär auf Strukturen für die Integration von Behinderten in die allgemeine Schule gerichtet ist, für die Binnenreform der Schule auch Hinweise hinsichtlich der zu lehrenden Inhalte. Es wird gesagt, daß bei der Erstellung neuer Richtlinien und Lehrpläne "in den Curricula aller Schulformen und Schulstufen Informationen über Behinderte in altersspezifischer Form, über die Entstehung von Behinderungen, den Lebensvollzug von Behinderten und über soziale Benachteiligung vorgesehen werden" sollten. Als allgemeines Lernziel des Unterrichts über Probleme der Behinderten wird formuliert, "den Kontakt zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu erleichtern." (S. 127f)

2.4 Kooperative Schulzentren

Die Mitte der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates bildet das Kooperative Schulzentrum, eine Konzeption, die an ausgewählten Schulen eingerichtet werden sollte.

Es ist dadurch gekennzeichnet, daß mit einer allgemeinen Schule eine sonderpädagogische Einheit (Sonderschule) in Kooperation gebracht werden soll. Die formale Zusammenführung der beiden Systeme in einer Einheit kann nach der Auffassung der Bildungskommission zu einem gestuften System der Förderung für behinderte Kinder führen. Damit ist also keineswegs eine Auflösung der Sonderschulen gemeint. Vielmehr geht es darum, daß sie als selbständige pädagogische Einheiten erhalten bleiben und mit allgemeinen Schulen in eine Verbindung gebracht werden. Es ist charakteristisch für diesen Vorschlag der Empfehlung, daß er sich ganz und gar dem System bestehender Sonderschulen verpflichtet weiß; er versucht, dieses System zur Kooperation mit allgemeinen Schulen zu bringen. In dieser Verbindung soll allerdings eine so große Flexibilität ermöglicht werden, daß sich für jedes behinderte Kind prüfen läßt, inwieweit es mit anderen gemeinsam unterrichtet und gefördert werden kann oder aber separat unterrichtet und therapiert werden muß.

Die Bildungskommission geht für dieses Konzept von der Überlegung aus, daß es nicht gut wäre, behinderte Kinder einfachhin in die allgemeinen Schulen einzubringen. Die Kinder würden sich gewissermaßen verloren vorkommen, würden kein Selbstkonzept für ihren Lebensvollzug entwickeln können, würden keine spezifische Verantwortung Erwachsener für sich spüren und erfahren. In einer Konzeption aber, die sonderpädagogische Einheiten in der Kooperation administrativ selbständig sein ließe, käme Verantwortung für behinderte Kinder auf, bestehe so etwas wie eine Zuständigkeit für sie. Diese Zuständigkeit bringe pädagogische Verantwortung hervor. Was damit gemeint ist, kann die folgende Überlegung erläutern: Für ein Kinderzimmer ist ein Kind zuständig. Deshalb kann von einem Kinderzimmer gesagt werden, daß es aufgeräumt oder unaufgeräumt ist, jeweils bestimmt von der Zuständigkeit, der Verantwortung eines Kindes her. Vom Urwald kann eine solche Aussage nicht getroffen werden. Der Urwald, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist immer in einem natürlichen Zustand, gleichsam in einem Urzustand. Für ihn braucht es deshalb keine Zuständigkeit zu geben. Darum kann man weder sagen, er sei unaufgeräumt, nicht gut gepflanzt oder vernachlässigt, man kann aber auch nicht behaupten, er sei aufgeräumt, gut geforstet. In menschlichen Bezügen ist die Zuständigkeit eine wichtige Kategorie. Das gilt vor allem auch da, wo es um behinderte Kinder geht.[37]

Für die Kooperativen Schulzentren geht die Bildungskommission davon aus, daß sie in der Regel als Schulen in Tagesform vorgesehen werden. Entsprechend der Zahl behinderter Kinder in einer Region soll an einzelnen allgemeinen Schulen die Ausstattung für jeweils eine Behinderungsart, höchstens für zwei Behinderungsarten, vorgenommen werden. Es kann nach dieser Konzeption durchaus sein, daß an einer allgemeinen Schule eine sonderpädagogische Einheit für Sprachbehinderte angegliedert wird, an einer anderen eine für Körperbehinderte, an einer dritten eine für Verhaltensgestörte oder daß an einer allgemeinen Schule sonderpädagogische Einheiten beispielsweise für Blinde und Sehbehinderte, an einer anderen für Lernbehinderte und Verhaltensgestörte eingerichtet werden.

Durch diese dezentralisierte Struktur soll eine qualifizierte Ausstattung ermöglicht und eine Massierung von Behinderten in den Kooperativen Schulzentren vermieden werden. Deshalb sind bewußt in der Empfehlung keine Zahlenangaben für die Größe der sonderpädagogischen Einrichtungen gemacht worden, auch nicht in dem Stufenplan für die Realisierung, dem neunten Kapitel der Empfehlung. Je kleiner die sonderpädagogischen Einheiten seien, umso näher könnten sie bei den Wohnungen der behinderten Kinder eingerichtet werden. Es wäre auch problematisch, die Integration von Behinderten in allgemeine Schulen mit ihrer Desintegration aus ihren Wohnbereichen zu erkaufen.

Trotz solcher Überlegungen ist offensichtlich, daß bei der Konzeption der Kooperativen Zentren an große allgemeine Schulen gedacht worden ist wie sie als Schulzentren den sechziger und siebziger Jahren auch auf dem flachen Lande entstanden sind, und daß in dieser Konzeption die Sonderschule in einer Variante ihrer bisherigen Form weiter bestehen kann. In der Ausbreitung des Integrationsgedankens hat sich die konzeptionelle Vorstellung der Bildungskommission zwar nicht auf breiter Basis umgesetzt, aber doch in einer Reihe von Schulen als eine mögliche Form der Verwirklichung des Integrationsgedankens unter anderen Formen bestätigt. Die Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg und das Conrad-von-Soest- Gymnasium in Soest zum Beispiel integrieren blinde und sehbehinderte Schüler in Kooperation mit den in blinde und sehbehinderte Schüler in Kooperation mit den in unmittelbar Nachbarschaft liegenden Sonderschulen für Blinde.[38] Solche Beispiele ließen sich auch für andere Behindertenarten in größerer Zahl anführen, unter anderem besonders für Körperbehinderte.

Drei Organisationsformen des Unterrichts werden in der Empfehlung des Bildungsrates für die Kooperativen Zentren vorgeschlagen, die hier noch näher zu erläutern sind:[39]

  • Es soll eine behinderunspezifische Hilfe für behinderte Kinder bei voller Integration in den allgemeinen Unterricht ermöglicht werden.

  • Es soll eine Teilintegration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht vorgenommen werden, wobei der nichtintegrierte Teil des Unterrichts für die Kinder separat stattfinden und auf die Behinderungen und spezifischen Belastungen der Kinder Rücksicht nehmen müsse.

  • Es soll ein Unterricht für Behinderte ohne Teilintegration, also in ausschließlich separater Form erfolgen, darüber hinaus aber im Schulleben Kommunikation von Behinderten und Nichtbehinderten möglich sein.

1. Es gibt behinderte Schüler jedweder Behinderungsart, die sich voll in den allgemeinen Unterricht integrieren lassen, wenn für sie eine zusätzliche Therapie gesichert ist, die sich auf ihre Behinderung bezieht. Dazu gehört unter anderem ein Großteil der Sprachbehinderten, der voll am allgemeinen Unterricht teilzunehmen in der Lage ist und der deshalb nicht in eine besondere Schulart ausgesondert werden muß, wenn in einer allgemeinen Schule zusätzlich zum allgemeinen Unterricht die notwendige Sprachtherapie angeboten wird. Für eine solche zusätzliche Therapie müßten in einem Kooperativen Schulzentrum Sprachheilpädagogen und gegebenenfalls Logopäden tätig sein oder zumindest ambulant tätig werden.

Die Bildungskommission hat ihre Empfehlung nicht für die einzelnen Behinderungsarten spezifiziert. Eine solche Spezifizierung ist aber ohne Schwierigkeiten möglich. Ebenso wie die Sprachbehinderten können auch Schwerhörige, Blinde und Sehbehinderte, Verhaltensgestörte, Körperbehinderte und Lernbehinderte und selbst auch Geistigbehinderte in der beschriebenen Organisationsform gefördert werden. In Klassen, an deren Unterricht vielleicht zwei behinderte Schüler teilnehmen, sollten die Klassenstärken niedriger sein können als in den anderen Klassen, damit Lehrer und Therapeuten oder Assistenten im Unterricht die Möglichkeit finden, den behinderten Kindern besondere Hilfe zuteil werden zu lassen. Wichtig ist es freilich auch, daß die zusätzliche Hilfe und Therapie durch Sonderpädagogen der betreffenden Fachrichtung oder durch Therapeuten außerhalb des Unterrichts in Einzel- oder Gruppentherapie durchgeführt werden kann. Sonderpädagogen, Therapeuten und Helfer bilden nach den Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates zusammen mit den behinderten Schülern die sonderpädagogische Einheit, die einen eigenen Leiter und besondere Räumlichkeiten hat. Ein Sonderpädagoge aus dieser Einheit, der ein behindertes Kind in eine allgemeine Klasse schicke, könne die Therapie selbst übernehmen oder dafür Sorge tragen, daß sie qualifiziert durchgeführt wird. Denn die Integration in den allgemeinen Unterricht dürfe sich nicht zum Nachteil der behinderten Kinder auswirken.

Die Sonderpädagogen sollten Zusatzprogramme für die behinderten Schüler erarbeiten, die Klassenlehrer in der Verwendung behinderungsspezifischer Materialien und Medien beraten und für eine regelmäßige medizinische Überprüfung der behinderten Kinder Sorge tragen, sie könnten aber auch über die Therapie hinaus eine individuelle Unterstützung der behinderten Kinder im Unterricht der allgemeinen Klasse leisten. Darin konkretisierte sich ihre Zuständigkeit. "Für behinderte Kinder, die voll in den allgemeinen Unterricht integriert sind, deren Therapiebedarf aber so gering geworden ist, daß ihm ambulant entsprochen werden kann, ist eine Rückführung in die allgemeine Schule ihres Wohnbezirks vorzusehen. Ambulant lassen sich vor allem sprachauffällige und verhaltensauffällige Kinder, aber auch Kinder anderer Behinderungsarten, betreuen. Die Sonderpädagogen der jeweiligen Schule für Behinderte in einem Schulbezirk übernehmen die ambulante behinderungsspezifische Hilfe und Therapie für die behinderten oder von Behinderung bedrohten Kinder, die in die allgemeine Schule ihres Wohnbezirks zurückgeführt wurden oder die wegen ihres nur geringen Bedarfs an behinderungsspezifischer Förderung und Therapie dort verblieben sind" (S. 90)

2. Mit der Teilintegration in den allgemeinen Unterricht ist gemeint, daß die behinderten Kinder in einem Teil des Unterrichts in der sonderpädagogischen Einheit oder der Sonderschule eines Kooperativen Schulzentrums separat unterrichtet werden, daß sie einen anderen Teil aber gemeinsam rnit den nichtbehinderten Kindern haben. Die Anteile, die im separaten und im integrativen Unterricht verbracht würden, könnten von Kind zu Kind verschieden sein und sich im Laufe der Schulzeit verändern. Die Bildungskommission geht für diesen Zusammenhang von der Annahme aus, daß behinderte Kinder schon im vorschulischen Bereich einer entsprechenden Förderung zugeführt werden, die nach der Schulaufnahme fortgesetzt wird. Frühe Therapie erhöht in einer Vielzahl von Fällen die Chancen der Therapie überhaupt und damit auch die Möglichkeiten einer Teilintegration oder gar der vollen Integration in den allgemeinen Unterricht. Für manches spastische Kind zum Beispiel kann der Grad der Behinderung durch Frühförderung stark reduziert werden. Und für etwa l0% der Kinder im Vorschulalter wird angenommen, daß sie sprachbehindert sind. Auch für sie lassen sich durch die frühe Förderung die Möglichkeiten zur Integration schon in der Grundschule steigern. Das gilt in übertragenem Sinn auch für andere Behinderungsarten. Es gibt nach der Auffassung der Bildungskommission vom Beginn der siebziger Jahre aber auch Behinderungen, die erst in der Sekundarstufe für eine Teilintegration in Frage kommen können, weil die behinderten Schüler dazu befähigt werden müssen. Der Lernfortschritt des Kindes werde hier maßgeblich für die Teilnahme am allgemeinen Unterricht. Das gilt zum Beispiel für Schwerhörige, deren Sprachverständnis und Sprachanbahnung soweit gefördert sein müßten, daß sie kommunikationsfähig seien. In dieser Argumentation zeigt sich wiederum auch, daß von den individuellen Möglichkeiten eines Kindes her der Umfang der Integration und der Separation ausgemacht werden muß.

Für die behinderten Kinder, die in einem Teil des Unterrichts in allgemeine Klassen integriert seien, würde der Schwerpunkt der Förderung nach der Auffassung der Bildungskommission dennoch in der sonderpädagogischen Einheit liegen müssen, also überwiegend separat stattfinden. Wörtlich heißt es dazu: "Die Teilnahme am allgemeinen Unterricht kann sich auf ein einzelnes Unterrichtsfach erstrecken und sich vielleicht mit zunehmendem Alter und zunehmender Förderung auf andere Fächer und auf fakultative Veranstaltungen (z.B. Arbeitsgemeinschaften) ausdehnen. In jedem Fall aber wird das behinderte Kind einer Stammgruppe oder Klasse angehören, in der es gemeinsam mit anderen Kindern seiner Behinderungsart den größeren Teil des Unterrichts erfährt. - Auch in diesen Stammgruppen oder Klassen bedarf der Unterricht Innerer Differenzierung, denn die jeweilige Behindertengruppe ist in sich nicht homogen, sondern trotz niedriger Frequenzen durch die verschiedenen Ausprägungen der Behinderungen häufig heterogener als Klassen, in denen ausschließlich behinderte Kinder unterrichtet werden." (S. 91)

3. Der Unterricht ohne Teilintegration ist in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates für schwerbehinderte Kinder vorgesehen, Kinder etwa mit Mehrfachbehinderungen und vor allem auch für Geistigbehinderte. Sie sollen in Stammgruppen zusammengefaßt und von Sonderpädagogen betreut und gefördert werden. Es geht in dieser Organisationsform der Kooperativen Schulzentren demnach mehr um eine additive Verbindung einer sonderpädagogischen Einheit mit einer allgemeinen Schule.

Während die behinderten Kinder in der Organisationsform, in der eine Teilintegration in den Unterricht der nichtbehinderten Kinder ermöglicht werden soll, teilweise von Sonderpädagogen, teilweise von allgemeinen Lehrern unterrichtet werden, liegt in dieser dritten Organisationsform der Unterricht, die Therapie und überhaupt die Förderung ausschließlich in der Hand von Sonderpädagogen, Therapeuten und sonderpädagogischen Helfern. Deshalb ist natürlich die Frage möglich, warum eine additive Angliederung solcher Kinder an eine allgemeine Schule vorgenommen werden soll: Wenn auch im Unterricht selbst keine Gemeinsamkeit möglich sei, so könne die Verbindung einer allgemeinen Schule mit einer sonderpädagogi¬schen Einheit ohne Teilintegration in den allgemeinen Unterricht doch Kontakte zwischen den nichtbehinderten und den behinderten Schülern ermöglichen. Das sei besonders in Ganztagsschulen möglich, weil in ihnen über den Unterricht hinaus Zeiten zur Verfügung gestellt werden könnten, in denen sich die beiden Schülergruppen eines Kooperativen Schulzentrums begegnen würden.

Die Bildungskommission war sich bei der Entwicklung der Empfehlung darüber im klaren, daß Kontakte zwischen den behinderten und nichtbehinderten Schülern außerhalb des Unterrichts nicht ohne weiteres zum Abbau von Vorurteilen und zur humanen Annahme führen. Sie sagt dazu: "Da Kontakte zwischen Behinderten und Nichtbehinderten im Rahmen der Schule nicht notwendig Vorurteile vermindern, dürfen sie nicht nur dem Zufall überlassen bleiben. Sie müssen vielmehr als Teil des Curriculums durch Lehrer, Eltern und freiwillige Helfer dort, wo es möglich ist, geplant und pädagogisch begleitet werden. Diese Kontakte sind als eine Chance für das soziale Lernen anzusehen, die nicht allein Sonderpädagogen betrifft, sondern eine nichtdelegierbare Verantwortung aller Lehrer anspricht." (S. 93)

Im konkreten Miteinander können die Nichtbehinderten Toleranz durch den Umgang mit Behinderten lernen, sie können Natürlichkeit und Unbefangenheit den Behinderten gegenüber gewinnen, können Erfahrungen sammeln, wie Behinderte anzusprechen sind, ob und wie ihnen geholfen werden kann. Und die Behinderten ihrerseits können außer solchen Erfahrungen für den Umgang mit Nichtbehinderten auch Verständnis für die zeitweilige Verständnislosigkeit der Nichtbehinderten erreichen. Im ganzen wird es das Ziel des Umgangs sein, positive Einstellungen der beiden Gruppen füreinander aufzubauen. Der humane Geist der Empfehlung des Bildungsrates spricht in besonderer Weise aus einer Stelle des Stufenplans zur Verwirklichung der Konzeption, an der gesagt ist, weil es für geistigbehinderte Kinder "vorrangig um Kontaktaufnahmen mit nichtbehinderten Kindern außerhalb des Unterrichts" gehe, könne "die organisatorische Verbindung einer Schule für Geistigbehinderte grundsätzlich mit jeder allgemeinen Schule, auch mit einem Gymnasium möglich" sein. (S. 130) Integration meint eben einen Prozeß, der von beiden Gruppen, den Behinderten und den Nichtbehinderten, getragen werden muß und der auf die Menschlichkeit beider Gruppen gerichtet ist.

Abb. 4: Organisationsformen für die Förderung behinderter Kinder in Kooperativen Schulzentren

2.5. Veränderung der Einstellungen zu Behinderten am Beispiel juristischer Entscheidungen

Die Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung Behinderter" war am 14. Dezember 1973 übergeben worden. Der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, es war der Bremer Schulsenator Moritz Thape, hatte sie im Namen seiner Ministerkollegen mit den Worten begrüßt, ihr würde "in den Ländern mit Erwartung entgegengesehen"; allein schon die gute Zusammenarbeit in der Zeit der Entwicklung zwischen Vertretern der Kultusverwaltungen und der Wissenschaft werde sich "förderlich auf die Umsetzung" auswirken. Gemeint waren im wesentlichen die gleichen Vertreter der Kultus- und Senatsverwaltungen, die für ihre Minister im Jahr zuvor die "Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens" formuliert hatten, mit der profiliert die Eigenständigkeit der Sonderschule betont wurde. Bezieht man noch die Zustimmung der Minister zu der eindeutigen integrativen Tendenz des Bildungsgesamtplans von 1973 ein, so wird deutlich, warum selbst für Kenner der bildungspolitischen Szenerie des Anfangs der siebziger Jahre die Widersprüche in offiziellen Dokumenten und in öffentlichen Äußerungen ein Rätsel bleiben müssen. Sie lassen sich sicher nicht nur mit der taktisch gemeinten Feststellung in der Empfehlung des Bildungsrates erklären, sie stelle zur Empfehlung der Kultusminister von 1972 keinen Gegensatz dar. Vielmehr ergänzten sich die beiden Konzeptionen "im Rahmen einer Bildungsplanung, die einerseits kurzfristige Maßnahmen des Ausbaus und der Weiterentwicklung bestehender Formen zu treffen hat, andererseits langfristige Zielprojektionen entwerfen muß, auf die hin kurzfristige Maßnahmen orientiert sein müssen". (S. 22)

Es verwundert nicht, daß die Widersprüche einer realistischen Umsetzung der Konzeption des Deutschen Bildungsrates entgegenstanden. Vielleicht stand die Konzeption selbst ihrer Umsetzung im Wege, weil sie, besonders was sie Kooperativen Schulzentren betrifft, zu eng an der Struktur des Sonderschulwesens orientiert war. Aus der Perspektive der achtziger Jahre rückblickend gesehen, war die allmähliche Veränderung des Bewußtseins der Menschen in unserer Gesellschaft, die Veränderung der Einstellung zu Behinderten eine der vorrangigen Aufgaben. Einer Ausbreitung von Schulen für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern muß bis zu einem gewissen Grade die Offenheit der Menschen für diese Gemeinsamkeit vorausgehen. In diesem Prozeß der Veränderung des Bewußtseins und der Einstellungen hat die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Aber sicher war sie es nicht allein, die seit 1970, dem Beginn der Diskussion um sie, Veränderungen herbeiführte. Sie ist vielmehr eingebettet in den Zeitgeist, in einen Kontext, den Wilhelm Dilthey für die Lebensphilosophie auf die Aussage gebracht hat, daß in jeder Epoche ein Zusammenhang verwandter Ideen herrsche, die in den verschiedensten Gebieten zum Ausdruck kämen.[40] Wie sich um 1970 ein Umbruch hinsichtlich der Einstellung zu Behinderten abzuzeichnen beginnt, das läßt sich am Beispiel von vier Gerichtsurteilen veranschaulichen.

a) 1958: Ein Kind soll in die Hilfsschule (BVerwG-DöV 1959/230).

Ein Vater klagt gegen die Einweisung seines Sohnes in die Hilfsschule. Der Sohn, er befindet sich im Grundschulalter, "wurde nach Abschluß der in solchen Fällen üblichen schulischen Prüfungen und nach einer ärztlichen Untersuchung mit der Begründung in die Hilfsschule überwiesen, daß er dem allgemeinen Bildungsgang in der Volksschule nicht zu folgen vermöge. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage des Vaters im Verwaltungsstreitverfahren blieb auch in zweiter Instanz ohne Erfolg". Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht legte der Kläger rechtzeitig Beschwerde beim BVerwG ein. Sie wurde zurückgewiesen. In der Begründung des BVerwG wird das Recht der Eltern, ihre Kinder in weiterführende Schulen zu schicken, mit der Formulierung eingeschränkt, daß ein Kind vom Besuch ausgeschlossen werden könne, "wenn es dort mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit seine Mitschüler erheblich hemmen würde." (Kursivdruck durch den Verfasser.) Diese Wendung ist zur Begründung der Überweisung in Sonderschulen in das Gutachten der Kultusministerkonferenz von 1960 aufgenommen worden. In ihm heißt es, daß behinderte Kinder zu überweisen seien, wenn sie "dem Unterricht in den allgemeinen Schulen nicht folgen können oder dort ihre Mitschüler erheblich hemmen."

Mit dieser Formulierung in der Begründung des BVerwG und in dem "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" der Kultusministerkonferenz hat das Verständnis der Schule als Leistungsschule eine wesentliche Begründung erhalten. Ein Schüler, von dem hypothetisch angenommen werden kann, daß er den Lernfortschritt seiner Mitschüler hemmen könnte, wird aus der allgemeinen Schule ausgewiesen und in die Sonderschule eingewiesen. Hier ist nicht die Hilfe für das behinderte Kind vorrangig. Deshalb braucht das BVerwG auch nicht zu prüfen, ob die Sonderschule einem Kind tatsächlich "eine seiner Eigenart angepaßte Bildung" widerfahren läßt. Davon wird in der Begründung der Zurückweisung der Beschwerde einfach ausgegangen, unabhängig davon, ob es stimmt oder nicht. In einem solchen Verständnis ist aber auch nicht die Frage nach der Erziehung aller Schüler zur Mitmenschlichkeit gestellt. Mitmenschlichkeit könnte sich zum Beispiel erweisen, wenn ein weniger leistungsfähiges Kind von den anderen Kindern seiner Klasse toleriert, wenn ihm geholfen würde. Vorrangig wird in einem solchen Verständnis das egozentrische Interesse desjenigen verfolgt, der sich möglicherweise durch einen anderen gehemmt fühlen kann. Mit diesem Verständnis, das am Ende der fünfziger Jahre und am Beginn der sechziger Jahre aufgekommen ist, wurde die Schule pädagogisch ärmer. Es ist die Zeit, in der das Wirtschaftswunder, das, wie immer wieder behauptet wird, von der Leistungsgesellschaft in der Bundesrepublik hervorgebracht worden sei, weltweites Aufsehen erregte. Darin zeigt sich im übrigen der "Zusammenhang verwandter Ideen" in einem Zeitalter, von dem Dilthey sprach.

Die Pädagogik muß von ihrem Wissenschaftsverständnis her einer solchen Auffassung entgegenstehen. In ihr genießen große Pädagogen der Vergangenheit Verehrung, Pestalozzi zum Beispiel oder Friedrich Fröbel, weil sie sich in schwierigen Situationen der Erziehungsprozesse nicht entlastet, sondern gerade da ihr Erziehersein bewährt haben. Vielleicht erweist sich das pädagogische Engagement eines Lehrers besonders in der Erziehung und Unterrichtung von Kindern, die wegen ihrer Schwierigkeiten außergewöhnliche Situationen hervorbringen. Ein Lehrer, für den die Entlastung von einem Kind bei der Überweisung in die Sonderschule eine Rolle spielt, gesteht ein, daß er mit seinen pädagogischen Möglichkeiten am Ende ist. Er könnte eine Überweisung eigentlich nur dann rechtfertigen, wenn ihm gewiß wäre, daß ein Kind in der anderen schulischen Umgebung eine bessere Förderung und Hilfe erführe als in seiner Klasse.

b) 1967: Ein Grundschulkind soll in die Mittelpunkt-Sonderschule für Lernbehinderte

Hier geht es um eine Entscheidung des HessVGH Kassel (SPE II A VII S. 101). Der Sachverhalt läßt sich in kurzer Form nachzeichnen: Das Kind, Geburtsjahrgang 1955, besuchte die Volksschule. Seine Leistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen blieben "weit hinter dem Klassendurchschnitt" zurück. Deshalb wurde es "1966 von seinem Volksschullehrer zum Besuch einer Sonderschule vorgeschlagen. Ein hierauf mit der Sache befaßter Sonderschullehrer und der zuständige Schularzt befürworteten im Februar 1966" die Überweisung. Der zuständige Schulrat hörte daraufhin die Eltern des Kindes und ordnete den Besuch einer Mittelpunkt-Sonderschule für Lernbehinderte an. Die Eltern legten Widerspruch ein. Der Schulrat ließ daraufhin das Kind noch einmal überprüfen. "Diese Überprüfung fand durch eine Sonderschullehrerin statt und führte ebenfalls zu dem Ergebnis, daß der Antragssteller nur in einer Sonderschule pädagogisch hinreichend betreut und gefördert werden könne." Daraufhin beantragen die Eltern des Kindes beim Verwaltungsgericht, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung des Schulrates wiederherzustellen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab. Hiergegen legte "der Antragssteller", damit ist das Kind gemeint, Beschwerde ein. Ihr wurde "nicht abgeholfen."

Entschieden stärker als in der Begründung des BVerwG aus dem Jahre 1958 wird in diesem Fall für die Einweisung in die Sonderschule mit dem "eigenen Interesse" des Kindes argumentiert. Es würde, so sagt das Gericht, "bei einem weiteren Verbleiben in der Volksschule in seiner Ausbildung mehr und mehr geschädigt". Oder an anderer Stelle der Begründung heißt es: "... den Belangen des Antragstellers ist keineswegs damit gedient, daß er ständig der schlechteste Schüler seiner Volksschulklasse ist und in seinen Leistungen - was befürchtet werden muß - immer weiter hinter seinen Schulkameraden zurückbleibt." Überdies wird das öffentliche Interesse in der Begründung in eine Beziehung zu dem persönlichen Interesse des Kindes gebracht: "Es besteht jedoch ein öffentliches Interesse daran, daß ein solcher Zustand (gemeint ist, daß das Kind in seiner Ausbildung geschädigt wird) behoben oder vermieden wird. Denn jedes Kind und jeder Jugendliche soll die schulische Ausbildung erhalten, die später dazu befähigt, als Glied der Gemeinschaft einen angemessenen Arbeitsplatz einzunehmen." Sicher ist es bedenklich, daß auch das Gericht in Hessen 1967 unkritisch annimmt, an der Sonderschule würden die Kinder durch speziell "ausgebildete Fachlehrer individuell pädagogisch betreut, was in dieser Art und Intensität auf der Volksschule nicht geschehen" könne. Das war in Hessen 1967 nicht anders als 1970 in Nordrhein-Westfalen. Für dieses Jahr ist nachgewiesen, daß mehr als die Hälfte der Lehrer an Schulen für Lernbehinderte keine sonderpädagogische Ausbildung hatten und "daß nahezu ein Fünftel der Unterrichtenden (19,81%) eine Qualifikation unterhalb des Ausbildungsniveaus für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen hatte".[41]

Was hat die Eltern veranlaßt, sich gegen die Aufnahme ihres Kindes in eine Sonderschule zu sperren? Die Diskrepanz zwischen den als wohltätig zu interpretierenden Absichten des Staates und den Vorstellungen der Eltern ist offensichtlich. Während der Begründung von 1958 entnommen werden konnte, daß die Eltern durch die Klage und die Beschwerde einer möglichen sozialen Diskriminierung ihres Kindes begegnen wollten, tritt hier in der Begründung die mögliche Desintegration aus dem Wohnbereich und das Problem des langen Schulwegs auf. Nachdem in der Begründung gesagt ist, es bestehe ein öffentliches Interesse daran, daß das Kind alsbald eine Sonderschule besuche, heißt es: "Da die nächste hierfür in Betracht kommende Sonderschule die jenige in H. ist, muß der Antragsteller umgehend dieser Mittelpunkt-Sonderschule für Lernbehinderte zugeführt werden." Über die Länge des Schulweges ist in der Begründung nichts ausgesagt. Er scheint aber weit gewesen zu sein und für das Kind, das durch seine Lernschwierigkeiten ohnehin schon außergewöhnlich belastet war, noch zusätzliche Belastungen gebracht zu haben. Man braucht, um das zu erkennen, nur einmal hypothetisch die Überlegung zu verfolgen, daß das elfjährige lernbehinderte Kind, um täglich die "Mittelpunkt-Sonderschule" zu erreichen, um sechs Uhr morgens von zu Hause aufbrechen mußte, während nichtbehinderte Kinder die Grund- oder Hauptschule ihres Wohnbezirks fußläufig erreichen konnten, weshalb sie erst um siebenuhrdreißig die elterliche Wohnung zu verlassen brauchten. Hinzu kommt, daß das lernbehinderte Kind auch erst später als die nichtbehinderten Kinder wieder in der elterlichen Wohnung eintraf. In einer solchen Situation braucht es nicht zu verwundern, wenn sein Lernfortschritt auch in der Sonderschule nicht erheblich sein konnte.

Die Richter meinten aber die Einweisung in die Schule für Lernbehinderte so ernst, daß es für sie keine Alternative gab. Ihre Begründung erweckt teilweise den Eindruck, als wollten sie mit Kanonen auf Spatzen schießen. So sprechen sie etwa davon, "daß diese Maßnahme für die Eltern des Antragstellers von einschneidender Bedeutung ist. Gewisse Nachteile familiärer Art müssen aber hingenommen werden, da dem gegenüber die spätere Zukunft des Antragstellers auf dem Spiel steht". Vielleicht haben sie an einen Wohnungswechsel der Eltern des Kindes gedacht, um den Schulweg zu verkürzen. Das zum Beispiel wäre ein Nachteil familiärer Art. Im Sinne der Erziehung und des Lernfortschrittes des Kindes dürfte es aber auch nicht gedacht gewesen sein, wenn in der Begründung der Entscheidung des Gerichts die Überlegung angestellt wurde, daß das Kind, falls ihm die Fahrt "wirklich auf die Dauer zu anstrengend sein sollte, was aber noch keineswegs feststeht, in der näheren Umgebung" der Schule "in Familienpflege gegeben werden kann". Eine pädagogisch engagierte Familie, deren Engagement allein schon aus der Klage und ihrer Begründung deutlich wird, soll durch eine Pflegestelle für ein Kind (!) ersetzt werden, damit für das Kind der Besuch einer Schule für Lernbehinderte möglich sein soll. Eine solche Argumentation spiegelt nicht nur die juristischen, sondern in gleicher Weise auch die unpädagogischen gesellschaftspolitischen Auffassungen der sechziger Jahre wider.

c) 1972: Ein legasthenisches Kind bleibt in der Grundschule

Es geht um eine Entscheidung des VG Hannover (SPE II A VIII S. 1): Ein Mädchen, 1961 geboren, 1967 schupflichtig geworden, wurde als nichtschulreif für ein Jahr zurückgestellt. 1968 in die Schule aufgenommen, zeigten sich trotz großen Fleißes erhebliche Leistungsschwächen. Die Überprüfung durch eine Sonderschulkommission am 25.6.1969 ergab einen Rückstand der intellektuellen Leistungsfähigkeit von 2,2 Jahren. Das Kind wurde zur Sonderschule überwiesen. Auf den Widerspruch der EItern hin wurde eine erneute Überprüfung durch die Sonderschule angeordnet. Der Intelligenztest (HAWIK) am 2.9.1969 ergab einen IQ von 79. Die Einweisung in die Sonderschule wurde durch die Schulbehörde erneut verfügt. Der erneute Widerspruch dagegen durch die Eltern wurde zwar zurückgewiesen; das Mädchen verblieb jedoch in der Grundschule.

Der Regierungspräsident erklärte in seinem Widerspruchsbescheid: "Die Klägerin könne nur in der Sonderschule ausreichend gefördert werden. Bei einem Verbleiben in der Volksschule sei im Laufe der Zeit bei den stetig steigenden Anforderungen mit einem zunehmenden Leistungsabfall zu rechnen. ... sie laufe Gefahr, durch den ständig steigenden Leistungsdruck auf die Dauer seelische Schäden davonzutragen. Es sei zu erwarten, daß sie im Laufe der Zeit sitzen bleiben, sich überaltert nicht in die Gemeinschaft der Klassenkameraden einfügen und den Unterricht der Mitschüler hemmen werde. Die Einführung eines Sonderunterrichts, an dem die Klägerin teilnehmen könnte, komme weder in der Volksschule in M. noch an einem anderen Orte in Betracht." Inzwischen war das Kind schon in die zweite Klasse versetzt; es nahm erfolgreich am Unterricht teil.

Die Kammer des VG, das zu entscheiden hatte, holte ein heilpädagogisches Gutachten ein. Das kam der Verhandlung insgesamt zugute. Als Sachverständiger wurde Professor Dr. G.H. von der PH Niedersachsen bestellt. Er war zu dieser Zeit Mitglied des Ausschusses Sonderpädagogik des Deutschen Bildungsrates und deshalb vertraut mit einer stärker integrativ orientierten Konzeption zur Förderung behinderter Kinder. Seine Untersuchung des Mädchens am 29.11.1971 ergab einen IQ von 97. (HAWIK). Ein zusätzlich eingesetzter sprachfreier Test habe dieses Ergebnis bestätigt. Eine solche zusätzliche Absicherung des Testergebnisses erschien sinnvoll, weil gegenüber den beiden Untersuchungen, die zwei Jahre zuvor stattgefunden hatten, die signifikant höher gemessene Intelligenz hätte Zweifel hervorrufen können. Intelligenz ist keine statische Größe! Darüber hinaus aber kam der Gutachter zu einem überraschenden Befund. Mit einem diagnostischen Rechtschreibtest stellte er bei dem Mädchen Fehlleistungen fest, die typisch für Legastheniker sind. "Aufgrund dieser Befunde sei die Klägerin bedingt in der Lage, mit genügendem Erfolg am Unterricht der Volksschule teilzunehmen. Die Bedingung liege in der regelmäßigen Teilnahme an einem Sonderunterricht für lese-rechtschreib-schwache Kinder, der ggf. für sie allein oder für eine Gruppe von Legasthenikern eingerichtet werden müßte. Unter dieser Voraussetzung sei die Klägerin volksschulfähig. Sie brauche nicht in eine Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen zu werden" Damit war die Konzeption des Förderunterrichts formuliert, wie sie wenig später in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates ausführlich beschrieben wurde.

Das Gericht setzte sich, wie die Begründung der Entscheidung zeigt, in einer erstaunlichen Weise mit der Legasthenie, der Gliederung des Sonderschulwesens und den Überweisungen auseinander. Es sagt, die Umschulung in eine Sonderschule stelle "einen schwerwiegenden Eingriff dar, da das Kind in ein ganz neuartiges Erziehungsmilieu verpflanzt wird ... Eine so weit tragende Maßnahme rechtfertigt sich nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur, wenn der pädagogische Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis zu dem damit verbundenen Aufwand steht." Man stelle sich vor, daß bei der Urteilsfindung 1958 oder besonders 1967 die Umschulung eines Kindes so problematisiert worden wäre. Das Richteramt ist in seiner Substanz ein pädagogisches Amt. Es richtet nicht nur formal, sondern erteilt Lehren im allgemeinen und in den Richtsprüchen. Nach ihnen richten sich die Handlungsvollzüge der Menschen. Die Richter des VG Hannover waren sich dessen bewußt. Sie gaben dem Regierungspräsidenten ein pädagogisches Verständnis für die Vermeidung einer Umschulung als Bewährung, das so lautet: "Angesichts der Tatsache, daß weder die normalen Unterrichtsmethoden der Volksschule noch die der Sonderschule für sich allein ausreichen, um die Leserechtschreib-Schwäche zu beheben, stellt es, wenn der Beklagte meint, zur Einführung von Sonderunterricht außerstande zu sein, jedenfalls nach dem Grundsatz des geringst möglichen Eingriffs das kleinere Übel dar, die Klägerin in der ihr vertrauten Umgebung der Volksschule zu belassen."

Das Mädchen verblieb also in der allgemeinen Schule. Es hatte ohnehin inzwischen schon die Versetzung in die dritte Klasse bekommen. Auch Gerichte sind eingebunden in den Geist einer Zeit. Deshalb konnten Entscheidungen am Beginn der siebziger Jahre einen anderen Geist zum Ausdruck bringen als die der fünfziger und der sechziger Jahre.

d) 1975: Ein vorübergehend krankes Kind bleibt in der Grundschule. Auf den eben angesprochenen Zusammenhang wird auch durch eine Entscheidung des OVG Münster (SPE II A IX S. 71) hingewiesen: Das Gericht nennt die Überweisung in die Sonderschule einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Deshalb sei bei einer gerichtlichen Überprüfung "auch die weitere Entwicklung des Schülers zu berücksichtigen". In der Verhandlung ging es um einen Jungen, 1963 geboren, der 1970 in die Grundschule eingeschult worden war. Er wurde im ersten und zweiten Schuljahr jeweils einmal nicht versetzt, nahm Ende 1972 an einem Heilverfahren teil und wurde bis 1974 von einem Facharzt für Lungenkrankheit behandelt. Am 24.5.1973 wurde die Einweisung des Kindes in die Sonderschule verfügt. Den Widerspruch der Eltern wies der Regierungspräsident zurück. Dagegen wurde Klage beim Verwaltungsgericht erhoben. Es holte ein Sachverständigengutachten ein und wies die Klage zurück. Die Berufung beim OVG hatte Erfolg.

In der Begründung für den Erfolg wird gesagt, daß der Junge zum Besuch der Sonderschule nicht verpflichtet ist. "Denn es kann nicht festgestellt werden, daß er durch den Unterricht einer Grundschule nicht hinreichend gefördert wird." In diesem Satz wird ein wichtiges Prinzip für alle Überweisungsverfahren ausgesprochen: Solange ein Kind in der Grundschule hinreichend gefördert wird, darf sich die Frage nach seiner Überweisung in die Sonderschule nicht stellen. Der Junge habe in der Klasse, die er gegenwärtig besuchte, zwar einen Altersvorsprung von zwei Jahren, aber auch befriedigende Leistungen. Daraus gehe hervor, daß er "durch den Unterricht der Grundschule hinreichend gefördert" wird. Es sei nicht sicher , ob das auf die Dauer bleibe, die Dauerhaftigkeit seiner Förderung in der Grundschule lasse sich aber nicht ausschließen.

Hier wurde zum Wohle des Kindes entschieden, so wie es sich im Augenblick der Entscheidung und unter Einbeziehung seiner Lebensgeschichte darstellte. Der weitere Lebensvollzug des Kindes wird weitere Klarheit zu bringen haben. Das OVG hat auf Spekulationen hinsichtlich künftiger Möglichkeiten verzichtet. Die gleiche sachliche Nüchterheit kam auch im Jahre 1985 in einem Verfahren am OVG Münster wieder zum Ausdruck, als es um den Verbleib eines körperbehinderten Kindes in der Grundschule ging. Das Gericht schlug einen Vergleich zwischen den streitenden Parteien vor, der das Kind in der Grundschule beließ, weil in der Pädagogik im Augenblick ein Orientierungswechsel hinsichtlich der Förderung behinderter Kinder in der allgemeinen Schule oder in speziellen Sonderschulen feststellbar sei.

Die hier in Bespielen gezeigte Bewußtseinsveränderung, wie sie sich in der Jurisprudenz von 1958 an vollzogen hat, läßt sich auch für Lehrer nicht anordnen. Deshalb sollte die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern in der Schule weder nach den Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates noch in irgendeiner Weise von heute auf morgen durch Erlaß oder Verordnung oder Gesetz herbeigeführt werden. Jede einzelne allgemeine Schule, die ein behindertes Kind aufnimmt, hilft mit, das Bewußtsein der Lehrer und das öffentliche Bewußtsein für die Integration zu bereiten. Deshalb sollten Schulen, die sich der Aufgabe stellen, behinderte Kinder zu integrieren. Unterstützung durch die Schulverwaltung und die Öffentlichkeit bekommen, denn sie breiten die Bedingungen für ihre eigene Ermöglichung weiter aus.



[19] Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung: Bildungsgesamtplan. Band 1. Bonn 1973, S.35

[20] Deutscher Bildungsrat: Strukturplan für das Bildungswesen. Bonn 1970, S. 16

[21] Ebenda, S. 128

[22] Ebenda, S. 86

[23] Deutscher Bildungsrat: Zur Pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn 1973, S. 68f.

[24] Klaus Bloedhorn jr.: Schule aus der Sicht eines körperbehinderten Schülers. In: Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen. Essen: Neue Deutsche Schule 1982, S. 78/79

[25] Deutscher Bildungsrat: Strukturplan ..., S. 26

[26] Deutscher Bildungsrat: Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen. Bonn 1969, S. 16

[27] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung ..., S. 71

[28] Ebenda, S. 17

[29] Deutscher Bildungsrat: Strukturplan ..., S. 40

[30] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung ..., S. 44

[31] Ebenda, S. 46

[32] Ebenda, S. 74

[33] Vgl. Jakob Muth unter Mitarbeit von Adrian Kniel und Wilhelm Topsch: Gutachten für einen Schulversuch zur integrierten Förderung lernbehinderter und nichtlernbehinderter Schüler in Essen-Vogelheim. In: Deutscher Bildungsrat (Hg.): Schulversuche zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht. Braunschweig: Westermann 1976, S. 223ff. (Reihe: Materialien zur Bildungsplanung, Heft 6)

[34] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung ..., S. 73

[35] Vgl. Deutscher Bildungsrat: Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen. Teil 1: Verstärkte Selbständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern. Bonn 1973

[36] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung ..., S. 72 - Die folgenden Zitate aus der Empfehlung werden im Text durch die Angabe der betreffenden Seiten belegt.

[37] Vgl. dazu Hans Schöneberg: Situation als pädagogisches Problem. Essen: Neue Deutsche Schule 1963, S. 20 (Reihe: neue pädagogische Bemühungen, Bd. 10)

[38] Peter Appelhans/Irmgard Langgemach: Sehgeschädigte Schüler in der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg. In: Deutscher Bildungsrat (Hg.): Schulversuche zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht. Braunschweig: Westermann 1976, S. 21-34 (Reihe: Materialien zur Bildungsplanung, Heft 6)

[39] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung ..., S. 78 und besonders S. 87ff.

[40] Vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. VII. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 3. Aufl. Stuttgart 1961, S. 287

[41] Wilhelm Topsch: Grundschulversagen und Lernbehinderung. Essen: Verlag Neue Deutsche Schule 1975, S. 101ff.

3. Differenzierung des Unterrichts im allgemeinen und in integrativen Schulen im besonderen

3.1. Begriff, Begründung und allgemeiner Kontext

Seit es Unterricht gibt, in dem ein Lehrer gleichzeitig mehrere Schüler unterrichtet, muß differenziert werden. Der gemeinsame Unterricht mehrerer oder vieler Schüler in Gruppen oder Klassen verlangt vom Lehrenden die individuelle Betreuung des einzelnen Schülers. Mit ihr beginnt die Differenzierung des Unterrichts. Ihr hatte der Deutsche Bildungsrat in seiner Empfehlung breiten Raum gewidmet.

Differenzierung des Unterrichts ist: die Gesamtheit aller organisatorischen Maßnahmen zur Bildung von Schülergruppen für die Durchführung von Lernprozessen, die jedem einzelnen Schüler seinem individuellen Lernvermögen gemäß gerecht zu werden versuchen.

Unterricht sollte differenziert werden, weil auf einen Lehrer eine größere Anzahl von Schülern kommt. Wo Einzelunterricht erteilt wird, wie das in früheren Jahrhunderten in der Hauslehrertätigkeit der Fall war oder wie es noch heute im privaten Nachhilfeunterricht der Fall ist, bedarf es keiner Differenzierung, weil der Lehrer die Möglichkeit hat, der individuellen Lerndisposition seines Schülers gerecht zu werden. Freilich darf aus einer solchen eher theoretischen Überlegung nicht der Schluß gezogen werden, der Einzelunterricht sei das erstrebenswerte Ideal und der gemeinsame Unterricht mehrerer Schüler nur aus der Not zu erklären, daß es in unserer Gesellschaft nicht möglich ist, für jedes Kind einen Lehrer zur Verfügung zu haben. Otto Scheibner, ein bekannter Schulreformer aus der Arbeitsschulbewegung, schrieb am Beginn der Weimarer Zeit, die Schulklasse müßte "im sozialistischen Zeitalter erfunden werden", wenn es sie noch nicht gäbe. Damit ist treffend die Bedeutung der Sozialerziehung zum Ausdruck gebracht, wie sie sich in einer Klasse mit ihrer Gemeinsamkeit von Schülern vollzieht.

Gemeinhin wird in der deutschsprachigen Fachliteratur nur zwischen Innerer und Äußerer Differenzierung des Unterrichts unterschieden. Im angel-sächsischen Raum faßt man diese beiden Formen unter dem Begriff intra-school-grouping zusammen, weil es sich um Varianten der Differenzierung handelt, die innerhalb einer einzelnen Schule praktiziert werden können. Der Begriff Innere Differenzierung umfaßt Organisationsformen des Unterrichts, die innerhalb einer Klasse oder einer gemeinsam unterrichteten Gruppe eingerichtet werden. Es bedarf keiner Aufteilung der Klasse auf andere Gruppierungsformen und nicht einmal der zeitweisen Separierung einzelner Kinder aus der Klasse zu einem besondern Unterricht. Aller Unterricht in den Formen der Inneren Differenzierung kann im Klassenraum stattfinden. Der Begriff Äußere Differenzierung umfaßt Organisationsformen des Unterrichts, in denen Schüler unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit nach Leistung, nach Schwerpunkten der Lernfähigkeit, nach besonderen Interessen und nach Lerndefiziten oder anderen Merkmalen gruppiert werden können. In der Regel wird der Unterricht in den Gruppen räumlich getrennt stattfinden.

Abb. 5: Die Formen der Differenzierung

Über diese beiden innerschulischen Differenzierungsformen hinaus muß man sehen, daß das Schulwesen der Bundesrepublik ein hoch differenziertes System ist. Seine Gliederung läßt sich als Institutionelle Differenzierung bezeichnen. Im allgemeinbildenden Bereich gliedert sich das Schulwesen im Anschluß an die Grundschule in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich zwar sehr starke Veränderungen in der Zusammensetzung der Schüler dieser drei Schulformen ergeben, dennoch sind auch heute die Unterschiede in den Schülerpopulationen so deutlich, daß von einer hierarchischen Gliederung des Schulsystems auf der Grundlage der Leistungsanforderungen an die Schüler gesprochen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die drei genannten Schulformen nicht das ganze Spektrum des allgemeinbildenden Schulwesens umfassen. Hinzu kommen zehn Typen des Sonderschulwesens. Hier zeigt sich, welche Perfektion die, Institutionelle Differenzierung im allgemeinbildenden Schulwesen der Bundesrepublik erreicht hat. Gerhard Klein hat dieses System schematisch in der folgenden Übersicht zu veranschaulichen versucht:[42]

Abb. 6: Institutionelle oder Interschulische Differenzierung

Aus der Institutionellen Differenzierung des Schulwesens ergeben sich Konsequenzen für die Intraschulische Differenzierung in den einzelnen Schulformen und Schultypen. Für die Schule für Lernbehinderte beispielsweise stellt Gerhard Klein fest, daß sie nominell zwar zu den Sonderschulen gehört, faktisch aber "die vorletzte Stufe unseres nach Leistung gestuften Schulsystems" bildet. Damit bringt er zum Ausdruck, daß sie, sieht man von der Schule für Geistigbehinderte einmal ab, am unteren Rande der Schulhierarchie steht, weil jeder andere Sonderschultyp prinzipiell den Durchgang zur Fachhochschulreife und zum Abitur ermöglicht. Man müßte, in der Sprache der Fachleistungsdifferenzierung formuliert, sagen, daß die Schule für Lernbehinderte das untere "Kursniveau" im Schulwesen ist. Es wäre deshalb unsinnig, wollte man innerhalb dieses Schultyps in einzelnen Fächern klassenübergreifende Kurse auf unterschiedlichen Leistungsniveaus einrichten oder eine weitergehende Separierung der lernbehinderten Schüler nach anderen Merkmalen als der Leistung über die Klassen hinweg vornehmen.

Aber auch das unterschiedliche Anspruchsniveau an die Schüler in den verschiedenen Schulformen und besonders auch in den aufeinander folgenden Schulstufen führt zu verschiedenen Möglichkeiten der Intraschulischen Differenzierung. Es gibt eine Affinität zwischen bestimmten Formen der Differenzierung einerseits und Schulstufen andererseits, die zu einer stufenspezifischen Differenzierung des Unterrichts führt. In der Sekundarstufe II zum Beispiel können allein schon durch die Möglichkeit der Auflösung der Klassen andere Differenzierungsformen praktiziert werden als in der Sekundarstufe I, in der sich in den unteren Klassen der Fächerkanon in seiner Verbindlichkeit für die Schüler stellt, in den oberen Klassen der Sekundarstufe I schon mit eingeschränkten Wahlmöglichkeiten, die an den Übergängen in die Sekundarstufe II orientiert sind. In der Grundschule, der Primarstufe des Schulwesens, gelten drei Konstanten, von denen her sich die Möglichkeiten der Differenzierung bestimmen:

1. Das Kind der Grundschule kann noch nicht dem Wechsel der Lehrer von Fach zu Fach ausgesetzt werden, weil ihm die Einstellungsfähigkeit auf wechselnde Lehrer, deren Eigenarten und Methoden fehlt. Es bedarf stärker als das ältere Kind der Anleitung durch einen Lehrer, zu dem es eine ebenso persönlich wie sachlich bestimmte Beziehung aufnehmen kann. Von daher rechtfertigt sich für die ersten Schuljahre das Klassenlehrerprinzip, in dem ein Lehrer den größeren Teil des Unterrichts in einer Klasse oder einer konstanten Gruppe verantwortet. Er kann durch die hohe Wochenstundenzahl, die er in der betreffenden Klasse unterrichtet, pädagogische Intensität allein schon dadurch gewinnen, daß er die Eigenarten jedes einzelnen Kindes kennenlernt und darum weiß, wie er ihnen gerecht werden kann. Außerdem rechtfertigt sich eine gemäßigte Form des Klassenlehrerprinzips in der Grundschule auch dadurch, daß es dem einzelnen Lehrer möglich ist, die verschiedenen fachspezifischen Anforderungen weitgehend zu erfüllen.

2. Das Kind der Grundschule soll noch nicht dem Wechsel von Lerngruppen in der Art ausgesetzt werden, daß es sich zum Beispiel im Leseunterricht in einer anders zusammengesetzten Gruppe als im Mathematikunterricht, im Sachunterricht in einer anderen Gruppe als im Musikunterricht befindet. Das Kind muß im Raume der Schule in einer sozialen Gruppe heimisch werden können, die zeitliche Konstanz hat. Die Jahrgangsklasse oder andere Organisationsformen für zeitlich konstante Gruppen ermöglichen das Heimischwerden des Kindes in einem sozialen Beziehungsgefüge, das die für das Kind notwendigen Sozialisationsprozesse leistet, das Vereinsamung verhindert und das in einem so frühen Alter das Medium für das Lernen darstellen kann.

3. Dem Kind der Grundschule ist es noch nicht zuträglich, daß es sich im Laufe eines Schultages oder einer Schulwoche einem häufigen Wechsel der Räume fügen muß, in denen die verschiedenen Fächer oder Lernbereiche unterrichtet werden. Kindern des Grundschulalters muß die Möglichkeit des Bleibens - im übertragenen Sinne des Wohnens - in einem bestimmten Raum und an einem bestimmten Platz gewährt werden. Sie sind, wenn sie nicht angesiedelt werden in einem vertrauten Raum und an einem festen Platz, ohne innere Beziehung zur Umgebung und darum unsicher und mitunter ängstlich und von daher in ihrem Lernen beeinträchtigt. Die noch elementaren fachspezifischen Anforderungen der Grundschule sind auch noch nicht auf Fachräume angewiesen, wenn man von Spiel und Sport und einzelnen Akzenten des Sachunterrichts einmal absieht. Ein behutsamer Wechsel kann den Unterrichtsalltag beleben. Der größere Teil des Unterrichts einer Klasse aber bleibt dennoch in einer für die Kinder ge-"wohn"ten Umgebung.

Die drei Konstanten eröffnen für die Grundschule besonders die vielfältigen Möglichkeiten der Inneren Differenzierung des Unterrichts, darüber hinaus aber auch Formen Äußerer Differenzierung, die das Kind in der Gemeinsamkeit der Klasse belassen. Solche Formen können in einem Förderunterricht gesehen werden, der durch Disponible Lehrerstunden zustandekommt oder auch als ein Förderunterricht, der den schwedischen Schulkliniken verwandt ist.[43] Fachleistungskurse allerdings als Formen Äußerer Differenzierung würden ein Widerspruch zu den formulierten drei Konstanten sein. Deshalb scheiden sie als Differenzierungsformen für die Grundschule aus.

Die Überlegungen zur Differenzierung machen deutlich, warum sich in den siebziger und den achtziger Jahren der Gedanke der Integration von Behinderten in die allgemeine Schule besonders in der Grundschule ausbreiten konnte. Die weitere Ausbreitung in der Grundschule und darüber hinaus noch in der Sekundarstufe wird vor allem auch abhängig sein von der realistischen Umsetzung von Formen der Differenzierung, in denen die Hilfe für den Schüler dominiert, nicht aber die Auslese und Absonderung in Leistungskursen und Leistungsklassen.

3.2 Formen der Inneren Differenzierung

Wir haben als Innere Differenzierung die Organisationsform des Unterrichts bezeichnet, die innerhalb einer Klasse oder einer gemeinsam unterrichteten Gruppe vorgenommen und realisiert werden kann. Sie ist nicht auf eine Schulform beschränkt, etwa auf die Grundschule, wenngleich sich eine Affinität gerade zu ihr feststellen läßt, sondern sie wird in allen Schulformen und -typen zu realisieren sein, wenn es darauf ankommt, der Individualität des einzelnen Schülers gerecht zu werden, ohne ihn aus seiner Klasse auszusondern. Alle Maßnahmen zur Differenzierung leiten sich aus dem Anspruch des heranwachsenden Menschen ab, eine seiner Lernfähigkeit entsprechende Förderung zu erfahren. Der Deutsche Bildungsrat formulierte in seinem "Strukturplan für das Bildungswesen", Individualisierung sei als das Anknüpfen an die "Entwicklungs- und Lerngeschichte jedes Kindes" zu verstehen. Letztlich ist es die Akzeptierung der Einmaligkeit jedes Schülers, die sich in der Berücksichtigung des Individualisierungsprinzips und mithin in der Differenzierung des Unterrichts ausdrückt.

In der Literatur sind in den letzten Jahren verschiedene Vorschläge gemacht worden, die Innere Differenzierung zu systematisieren. Wir halten uns hier an die Gliederung, wie sie die "Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule - Schulversuch in Nordrhein-Westfalen" im Jahre 1969 vorgeschlagen haben. Der Vorschlag ist damals von einer Pädagogengruppe erarbeitet worden, die unter der Leitung von Ilse Lichtenstein-Rother stand.[44] Die Vorstellungen der nordrhein-westfälischen Richtlinien wurden in die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates "Zur pädagogischen Förderung Behinderter" übernommen. Wir folgen dieser Systematisierung einige Schritte weit, ergänzen sie und konkretisieren sie durch Beispiele aus der Wirklichkeit des Unterrichts. Gerade Beispiele können dem Lehrer die Richtung zeigen, in der Innere Differenzierung praktiziert werden kann. In diesem Bereich der Schulwirklichkeit vermögen empirische Untersuchungen und ihre Befunde weniger zu erhellen als Beispiele aus der Praxis, vermögen theoretische Deduktionen weniger zu überzeugen als die Darstellung von differenzierendem und individualisierendem Geschehen. Allerdings ist das Fallbeispiel nicht kopierbar, nicht so, wie es sich zugetragen hat, in die eigene Praxis umsetzbar. Es kann die Augen öffnen, kann das Bewußtsein disponieren für ein Handeln, das dem entspricht, was dargestellt wurde. Wer am Beispiel eines neutestamentlichen Gleichnisses erfahren hat, was Mitmenschlichkeit ist, dem bleibt die Aufgabe, in den Situationen seines Lebens Mitmenschlichkeit zu üben, nicht aber darauf zu warten, daß auch er einmal wie der Samariter den Weg von Jerusalem nach Jericho hinabgeht.

Wir unterscheiden sieben verschiedene Formen oder Möglichkeiten der Inneren Differenzierung. Sicher ließe sich eine andere Gliederung finden und auch rechtfertigen. Die sieben Formen erlauben jedenfalls, das weite Feld der Inneren Differenzierung in den Blick zu bringen. Es handelt sich um die Differenzierung

  • in der Lehrerhilfe

  • im Niveau der Anforderungen

  • in der Anzahl der Aufgaben

  • durch den Einsatz von Medien

  • in flexiblen- und Fortschrittsgruppen

  • in der Einzelarbeit der Schüler

  • durch das Zwei-Lehrer-System

3.2.1 Differenzierung in der Lehrerhilfe

Der Lehrer sollte Art und Umfang seiner Hilfe nach den individuellen Lernfähigkeiten seiner Schüler bemessen und sie zur Selbständigkeit anregen. Schon die Art und Weise, in der er Kinder im Unterricht anspricht, ermuntert und in der er sie fragt, individualisiert die Prozesse des Lehrens und Lernens. Innerhalb der verschiedenen Unterrichtsabschnitte wird der Lehrer den Anspruch an die Selbständigkeit der Schüler differenzieren. Hat ein Schüler einen Sachverhalt verstanden, so kann er möglicherweise freigesetzt werden in eigenständiges Tun. Ein anderer mag im gleichen Unterrichtsablauf die Hilfe des Lehrers brauchen. Allerdings können alle Schüler Selbständigkeit nur durch Zurückhaltung des Lehrers in der Hilfe, im Erklären, im Vorzeigen, im Vormachen und in der Lehre insgesamt erreichen. Die Differenzierung der Lehrerhilfe führt dazu, daß der Lehrer nicht immer mit der ganzen Klasse arbeitet, sondern die Lehre, die Hinweise auf Hilfsmittel, die Ermutigung und zusätzliche Anregung unterschiedlich bemißt. Wo es um Unterricht im Sinne der Inneren Differenzierung geht, muß von der ausschließlichen frontalen Arbeitsweise abgesehen werden, in der ein Lehrer alle in gleicher Weise führt und auf die gleichen Anforderungen festlegt.

Dieter Bremer berichtet dazu ein Beispiel aus dem Schwimmunterricht, aus dem die pädagogische Einstellung des Lehrers in der Individualisierung des Unterrichts ersichtlich wird: Schüler sollten zum erstenmal vom Einmeterbrett springen. Einige trauen sich nicht. "Der Lehrer geht daraufhin mit diesen Schülern gemeinsam auf das Brett, faßt sie an den Händen und läßt sie langsam an seinen Händen hängend herunter, bis ihre Füße die Wasseroberfläche erreichen. Er löst erst dann die Handfassung, wenn der Schüler damit einverstanden ist." In der Auswertung des Beispiels sagt Dieter Bremer: "Differenzierung in der Lehrerhilfe ist eine sehr individuelle Form." Deshalb sei es kaum möglich, allgemeine Handlungsanweisungen zu geben. "Begriffe wie Einfühlungsvermögen und pädagogisches Geschick umschreiben die Aufgabe und das Verhalten des Lehrers".[45]

Die Erfahrung von Hildegard Bergmann zeigt uns, daß selbst in der häuslichen Arbeit des Lehrers, also in seinen "Hausaufgaben", die Individualisierung der Lernanforderungen eine Rolle spielen kann. Sie berichtet von einer Schülerin namens Sabine. "Sabine war nicht imstande, dem Schulstoff entsprechende Fragen zu beantworten. Sie machte sich nicht einmal die Mühe zu überlegen, nachzudenken oder überhaupt nur mitdenkend zuzuhören! Dieses Verhalten war mutmaßlich ein Resignieren, das mangelndem Selbstwertgefühl entsprang". Nach allem, was Hildegard Bergmann im Unterricht mit Sabine erlebt hatte, beschloß sie, in ihren Unterrichtsvorbereitungen das Lehrbuch umzuarbeiten. "Jeden Text, jede Übung prüfte ich auf die Frage hin: Was kann Sabine bewältigen? Was muß ich für sie umformen? Was ganz unter den Tisch fallen lassen? Diese Methode wirkt: Zum ersten Mal erlebte Sabine Erfolge ... allmählich steigerte ich die Anforderungen. Jeden Schritt hatte ich mir bei der Unterrichtsvorbereitung zu Hause sehr sorgfältig überlegt. Denn die Steigerung mußte ganz vorsichtig und behutsam vor sich gehen, um nicht die alten Minderwertigkeitsgefühle und Selbstwertprobleme wieder aufleben zu lassen.".[46]

3.2.2 Differenzierung im Niveau der Anforderungen

Viele Aufgaben können im Niveau der Anforderungen an die Schüler differenziert werden. Sie lassen sich so stellen, daß sie einfachere und anspruchsvollere Bearbeitungen und Lösungen zulassen. In einem solchen Falle arbeiten alle Schüler einer Klasse im gleichen Zusammenhang. Sie lösen die gleiche Aufgabe. Der Lehrer kann aber je nach den Möglichkeiten des einzelnen Schülers die ihm gemäße Zumessung des Anspruchsniveaus vornehmen. Das wird beispielsweise beim Lesen von Texten der Fall sein können, wenn sich vom Umfang her Differenzierungen ergeben. Darüber hinaus sollte es ein Ziel sein, den Kindern die Art der Darstellung, den Lösungsweg sowie die Verwendung von Arbeits- und Lösungshilfen soweit wie möglich freizustellen. Der Lehrer wird dabei die nötige Selbsteinschätzung der Schüler aufbauen und im Einzelfall korrigieren. Ein Beispiel aus dem elementaren Mathematikunterricht kann bei der Veranschaulichung dessen helfen, was hier gemeint ist:

Die Kinder einer zweiten Klasse hatten die Aufgabe, zwanzig Pfennig in den Möglichkeiten zu legen, die sie finden konnten. Dafür stand ihnen Spielgeld zur Verfügung. Ein Kind legte zwei Zehnermünzen nebeneinander, darunter einen Zehner und zwei Fünfer, als dritte Reihe vier Fünfer, dann schließlich eine Reihe aus einem Fünfer, drei Zweiern, einem weiteren Fünfer und vier Einern.

Abb. 7: Zwanzig Pfennig werden mit verschiedenen Münzen gelegt

Andere Kinder fanden andere Möglichkeiten, und als kein Spielgeld mehr vorhanden war, zeichneten sie weitere Möglichkeiten auf ein Blatt. Insgesamt hatten sie unterschiedlich viele Möglichkeiten gelegt und gezeichnet, und die einzelnen Reihen (Klasseneinteilungen der Kardinalzahl 20) unterschieden sich ebenfalls. Maßgeblich war für diese Unterschiedlichkeit das jeweilige individuelle Lernvermögen.

In diesem Beispiel bestimmen die Kinder im Rahmen der durch den Lehrer gestellten Aufgabe selbst das Niveau der Anforderungen. Natürlich kann eine Vorstufe dazu sein, daß der Lehrer die Differenzierung in unterschiedlichen Niveaus vornimmt, je nach dem Lernvermögen der Kinder. Solche Vorstufe wird aber eine pädagogische Dimension erfahren, wenn der Lehrer sie als "Hilfe zur Selbsthilfe" zu arrangieren vermag, so wie es Maria Montessori in ihrer Pädagogik als ein zentrales Prinzip formuliert hat. Im übrigen wird aus dem Beispiel deutlich, daß Lernen als ein Erschließen, ein Entdecken immer neuer Möglichkeiten interpretiert werden kann, nicht so sehr als ein Aneignen von Techniken, Aufgabentypen oder Lösungswegen oder, von der Seite des Lehrers her, als ein Beibringen. Für das Erschließen und Entdecken muß den Schülern, wie Herbart das formuliert hat, "freie Beweglichkeit" in einem Feld eingeräumt werden, in dem sie sich selbständig bewegen, ihre Aufgabe selbst formulieren können nach dem Maße ihrer individuellen Möglichkeiten.[47]

3.2.3 Differenzierung in der Anzahl der Aufgaben

Die dritte Form Innerer Differenzierung ergibt sich aus der unterschiedlichen Zumessung der Anzahl der Aufgaben. Sie wird notwendig, weil die Arbeitszeit der Schüler verschieden ist und weil sie eine differente Auffassungsgabe haben; manche fassen schnell auf, andere sind schwerfälliger. Durch die Bereitstellung von zusätzlichen Aufgaben oder freie Aufgabenwahl kann den schneller lernenden Schülern entsprochen werden. Dabei sollte es sich um Aufgaben handeln, durch die sie sich nicht nur beschäftigt, sondern neu herausgefordert fühlen. Das Arbeitstempo langsam arbeitender Kinder sollte behutsam gesteigert werden. Bis in die unterschiedliche Bemessung von Hausaufgaben hinein kann die Differenzierung und Individualisierung des Lernens und Arbeitens der Schüler gehen. (Allerdings darf die Differenzierung der Hausaufgaben nicht die quantitative Dimension in der Art verfolgen, daß die weniger guten Schüler mehr Aufgaben bekommen als die anderen.)

Wolfgang Klafki und Hermann Stöcker berichten dazu ein Beispiel, wie es täglich im Unterricht praktiziert werden kann.[48] Es geht um das Zusammenzählen von ungleichnamigen Brüchen. "Zunächst wurde das Prinzip auf einer relativ anschaulichen Ebene erläutert, von der dann schrittweise abstrahiert wurde." Im Prozeß der Erläuterung zeigt sich, daß "Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der Durchgänge auftreten, die für verschiedene Schülergruppen notwendig sind, bis sie das betreffende Verfahren verstanden haben und es selbständig und sinnvoll vollziehen können." Die beiden Autoren beschreiben deshalb als methodische Möglichkeit das "Abkoppeln". Der Lehrer kann die Schüler, die nach ihrer eigenen Einschätzung den Sachverhalt verstanden haben, "abkoppeln", das heißt in eigenständiges Tun entlassen. Er wird Arbeitsmöglichkeiten für sie jedoch vorbereitet haben müssen: Arbeitsblätter, Angaben über Aufgaben im Mathematikbuch, damit sie selbständig die Sicherung dessen beginnen können, was sie gelernt haben. Vielleicht erhalten sie die Möglichkeit, in einer Ecke des Klassenraumes für sich zu arbeiten oder auch an ihren angestammten Plätzen, während der Lehrer mit den anderen Schülern der Klasse, die in einem Halbkreis sitzen, an der Wandtafel weiterarbeitet. "Nach dem zweiten Durchgang wird die Einschätzungsfrage noch einmal gestellt. Eine zweite Gruppe "koppelt sich ab." Die unter Leitung des Lehrers verbleibende Gruppe arbeitet den Entwicklungsgang ein weiteres Mal mit seiner Hilfe durch."

Klafki und Stöcker weisen darauf hin, daß das von ihnen beschriebene Verfahren des Abkoppelns auch für den Anfänger im Lehramt praktikabel ist. Wer es versäumt, so zu arbeiten, kann zwei problematische Situationen nicht ausschließen: "Fordert der Lehrer, daß auch die Schüler, die das Prinzip eines neu eingeführten Verfahrens schneller auffassen als ihre Mitschüler, den Arbeitsgang mehrfach mitvollziehen, so dominieren sie entweder zunehmend mehr und berauben die langsameren oder schwerer auffassenden Schüler der entscheidenden Möglichkeit, sich durch Mitarbeit Einsicht zu erarbeiten, oder sie langweilen sich und beginnen zu stören. Will der Lehrer aber schon nach ein- oder zweimaliger Entwicklung des Prinzips mit allen Schülern zur Festigungsphase übergehen, so überfordert er den langsamer auffassenden Teil der Klasse: "Die überforderten Schüler können gar nicht sinnvoll üben."

3.2.4 Differenzierung durch den Einsatz von Medien

Innere Differenzierung ist in vielen Situationen des Unterrichts durch den Einsatz von Unterrichtsmedien möglich; sie sind Träger von Informationen in den Zusammenhängen des Lehrens und Lernens. Die Information an der beschriebenen Wandtafel zum Beispiel, die die Tafel zu einem Unterrichtsmedium werden läßt, ist in der Regel noch für eine ganze Klasse oder für frontalen Unterricht gemeint. Aber andere Medien lassen sich differenzierter, intimer einsetzen, das besprochene Tonband oder die bespielte Kassette zum Beispiel.

Medien sollten individuelle Aufgabenlösungen und freie Wahl verschiedener Lösungswege ermöglichen und die Schüler freigeben in eine ihrem Lernvermögen angemessene Arbeitszeit. Je nach Umfang und Vielfalt der Ausstattung einer Klasse können die Medien in den vom Lehrer geplanten Lernphasen und bei der Erreichung der vom Schüler gewählten Lernziele zum Einsatz kommen und eine Verbreiterung und Differenzierung des Lernangebotes bewirken. Der Einsatz von Medien erleichtert die Individualisierung der Lernprozesse. "So ist zum Beispiel durchaus denkbar, in einzelnen Phasen des Fremdsprachenunterrichts, die Schüler mit entsprechenden Lehrbüchern, Tonbändern, Schallplatten, Unterrichtsprogrammen zu versehen und einzelne Schüler individuell zu unterrichten. Der Klassenunterricht löst sich dadurch in Phasen des Einzelunterrichts (Medium-Schüler) mit einem hohen Individualisierungsgrad auf."[49] Die Differenzierung durch Medien ist aber auch im Sinne des didaktischen Prinzips der Mehrdarbietung möglich. Hat ein Lehrer nur ein Medium für den Unterricht, so sind seine methodischen Möglichkeiten, einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten zu betrachten, in verschiedene Zusammenhänge einzuordnen, von verschiedenen Zugängen her zu erschließen, stark eingeschränkt. In der Mehrdarbietung kommt es gerade darauf an, daß unterschiedliche Sachverhalte von verschiedenen Zugängen her erschlossen, in größere Zusammenhänge eingeordnet, von verschiedenen Seiten beleuchtet werden. Ein Beispiel kann auch hier veranschaulichen, was gemeint ist:

In der Verkehrserziehung einer Grundschulkasse steht das Problem des Linksabbiegens an. Das erste Unterrichtsmedium, das die Lehrerin einsetzt, ist eine Dia-Reihe mit dem Thema "Linksabbiegen". Die Reihe besteht aus sechs Bildern. Das erste Bild zeigt einen Jungen auf einem Fahrrad. Er fährt am rechten Straßenrand und schaut, den Kopf zur Fahrbahn gewandt, nach hinten, um festzustellen, ob er in die Straßenmitte wechseln kann. Auf dem zweiten Bild streckt der Junge den linken Arm aus, um die Richtungsänderung anzuzeigen, die er beabsichtigt. Für die Kinder der Klasse stand zu diesem Zeitpunkt das Ziel der Unterrichtsstunde fest. Sie äußerten sich zum Inhalt der Bilder, zum künftigen Handlungsvollzug und damit zum Ziel des Unterrichtes. Die Lehrerin konnte sich zurückhalten. Ungeordnet ließ sie die Substanz jeder Aussage an der Wandtafel aufschreiben. Neben den Dias setzte sie also die Tafel als Unterrichtsmedium ein. Dann kam die Aufgabe, die ungeordneten Sätze, die an der Wandtafel standen, in eine Reihenfolge zu bringen, die sich aus dem Nacheinander der Handlungsvollzüge ergab, die beim Linksabbiegen zu verfolgen sind. Danach setzte die Lehrerin einen Overhead-Projektor ein. Das Transparent, das sie projizierte, zeigte die Straßenkreuzung, die vorher in Bildern zu sehen war. Die Kinder bekamen die Aufgabe, den Fahrweg des radfahrenden Kindes einzuzeichnen und zu erläutern. Als letztes Medium bekam schließlich jedes Kind ein vervielfältigtes Blatt, auf dem, ebenso wie auf dem Transparent, die Straßenkreuzung zu sehen war. Auch hier sollte, nun von jedem einzelnen Kind, der Fahrweg des radfahrenden Kindes eingezeichnet werden.

Das Linksabbiegen als Handlungsvollzug war den Kindern möglicherweise schon vertraut. Ihr Wissen aber wird durch den Einsatz verschiedener Medien und die Möglichkeit, selbst tätig zu werden, neu aktiviert. Und für die Kinder, die noch keine Kenntnis des Sachverhaltes haben, differenziert sich die Einsicht mit dem Einsatz jedes neuen Mediums und gewinnt eine tiefere Dimension. Wer bei der ersten Präsentation des Sachverhaltes noch nicht verstanden hat, der versteht vielleicht bei der zweiten oder der, dritten, zumal jede Präsentation "in einem neuen Gewande" erscheint. Hier wird möglicherweise auch der unkonzentrierte Schüler noch von dem Sachverhalt berührt, gerade weil seine Präsentation nicht langweilig ist. Einem solchen Unterrichtsvollzug ist die immanente Wiederholung vergleichbar, in der ein Sachverhalt, wie ein Motiv in der Musik, in veränderter Form wiederkehrt.

3.2.5 Differenzierung in flexiblen Lern- und Fortschrittsgruppen

Die Gruppenarbeit ist eine Grundform Innerer Differenzierung, solange sie innerhalb einer Klasse praktiziert wird und nicht, wie bei den Formen Äußerer Differenzierung, zur Gruppierung von Kindern über die Klassen hinweg führt. Eine Zusammenfassung von Kindern in kleinen Gruppen sollte immer zeitlich begrenzt sein, um Cliquenbildungen zu vermeiden. Als Voraussetzung dafür muß die Sitzordnung in einer Klasse die Möglichkeit zu Veränderungen zulassen. Zwar sollte jedes Kind einen festen Platz im Klassenraum haben; wenn aber mehrere Kinder um einen Tisch sitzen sollten, um vom Lehrer gut übersehen und in ihrer Arbeit ökonomisch und pädagogisch angemessen von ihm betreut werden zu können, so muß es möglich sein, daß die Sitzordnung zeitweilig flexibel wird. Das kann der Fall sein, wenn die Kinder einen Sachverhalt üben müssen. Selbst wenn sie auf sich selbst gestellt die Übungsaufgaben ausführen, also jedes Kind für sich arbeitet, erweist es sich als sinnvoll, daß alle um einen Tisch herum sitzen. Das mag der Fall bei elementar-mathematischen Sachverhalten sein, aber auch schon in Situationen, in denen ein Text übungshalber von einzelnen Kindern abgeschrieben werden soll, die gleiche Übung von einzelnen im Erstleseunterricht oder im aufbauenden Lesen auszuführen ist. Die Bildung von Übungsgruppen wird deshalb eine der vorrangigen Möglichkeiten innerhalb dieser Spielart der Inneren Differenzierung sein.

Aber auch die Bildung von Partnergruppen kann im Unterricht berücksichtigt werden. Damit ist eine Gruppierung gemeint, die lediglich zwei Kinder umfaßt. Partner werden sie, wenn sie miteinander arbeiten, sich gegenseitig helfen, das Aufeinanderangewiesensein und das Gefühl der Freude erfahren, weil sie für einen anderen etwas tun können. Vom vierten Lebensjahr an sind Kinder zur Gemeinsamkeit fähig. Viel zu sehr aber wurde in den vergangenen Jahrzehnten im Unterricht aller Schulen das einzelne Kind in seinem kindlichen Egozentrismus gestützt und gefördert. Dabei stellt sich eine Öffnung für den anderen vor allem dann ein, wenn ihm geholfen werden kann. Schon Kinder wünschen sich diejenigen zu Freunden, denen sie helfen und von denen sie Hilfe erfahren können. Partnergruppen oder Partnerschaften sind im spielerischen Umgang möglich, und von da aus können sie übertragen werden auf die Unterrichtsprozesse. In ihnen wird zum Beispiel miteinander gelesen durch gegenseitiges, abwechselndes Vorlesen; vielleicht auch miteinander gerechnet, indem zwar jedes Kind die Operation schriftlich vornimmt, aber mit dem anderen darüber spricht, berät, gemeinsam mit ihm nachdenkt; es geht dabei auch um Partnerdiktate, bei denen heute diktiert, wer morgen den Text aufnimmt usf.

Jutta Wallerich beschreibt den Unterricht einer Grundschulklasse, in der ein blindes Kind, Denis mit Namen, gemeinsam mit den anderen Kindern unterrichtet wurde. "Einige Schüler haben im Laufe der Zeit ein sicheres Gespür dafür bekommen, wann und wie man einem blinden Kind helfen kann oder muß. So konnte ich etwa in einer Deutschstunde, in der die Aufgabe gestellt war, eine Bildgeschichte zu Ende zu führen, die Zusammenarbeit zwischen Denis und seinen Nachbarn beobachten." Die Lehrerin der Klasse hatte es zu einer sinnvollen Gewohnheit werden lassen, von Zeit zu Zeit die Kinder, die neben Denis saßen, auszuwechseln. "Allerdings handelte es sich ... immer um Freunde von Denis, um von vornherein eine positive Zusammenarbeit zu gewährleisten" In der beschriebenen Situation war das sehende Kind schon während der Aufgabenstellung durch die Lehrerin "bereits eifrig dabei, die einzelnen Abbildungen anschaulich zu beschreiben, so daß Denis in die Lage versetzt wurde, die ihm gestellte Aufgabe wie die anderen Mitschüler zu lösen. Abgesehen davon, daß diese Art der Hilfestellung auch den Sprachfähigkeiten des sehenden Kindes zugute kommt", sei eine solche Zusammenarbeit immer schon Praxis der Gemeinsamkeit im sozialen Handeln.[50] Die zeitlich begrenzte Zusammenfassung von Schülern zu Partnerschaften oder zu kleineren Lerngruppen innerhalb einer Klasse darf weder zu einer Diskriminierung noch zu einer Favorisierung einzelner Schüler oder der jeweiligen Kleingruppen führen. Wegen der Vermeidung einer möglichen Diskriminierung sollte es nicht dazu kommen, daß Schüler, die das gleiche Lerndefizit haben, über einen längeren Zeitraum hinweg in einer Gruppe sind, die in ihrer Zusammensetzung konstant bleibt.

Auch die arbeitsteilige Gruppenarbeit gehört zur Inneren Differenzierung. In dieser Form der Gruppenarbeit ist einer Klasse eine übergreifende Themenstellung aufgegeben, die sich in Unterthemen gliedert. Nach der Erörterung der Thematik und der Art der Bearbeitung werden Gruppen gebildet. In ihnen arbeiten mehrere Kinder in der Art zusammen, die auch für die Partnerarbeit gilt. Hier kann sich auch das schwächste Kind noch in das Beziehungsgefüge der Zusammenarbeit einordnen, oder es kann durch den Lehrer oder die anderen Gruppenmitglieder eingeordnet werden; und gerade darauf kommt es an, daß jedes Kind den Sinn seiner Mitarbeit im gemeinsamen Tun erfährt. Jede Gruppe übernimmt in der Arbeitsteilung die Arbeit an einem Unterthema. Nach Abschluß der Arbeit werden die Ergebnisse aller Gruppen zusammengefaßt. Für eine effektive Sicherung der Ergebnisse ist es gut, wenn die Unterthemen nahe beieinanderliegen, wenn die Gruppen also gewissermaßen "auf Tuchfühlung" gearbeitet haben. Die arbeitsteilige Gruppenarbeit hat sich in der Praxis der Schule noch längst nicht durchgesetzt, obgleich sie seit der Schulreformbewegung immer wieder propagiert worden ist. Vielleicht liegt es daran, daß in der Schule zu sehr lineare Strukturen dominieren; sie sind auf das Erreichen von Zielen gerichtet, vielleicht gar operationalisierten Zielen, weshalb keine Zeit gelassen und es gar unterbunden wird, sich Zeit zu nehmen, weil im Erreichen der Ziele keine Zeit verloren gehen soll. Gruppenarbeit ist eigentlich von ihrem Wesen her stärker zyklisch orientiert, wie es beispielsweise für das Gespräch gilt, sie läßt Irrwege zu, die sich vielleicht am Ende gar als pädagogisch erweisen, sie lädt zum Verweilen ein, zum Sich-einlassen mit den Dingen und Aufgaben. Vielleicht wird die Gruppenarbeit neue Aktualität gewinnen können, wenn sich die Überlegungen der sogenannten Kommunikativen Didaktik im Bewußtsein der Lehrer stärker durchzusetzen beginnen.

3.2.6 Differenzierung in der Einzelarbeit der Schüler

Differenzierung des Unterrichts ergibt sich immer, wenn die Kinder zur Einzelarbeit auf sich selbst gestellt werden. Selbständigkeit des Kindes ist das Ziel und der Endpunkt des Lern- und Erziehungsprozesses in der Schule. Was am Ende der Schulzeit erreicht sein soll, die Fähigkeit zu selbständigem Handeln, muß den Unterricht immer dann bestimmen, wenn sich Möglichkeiten dazu ergeben. Der Unterricht muß gewissermaßen von seinem Endpunkt her durchdrungen sein. Das führt zwar nicht mit Sicherheit für alle zu einem hohen Maß an Selbständigkeit. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Ziel erreicht wird, ungleich größer als in einem Unterricht, der das eigenständige Tun der Schüler vernachlässigt. Die gleiche Überlegung ließe sich für die Fähigkeit zu mitmenschlichem Handeln als Endpunkt und Ziel der Schule anstellen. Ein solches Ziel ist kaum zu erreichen, wenn den heranwachsenden jungen Menschen in Lernprozessen der Schule selbst nicht immer wieder die Möglichkeit zu mitmenschlichem Handeln gewährt wurde. Auch hier gilt: der Prozeß und der Endpunkt des Prozesses verschränken sich.

Die Schule der Gegenwart versäumt weithin eine Erziehung zur Selbständigkeit und zum eigenständigen Handeln. Sie verlagert Erziehung zur Selbständigkeit in die Elternhäuser und mithin in die Zeit außerhalb der Schule. Dabei sollte man annehmen, daß diese Verantwortung besonders in der Schule kompetent wahrgenommen werden könnte. Derzeit sind es vor allem die Montessori-Schulen, die es in geringer Zahl im Grundschulbereich gibt, in denen die Eigentätigkeit der Kinder in profilierter Weise institutionalisiert ist. Sie haben Phasen der "Freiarbeit" eingeführt, in denen die Kinder weithin auf sich selbst gestellt sind. Freiarbeit findet jeden Tag zur gleichen Zeit statt. Die verschiedenen Arbeitsmaterialien, die Maria Montessori entwickelt hat, helfen mit, daß in manchen Schulen die Freiarbeit mehr als die Hälfte der Wochenstundenzahl der Kinder in Anspruch nimmt. Der Leiter einer solchen Schule schreibt: Für die Freiarbeit muß der Klassenraum gut vorbereitet sein, wenn die Kinder frei wählen sollen, was sie tun möchten. Das angebotene Material muß ganz bestimmten Erwartungen entsprechen. Die Bereitschaft, die Fähigkeit, das innere Verlangen der Kinder stellen Ansprüche an die Einrichtung der Klasse. Die vorbereitete Umgebung, wie Montessori sie nennt, ist Freiraum und gleichzeitig Führung. Das Montessori-Material hat seinen festen Platz. Es ist sachgemäß in Regalen und Schränken untergebracht. Die Kinder akzeptieren diese feste Ordnung nicht nur, sondern sie erwarten, daß sie auch von allen eingehalten wird. Der sachliche Gesichtspunkt steht dabei im Vordergrund. In unserer Klasse gilt die Abmachung: Stelle alles wieder an den Platz zurück, an dem du es beim nächsten Mal vorzufinden wünschst."[51]

Bei der Momentaufnahme einer Freiarbeitsphase in der Montessori-Grundschule in Krefeld am 15.12.1981 ergab sich kurz vor neun Uhr folgendes Bild: Zwei Kinder füllen einen Lückentext aus, der sie in der Schreibung von das und daß zu größerer Sicherheit bringen soll. - Drei Schüler, die an einem Tisch sitzen, arbeiten mit einem Arbeitsblatt aus der Mathematik; sie gehören offensichtlich in die zweite Klassenstufe. - Drei Schüler arbeiten mit einem Mathematikbuch aus der dritten Jahrgangsstufe; jeder rechnet Aufgaben still für sich. - Ein behindertes Kind zerschneidet mit einer Schere Wortkarten, die unmittelbar danach von ihm zu einer Satzkonstruktion zusammengefaßt werden. - Drei Schüler üben Schönschreiben nach einer Vorlage; sie gehören in das erste Schuljahr. - Ein Schüler übt mit Rechenplättchen; er hat in verschiedenen Farben Einer, Zehner und Hunderter. - Drei Schüler führen nach den Anleitungen in einem Arbeitsauftrag eine Aufgabe in Grammatik aus; sie analysieren Sätze mit Hilfe verschiedener Farbsymbole. - Zwei Schüler arbeiten mit einer russischen Rechenmaschine; die Aufgaben, die sie mit den Perlen schieben, fixieren sie schriftlich auf einem Blatt. - Die acht Schüler der vierten Klasse haben in einem Nebenraum als Kleingruppe Sachunterricht. Er wird von einer Lehrerin erteilt. (Dieser Momentaufnahme ist erläuternd hinzuzufügen, daß der Klasse Kinder des ersten bis vierten Schülerjahrgangs angehörten. Drei Erwachsene waren in der Klasse tätig: eine Lehrerin, eine Praktikantin und ein für ein behindertes Kind eingesetzter Zivildienstleistenden)

Die Praxis integrativer Schulen im Grundschulbereich zeigt Affinitäten zur Pädagogik von Maria Montessori. Einzelne integrative Schulen verstehen sich als Montessori-Schulen, andere haben wesentliche Elemente der Konzeption der italienischen Pädagogin in ihr Programm des Lehrens und Lernens und des schulischen Miteinanders aufgenommen. Die Freiarbeitsphasen dieser Schulen lassen sich ganz und gar als praktizierte Innere Differenzierung verstehen. Natürlich sind die Möglichkeiten zur Selbständigkeit der Schüler im Unterricht auch außerhalb solcher institutionalisierten Phasen vielfältig. Der Lehrer muß dazu seine pädagogische und didaktische Aggressivität aufgeben, die sich darin äußert, daß er ständig fragt, belehrt, fordert, diktiert, korrigiert, an die Tafel schreibt, bittet, befiehlt, vorträgt usw. Stattdessen sollte er die Kinder stärker aktivieren, sie miteinander arbeiten lassen, das Recht des Fragens auf ihre Seite geben, den Mut haben, sie auch Irrwege beschreiten zu lassen usw.

Zurückhaltung ist auf der Seite des Lehrers die kardinale didaktische Tugend. Ihr korrespondiert Selbsttätigkeit, die zur Selbständigkeit führt, auf der Seite der Schüler.

3.2.7 Differenzierung durch das Zwei-Lehrer-System

Im Augenblick beginnt sich in der Bundesrepublik besonders in Schulen zur Integration von behinderten Kindern in den allgemeinen Unterricht das sogegenannte Zwei-Lehrer-System auszubreiten.[52] In ihm ist eine hervorragende Voraussetzung für die Verwirklichung Innerer Differenzierung gegeben (aber keine unabdingbare). Zwei-Lehrer-System ist die exakte Übersetzung des Begriffs two-teacher-system aus dem Englischen. In angelsächsischen Schulen ist ein solches System nicht fremd, zumindest nicht so fremd wie in den Schulen des deutschsprachigen Raumes. Zur Begriffsbestimmung muß gesagt werden, daß es nicht unbedingt zwei professionelle Lehrer sein müssen, die in einer Klasse tätig werden. In jedem Falle wird es ein Lehrer sein, der für den Unterricht in der Klasse zuständig ist. Bei der zweiten Person kann es sich um einen Erwachsenen handeln - einen Therapeuten etwa, einen Sozialarbeiter oder Zivildienstleistenden, aber auch eine Erzieherin oder einen Elternteil -, der sich in der Klasse engagiert. Der zuständige Lehrer muß dazu freilich die Möglichkeit einräumen. Gemeinhin ist es aber so, daß Praktikanten, die über mehrere Wochen einer Klasse und einem Lehrer zugeteilt sind, mehr hospitierend am Unterricht teilnehmen, aber kaum eine Möglichkeit bekommen, aktiv tätig zu werden. Ein Lehrer muß sein didaktisches Handeln ändern, wenn er einem zweiten Erwachsenen in seiner Klasse einen Handlungsspielraum zugesteht.

Allein schon die Anwesenheit eines zweiten Erwachsenen, und sei es nur als Zuhörer, reduziert den Frontalunterricht und bringt die Schüler stärker in Aktion. Kann der zweite Erwachsene, bezogen auf die Aktivitäten des ersten, selbst aktiv werden, indem er einem einzelnen Schüler hilft, zwei anderen flüsternd eine Aufgabe erläutert, einem für eine kurze Zeit separierten Schüler eine Schwierigkeit erklärt, so gewinnt der eigentliche Lehrer der Klasse mehr Zeit für den Unterricht und für einzelne Schüler, und vor allem wird er auch Entlastung erfahren. Das läßt ihn freier werden in der Unterrichtsdurchführung. Mit zunehmender Erfahrung beider Erwachsener im Zwei-Lehrer-System verteilen sich die Aufgaben je nach den Kompetenzen. Nach dem Abschluß des Unterrichts werden Besprechungen stattfinden, in denen beide Erwachsene ihre Beobachtungen austauschen, und auch die Planungen künftigen Unterrichts werden die möglichen Aktivitäten von zwei Lehrern einbeziehen. Da kann für den zweiten Erwachsenen die längerfristige Betreuung eines einzelnen Kindes mit Schwierigkeiten im Lernen vorgesehen werden, aber auch die Betreuung einer Kleingruppe für einen längeren Zeitraum. "Eine wichtige Aufgabe ist die Beobachtung der Kinder in der Unterrichtssituation, der Austausch der Beobachtungen mit dem Lehrer und die gemeinsame Dokumentation der Lernentwicklung in den individuellen Lernbereichen."[53]

Vor einigen Jahren machte mich in der integrativ arbeitenden Fläming- Grundschule in Berlin während der Hospitation in einer Klasse die Lehrerin auf einen anfallskranken Jungen aufmerksam, dem ein bevorstehender Anfall anzumerken war. (Er war innerlich unruhig, vielleicht wegen des ihm fremden Hospitanten und der zwei Studenten, die mit mir im Raum waren.) Der Anfall überfiel den Jungen wirklich. Die Lehrerin war ihm im entscheidenden Augenblick nahe, nahm ihn auf den Schoß und hielt ihn in seinem starren Krampf, bis er ihr in die Augen sah, ein Zeichen dafür, daß die schwierige Situation überstanden war. Unterdessen hatte wie selbstverständlich die zweite Frau in der Klasse, eine Unterrichtshilfe, die Unterrichtsführung übernommen, in die sie ohnehin vorher schon eingebunden war, weshalb kein Bruch entstand. Die Kinder der Klasse nahmen kaum Notiz von dem Anfall ihres Klassenkameraden. Mir kam es vor, als kennten sie solche Situationen schon. (Als ich die Lehrerin später auf die Situation hin ansprach, sagte sie mir, sie hätte sich in der Stunde besonders engagiert, um möglicher Kritik bei mir und den zwei Studenten, die mit mir in der Klasse waren, zu entgehen. In ähnlichen Situationen zu früheren Zeitpunkten hätten sich die Kinder aus der Klasse liebenswürdig und kompetent um das anfallskranke Kind gekümmert.)

Wir müssen in der Bundesrepublik die Möglichkeiten des Zwei-Lehrer-Systems in ihrer Vielfalt noch erfahren und erproben, bevor wir aus ihnen alle Konsequenzen für die Innere Differenzierung des Unterrichts zu ziehen vermögen.

3.3 Disponible Lehrerstunden

Schon der Deutsche Bildungsrat hatte in seiner Empfehlung aus dem Jahre 1973 über die Innere Differenzierung hinaus als weitere Differenzierungsform sogenannte Förderstunden vorgeschlagen und vornehmlich für die Grundschule vorgesehen. Gemeint ist damit die folgende Organisationsform: Der Grundschullehrer sollte die Möglichkeit haben, im Rahmen seiner Wochenstundenzahl über mindestens drei Stunden für einen zusätzlichen Unterrichtfrei zu disponieren. Was in der Empfehlung deshalb unter dem Begriff "Förderstunde" bezeichnet wird, läßt sich treffend auch mit der Formulierung "Disponible Lehrerstunden" fassen. Wörtlich sagt die Empfehlung des Bildungsrates dazu: "In diesen Stunden sollte ein Lehrer in Kleingruppen Schüler mit Lerndefiziten zusätzlich unterrichten. Der Schwerpunkt dieses Unterrichts sollte in der Sprache und in der Mathematik liegen. Der zusätzliche Unterricht soll im Bewußtsein des teilnehmenden Schülers wie der Klasse als selbstverständliche, zur Schule gehörende Einrichtung angenommen werden, auf die der Schüler im Sinne der generellen Bemühung um Individualisierung des Unterrichts ein Anrecht hat."[54] An anderer Stelle heißt es in der Empfehlung: "Für den zusätzlichen Unterricht, der für einen Schüler immer zeitlich begrenzt ist, wählt der Lehrer die Schüler aus. Er sollte einer möglichen Diskriminierung der Schüler, die zusätzlich unterrichtet werden, entgegenwirken."[55]

Aus diesen Vorstellungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates wird eine Verwandtschaft mit der Konzeption der Grundschulrichtlinien einzelner Bundesländer deutlich. So ist beispielsweise in den Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschule des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 1973 für jede Klasse ein Förderunterricht von drei Wochenstunden vorgesehen. Er soll vor allem den Fächern Mathematik und Sprache zugutekommen. Zwei Drittel der Zeit, die für diese Förderstunden zur Verfügung steht, können die Lehrer für Kinder mit Lerndefiziten einsetzen. Im verbleibenden Drittel sollen Kinder, die in den Klassen ohne Schwierigkeiten mitzuarbeiten in der Lage sind, und selbst Kinder mit herausragenden Leistungen, gefördert werden. Damit wollen die Verfasser der Richtlinien in den Förderunterricht zwar alle Kinder einbeziehen, dennoch sollte aber der Förderunterricht für Kinder mit Lernschwierigkeiten, Lernblockierungen und Lücken, die sich im Unterricht zeigen, aber kurzfristig beheben lassen, in stärkerem Maße vorgesehen werden. Der Förderunterricht könne sogar, so sagen es die Richtlinien, als Diagnose und Therapie verstanden werden. Damit ist gemeint, daß durch die Ausübung unterrichtlicher Tätigkeit durch die Schüler - also etwa beim Lesen von Texten, beim Malen eines Bildes, beim Fangen eines Balles im Spiel und im Sport, beim Aufschreiben eines Textes - für die Lehrer differenzierte Möglichkeiten zur Diagnose aufkommen, aus der sich für sie die weiteren unterrichtlichen Handlungsvollzüge ergeben; guter Unterricht entwickelt sich meist aus Unterricht. Daraus ergibt sich zugleich aber auch der mögliche therapeutische Charakter des Unterrichts, sofern er Schüler ermutigt und stabilisiert, ihnen etwas zu können ermöglicht und sie gerade dadurch auf den Weg des weiteren Lernens führt.

Die Ausführungen, die in den nordrhein-westfälischen Grundschulrichtlinien über den Förderunterricht gemacht werden, können gleichsam als eine Konkretisierung der Förderstunden angesehen werden, wie sie in der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates verstanden worden sind.[56]

So heißt es in den Richtlinien unter anderem, daß der Förderunterricht für Schüler mit Lernschwierigkeiten sich vom Klassenunterricht unterscheidet durch

  • " stärkere und individuellere Motivationen im Kleingruppenunterricht zusätzliche Anschauung und einen gesteigerten Grad der Konkretisierung

  • zusätzliche Möglichkeiten des Experimentierens, Operierens und Manipulierens

  • Lernen in kleineren Schritten häufigere und andersartige Übungen und Wiederholungen."[57]

Insgesamt sollten die Fördermaßnahmen weitgehend individueller Art sein und entweder als Einzelunterricht oder als Kleingruppenunterricht durchgeführt werden. Weil sie immer von konkreten Anlässen, Lernschwierigkeiten oder Lerndefiziten ausgehen, werden die Fördergruppen, sofern es zur Bildung von Kleingruppen kommt, weder in ihrer Zusammensetzung und ihrer Größe noch in ihrer zeitlichen Dauer Konstanz haben. Die nordrhein-westfälischen Richtlinien für die Grundschule aus dem Jahre 1985 haben den Förderunterricht modifiziert, seine Grundstruktur aber durchgehalten. Er gilt nun für alle Unterrichtsfächer und Lernbereiche, nicht mehr nur für die Mathematik und die Sprache. Ausdrücklich wird jetzt festgestellt: Förderunterricht darf nicht zu Leistungsgruppen führen, in denen Kinder gesondert auf Schulen der Sekundarstufe I vorbereitet werden.Gleichwohl können klassen- oder jahrgangsübergreifende Maßnahmen sinnvoll sein."

Disponible Lehrerstunden in der beschriebenen Art sind in einer Schulstufe gut praktizierbar, deren Unterricht durch das Klassenlehrerprinzip oder eine relativ gemäßigte Form dieses Prinzips bestimmt ist. Aus diesem Grunde wurden sie vom Deutschen Bildungsrat für die Grundschule vorgeschlagen. Sie dürften sich aber auch in der Sekundarstufe realisieren lassen, in der das Fachlehrerprinzip vorherrscht. Man muß sich einmal vorstellen, daß zum Beispiel ein Englisch-Lehrer für jede Klasse, in der er Englisch-Unterricht erteilt, eine disponible Wochenstunde zur Verfügung hätte, in die er Schüler "einladen" könnte, für die sich im Klassenunterricht Schwierigkeiten gezeigt haben. Was würde sich ereignen? Das Lehrer-Schüler-Verhältnis gestaltete sich im Einzel- oder Kleingruppenunterricht anders als in der größeren Klasse. Es würde möglicherweise persönlicher, intimer. Der Lehrer erschiene für den Schüler anders als in der zahlenmäßig großen Klasse, und auch der Schüler wirkte für den Lehrer anders vielleicht schon aus dem Grunde, daß ihm in der Kleingruppe die anderen Schüler als "Publikum" nicht gegeben wären oder daß in der Intimität des Einzelunterrichts die "Öffentlichkeit der Klasse" aus dem Lernen ausgeschlossen bliebe. Der persönliche Charakter des Lehrer-Schüler-Verhältnisses aus der disponiblen Lehrerstunde wirkte ebenso zurück auf den Englischunterricht der Klasse wie die Atmosphäre des Kleingruppen- oder Einzelunterrichts und veränderten ihn. Natürlich wirkt vor allem auch der Lernerfolg, der für einen Schüler in einer disponiblen Stunde erreicht wird, auf den Klassenunterricht zurück.

Was hier am Beispiel des Englischunterrichts gesagt worden ist, läßt sich ohne weiteres auch auf andere Fächer und Lernbereiche übertragen, und es dürfte auch noch im Unterricht der Sekundarstufe II relevant sein. Disponible Stunden festigen für die Lehrer das Bewußtsein, Schülern in erster Linie zu helfen, ihre Mißerfolge nicht zum Anlaß von Diskriminierung, Auslese, Urteil werden zu lassen, sondern sie in ein Verhältnis auch zu Mißerfolg und Irrtum zu bringen und sie nach Möglichkeit darüber hinauszuführen. Dennoch problematisiert das Nachdenken über disponible Lehrerstunden die extreme Ausformung des Fachlehrerprinzips in der Sekundarstufe I von der Ebene der fünften Klasse an. Es ist sehr die Frage, ob ein solches System, das von der Wissenschaftsorientierung des Unterrichts her begründet wird, sich auf die Dauer pädagogisch als sinnvoll erweisen kann.

3.4 Förderkurse - Förderunterricht

Förderunterricht, in der Organisationsform von Förderkursen durchgeführt, beginnt sich in den Schulen der Bundesrepublik mehr und mehr durchzusetzen. Verschiedene Begriffe haben sich dafür eingebürgert. Alfred Sander zum Beispiel spricht in einem weiten Sinne von Fördermaßnahmen, die für ihn "Wesensbestandteil, nicht Ergänzung des Unterrichts" sind. Er versteht darunter alle pädagogischen Hilfen, "die darauf abzielen, Kindern und Jugendlichen mit Lernschwächen zu jenen Lernvoraussetzungen oder Lernerleichterungen zu verhelfen, auf die der allgemeine Klassenunterricht aufbaut". Für ihn sind Fördermaßnahmen in diesem Sinne "in allen Schularten und Klassenstufen grundsätzlich wünschenswert und pädagogisch erforderlich, da relative Lernschwächen überall - z.B. auch in der gymnasialen Oberstufe - auftreten."[58] In allen Spielarten der Fördermaßnahmen zeigt sich eine übereinstimmende Grundstruktur, zumal die pädagogische Aufgabe, die in allen ansteht, weitgehend identisch ist.

Die Förderkurse, die in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates vorgeschlagen werden, sind dem Modell der schwedischen Schulkliniken verwandt. Für den deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff "Schulklinik" allerdings nicht geeignet, weil er an Krankheiten und stationären Aufenthalt in Krankenhäusern (Kliniken) erinnert. Selbst für die pädagogische muß Fachterminologie eignet sich ein solcher Begriff nicht, weil sie wegen der allgemeinen Publizität pädagogischer Fragestellungen auch für den Laien verständlich sein sollte. Es zeigt sich in der Gegenwart immer stärker, daß Laien einen Anspruch auf die Durchschaubarkeit pädagogischer Begriffe haben (was manche Autoren im Felde der Pädagogik aber bewußt zu negieren scheinen). Es erscheint dennoch sinnvoll, die Struktur und die Arbeitsweise der schwedischen Schulkliniken darzustellen, um von ihnen her das Konzept der Förderkurse zu entwickeln, wie es sich für Schulen im deutschsprachigen Raum als realistisch erweisen kann.

Schulkliniken werden an der schwedischen Grundschule, die eine neunjährige Dauer hat, vor allem für Schüler mit Lernschwächen eingerichtet. Sie sind also nichts anderes als Fördereinrichtungen im allgemeinen Schulwesen für Kinder mit vermindertem Lernvermögen, mit Störungen und Schwierigkeiten in den Lernprozessen. Der besondere Unterricht, den sie als Einzelunterricht oder in Kleingruppen erfahren, soll ihre Überweisung in Spezialschulen, also in Sonderschulen, nach Möglichkeit vermeiden. Es gibt in Schweden auch heute noch Spezialschulen, allerdings sind die Anteile der Schüler, die sich in ihnen befinden, an der Gesamtheit aller jungen Menschen wesentlich niedriger als derzeit hierzulande. Vielleicht liegt der relativ hohe Wirkungsgrad der schwedischen Schulkliniken unter anderem auch darin begründet, daß in ihnen Sonderpädagogen arbeiten. In der Regel ist der Kliniklehrer mit seiner vollen Wochenstundenzahl in der Schulklinik etabliert. Er führt keine Klasse in der allgemeinen Schule. Neben ihm können freilich auch Fachlehrer mit einem Teil ihrer Wochenstundenzahl in der Klinik eingesetzt werden, soweit es die unterrichtlichen Notwendigkeiten erfordern und die fachliche Spezialisierung der Kliniklehrer nicht zureichend ist.

Einer Schulklinik stehen mehrere Räume innerhalb der Gebäude einer Grundschule zur Verfügung, die sich für den Unterricht in Kleingruppen und für den Einzelunterricht eignen. Nicht aller Klinikunterricht muß aber in diesen Räumen stattfinden. Zeigen sich zum Beispiel bei einem Kind in einem Fach so starke Schwächen, daß eine besondere Förderung vom Fachlehrer oder Klassenlehrer in Erwägung gezogen wird, so ist es durchaus möglich, daß ein Kliniklehrer am allgemeinen Unterricht der Klasse teilnimmt, um einem einzelnen Kind oder auch mehreren Kindern mit Leistungsrückständen während des Unterrichts zu helfen und den Fachlehrer zu unterstützen (was ohne weiteres möglich ist, weil der Kliniklehrer sich mit dem Fachlehrer zusammen während des Unterrichts im Raum befindet) und um vor allem mit dem Fachlehrer zu beraten, wie mit dem Kind weiter verfahren werden kann. Fachlehrer und Kliniklehrer praktizieren hier also im Sinne des Zwei-Lehrer-Systems. Das Beispiel verdeutlicht, daß die integrative Förderung von Schülern mit Lernschwächen innerhalb der allgemeinen Schule in Schweden eine enge Kooperation zwischen den Klassenlehrern, Fachlehrern und Sonderpädagogen erforderlich macht. Diese Kooperation kann dazu führen, daß ein Kind für die zeitlich begrenzte Einweisung in die Schulklinik in einem Fach vorgeschlagen wird. Es ist aber auch möglich, daß der Kliniklehrer über eine längere Zeit am allgemeinen Unterricht in einem Fach teilnimmt, um schwache Kinder so intensiv zu fördern, daß sich ihre Einweisung in die Schulklinik erübrigt. Auch bei der Rückführung eines Kindes aus der Schulklinik in seine angestammte Klasse kann der Kliniklehrer am allgemeinen Unterricht teilnehmen, um die Reintegration des Kindes unterstützen. Lehrer, die immer nur allein in einer Klasse arbeiten, erfahren mitunter über Jahrzehnte weder eine Kritik noch eine Verstärkung ihres Tuns. Das führt dazu, daß sich in ihnen ein beruflicher Solipsismus habitualisiert, der sich gegen Formen der Kooperation im Unterricht sperrt. Sie empfinden deshalb eine Zusammenarbeit, wie sie in schwedischen Schulen um der behinderten Kinder willen institutionalisiert ist, als etwas Außergewöhnliches. Man muß natürlich sehen, daß die Kooperation zwischen Lehrern unterschiedlicher Kompetenzen erschwert Wird, wenn sie in verschiedenen, getrennt voneinander bestehenden Schulen arbeiten.

Wo in einer Schule Sonderpädagogen und allgemeine Lehrer zum gleichen Kollegium gehören, ist Zusammenarbeit eher zu bewerkstelligen. Von solchen Überlegungen her ist es durchaus konsequent, daß Schulkliniken in Schweden an jeder Grundschule eingerichtet werden und verwaltungsmäßig zu der Grundschule gehören, an der sie bestehen. Nicht mehrere Schulen haben also eine Klinik gemeinsam, was zweifellos eine Separierungstendenz auslösen könnte, sondern jede Schule hat eine Klinik, häufig sogar mehrere Kliniken. Davon kann eine etwa für die Unterstufe, eine andere für die Oberstufe eingerichtet sein.[59]

Wie vollzieht sich nun die Aufnahme in eine Schulklinik? In vielen Grundschulen besteht eine "Pflegekonferenz", die über die Aufnahme entscheidet. Ständige Mitglieder der Konferenz sind der Direktor der Grundschule, außerdem die Speziallehrer, die in den Schulkliniken voll etabliert sind, der an der Schule tätige Schulpsychologe, die Schulschwester, die an der Schule fest angestellt ist, und der Sozialarbeiter der Schule, dem vor allem die Kontakte zwischen Schule und Elternhaus obliegen sowie die Klassen- oder Fachlehrer, die eine Aufnahme von Kindern in die Schulklinik beantragen. Ferner nimmt der Schulrat in regelmäßigen Abständen an den Sitzungen der Pflegekonferenz teil. Auf eigenen Wunsch oder auf Antrag eines Mitglieds der Pflegekonferenz können auch die Eltern eines Schülers, über den beraten wird, zur Sitzung eingeladen werden. Gelegentlich nehmen selbst die betroffenen Schüler an den Sitzungen teil. (Die Beschreibung zeigt dem Kenner der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates, daß der "Schulpflegeausschuß", der in ihr für die Entscheidung über Fördermaßnahmen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Schüler vorgeschlagen wird, dem schwedischen Beispiel nachempfunden ist.)

In Schweden muß der Antrag des Klassen- oder Fachlehrers für die Überweisung eines Schülers in die Schulklinik der Pflegekonferenz schriftlich vorliegen und unter anderem zu Fragen der sozialen Einstellung, der Arbeitshaltung und des Lernvermögens des Schülers Stellung nehmen. Damit ist die Aufgabe des Klassen- oder Fachlehrers aber noch nicht erschöpft. Da ein in die Schulklinik aufgenommenes Kind formell in seiner angestammten Klasse verbleibt und alle Fördermaßnahmen auf die Reintegration des Kindes in die Klasse gerichtet sind, wird der Kliniklehrer laufend über den Lernfortschritt der Klasse informiert, und er versieht das Kind mit speziellen Aufgaben, die sich aus dem Unterricht der Klasse ergeben; diese Aufgaben kann das betreffende Kind unter Anleitung des Speziallehrers in der Schulklinik erfüllen. Die enge inhaltliche Rückkoppelung des Schülers an den Unterricht seiner Klasse ist die Grundlage für seine spätere Wiedereingliederung. Erst auf dieser Basis läßt sich eine temporäre Ausgliederung zum Zweck der intensiven und auf Reintegration gerichteten Förderung begründen. Kann diese Rückkoppelung des Schülers an die Lernfortschritte seiner Stammgruppe nicht gewährleistet werden, weil beispielsweise die Grundschule und die Schule für Behinderte getrennte Einrichtungen sind, die in räumlicher Entfernung bestehen, so muß das Ziel der Wiedereingliederung eigentlich eine Deklamation bleiben. Für die Rückführung eines Kindes aus der Schulklinik in den Unterricht der allgemeinen Klasse bedarf es der Pflegekonferenz nicht mehr. Dazu reicht die Verständigung zwischen dem Kliniklehrer und dem Klassen- oder Fachlehrer aus.

Die Anzahl der Kinder, die in einer Schulklinik gefördert werden, kann von Woche zu Woche und von Fach zu Fach differieren, weil die Aufnahme in die Klinik und auch die Rückführung in die allgemeinen Klassen zu jedem Zeitpunkt des Schuljahres möglich sind. Daraus ergibt sich schon, daß in einer Klinik der Unterricht in Kleingruppen ohne größere zeitliche Konstanz der Gruppen und der Einzelunterricht vorherrschen. Aus der Darstellung ergibt sich aber auch, daß nur in Ausnahmefällen der Unterricht in allen Lernbereichen oder Fächern für ein Kind in der Schulklinik erteilt wird. In der Regel erhält ein Kind einen Teil des Unterrichts weiterhin in seiner Klasse; ein anderer Teil, häufig nur der Unterricht in einem Fach oder einer begrenzten Zahl von Fächern, wird in der Klinik erteilt. Auch hierin ist natürlich eine wesentliche Erleichterung für die Rückführung in die angestammte Klasse zu sehen. Gerechtfertigt wird dieses Prinzip des geteilten Unterrichts in Klasse und Klinik durch die intraindividuellen Unterschiede, die für die Kinder im Lernen auftreten. Ein Kind entspricht den Anforderungen in verschiedenen Fächern der Schule qualitativ unterschiedlich; es vermag beispielsweise in der Mathematik auf einem anspruchsvolleren Niveau zu arbeiten als in der Sprache, es ist vielleicht im Sport besonders qualifiziert, nicht aber in der Musik usf. Warum sollte es deshalb, wenn es etwa unserer Sekundarstufe I angehört und in zwei Fächern einer besonderen Förderung bedarf, in den zehn anderen Fächern aber in seiner Klasse mitzuarbeiten vermag, in allen zwölf Fächern in eine separate Institution überwiesen und damit von seiner Klasse isoliert werden?

Der Klinikunterricht ist für ein Kind kein zusätzlicher Unterricht. Es hat keine höhere Wochenstundenzahl als alle anderen Schüler der schwedischen Grundschule, die eine Schule in Tagesform ist. Die Organisation des Stundenplans in der Klinik ist deshalb immer abhängig von den Stundenplänen der allgemeinen Klassen, denn an die Stelle zum Beispiel des Mathematikunterrichts in einer allgemeinen Klasse tritt alternativ in der gleichen Zeit, in der dieser Unterricht in der Klasse erteilt wird, die Förderung eines für die Mathematik in die Klinik aufgenommenen Kindes. Diese zeitliche Überlappung des Unterrichts in Klinik und Klasse bedingt ebenfalls eine optimale Kooperation der beteiligten Lehrer.

Auf die Schulverhältnisse der Bundesrepublik übertragen, hat sich für den Deutschen Bildungsrat eine Konzeption der Förderkurse an Grundschulen und überhaupt an allgemeinen Schulen ergeben, deren Zielgruppe in folgender Form beschrieben wird: "Ein Förderkurs wird eingerichtet für Schüler mit partiellen und temporären Lernstörungen oder Lernrückständen, die verschiedene Ursachen haben können, oder mit definierbaren Ausfällen, zum Beispiel Legasthenie, oder auch für Kinder, die in Folge einer abweichenden Situation im Lernbereich (z.B. anregungsarmes Elternhaus), im Verhaltensbereich (z.B. im subkulturellen Großstadtmilieu) oder aufgrund längerer Abwesenheit vom Unterricht (z.B. durch Krankenhausaufenthalt) Lerndefizite aufweisen und deshalb auch von Verhaltensstörungen bedroht sind."[60] Die Beschreibung läßt deutlich werden, daß die Zielgruppe der Förderkurse nicht nur die Population der Schüler umfaßt, die heute noch in die Schule für Lernbehinderte überwiesen wird. Förderkurse als integrierte Bestandteile der allgemeinen Schule kommen einem Prozentsatz der Schüler zugute, der höher ist als jener, für den eine Überweisung in die Sonderschule anstehen kann. Die Förderkurse können deshalb auch nicht einfach als Ersatz oder als Äquivalent der Schule für Lernbehinderte angesehen werden. Ziele, Aufgaben und Strukturen der Förderkurse lassen sich in zehn Punkten zusammenfassen:

1. Ziel des Förderkurses ist es, dem Schüler soviel individuelle Hilfe zu gewähren, daß er wieder zur Mitarbeit in seiner Klasse befähigt wird, das Wiederholen einer Klasse zu vermeiden und segregierende Maßnahmen, wie die totale, zeitlich nicht begrenzte Ausgliederung von Schülern, nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Befähigung zur Mitarbeit kann allerdings nicht bedeuten, daß das Niveau einer Klasse ausgependelt, daß der Leistungsstand aller Schüler auf ein Niveau gebracht wird. Förderkurse sind nicht als "Ausgleichsunterricht" zu interpretieren. Die "fruchtbare Heterogenität" einer Klasse oder einer gemeinsam unterrichteten Gruppe, von Peter Petersen als "Bildungsgefälle" bezeichnet, sollte schon erhalten bleiben.

2. Der Unterricht im Förderkurs soll von Sonderpädagogen vornehmlich der Fachrichtung Lernbehinderte verantwortet werden. Als günstig erweist es sich, wenn sie als zweite Fakultas Sprachbehinderten- oder Verhaltensgestörtenpädagogik studiert haben. Die Sonderpädagogen können zum einen mit ihrer vollen Wochenstundenzahl in den Förderkursen eingesetzt werden. Zum anderen ist aber auch eine Aufteilung ihrer Wochenstundenzahl auf Förderkurse und den allgemeinen Unterricht in Klassen möglich. Der Fachunterricht, der von ihnen im Förderkurs nicht abgedeckt werden kann, sollte von allgemeinen Lehrern (Fachlehrern) übernommen werden.

3. Der Unterricht im Förderkurs kann sich auf ein Fach oder auf mehrere Fächer erstrecken. In jedem Falle

werden es die Fächer sein, in denen für ein Kind Schwierigkeiten aufgetreten sind. Die Förderung muß sich aber nicht eng an dem Fach orientieren, in dem sich die Defizite gezeigt haben; mitunter sind die Frustrationen eines Schülers in einem solchen Bereich so stark, daß eher über Erfolge in anderen Zusammenhängen ein neuer Zugang ermöglicht werden kann.

4. In allen Fächern, in denen ein Kind nicht am Förderkurs teilnimmt, das wird in jedem Falle die Mehrzahl der Fächer sein, bleibt es in den Unterricht seiner Klasse oder Stammgruppe integriert. Der Deutsche Bildungsrat ging von der Überlegung aus, daß für ein Kind, für das die Zeitanteile im Förderkurs im Vergleich zum Klassenunterricht übergewichtig werden, die Überweisung in eine Sonderschule überprüft werden müsse. In jedem Falle wird zu überlegen sein, welche anderen Möglichkeiten der Förderung für ein solches Kind in Frage kommen können.

5. Der Förderkurs wird als Einzelunterricht oder als Unterricht in Kleingruppen durchgeführt. Durch die Individualisierung des Lernens wird er zeitweilig lernintensiver sein können als der Klassenunterricht. Es wäre aber irrig anzunehmen, daß Einzelunterricht in jedem Falle eine höhere Lernintensität für den Schüler hervorbringt als die Gemeinsamkeit des Lernens in Gruppen oder Klassen. In der hohen Zeit des programmierten Unterrichts, einer extremen Form der Individualisierung, wurde beobachtet, daß leistungsstarke Schüler, die als einzelne mit ihren Programmen in separaten Räumen arbeiteten, im Vergleich zu ihren Mitschülern, die im Klassenraum mit den Programmen arbeiteten, erheblich abfielen. Auch das individuelle Lernen bedarf mitunter der Atmosphäre der Gemeinsamkeit, die zugleich Öffentlichkeit ist.

6. Die Teilnahme am Förderkurs wird für ein Kind zeitlich begrenzt sein, weil sie jeweils abhängig ist von der Überwindung der individuellen Lernschwierigkeiten. Die Einweisung in den Förderkurs und die Rücküberweisung in die Klasse kann zu jeder Zeit des Schuljahres erfolgen. Der Sonderpädagoge aus dem Förderkurs muß deshalb über den Lernfortschritt der Klasse, zu der ein Kind gehört, immer im Bilde sein. Seine Kooperation mit dem Lehrer der Klasse muß geradezu als Selbstverständlichkeit praktiziert, und ihm muß die Teilnahme am Unterricht der Klasse eigentlich immer ermöglicht werden.

7. Die Zusammensetzung der Fördergruppe wird flexibel sein, und die Gruppen werden keine zeitliche Konstanz haben. Dadurch bleibt die Klasse, zu der ein Kind gehört, die stabile Gruppe, in deren soziales Beziehungsgeflüge ein Kind aus dem Förderkurs eingeordnet ist und in das es sich eingebunden weiß. Deshalb können in den flexiblen Fördergruppen Schüler aus verschiedenen Klassen und auch Schüler verschiedenen Alters zusammengefaßt werden; die invidualisierende Förderung dominiert auch in den Kleingruppen.

8. Nach Möglichkeit sollte der Förderunterricht für ein Kind kein zusätzlicher Unterricht sein; er könnte sehr schnell als "Nachsitzen" oder auch als bewerkstelligen, wenn zum Beispiel an die Stelle des Mathematikunterrichts in der Klasse die Förderung in Mathematik im Förderkurs tritt. Natürlich kann es vorkommen, daß die Stundenplanorganisation eine solche Überlappung nicht gestattet. Immer wird es so sein, daß sich die Unterrichtsorganisation des Förderkurses am Stundenplan der allgemeinen Klassen orientiert. Wo das nicht möglich ist oder wo der Förderbedarf eines Kindes zu umfänglich wird, da kann der Förderunterricht auch einmal als zusätzlicher Unterricht organisiert werden. Ein Pädagoge, der in der Schule arbeitet, muß wissen, daß Stundenpläne und Organisationsschemata ihren Sinn nicht in sich selbst haben, sondern daß sie Unterricht ermöglichen, daß sie Lehrer in die Lage versetzen, Kindern Hilfe und Förderung zu gewähren. Deshalb muß sich ein Lehrer in. einem flexiblen Schulorganismus immer die Freiheit nehmen können, einem Kind ohne Stundenplan und außerhalb von Lehrplänen zu helfen.

9. Die Zusammenarbeit der allgemeinen Lehrer und der Sonderpädagogen bedarf der Institutionalisierung, um Überweisungen, Rücküberweisungen und Informationen über Lernfortschritte der Klasse bzw. des Kindes im Förderkurs verbindlich zu gestalten. Es ist die Frage, ob die Institutionalisierung die Form einer Pflegekonferenz (wie in Schweden) oder eines Schulpflegeausschusses (wie in der Empfehlung des Bildungsrates) annehmen muß. Jedenfalls sollte die Überführung eines Kindes in den Förderkurs schon Verbindlichkeit haben, es sollte Zuständigkeiten dafür geben, die den Kindern zugute kommen und durch die auch divergente Auffassungen geklärt werden können. Mitunter . reicht es aus, wenn neben dem Sonderpädagogen aus dem Förderkurs und dem Klassen- oder Fachlehrer der Schulleiter der betreffenden Schule gewissermaßen als "dritte Instanz", aber kontinuierlich, fungiert.

10. Für den Förderkurs sind in einer Schule eigene Räumlichkeiten notwendig, die sich für Einzel- und Kleingruppenunterricht eignen. Darüber hinaus ist aber auch eine ausreichende Ausstattung mit Materialien notwenig, die über Lernschwierigkeiten hinweghelfen und einen individualisierenden Unterricht erlauben. Es wird sich nicht ausschließlich um industriell hergestellte Materialien handeln können. Die Situationen des Lehrens und Lernens haben den Charakter der Einigkeit. Deshalb werden die Lehrer nicht umhin können, Materialien für einen individuellen Sachverhalt, eine besondere Schwierigkeit, ein ganz bestimmtes Problem selbst herzustellen, aber auch Materialien für ihr Lehren, das anders ist als das Lehren anderer, und Materialien für das Lernen des einen Kindes, das anders lernt als andere.

3.5 Vertretbare Formen der Äußeren Differenzierung für integrative Schulen

Die Förderung in Disponiblen Lehrerstunden nimmt eigentlich eine Zwischenstellung zwischen Innerer und Äußerer Differenzierung ein. Sie ist in der Regel nicht klassenübergreifend, und doch wird sie außerhalb der Zeit des Unterrichts der Klasse durchgeführt. Dagegen ist die Förderung in Förderkursen der Äußeren Differenzierung zuzurechnen, die sich dadurch definiert, daß ein Schüler unabhängig von seiner Klasse, mitunter in klassenübergreifenden Gruppen, gefördert wird. Vertretbare Formen Äußerer Differenzierung auf der Sekundarstufe I in integrativen Schulen sind aber auch in den beiden Spielarten der Wahldifferenzierung zu sehen, der sogenannten Wahlpflichtdifferenzierung und der eigentlichen Wahldifferenzierung.

In der Wahlpflichtdifferenzierung wählt der Schüler aus einem Kanon von Fächern ein Fach aus; die Teilnahme am Unterricht in diesem Fach ist für ihn obligatorisch; zugleich schließt die Wahl des einen Faches aber die Abwahl anderer Fächer ein. In den oberen Klassen der Sekundarstufe I von Gesamtschulen beispielweise stehen die Lernbereiche Technik/Wirtschaft und Zweite Fremdsprache in der Wahlpflichtdifferenzierung gleichwertig zur Wahl. Das bedeutet hier, daß die Wahl eines der beiden Bereiche prinzipiell die Möglichkeit weiterführender Bildungswege eröffnen muß, die Wahl der Zweiten Fremdsprache zum Beispiel einen berufsqualifizierenden Weg in der Sekundarstufe II, die Wahl des Bereichs Technik/Wirtschaft zum Beispiel einen Weg, der zum Abitur führt.

In dem Maße, in dem den Schülern Wahlmöglichkeiten angeboten werden, beginnen sie, Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen. Es kann angenommen werden, daß mit der Verantwortung für das eigene Lernen zugleich die Motivation der Schüler angeregt wird oder überhaupt erst entsteht. Dazu heißt es in kultusministeriellen Richtlinien für die Differenzierung, die Wahl solle "den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schüler gerecht werden, ihnen die Möglichkeit geben, ihre Lerninteressen zu verstärken, und eine Individualisierung des Lernens durch Schwerpunktbildung ermöglichen."[61] Die Wahlpflichtdifferenzierung dürfte mit der weiteren Ausbreitung des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Schülern in der Sekundarstufe I an Bedeutung gewinnen.

Aber auch die Wahldifferenzierung im engeren Sinne, bei der den Schülern im Rahmen der Möglichkeiten einer Schule verschiedene Angebote gemacht werden, aus denen sie frei wählen und an denen sie mithin freiwillig teilnehmen können, dürfte in gleicher Weise in der Sekundarstufe I integrativer Schulen wichtig werden. Die Wahldifferenzierung konkretisiert sich in relativ schulnahen Wahlfächern, zum Beispiel also in einer Fremdsprache, die im Kanon der Fächer nicht vorgesehen ist, und in Arbeitsgemeinschaften, in denen sich Schüler in Kleingruppen zusammenfinden, um spezielle Sachverhalte zu lernen, zum Beispiel das Fotografieren, oder gemeinsam eine Aufgabe zu erfüllen, etwa ein Laienspiel einzustudieren, das später aufgeführt werden soll.

Man wird in den oberen Klassenstufen der Sekundarstufe I, wo die Wahldifferenzierung vornehmlich praktiziert wird, darauf zu achten haben, daß in den Inhalten der Wahlfächer und der Arbeitsgemeinschaften keine berufsnahen Fähigkeiten und Kenntnisse bestimmend werden. Wo beispielsweise die Einführung in die Technik der Stenographie oder in das Technische Zeichnen zu Wahlfächern werden, kann es nicht verwundern, daß die Schüler, wenn sie die Grundrechte des Grundgesetzes lernen sollen, kein Interesse haben, weil sie ihnen nutzlos vorkommen. Hier zeigt sich, daß auch die Differenzierung des Unterrichts eingeordnet sein muß in den Kontext einer Theorie der Schule, aus der sich die Maßgaben für das Handeln in der Schule ergeben.

Einzugehen ist schließlich im Rahmen der Äußeren Differenzierung auf die Spielarten des Team-Teaching. Sie sind von 1957 an durch den sogenannten Sputnik-Schock in den Schulen der USA entwickelt worden. Der Sowjetunion war es in diesem Jahr gelungen, einen künstlichen Erdtrabanten ("Sputnik") in den Weltraum zu schießen. In der Bevölkerung der Vereinigten Staaten entstand der Eindruck, daß die Wissenschaft der Sowjetunion gegenüber der Wissenschaft des Westens einen Vorsprung habe, der bedrohlich werden könne. Für einen Ausgleich des Standes wissenschaftlichen Fortschritts sollte vor allem schon in der Schule gesorgt werden.

Eine der Reformmöglichkeiten, die in die Diskussion gebracht wurden, war das Team-Teaching. Die Lehrer in den Schulen der Vereinigten Staaten hatten zu dieser Zeit keine fachliche Ausbildung, die beispielsweise der in der Bundesrepublik vergleichbar gewesen wäre. Deshalb wurde versucht, die Zusammenarbeit der Lehrer für den Unterricht der Schüler zu institutionalisieren. Durch sie sollte jeder Lehrer die Möglichkeit erhalten, sich auf wenige Fächer oder Fachbereiche zu spezialisieren und mithin stärker zu qualifizieren. Die fachliche Qualifikation. sollte durch die Bildung von Lehrer-Teams dem Unterricht wirkungsvoller zugutekommen, und dadurch sollte der Unterricht verbessert werden.

Für den Einsatz des fachlich qualifizierten Lehrers kam es in den Schulen zur Bildung von Großgruppen, die mitunter hundert Schüler umfaßten. Sie konnten in Untergruppen gegliedert werden, je nach den unterrichtlichen Notwendigkeiten. Für die Großgruppe konnten vier oder fünf Lehrer zuständig sein, dazu vielleicht ein Pädagogischer Assistent. Ein Lehrer des Teams war der gewählte oder der berufene Leiter. Die Planung des Unterrichts wurde von allen Lehrern gemeinsam vorgenommen, und auch in der Durchführung des Unterrichts arbeiteten sie zusammen. Die Gemeinsamkeit der Lehrer, ihre Kooperation, war und ist demnach das Grundprinzip des Team-Teaching.

Nur der kleinere Teil des Unterrichts findet in der Großgruppe statt. Es macht zwar kaum einen Unterschied aus, ob ein Lehrervortrag vor zwanzig oder vor achtzig Schülern gehalten, ein Film dreißig oder neunzig Schülern gezeigt wird oder ob in einem Großraum vielleicht siebzig Schüler, jeder für sich, ein Mathematikprogramm erarbeiten. Aber solche unterrichtlichen Situationen kommen nicht allzu häufig in der Schule vor. Meist wird in der Großgruppe die Arbeit in kleineren Gruppen durch eine Einführung vorbereitet. Im Anschluß an den Großgruppenunterricht wird in Gruppen mittlerer Größe weitergearbeitet. Es ist aber auch möglich, daß Kleingruppen die Arbeit fortsetzen. Bezieht man den Einzelunterricht, die individuelle Förderung des einzelnen Schülers in die Differenzierung der Großgruppe ein, so ergibt sich die Möglichkeit der Unterrichtsdurchführung im Team-Teaching auf vier Ebenen: Großgruppenunterricht - Unterricht in Gruppen mittlerer Größe - Kleingruppenunterricht -Einzelunterricht.

Mitunter ist Team-Teaching auch als flexible Differenzierung bezeichnet worden. Die Flexibilität bezieht sich auf vier Gesichtspunkte:

Zum einen ist eine Flexibilität der Gruppen gemeint. Die Gruppen wechseln in ihrer Zusammensetzung und damit auch in ihrer Größe mitunter von Tag zu Tag, sie wechseln je nach den Sachverhalten des Lernens, den Lernbedürfnissen der Schüler, den vorhandenen Lehrern und ihrer fachlichen Kompetenz sowie den Unterrichtsmedien, die zur Verfügung stehen.

Zweitens ist eine Flexibilität der Lehrer gemeint. Der Lehrer eines Teams unterrichtet nicht eine in ihrer Zusammensetzung konstante Gruppe über einen längeren Zeitraum, sondern er wird sich auf die wechselnden Gruppierungen einstellen und auch, sofern es notwendig erscheint, in der Großgruppe unterrichten müssen für alle Kinder der Großgruppe, wie seine Team-Kollegen, pädagogisch verantwortlich sein.

Drittens geht es um eine Flexibilität der Räume. Die Team-Teaching-Organisation hat neue Formen der Schularchitektur hervorgebracht. Vor allem kommt es darauf an, daß bewegliche Wände eine Teilung des Großraums in kleinere Räume und eine Gliederung kleinerer Räume in Nischen und auf Plätze für die Kleingruppen und selbst für Einzelarbeit ermöglichen.

Viertens muß eine Flexibilität der Zeit im Team-Teaching geben sein. Es gibt keinen festen Stundenplan. Die Zeiteinheiten für unterrichtliche Aktivitäten wechseln von Tag zu Tag, aber auch je nach den Inhalten und den Gruppen, die unterrichten sind. Die Lehrer werden in der gemeinsamen Vorbereitung an einem Tag unter anderem auch die Zeiten für den Unterricht des folgenden Tages besprechen.

Ein Beispiel mit der Überschrift "Ein typischer Tag für Johnny Jones, Klasse 4" kann die Praxis des Team-Teaching veranschaulichen. Dieser Tag zeigt zugleich aber auch, warum sich die Team-Teaching-Organisation vom Ende der fünfziger und dem Anfang der sechziger Jahre in den USA überholen mußte.

"Johnny Jones ist in der Großgruppe des vierten Schuljahres der Schule in Norwalk. Er und seine siebzig Klassenkammeraden haben zwei Lehrer und eine Hilfskraft. (In der Regel hätten sie drei separate Klassenräume mit jeweils einem Lehrer.) Nachdem er an einem Tag in die Schule gekommen ist, geht er in seinen Stammraum" (homeroom), wo er ungefähr die Hälfte seiner Freunde aus der Großgruppe zu einer zehnminütigen Einführung trifft. Während der verantwortliche Lehrer - in diesem Fall der Leiter des Teams - die Tagespläne diskutiert, erstellt die Hilfskraft die Anwesenheitsliste.

Nach der Einführung begeben sich Johnny und zehn andere Kinder in den Raum der Hilfskraft, wo er etwa zwanzig andere aus anderen Stammräumen trifft. Zu dieser halbstündigen Unterrichtseinheit haben einige Kinder eine auf Tonband aufgenommene Mathematiklektion, deren Aufgaben sie auf einem Arbeitspapier ausführen, während andere unabhängig arbeiten. Johnnys achtköpfige Gruppe hat eine Tonbandlektion in Phonetik.

Nach dem Ende dieser Lektion geht Johnny, der Schwierigkeiten im Lesen hat, in einen anderen Raum ,wo er zwölf andere Kinder trifft, die alle ein Jahr niedriger als ihre Jahrgangsstufe im Lesen sind. Nur diese zwölf Kinder sind in dem Raum, so daß keine störenden Geräusche der Aktivitäten die Lektion unterbrechen können.

Am Ende dieser Unterrichtseinheit trifft Johnny, der in Mathematik auf dem Niveau seiner Altersstufe ist, in seinem Stammraum eine andere Gruppe zu einer halben Stunde Unterricht in diesem Fach.

Es ist ein herrlicher Tag, und am Ende der Mathematiklektion gehen Johnny und die gesamte vierte Jahrgangsstufe mit einem Lehrer und der Hilfskraft auf den Spielplatz. Die Klasse wird in drei Gruppen geteilt, um Fußball (soccer) zu spielen. Das ist Johnnys Lieblingsspiel, und er ist gut darin; aber die anderen in seinem Team sind das auch, und er muß auf der Hut sein. Er bemerkt, daß das andere Team nicht so gut spielt, aber jeder spielt und scheint es zu genießen. Er erinnert sich, daß im vergangenen Jahr einige der Kinder als letzte gewählt wurden und oft zuschauten, bis der Lehrer sie zum Spiel holte.

Viel zu schnell ist das Spiel vorüber, und jeder geht zurück in seinen Stammraum. Hier werden sie angewiesen, ihre Füller und Kugelschreiber zu nehmen und in den Mehrzweckraum zu gehen. Als sie den Raum betreten, finden sie Tische und Stühle für die Großgruppe vor. An jedem Platz ist eine Umrißkarte von Nord- und Südamerika. Ein Lehrer steht im vorderen Teil des Raumes neben einem Overheadprojektor. Sobald sich alle gesetzt haben, verläßt eine Lehrerin den Raum. Johnny denkt, daß sie möglicherweise geht, um sich um die auf Band aufzunehmende Lektion des folgenden Tages zu kümmern. Er hatte ihre Stimme früher am Tage in einer aufgenommenen Phonetiklektion gehört. Eine halbe Stunde lang hören Johnny und seine Kameraden aus der Großgruppe ihrem Lehrer zu, der Landschaftsformen erklärt und das Transparentbild einer Landkarte benutzt. Es ist interessant zu sehen, wie der Lehrer auf die Landkarte schreibt; alles ist klar zu sehen, wenn es auf der Leinwand erscheint. Darum ist es für die Kinder einfach, Eintragungen in ihre eigenen Landkarten auf dem Tisch vor ihnen vorzunehmen.

Nach diesem Sozialkundeunterricht kehrt Johnny in seinen Stammraum zurück, wo einer der Lehrer die Schreibweise der Wörter der Woche darstellt. Nach dem Mittagessen hat Johnny noch eine Lesestunde. Seine Gruppe liest mit dem Lehrer zweimal täglich. Nach dem Lesen kehrt Johnny in den Mehrzweckraum zurück zum Schreiben. Wieder wird der Overheadprojektor vom Lehrer gebraucht, und die Hilfskraft hilft, in dem sie herumgeht zu den verschiedenen Gruppen, um zu überprüfen, daß jeder den Anweisungen folgt.

Der andere Lehrer, der Team-Leiter, hat vermutlich eine gleichzeitig stattfindende Konferenz oder macht sich für eine andere Gruppe fertig, überlegt sich Johnny.

Die nächste Stunde dien t der Sprache, und die Klasse wird auf drei Räume verteilt. Durch die offene Tür in dem Arbeitsraum kann Johnny sehen, daß einige Kinder einem Tonband zuhören, während andere schriftliche Übungen ausführen. Die Hilfskraft tippt an ihrem Tisch. Johnny, in einer kleinen Gruppe von zehn, arbeitet mit dem Team-Leiter mündliche Berichte aus. Er weiß, daß einige seiner Kameraden Geschichten schreiben und daß ihnen von dem anderen Lehrer geholfen wird.

Während der naturwissenschaftlichen Unterweisung sind alle Kinder wieder zusammen. Mehrere Tage lang haben die Kinder in verschiedenen Gruppen gearbeitet.

Johnny berichtet der gesamten Klasse. Sein Lehrer hat ihm gezeigt, wie man den Overheadprojektor bedient, und er ist sehr gut vorbereitet. Nach seinem kurzen Bericht erzählt der Lehrer mehr über Vulkane und stellt dann einige Fragen, die die Kinder auf den Arbeitsblättern vor ihnen beantworten.

Die letzte Unterrichtsveranstaltung des Tages ist Musik. Der Team-Leiter ist für die Großgruppe verantwortlich, und alle Kinder sind zusammen. Einige Zeit verbringen sie, indem sie Noten schreiben, aber die meiste Zeit verbringen sie singend.

Die Kinder kehren in ihre Stammräume zurück, wo sie die Pläne für den nächsten Tag besprechen und überlegen, ob sie irgendwelches Material für ihre Hausarbeit benötigen. Kurz bevor sie entlassen werden, verteilt die Hilfskraft Informationsblätter."[62]

Johnny Jones dürfte etwa neun oder zehn Jahre alt sein. Er gehört demnach noch einer Altersstufe an, die hierzulande die Grundschule besucht. Deshalb braucht man sich nur noch einmal die Konstanten Innerer Differenzierung ins Bewußtsein zu rufen, die wir formuliert haben, um kritikfähig gegenüber der beschriebenen Praxis zu werden. Johnny ist nicht nur zu einem ständigen Wechsel seiner Aktivitäten genötigt, sondern er ist auch einem ständigen Wechsel in der Zusammensetzung der Gruppen ausgesetzt, in denen er lernt, und auch der Wechsel in den Räumlichkeiten, in denen die schulischen Aktivitäten stattfinden, ist über Gebühr groß. Die Irrwege einer solchen Organisationsform führten in der Bundesrepublik wenigstens in Ansätzen zum Zwei-Lehrer-System (vgl. 3.2.7), das als realistische Variante des Team-Teaching angesehen werden kann, und zum Team-Kleingruppen-Modell, das in den letzten Jahren an einigen Gesamtschulen verbreitet worden ist. Es handelt sich dabei um eine Differenzierungsform (vorläufig) in den Klassen fünf, sechs und sieben, in der ein Lehrerteam den Unterricht mehrerer Klassen verantwortet, die eine administrativ selbständige Einheit in einer Schule bilden; die vorherrschende Unterrichtsform in den Klassen ist die Gruppenarbeit.

Im Unterschied zum Team-Teaching gibt es im Team-Kleingruppen-Modell kaum die Form des Großgruppenunterrichts. Der Akzent liegt vielmehr auf der Arbeit in den Kleingruppen, die jeweils vier bis acht Schüler umfassen. Diese Kleingruppen sollen vom Leistungsvermögen der Schüler her gesehen heterogen sein, und das gegenseitige Helfen der Schüler sollte in ihnen Grundprinzip sein. In ihrer Zusammensetzung sollten die Kleingruppen über einen längeren Zeitraum stabil bleiben, und in ihnen sollte aller Unterricht ohne Fachleistungsdifferenzierung stattfinden. Für die Schüler jeder Kleingruppe ist ein Lehrer als Tutor zuständig. Das Team von etwa sechs Lehrern, das der administrativen Einheit mehrerer Klassen zugeordnet ist, sollte nach Möglichkeit den gesamten Unterricht verantworten. Dadurch wird es mitunter vorkommen, daß Lehrer fachfremd eingesetzt werden, also andere Fächer zu unterrichten haben als von ihnen studiert worden sind. Das Lehrerteam findet sich nach Möglichkeit freiwillig zusammen. Es käme dieser Differenzierungsform nicht entgegen, wenn die Schulleitung oder eine Behörde die Lehrer in ein Team delegierte.

Das Lehrerteam der organisatorischen und administrativen Einheit versucht nach Möglichkeit allen Unterricht zu organisieren und auch alle auftretenden Probleme zu lösen. Ist zum Beispiel ein Lehrer krank, so regelt das Lehrerteam den Vertretungsunterricht, ohne daß das Stundenplangefüge einer ganzen Schule beeinträchtigt wird. Selbst Elterngespräche und Elternaktivitäten werden im Rahmen der administrativen Einheit auf der Ebene der Kleingruppen durchgeführt. Drei Mängel des Unterrichts nach dem Übergang der Schüler von der Grundschule in die Sekundarstufe I und des Fachlehrersystems sollen durch das Team-Kleingruppen-Modell vermieden werden:

  • Das Lernen der Schüler sollte nicht durch Konkurrenz und Egozentrismus, sondern durch gegenseitiges Helfen bestimmt sein.

  • Die Schüler sollten es nicht mit vielen Fachlehrern, aber auch, nicht nur mit einem Klassenlehrer zu tun haben.

  • Die Lehrer sollten nicht in vielen Klassen und damit viele Schüler unterrichten, aber auch nicht wie in der Grundschule als Klassenlehrer allen Unterricht einer Klasse verantworten, sondern in einer überschaubaren Gruppe von Schülern engagiert sein.

Das Team-Kleingruppen-Modell ist eine differenzierende Organisationsform des Unterrichts, durch die den Schüler Übergang aus der Atmosphäre der Grundschule in den stärker fachlich orientierten Unterricht der Sekundarstufe erleichtert wird. Es eignet sich vor allem aber auch für die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern im Unterricht, weil es bewußt auf die Heterogenität in der Zusammensetzung der Gruppen zugeht und das gegenseitige Helfen zum Prinzip erhebt.



[42] Gehard Klein: Die Frühförderung potentiell lernbehinderter Kinder. In: Deutscher Bildungsrat (Hg.): Behindertenstatistik - Früherkennung - Frühförderung. Stuttgart: Klett 1973, S. 156 (Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 25)

[43] Vgl. Jakob Muth/Wilhelm Topsch: Schulkliniken in Schweden - Ein Modell für die Förderung lernschwacher Kinder. In: Sonderpädagogik, 2. Jg. (1972), Heft 3, S. 117-124

[44] Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule - Schulversuch in Nordreihn-Westfalen. Ratingen/Düsseldorf: Verlag Henn 1969, vgl. S. 13ff.

[45] Dieter Bremer: Individualisierung und Differenzierung. Köln 1978, S. 61f. (Fernstudienlehrgang Sport für Grundschullehrer, Studienbrief 7)

[46] Hildegard Bergmann: Die Bildungschance des jungen Patienten. Beiträge zum Thema Krankenhausschule. Rheinstetten: Schindele 1980, S. 31f.

[47] Vgl. dazu Jakob Muth: Von acht bis eins. Situationen aus dem Schulalltag und ihre didaktische Dimension. 3. Auflage Essen: Neue Deutsche Schule 1970, bes. das Kapitel: Lernen als Erschließen von Möglichkeiten, S. 80ff.

[48] Wolfgang Klafki/Hermann Stöcker: Innere Differenzierung des Unterrichts, In: Zeitschrift für Pädagogik, 22. Jg. (1976), S. 515

[49] Rolf Winkeler: Differenzierung. Funktionen, Formen und Probleme. Ravensburg: Maier 1975, S. 45 (Workshop Schulpädagogik 14)

[50] Jutta Wallerich: Integration eines blinden Kindes in eine allgemeine Grundschule. Unveröff. Examensarbeit an der Universität Bochum, 1983, S. 53f.

[51] H. Elsner: Jeder hat das Recht, er selbst zu sein - Montessori - Schule. In: Ilse Lichtenstein-Rother (Hg.): Jedem Kind seine Chance. Individuelle Förderung in der Schule. Freiburg: Herder 1980, S. 19

[52] Vgl. Norbert Stoellger: Erfahrungen mit dem Zwei-Pädagogen-System im gemeinsamen Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder. In: Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen. Essen: Neue Deutsche Schule 1982, S. 43-52

[53] Ebenda, S. 49

[54] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn 1973, S. 133

[55] Ebenda, S. 83

[56] Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig. Der Verfasser war in der fraglichen Zeit in Nordrhein-Westfalen Vorsitzender der Kommission, die neue Richtlinien für die Grundschule entwickelt hat - sie wurden 1973 verbindlich -, und im Deutschen Bildungsrat Vorsitzender des Ausschusses Sonderpädagogik, der die Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung Behinderter" erarbeitet hat, die 1973 den Regierungen von Bund und Ländern übergeben wurde.

[57] Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordreihn-Westfalen. Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf: Henn 1973, S. 15

[58] Alfred Sander: Fördermaßnahmen. In: Herwig Baier/Ulrich Bleidick (Hg.): Handbuch der Lernbehindertendidaktik. Stuttgart: Kohlhammer 1983, S. 105

[59] Die Darstellung der Praxis der schwedischen Schulkliniken fußt auf einem Aufsatz, den der Verfasser gemeinsam mit seinem damaligen Mitarbeiter Wilhelm Topsch nach einem Studienaufenthalt in Schweden geschrieben hat (vgl. Anm. 2 dieses Kapitels). Der Text dieses Aufsatzes ist teilweise wörtlich in die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates übernommen worden.

[60] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter ... S. 83f. - Für die folgende Darstellung der Förderkurse vgl. den Abschnitt 5.82 "Förderkurse an Grund- und Hauptschulen oder den entsprechenden Schulstufen der Gesamtschulen" , S. 83-87

[61] Kultusminister Nordrhein-Westfalen: Richtlinien für die Differenzierung in der Sekundarstufe I der Gesamtschule. RdErl. des Kultusministers vom 25.6.1976

[62] Eigene Übersetzung aus: Ohne Verfasser: The Norwalk Plan. Norwalk/Connecticut 1960

4. Zur Ausbreitung integrativer Schulen in der Bundesrepublik

4.1 Anlässe für das Entstehen integrativer Schulen

Als der Deutsche Bildungsrat im Jahre 1973 seine integrative Empfehlung herausbrachte, konnte er sich auf einige wenige bestehende integrative Schulen berufen, durch die das, was er vorschlug, nicht als Illusion erschien. Noch vor der abschließenden Arbeit an der Empfehlung hatte er Lehrer aus diesen Schulen mit dem Text bekanntgemacht und sie zu einer Sitzung eingeladen, um ihre Kritik, ihre Ergänzungen und ihre Anregungen zu erfahren, aber auch die Möglichkeiten und Grenzen integrativer Praxis mit ihnen zu diskutieren[63] Eines der überraschenden Ergebnisse dieser Tagung war für alle Teilnehmer darin gegeben, daß die Initiativen für die Einrichtung integrativer Schulen nicht auf pädagogische oder anthropologische oder in der christlichen Tradition wurzelnde Begründungen zurückgegriffen hatten; vielleicht waren sie in ihrem beschränkten Rahmen gerade deshalb erfolgreich. Nun aber bekamen die bestehenden Schulen, in denen behinderte Schüler gemeinsam mit nichtbehinderten Schülern unterrichtet wurden, gewissermaßen nachträglich durch die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates die pädagogische und gesellschaftspolitische Legitimation für ihr Tun erbracht.

Die erste dieser Schulen war schon am Beginn der fünfziger Jahre in Hessisch-Lichtenau entstanden. In dieser nordhessischen Kleinstadt hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine orthopädische Klinik einen Standort gefunden; sie entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem Rehabilitationszentrum. Zur gleichen Zeit konstituierte sich eine Initiative engagierter Eltern, die für die Kleinstadt die Gründung eines Realgymnasiums erstrebte. "Nachdem man innerhalb des Reha-Zentrums schon bald Ausbildungsplätze für eine handwerkliche Berufsausbildung körperbehinderter Jugendlicher eingerichtet hatte, folgte der Versuch, Jugendlichen, deren Schulausbildung durch eine lange orthopädische Behandlung unterbrochen oder abgebrochen war, die Teilnahme am Unterricht des bestehenden Realgymnasiums zu ermöglichen. Die Schule, die in jener Zeit noch um ihre staatliche Anerkennung und damit um ihre Existenz bangte, nahm diesen Gedanken bereitwillig auf. So wurde im Jahre 1953 die erste körperbehinderte Schülerin probeweise aufgenommen, und obwohl die für den Besuch von Körperbehinderten notwendigen baulichen Voraussetzungen damals keineswegs gegeben waren, wurde dadurch eine Entwicklung in die Wege geleitet."[64]

Man muß sich das realistisch vorstellen: Das private Realgymnasium in Hessisch-Lichtenau bangte in den Jahren nach der Gründung um seine Existenz, weil es nicht genügend Schüler hatte. Deshalb wurde die Idee der schulischen Bildung junger Körperbehinderter aufgegriffen, die sich in der orthopädischen Klinik befanden. Die integrative Schule ist aus dem Zufall der gleichzeitigen Gründung einer Klinik und eines Realgymnasiums an einem Ort erwachsen. Zufälle müssen nicht sinnlose Ereignisse sein, die über die Menschen hereinbrechen; sie können einen Sinn gewinnen und einen Sinn haben, sofern Menschen in der Zufälligkeit positiv agieren, also das aufgreifen, was der Zufall ihnen anbietet. Ein solche Sicht mag ernüchternd wirken, weil nicht der positive sittliche Anspruch am Anfang gesehen wird. Man braucht sich aber nur vorzustellen, jene Menschen, die am Beginn der fünfziger Jahre für die Schule verantwortlich waren, hätten die Gunst der Stunde damals nicht erkannt und deshalb nicht agiert.

Im Jahre 1972 wurde das Realgymnasium um einen Realschulzug und einen Hauptschulzug, jeweils vom siebten Schülerjahrgang an, ausgeweitet. Die nun entstandene Kooperative Gesamtschule erhielt den Namen Freiherr-vom-Stein-Schule. Sie hatte zu Anfang des Jahres 1974 nicht ganz 1400 Schüler. Davon waren 116 körperbehindert. Nur zwei dieser körperbehinderten Schüler kamen nicht aus dem Reha-Zentrum[65]. Das zeigt, wie eng die schulische Integration in Hessisch-Lichtenau mit dem Reha-Zentrum verbunden ist.

Das gilt in gleicher Weise für das Leibniz-Gymnasium in Altdorf bei Nürnberg. In dieser Kleinstadt, die vom Anfang des 17. Jahrhunderts an eine Universität beherbergte, besteht seit den zwanziger Jahren ein Reha-Zentrum, das für die körperbehinderten jungen Menschen, die in ihm Aufnahme gefunden hatten, verschiedene berufliche Ausbildungsmöglichkeiten eröffnete. Auf der Suche nach neuen Wegen kam in den sechziger Jahren der Gedanke auf, "besonders begabten körperbehinderten Jugendlichen auch den Weg in eine weiterführende Schule bis zur Hochschulreife" zu ermöglichen. Von 1966 an öffnete sich das Gymnasium, und obgleich der Anstoß zur Integration von außerhalb gekommen war, wurde schon in der Anfangsphase die pädagogische Dimension der Gemeinsamkeit entdeckt. Der Leiter des Gymnasiums beschreibt sie so: "Die kleine Gruppe unserer Körperbehinderten wirkt in der Gesamtzahl unserer nunmehr rund 1200 Schüler und Schülerinnen geradezu als sozialethischer Katalysator. All die kleineren und größeren Dienstleistungen, die unsere Rehabilitanten tagtäglich von ihren Mitschülern erfahren, beweisen es. Dabei werden sie von der Jugend als Jugend, als ihres "gleichen" genommen und behandelt. Menschliche Barrieren in Form von Vorurteil, Unverstand, Ablehnung, taktloser Neugier sind gar nicht erst abzubauen; sie sind nicht vorhanden. Aber auch kein falsches Mitleid wie bei so vielen Erwachsenen kommt auf. Mitleid ist die zweite Behinderung, lautet ein Grundsatz unserer Arbeit."[66]

Vom Ende der sechziger Jahre an entstanden in München durch die Initiative von Theodor Hellbrügge, eines Professors für Pädiatrie, integrative Einrichtungen für Kinder im Kindergartenalter. Sie wurden 1970 erweitert durch die Einrichtung einer Intergrativen Grundschule. Hellbrügge schreibt selbst darüber, um zu dokumentieren, daß es sich um keine genuin pädagogische Initiative gehandelt hat: "Die integrierte Erziehung im Rahmen des Schulversuchs der Aktion Sonnenschein in München, bei dem mehrfach- und verschiedenartig behinderte Kinder gefördert werden, entsprang nicht pädagogischen Vorstellungen oder Theorien, sondern entwickelte sich ausschließlich aus der Praxis einer neuen Konzeption der Behindertenhilfe. Diese Konzeption mit Frühdiagnostik, Frühtherapie und früher sozialer Eingliederung wurde an der früheren Forschungsstelle, jetzt Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Universität München erarbeitet und konnte mit Hilfe der Aktion Sonnenschein im Münchener Kinderzentrum realisiert werden."[67]

Die Pädagogik hat im Verlaufe ihrer Geschichte in vielfältiger Weise durch Außenseiter gewichtige Impulse erfahren. Die Konzeption des Kinderzentrums in München, verbunden mit den Initiativen von Theodor Hellbrügge und seinen Erfahrungen ist ein neuerliches Beispiel dafür. Pädagogen, vor allem Sonderpädagogen, begegnen ihm mitunter mit Zurückhaltung und Skepsis. Hellbrügges pädagogisches Engagement aber ist beispielhaft, und die von ihm ins Leben gerufene Grundschule hat zum erstenmal in der Bundesrepublik den Versuch unternommen, auch geistigbehinderte Kinder in die Gemeinsamkeit aller aufzunehmen. Das wurde ermöglicht durch die Adaption der Montessori-Methode und die Ausstattung der Schule mit den entsprechenden Materialien. Hellbrügge schreibt dazu, unter Pädagogen sei in den sechziger Jahren die Montessori-Methode nur noch wenig beachtet worden. "Den Kinderarzt indessen faszinierte auf den ersten Blick diese primär medizinisch und sinnesphysiologisch induzierte Pädagogik der italienischen Ärztin und späteren Pädagogin Maria Montessori, weil auf Anhieb zu erkennen war, daß hier die Möglichkeit bestand, gesunde mit mehrfach und verschiedenartig behinderten Kindern im Kindergarten gemeinsam zu fördern und daß damit sich ein bislang nicht erkannter Weg zur Diagnostik und Therapie sozialer Behinderungen im Kleinkindalter öffnete."[68]

Die Grundschule im Münchener Kinderzentrum, die im Anschluß an den Montessori-Kindergarten mit integrativer Erziehung eingerichtet wurde, stand von 1970 an unter der Leitung von Brigitte Ockel. Sie hat 1974 unter der als Frage formulierten Überschrift: "Ist die Integration behinderter Kinder in die Grundschule möglich?" eindrucksvoll über den ersten Durchlauf einer Klasse berichtet: über die Zusammensetzung der Klasse, den Wegfall der Ziffernzensuren, die Anfänge des Zwei-Lehrer-Systems, die Einbeziehung der Eltern, die Gestaltung des Stundenplans, die Überwindung der herkömmlichen Lehrplanstruktur und all die anderen Erfahrungen einer pädagogischen Pionierarbeit, bevor sie am Ende feststellt:

"Die Integration in der Grundschule hat sich bereits als möglich und durchführbar erwiesen".[69]

Der Start einer integrativen Schule in Hamburg wird von Peter Appelhans in folgender Weise beschrieben: "Mit Beginn des Schuljahres 1970/71, am 1.4.1970, traten zwei blinde und zwei sehbehinderte Schüler in eine 7. Klasse der Heinrich-Hertz-Schule, Abt. Gymnasium ein. Sie hatten zuvor die Hamburger Blinden- und Sehbehinderten-Schule besucht und waren ein halbes Jahr lang mit Förderunterricht auf den Übergang vorbereitet worden. Bis 1977 ist die Zahl der sehgeschädigten Schüler gewachsen, seitdem bleibt sie relativ konstant zwischen dreißig und vierzig."[70]

Wie war es zu dieser Hamburger Initiative gekommen? Bleiben wir noch einen Augenblick bei dem Text von Peter Appelhans: "Die ersten Überlegungen, wie begabte sehgeschädigte Kinder und Jugendliche zur Hochschulreife geführt werden können, ohne daß sie weit entfernt vom Elternhaus eine Sonderschule für Blinde besuchen ...., wurden zwischen Lehrern angestellt: einem von der Blindheit seiner Tochter betroffenen, aber im blindenpädagogischen Bereich unerfahrenen Gymnasiallehrer und einem Blinden- und Sehbehindertenlehrer". Der von der Blindheit seiner Tochter betroffene Gymnasiallehrer war Peter Appelhans selbst. Er schloß ein Aufbaustudium der Sonderpädagogik mit der Fachrichtung Blindenpädagogik an sein Lehrerexamen an.

Bis auf den heutigen Tag sind. Initiativen zur Einrichtung integrativer Schulen von einzelnen Betroffenen ausgegangen, von Eltern vor allem, die es geschafft haben, anderen Erwachsenen, Lehrern vor allem und Politikern, die Augen für ihr Betroffen sein zu öffnen. Man mag solche Initiativen kritisch beurteilen, weil sie dazu führen können, daß der integrative Unterricht vielleicht überwiegend behinderten Kindern aus gehobenen Sozialschichten zugute kommt. Es ist sicher noch nicht bedenklich, daß sich diese Erscheinung zeigt. Bedenklich aber wäre es, wenn es so bliebe. Man muß in den erfolgreichen Initiativen von Betroffenen die pressure-groups für die Ausbreitung der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten in den Schulen sehen. Sie helfen mit, die Idee der Integration als Menschen recht im Bewußtsein der Menschen unserer demokratisch verfaßten Gesellschaft zu stabilisieren.

Die Initiative des betroffenen Vaters Peter Appelhans in Hamburg führte über sein eigenes blindes Kind und über Hamburg weit hinaus zur Integration von blinden und sehbehinderten Schülern in der Bundesrepublik; es ist nicht übertrieben zu sagen, daß die Aufnahme blinder und sehbehinderter Kinder in allgemeine Schulen heute schon nicht mehr die Ausnahme von der Regel ist. Margrita Appelhans schrieb 1981, nach achtjähriger Schulzeit an der Heinrich-Hertz-Schule als eine von einunddreißig Blinden und Sehbehinderten unter den 1500 Nichtbehinderten: "Ich bin froh, daß ich nicht isoliert von der Welt der Sehenden unterrichtet werde, obwohl es auch eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gibt." Und für die Seite der Sehenden sagt sie: "Viele Nichtbehinderte stecken noch voll von Vorurteilen und sind dazu geneigt, jeden einzelnen Blinden oder Sehbehinderten in das Klischee des "Blinden" oder des "Sehbehinderten" zu pressen. Da es aber den "Blinden" und den "Sehbehinderten" nicht gibt, sondern auch Blinde und Sehbehinderte individuell verschiedene Menschen sind, hat die Umwelt mit jedem Sehgeschädigten ihre besonderen Probleme und der Sehgeschädigte mit ihr."[71]

Die profilierte Sicht der Individualität auch des Blinden, wie sie das Zitat zum Ausdruck bringt kann den Sehenden am besten in der Gemeinsamkeit vom frühen Alter an gelernt werden. Margrita Appelhans bezieht deshalb in das, was sie sagt, die Behinderten und die Nichtbehinderten in gleicher Weise ein. Überall, wo in der Diskussion um die Integration nur eine Seite gesehen wird, kommt die Gefahr auf, daß die andere Seite zum Mittel der Zwecke einer Seite denaturiert.

Unter den beispielhaften Initiativen, die bald nach der Veröffentlichung der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates aufkamen, nimmt die Fläming-Grundschule in Berlin einen hervorragenden Platz ein. Sie nahm von 1975 an behinderte Kinder auf. Der Ursprung dieser Schule geht aber auch auf den Beginn der siebziger Jahre zurück, und zwar auf Gruppen im Vorschulalter, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam gefördert wurden. Im Berlin dieser Jahre hatte der Niedergang der sogenannten "Kinderläden" begonnen, die als pädagogische Äußerungsformen außerparlamentarischer Opposition entstanden waren. "Manche der Kinderläden, die diese Auflösungsphase als Institution überdauerten, und auch viele aus der Elterngeneration, die jene Gruppen einst mitgegründet hatten, suchten der inhaltlichen Erosion dadurch entgegenzuwirken, daß sie ihre Kinderläden für soziale Problembereiche sensibilisierten, derer sich staatliche Einrichtungen nicht nur unzureichend annahmen"[72]

In diesem Kontext entstanden in Berlin-Friedenau im Jahre 1972 die "Therapeutischen Eltern-Kinder-Gruppen". Jörg R. Mettke hat die Entwicklung dokumentiert, die damit begann, daß sich Eltern zu einer Gruppeninitiative zusammenschlossen. "Wichtige Starthilfe bei diesem Projekt leistete der Facharzt für Kinderkrankheiten Dr. B. Karimi, der sich auf die "Früherfassung und Frühbehandlung cerebral bewegungsgestörter Kinder" spezialisiert und ein gleichnamiges Behandlungszentrum als eingetragenen Verein gegründet hatte. Aus Diskussionen zwischen Eltern, deren Kinder in diesem Zentrum therapeutisch versorgt wurden, und solchen, die ihre nichtbehinderten Kinder in die Karimi-Praxis brachten, erwuchs rasch die Einsicht, daß eine krankengymnastische Betreuung behinderter Kinder allein für deren Rehabilitation wie als Hilfe für die betroffenen Eltern in keiner Weise ausreichend sein konnte." (S. 32)

Im März 1972 fanden Vorstandswahlen in der Elterninitiative statt. Im April nahmen zwei integrative Kindergruppen ihre Arbeit auf, in denen jeweils vier behinderte und drei nichtbehinderte Kinder gemeinsam gefördert wurden. Im Mai wurde der Berliner Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport mit der Absicht, finanzielle Unterstützung zu erwirken, ein Konzept über "Therapeutische Eltern-Kind-Gruppen zur Rehabilitation cerebral bewegungsgestörter Kinder" übergeben, in dem der Gedanke der Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern ausdrücklich formuliert ist: "Behinderte Kinder sollen mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam erzogen werden. Diese Erziehung sollte in Eltern-Kind-Gruppen stattfinden, wo die Eltern behinderter Kinder ihre Probleme gemeinsam mit den Eltern nichtbehinderter Kinder besprechen und anpacken. Dadurch soll verhindert werden, daß die behinderten Kinder in einer Ghettosituation aufwachsen, die mit einiger Sicherheit schädliche Folgen für ihre weitere Entwicklung mit sich bringt." (S. 33)

Vom Beginn des Jahres 1975 an, das war die Zeit, in der Kinder aus der ersten Eltern-Kind-Gruppe schulpflichtig wurden, kam in der Friedenauer Initiative das Bestreben einer Überführung der Kinder in die allgemeine Grundschule auf. Erlaubt wurde von der Schulverwaltung allerdings nur ein Vorschuljahr. Erst 1976 wurde die Genehmigung eines integrativen Zuges an der Fläming-Grundschule ausgesprochen. Ihre Existenz und die Beispielhaftigkeit ihrer Arbeit hat sich vom Beginn der achtziger Jahre an auf eine größere Zahl von Schulen ausgewirkt, die dem Gedanken der Integration näher getreten sind. Über die Bedeutung der Fläming-Grundschule für die Ausbreitung der Integration in Schulen der Bundesrepublik wird eines Tages noch zu arbeiten sein. Die nicht auf äußere Wirkung zielende pädagogische Arbeit des Kollegiums und seine Kooperation mit der zurückhaltend agierenden wissenschaftlichen Begleitung sind die entscheidenden Komponenten in diesem Felde. Den eigentlichen Anlaß für die Entstehung dieser Schule faßt Jörg R. Mettke in dem Satz zusammen: "Die Bedeutung der Eltern-Arbeit für die schulische Integration an der Fläming-Schule war konkret die, daß es ohne sie das Projekt nicht gäbe." (S. 38)

4.2 Konzeptionelle Varianten integrativer Schulen

Der Deutsche Bildungsrat hatte 1973 in seiner Empfehlung die Konzeption Kooperativer Schulzentren für die Integration behinderter Schüler in die allgemeine Schule vorgestellt. Behinderte einer Behinderungsart sollten, in einer Sonderschule oder sonderpädagogischen Einheit zusammengefaßt, mit einer allgemeinen Schule in eine Kooperation gebracht werden. Ein entscheidender Mangel dieser Konzeption war darin gegeben, daß sie von der Struktur des bestehenden Sonderschulwesens her gedacht war. Eine Realisierung der Empfehlung hätte im Endzustand Kooperative Schulzentren als Sonderschulen für Lernbehinderte, Schwerhörige und all die anderen Behinderungsarten hervorgebracht. Beispielsweise sollte die Schule für Körperbehinderte in einem Kooperativen Schulzentrum mit einer allgemeinen Schule verbunden werden. Allein schon die konzeptionelle Vorstellung läßt erkennen, ohne daß es offen ausgesprochen wurde, daß bei der allgemeinen Schule an eine Gesamtschule gedacht war. Die Einzugsbereiche der beiden Systeme hätten sich nicht gedeckt. Zur weitgehenden schulischen Integration behinderter Kinder hätte es, geht man von der Größenordnung heutiger Schulen für Körperbehinderte aus, den Widerspruch der Desintegration aus den Wohn- und Sozialisationsbereichen geben müssen. Überhaupt war an eine Realisierung der Konzeption kaum zu denken, weil vorhandene Baukapazitäten nicht einfach aufgegeben werden konnten. Es verwundert deshalb nicht, daß sich eine ganze Reihe von Varianten für die Integration von Behinderten herausgebildet haben, von denen die einen der Konzeption des Deutschen Bildungsrates näher, die anderen ferner stehen, die sich der integrativen Idee der Empfehlung aber doch alle verbunden wissen.

4.2.1 Schulen, die durch differenzierenden Unterricht die Zahl der Überweisungen in Sonderschulen senken

Viele Schulen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Zahl der Überweisungen in Sonderschulen zu reduzieren. Das ist ein Ziel, was die Unterstützung der Schulverwaltungen finden kann, und da seine Verwirklichung die Existenz der Sonderschulen nicht in Frage stellt, können sich auch Sonderpädagogen damit anfreunden, obwohl sich gleichsam als Nebenwirkung die problematische Erscheinung zeigt, daß von Behinderung bedrohte oder auch behinderte Kinder in den allgemeinen Schulen mitunter nicht die Förderung und Therapie erfahren, die sie haben müßten. Dieser Nebenwirkung ließe sich begegnen, wenn die sonderpädagogische Qualifikation künftig nicht auf das Lehramt an der Sonderschule beschränkt bliebe, sondern sich auf behinderte Kinder unabhängig von Schulformen richtete, die sie besuchen. Dahin wird die Entwicklung in den nächsten Jahren gehen.

Der Rückgang der Überweisungen, am Beispiel der Schule für Lernbehinderte im Lande Nordrhein-Westfalen gezeigt, stellt sich folgendermaßen dar: Im Februar 1972/73 wurden in diesem Bundesland 17.140 Kinder aus der Grundschule in die Schule für Lernbehinderte überwiesen, im Schuljahr 1980/81 waren es nur noch 7.634. Oder: Die Zahl der Schüler in Schulen für Lernbehinderte betrug in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1975 rund 97.000. Im Jahre 1983 waren es nur noch 61.000.[73] Dieser gravierende Rückgang der Zahl lernbehinderter Schüler in der Sonderschule hat freilich verschiedene Ursachen: Der Geburtenrückgang und damit der Rückgang der Schülerzahlen insgesamt spielt dabei eine Rolle. Davon mitverursacht wurden niedrigere Klassenfrequenzen in den Schulen. Sie haben dazu geführt, daß sich Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht stärker dem einzelnen Kind zuwenden können als es bei größeren Klassenstärken noch vor wenigen Jahren der Fall war. Schließlich hat sich das pädagogische Bewußtsein der Lehrer deutlich verändert: Lehrer sind heute eher bereit, behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder in ihren Klassen zu behalten, sich um sie zu bemühen und nicht an Sonderschulen abzugeben. Gegenüber dieser Bewußtseinsveränderung wirkt es wie eine Äußerlichkeit, wenn auch auf die Schülerzahlen hingewiesen wird, die die Existenz einer Grundschule sichern. Freilich mag in Einzelfällen auch eine solche Äußerlichkeit für die Nichtüberweisung eines Kindes entscheidend gewesen sein.

Vor allem aber dürfte es in den Grundschulen, aus denen die überwiegende Zahl der Schüler der Schule für Lernbehinderte überwiesen wurde und wird, der differenzierende und individualisierende Unterricht gewesen sein, der die Zahl der Überweisungen überproportional zurückgehen ließ. Gemeint sind hier in erster Linie die Möglichkeiten der Inneren Differenzierung des Unterrichts, aber auch Fördermaßnahmen in der Art, wie sie der Deutsche Bildungsrat vorgeschlagen hat; es gibt heute kein Bundesland in der Bundesrepublik, das in seinen Vorgaben für die Schulordnung oder die Schulverwaltung oder in Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschule keine besonderen Fördermaßnahmen vorsieht. Die Breite und Intesität der Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts wiederum ist abhängig vom pädagogischen Bewußtsein der Lehrer. Als Organisationsformen des Unterrichts werden Differenzierung und Individualisierung über ihren formalen Charakter hinausgeführt durch das pädagogische Bewußtsein, das sie inhaltlich ausfüllt und ihren Sinnhorizont erschließt. Über die weitere Veränderung des Bewußtseins der Lehrer wird deshalb die Zahl der Schulen größer werden, in denen durch differenzierenden Unterricht die Zahl der Überweisungen in Sonderschulen zurückgeht.

4 2.2 Schulen, die einzelne behinderte Schüler aufnehmen

in den letzten Jahren haben allgemeine Schulen in größerer Zahl begonnen, einzelne behinderte Kinder aufzunehmen oder zu behalten, also nicht in Sonderschulen zu überweisen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn immer noch stehen einer solchen neuerlichen Realität die separierenden Tendenzen der Verlautbarungen der Kultusministerkonferenz aus den Jahren 1960 und 1972 entgegen. Aber im Verlaufe der siebziger Jahre hat eine Veränderung des Bewußtseins bei Eltern und Lehrern und überhaupt in der Öffentlichkeit begonnen, die auf eine stärkere Gemeinsamkeit in den Schulen gerichtet ist als in der Vergangenheit. Über die zunehmende Zahl behinderter Kinder, die noch vor wenigen Jahren in Sonderschulen unterrichtet und gefördert worden wären, nun aber in allgemeinen Schulen verbleiben, gibt es keine Erhebungen, die exakten Aufschluß geben könnten. Aber Aussagen über partielle Bereiche liegen vor. Armin Löwe zum Beispiel ist in einer neueren Untersuchung dem Unterrichtserfolg von mehr als dreihundert schwerhörigen und gehörlosen Kindern nachgegangen, die in der Bundesrepublik und der Schweiz in allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Löwe ist sich darüber im klaren, daß die wirkliche Zahl noch viel höher liegt. In differenzierten Befragungen ergibt sich bei den Beteiligten im ganzen eine positive Bewertung der Gemeinsamkeit.[74] Das mag überraschen, denn wegen der Bedeutung der Sprache für die Kommunikation und der Abhängigkeit der Sprache vom Hörvermögen stellen sich bei der Integration gehörloser und schwerhöriger Kinder in den allgemeinen Unterricht größere Probleme als bei anderen Behindertenarten. Natürlich stellt jedes behinderte Kind, das gemeinsam mit anderen im allgemeinen Unterricht gefördert wird, eine pädagogische Herausforderung besonderer Art dar. Und man darf nicht verkennen, daß ein Lehrer, der von sich aus ein behindertes Kind in seinen Unterricht aufnimmt, viel eher zu positiven Ergebnissen kommen kann als ein anderer, der dazu vielleicht durch die Schulaufsicht aufgefordert wird oder werden muß. - Schon am Beginn des Schuljahres 1978/79 hatte Ursula Haupt die Anzahl körperbehinderter Kinder an den allgemeinen Schulen des Landes Rheinland-Pfalz erhoben. Allein für die dritten und vierten Klassen der Grundschulen dieses Landes wurden ihr 106 körperbehinderte Kinder genannt.[75] Das dürfte in anderen Bundesländern nicht anders sein. Schätzungen gehen dahin, daß sich heutzutage um die Hälfte der körperbehinderten Kinder nicht in Sonderschulen befinden. Feststellbar ist in der Tat, daß sich in den letzten Jahren die Population der Schüler in den Schulen für Körperbehinderte hinsichtlich der Schweregrade der Behinderung erheblich verändert hat.

Das läßt sich verallgemeinernd auch für andere Formen des Sonderschulwesens feststellen. Die behinderten Kinder in Sonderschulen der Gegenwart sind schwerer behindert als noch vor wenigen Jahren, weil sich die allgemeinen Schulen aufnahmebereiter zeigen. Inzwischen gibt es nämlich behinderte Kinder jedweder Behinderungsart in allgemeinen Schulen. Das gilt selbst für geistigbehinderte Kinder. Steht der Leiter einer Grundschule in einer ländlichen Region beispielsweise vor der Frage, ob er ein Kind mit Down-Syndrom aufnehmen soll, damit dem Kind täglich die 52 Kilometer Hinweg zur nächsten Schule für Geistigbehinderte und die 52 Kilometer Rückweg ins Elternhaus erspart werden können, so ist er pädagogisch auf einem guten Wege, wenn er seine Schule für dieses Kind öffnet und die entsprechenden Bedingungen für seine Unterrichtung gemeinsam mit den anderen Kindern des Dorfes bereitet. Schulaufsicht und Schulverwaltung müssen in den nächsten Jahren mit dafür Sorge tragen, daß für einzelne behinderte Kinder in den allgemeinen Schulen die sachlichen und personellen Hilfen bereitgestellt werden, deren sie auch in speziellen Sonderschulen teilhaftig werden. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es die finanzielle Zuständigkeit der sogenannten Landschaftsverbände für Sonderschulen. Es muß in Zukunft möglich werden, daß diese Zuständigkeit auf behinderte Kinder in allgemeinen Schulen ausgedehnt wird. Gegebenenfalls müßte es analog zu den Sonderschul-Aufnahme-Verfahren rechtswirksame Feststellungen der Behinderungen und des Behinderungsgrades geben, die behinderungsspezifische Hilfen, sachliche Ausrüstungen und selbst personelle Ausstattungen in allgemeinen Schulen für die in ihnen mitunterrichteten behinderten Schüler sicherstellen.

Wir sind auf dem Wege dahin, denn inzwischen beginnt eine neue Orientierung auch in einzelnen Schulverwaltungen. Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen beispielsweise hat in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Landtag 1985 unter anderem festgestellt: "Es entspricht dem Ziel der Integrationsbemühungen, Schülern, die mit zusätzlicher sonderpädagogischer Hilfe trotz der Schwere ihrer Behinderung in der allgemeinen Schule gefördert werden können, den gemeinsamen Schulbesuch mit ihren Nachbarskindern zu ermöglichen."[76] Und der Kultusminister des Saarlandes geht davon aus, daß vom Schuljahr 1986/87 an die behinderten Kinder soweit als möglich in die Grundschulen aufgenommen werden.

Daraus wird sich so etwas wie ein Seitendruck auf andere Schulverwaltungen, andere Bundesländer ergeben, dem sie sich auf die Dauer nicht entziehen können. Darin zeigt sich der positive Sinn des Kulturförderalismus in der Bundesrepublik.

4.2.3 Schulen, die Behinderte einer Behinderungsart aufnehmen

Vom Beginn der integrativen Entwicklung an gibt es Schulen, die Behinderte einer Behinderungsart aufnehmen. In Hessisch-Lichtenau und Altdorf bei Nürnberg sind es Körperbehinderte, an der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg sind es Blinde und Sehbehinderte. Im wesentlichen ist es in der weiteren Ausbreitung dieser Variante integrativer Schulen bei diesen drei Behinderungsarten geblieben, und es handelt sich, von Ausnahmen abgesehen, um Schulen des Sekundarbereichs. Eine solche Ausnahme ist beispielsweise die Montessori-Grundschule in Krefeld in der Trägerschaft des Bischofs von Aachen. Sie integriert körperbehinderte Kinder und ist gewissermaßen das schulische Kernstück eines pädagogischen Systems, dem ein integrierter Kindergarten vorgelagert ist, der ebenfalls körperbehinderte Kinder aufnimmt, und auf das eine integrierte Gesamtschule für den Bereich der Sekundarstufe I folgt. Diese Gesamtschule nimmt körperbehinderte Kinder auf, die voraussichtlich einen der Abschlüsse der Sekundarstufe I oder die Fachhochschulreife oder das Abitur erreichen können. An die Sekundarstufe I schließt sich nämlich eine integrative gymnasiale Oberstufe an.[77] Das ist überhaupt eine der Bedingungen zumindest in den derzeit bestehenden integrativen Schulen, die behinderte Schüler einer Behinderungsart aufnehmen: die Behinderten sollen voraussichtlich das Ziel der jeweiligen Schule erreichen, sie sollen, wie es in Krefeld ausgedrückt wird, "normalbegabte körperbehinderte Schüler" sein.

In der Nachbarschaft einiger Schulen dieses Typs liegen Sonderschulen der Behinderungsart, für die auch die betreffende allgemeine Schule offen ist. So hat sich beispielsweise das Nord-Ost-Gymnasium in Essen vom Ende der siebziger Jahre an in Kooperation mit einer benachbart liegenden Schule für Körperbehinderte auf körperbehinderte Schüler eingestellt, die am gymnasialen Unterricht teilnehmen können. Und schließlich läßt sich, auch wiederum nur als ein Beispiel unter anderen, auf das Conrad-von-Soest-Gymnasium in Soest hinweisen, das Blinde und Sehbehinderte aufnimmt, die möglicherweise zum Abitur geführt werden können. Einzelne blinde Schüler dieses Gymnasiums kommen aus allgemeinen Grundschulen. Die größere Zahl der blinden und sehbehinderten Kinder aber wird aus der benachbart liegenden Blindenschule übernommen, die in Kooperation mit dem Gymnasium arbeitet. Das Zusammenspiel zwischen Sonderschulen und allgemeinen Schulen, wie es in dieser dritten Variante gegeben ist, erinnert am stärksten an die Kooperativen Schulzentren, die der Deutsche Bildungsrat vorgeschlagen hatte, wenngleich die in der Empfehlung beschriebenen Organisationsformen des Unterrichts nicht bis ins Detail verfolgt werden. In jedem Falle aber handelt es sich um einen Verbund von allgemeiner Schule und einer sonderpädagogischen Einheit, also einer Sonderschule für eine Behinderungsart. Durch die Kooperation und die jahrelange reflektierte Erfahrung entwickelt sich in diesen Schulen eine sonderpädagogische und "integrative" Kompetenz, die in der weiteren Ausbreitung des Integrationsgedankens anderen Schulen zugute kommen kann. So ist es durchaus konsequent, daß das Gymnasium in Soest begonnen hat, blinde Schüler an Gymnasien abzugeben, die in der Nähe der Elternhäuser der betreffenden Schüler liegen. In diesen Fällen übernimmt es die Beratung der Lehrer, der Eltern, aber auch der Schüler, und es hilft mit blindenspezifischen Unterrichtsmaterialien aus. Ebenso wichtig aber für den Erfolg der Integration wie behinderungsspezifische Hilfen und Materialien ist die Sicht des pädagogischen Bezuges als eines Verhältnisses gegenseitiger Abhängigkeit. Ein blinder Schüler einer gymnasialen Oberstufe in Bad Qeynhausen, der mit seinen Lehrern und einem blinden Mitschüler der insistierenden Frage konfrontiert war, wo im Unterricht die Probleme lägen, antwortete: Wir sagen's den Lehrern immer, wenn wir Probleme haben. Dann helfen sie uns. In dieser Äußerung zeigt sich die Abhängigkeit des Lehrens des Lehrers vom Schüler, dessen Probleme ihm bewußt werden müssen, damit er helfen, also dem Schüler über seine Abhängigkeit hinweghelfen kann. Im Lehren und Lernen von jungen Menschen, die sich in außergewöhnlichen Situationen befinden, wird deutlich, daß der pädagogische Bezug verfehlt würde, wenn Lehrer ihn als ein hierachisches Verhältnis auffaßten.

Eine weitere Ausbreitung der Schulen, die Behinderte einer Behinderungsart aufnehmen und sich darauf spezialisieren, dürfte besonders in der Sekundarstufe und auch für andere Behinderungsarten möglich sein. Die sogenannten weiterführenden Schulen haben keine Schulbezirksgrenzen, und weil die Schüler schon älter sind, spielt die Länge der Schulwege nicht mehr die Rolle wie in der Grundschule. Es hat in den letzten Jahren aber auch immer wieder Umzüge von Eltern gegeben, die ihren behinderten Kindern nahe Schulwege und dadurch den Besuch integrativer Schulen ermöglichen wollten.

4.2.4 Schulen, an denen allgemeine Pädagogen und Sonderpädagogen zusammenarbeiten

Inzwischen vermehrt sich in einer Reihe von Bundesländern die Zahl der allgemeinen Schulen, in denen allgemeine Pädagogen und Sonderpädagogen zusammenarbeiten. Die Bestimmungen lockern sich, die bisher die sonderpädagogische Qualifikation nur auf die Sonderschule beschränkt haben. Und wo eine solche Lockerung noch nicht gegeben ist, da finden Lehrer und aufgeschlossene Schulaufsichtsbeamte verschiedene Möglichkeiten "am Rande der Legalität", um den Einsatz von Sonderpädagogen an allgemeinen Schulen zu ermöglichen. Das ist an einem Ort die Abordnung eines Sonderschullehrers an eine allgemeine Schule, der aber etatmäßig bei der Sonderschule verbleibt. An einem anderen Ort ist es ein Austausch von Lehrerstunden: ein Sonderpädagoge kommt wöchentlich für zehn Stunden an eine allgemeine Schule, dafür gibt die allgemeine Schule zehn Lehrerstunden an die Sonderschule ab. An einem dritten Ort wird die allgemeine Schule durch die Behörde zu einem Schulversuch erklärt, der die Integration behinderter Schüler erprobt, weil diese besondere Aufgabe besondere Ausnahmeregelungen ermöglicht, beispielsweise auch die Beschäftigung von Sonderpädagogen.

Das Ziel dieser Arrangements ist es, die Integration in den allgemeinen Unterricht nicht zu Lasten der behinderten Kinder vorzunehmen. Die sonderpädagogische Qualifikation sollte deshalb vor allem ihnen und den von Behinderung bedrohten Kindern zuteil werden, darüber hinaus aber auch allen Kindern der allgemeinen Schule. Der Einsatz der Sonderpädagogen wird sich deshalb auf die Beratung der allgemeinen Pädagogen erstrecken, aber auch Diagnostik einschließen, soweit sie ihnen möglich ist, außerdem speziellen Unterricht in Förderkursen, und er wird auch Einzel- und Kleingruppentherapie umfassen: zum Beispiel für schwerhörige Kinder ein Artikulationstraining, für körperbehinderte Kinder eine spezifische Bewegungstherapie, für sprachbehinderte Kinder die notwenige Sprachtherapie, für blinde Kinder vielleicht ein Mobilitätstraining usf. Im Rahmen der behinderungsspezifischen Hilfe haben die Sonderpädagogen aber auch die Aufgabe:

  • individuelle Unterstützung behinderter Kinder im Unterricht der allgemeinen Klasse zu leisten,

  • für eine angemessene Sitzordnung in allgemeinen Klassen besorgt zu sein, um visuelle oder akustische Störungen auszugleichen,

  • Zusatzprogramme für die behinderten Schüler gemeinsam mit dem Klassenlehrer für Unterrichtsbereiche zu entwickeln, in denen ein behindertes Kind zusätzlicher Förderung bedarf,

  • die Einweisung der behinderten Kinder in die Handhabung von Spezialgeräten (elektrische Schreibmaschine, Brailleschreiber, Kassettenrecorder) vorzunehmen,

  • die Klassenlehrer in der Verwendung behinderungsspezifischer Materialien anzuregen und anzuleiten,

  • für die behinderten Kinder Materialien (Brailletexte, Tonbandaufnahmen u.a.) herzustellen.

Trotz der Vielfalt der Möglichkeiten des sonderpädagogischen Einsatzes bleibt festzuhalten, daß es in der Mehrzahl der Fälle, in denen derzeit Sonderpädagogen in allgemeinen Schulen tätig sind, um lernbehinderte oder verhaltensauffällige oder von diesen Behinderungsarten bedrohte Kinder geht. Das beinhaltet zugleich, daß in der Vermeidung von Überweisungen in die Sonderschule eine der wichtigen Absichten dieser Variante integrativer Konzeptionen zu sehen ist. Sie war eines der frühen Modelle integrativer Arbeit, denn schon am Ende der sechziger und am Beginn der siebziger Jahre wurde das Unbehagen an der relativ großen Zahl der Überweisungen in die Schule für Lernbehinderte spürbar. Und wo von dieser Zeit an Schulen für Verhaltensgestörte oder für Erziehungsschwierige (die Bezeichnungen dieses Schultyps differieren in den Bundesländern) neu eingerichtet wurden, da übten sie geradezu eine Sogwirkung aus. Weil es diese Schulen in einer Region gab, hatten sie bald auch eine Schülerpopulation, die ihre Existenz rechtfertigte und sicherte. W. Soetemann und A. Wormland, zwei Sonderschullehrer mit der Fachrichtung Verhaltensgestörte, haben aus solchen Gründen schon 1969 eine "Integrierte Schulische Erziehungshilfe" im Zusammenspiel mit den Schulleitungen an einer Grundschule und einer Hauptschule in einem Neubaugebiet, dem Görlinger Zentrum in Köln, konzipiert und eingerichtet. Sie gingen damals schon von dem Gedanken aus, daß die Schule ein sozialintegrativer Faktor in einem Wohngebiet sei, weshalb sie sich bemühen müsse, "pädagogisch nicht mehr vertretbare Fehlentwicklungen aufzufangen und den begrenzten Möglichkeiten der Schule, lern- und verhaltensgestörten Schülern eine optimale schulische Förderung zu geben. Hieraus entwickelte sich das Konzept einer pädagogischen Differenzierung als ein System von Fördermaßnahmen, die eine Aussonderung von Problemschülern vermeiden sollte."[78]

4.2.5 Schulen für Behinderte, die in dezentralisierter Form bestehen

In den letzten Jahren sind in einigen Regionen der Bundesrepublik dezentralisierte Schulen für Behinderte jeweils einer Behinderungsart entstanden. Verdeutlichen läßt sich diese Variante am Beispiel der Schule für Sprachbehinderte im Kreis Ennepe-Ruhr. Der Grundgedanke bei der Errichtung dieser Schule, die kein Schulgebäude, aber das ganze Kreisgebiet als Schulbezirk hat, bestand darin, daß die sprachbehinderten Kinder in der allgemeinen Grundschule ihrer Wohnbezirke oder zumindest in einer Schule ihrer Wohnumgebung verbleiben sollten. Sie werden deshalb durch ein Sonderschul-Aufnahme-Verfahren überprüft und in die Schule für Sprachbehinderte aufgenommen, aber in eine Grundschule eingewiesen. Im Schuljahr 1985/86 bestanden an sechs Grundschulen im Kreisgebiet -man könnte sagen - sonderpädagogische Einheiten für Sprachbehinderte mit speziell ausgebildeten Lehrern. Alle Sonderpädagogen zusammen bilden ein Lehrerkollegium mit einem Schulleiter. Der Sitz der Schulleitung befindet sich in einem zentral gelegenen Schulgebäude des Kreises Ennepe-Ruhr. In regelmäßigen Abständen trifft sich das Kollegium in dieser Zentrale. Es arbeitet nicht in der Art eines Ambulanzlehrersystems, weil an jeder der sechs Grundschulen je nach der Anzahl der sprachbehinderten Kinder die Sonderpädagogen fest etabliert sind. Sie therapieren und unterstützen die sprachbehinderten Kinder, sie beraten die Lehrer der allgemeinen Schulen und die Eltern. Einige dieser Grundschulen haben eine Vorklasse für sprachbehinderte Kinder, eigentlich, von der Anzahl der Kinder her gesehen, mehr eine Vorschulgruppe. Vom ersten Schuljahr an verbringen die sprachbehinderten Kinder den größeren Teil des Unterrichts in den allgemeinen Klassen der Grundschulen.

Die pädagogische Dimension eines solchen dezentralisierten Systems ist primär in der Integration sprachbehinderter Kinder in die allgemeinen Klassen und den allgemeinen Unterricht gegeben. Man muß sich das von der möglichen Alternative her vorstellen, also der für sich isoliert bestehenden Klasse für Sprachbehinderte an einer entsprechenden Sonderschule. Die Pflege der Sprache ist für das sprachbehinderte Kind immer auch Therapie. Aber wie wird Sprache in der Schule gepflegt? Ganz sicher ist eine systematische, planmäßige Spracherziehung wichtig; sie ist aber weniger effizient als der gute sprachliche Umgang, die sprachliche Atmosphäre, das gute Sprachklima einer Gruppe oder Klasse, die in der Gemeinsamkeit des Lernens verbunden ist. Werden sprachbehinderte Kinder aus einem guten sprachlichen Umgang ausgegliedert, einem Umgang also, der nicht geplant ist, sondern sich in natürlicher Weise ergibt und das Medium der Kommunikation aller ist, so können sie eigentlich im weiteren Fortgang ihrer individuellen Lerngeschichte nur beeinträchtigt werden. In speziellen Klassen für Sprachbehinderte kann das Niveau des sprachlichen Umgangs nicht so differenziert und qualifiziert sein wie in einer allgemeinen Klasse, weil die Sprachbehinderung beim einzelnen Kind immer auch eine Beeinträchtigung von Sprache ist. Die Zusammenfassung von Sprachbehinderten in einer Klasse bringt deshalb notwendigerweise den sprachlichen Umgang auf ein niedrigeres Niveau, was der Überwindung ihrer Lernschwäche entgegenwirkt, aber auch den allgemeinen Lernfortschritt des einzelnen Kindes nicht positiv beeinflußt, sondern eher hemmt. Denn die Sprache ist das Medium allen Lernens, nicht nur des Lesens und des Rechtschreibens. Von einer solchen Überlegung her wird es verständlich, daß ein dezentralisiertes System wie das für den Kreis Ennepe-Ruhr beschriebene gerade für Sprachbehinderte eingerichtet wurde. Verständlich wird aber auch, daß sich in den letzten Jahren im Lande Rheinland-Pfalz für diese Behinderungsart ein System ausgebreitet hat, das durch verstärkten Einsatz von Ambulanz-Lehrern für Sprachbehinderte gekennzeichnet ist. Es steht eigentlich zwischen einer dezentralisierten Schule für Sprachbehinderte der beschriebenen Form und der hergebrachten zentralen Schule für Kinder mit Sprachbehinderungen.

Die Bedeutung einer solchen dezentralisierten Schule kann man aber auch ermessen, wenn man sich vorstellt, es gäbe in dem weitläufigen Kreis Ennepe-Ruhr nur eine zentrale Schule für Sprachbehinderte, in die alle sprachbehinderten Kinder an jedem Tage gefahren werden müßten. Vielleicht haben die Erfahrungen, die man in diesem Kreis mit zwei zentralen Schulen für geistigbehinderte Kinder gemacht hat, dazu beigetragen, eine solche Schulstruktur nicht auch auf sprachbehinderte Kinder zu übertragen.

Dezentralisierte Systeme für Behinderte mit fest etablierten Sonderpädagogen an einer allgemeinen Schule wie im Kreis Ennepe-Ruhr oder auch ambulant an verschiedenen allgemeinen Schulen tätig werdenden Sonderpädagogen haben ganz sicher Zukunft. Beispielsweise hat das Land Schleswig-Holstein seine einzige Schule für Sehbehinderte nach diesem Strukturprinzip eingerichtet. Der Sitz dieser Schule und die Schulverwaltung befinden sich in Rendsburg. Das Kollegium der Schule arbeitet in ambulanter Weise an allen Schulen Schleswig-Holsteins, in denen sich sehbehinderte Schüler befinden. Die Praxis der Schule zeigt, daß die behinderten Schüler von Zeit zu Zeit zu Unterrichtsblöcken von mehreren Tagen zentral zusammengefaßt werden können, damit sie in behinderungsspezifische Techniken eingeführt werden und ihre Erfahrungen untereinander austauschen können. Auch in der Region Würzburg folgt eine Schule für Sehbehinderte diesem Strukturprinzip. Und im Raume von Köln therapiert, fördert und berät eine Lehrerin der dortigen Schule für Sehbehinderte seit Jahren schon in freier Initiative eine größere Anzahl sehbehinderter Schüler in allgemeinen Schulen, ohne daß ihr bisher von ihrer Schulbehörde eine Stundenermäßigung für ihre "außerordentliche" Tätigkeit zugestanden worden wäre. Hinweisen läßt sich in diesem Zusammenhang aber auch auf die Möglichkeit des Krankenhausunterrichts in denzentralisierter Form. Im Belgrad zum Beispiel gibt es für alle Kliniken in der Stadt eine Klinikschule. Ihre Leitung und Verwaltung ist in einer Villa untergebracht. Sie ist der feste Punkt, von dem aus der Lehrer des Kollegiums an jedem Tage ausfahren, um die längerfristig kranken Kinder zu unterrichten, und zu dem sie zurückkehren. Hier kann der einzelne Lehrer sich mit seinem Kollegen besprechen, kann einen anderen bitten, an seiner Stelle ein krankes Kind zu besuchen, weil er ihn für kompetenter hält, hier gewinnt er in der Kommunikation mit anderen die Sicherheit, die ihn auf sich selbst gestellt arbeiten läßt.

4.2.6. Schulen, die Behinderte jedweder Behinderungsart aufnehmen

Die erste Schule dieser besonderen Konzeption war die Flämig-Grundschule im Stadtteil, Schöneberg in Berlin. An ihr wurden gewissermaßen stellvertretend für andere die ersten Überlegungen hinsichtlich der Aufnahmekriterien behinderter Kinder in allgemeine Klassen angestellt, sie hat Möglichkeiten Innerer Differenzierung des Unterricht praktiziert, die Verbindung von Therapie in den Unterricht und überhaupt die Einbindung der Therapie in den Unterricht erprobt, an ihr wurde aber auch von Anfang an das Zwei-Lehrer (Pädagogen)-System eingeführt, und sie hat Richtwerte für Anzahl behinderter Kinder in allgemeinen Kinder in allgemeinen Klassen vorgegeben. An dieser Grundschule, die, entsprechend der Berliner Schulstruktur, sechs Jahre dauert, haben sich eine ganze Reihe anderer orientiert. Keine davon wurde eine Kopie der Flämig-Grundschule sondern jede mußte ihren eigenen individuellen Charakter finden. Schon die Ausgangslagen, die Behinderungen für den Start, differieren an den einzelnen Orten erheblich.[79]

Jede dieser Schulen ist eine Angebotsschule. Ihr Besuch ist nicht verpflichtend, und sie hat keinen festen Schulbezirk. In der Regel kann sie von Kindern einer ganzen Stadt, einen Stadtteils, oder einer Region besucht werden. Der integrative Zug der Bodelschwingh-Grundschule in Bonn-Friesdorf zum Beispiel ist für alle Kinder der Stadt Bonn zugänglich. Da führt dazu, daß mehr behinderte Kinder angemeldet werden als eine Schule aufnehmen kann, weil die Zahl der behinderten Kinder allgemeinen Klasse nicht zu groß werden sollte die Zahl der Klassen einer Schulen beschränkt ist. Deshalb müssen Kriterien für die Aufnahme festgelegt werden. Das ist nicht unproblematisch und trägt mancher dieser Schulen den Vorwurf ein, daß sie sich behinderte Kinder aussucht, um erfolgreich zu sein. Wer aber die Realität dieser Schulen in Schenefeld, Hamburg , Bremen, Borken, Köln-Höhenhaus, Mainz, Rüsselsheim oder der wo immer sie bestehen, aus eigener Anschauung kennt, der weiß, daß solche Vorwürfe nicht berechtigt sind. In fast jeder dieser Schulen werden geistigbehinderte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern gefördert, und jede dieser Schulen hat schwer mehrfachbehinderte Kinder aufgenommen. Es mag sein, daß eine Schule wegen fehlender Erfahrungen in einem Jahr ein blindes Kind, für das die Aufnahme begehrt wurde, nicht aufgenommen hat, eine andere glaubte, für ein schwerhöriges Kind nicht die nötige Kompetenz zu haben. Prinzipiell aber sind diese Schulen offen für behinderte Kinder jedweder Behinderungsart und jedweden Schweregrades von Behinderungen.

Gerade aus den Erfahrungen dieser Schulen ist die Einsicht erwachsen, daß, wo die Frage der Integration diskutiert wird, nicht von vornherein ein "harter Kern" von Behinderten definiert werden sollte, der von der Gemeinsamkeit mit Nichtbehinderten in der Schule ausgeschlossen bleiben muß. In diesen Schulen wird von der prinzipiellen Integrationsfähigkeit jedes behinderten Kindes ausgegangen und gefragt, wie die schulische Situation verändert werden muß, wie sie beschaffen sein sollte, daß ein schwerbehindertes Kind mit dieser oder jener Behinderungsart mitunterrichtet werden und am Schulleben teilnehmen kann. Statt nach der Integrationsfähigkeit der behinderten Kinder zu fragen, wird hier also nach der Integrationsfähigkeit der Schulen gefragt: damit ist unter anderem gemeint, inwieweit sie ein Schulklima hervorbringen können, um auch schwerbehinderte Kinder zu integrieren, ob die Offenheit der Lehrer und die humane Einstellung der Eltern nichtbehinderter Kinder gegeben ist, auch behinderte Kinder zu akzeptieren, inwieweit sie die personelle Kompetenz und die sachliche Ausstattung für die volle Integration der Behinderten in den allgemeinen Unterricht und die behinderungsspezifische Hilfe gewährleisten können usf.

In den letzten Jahren haben sogenannte Alternativschulen, die außerhalb des öffentlichen Schulwesens entstanden sind, einen breiten Raum in der öffentlichen und in der pädagogischen Diskussion eingenommen. Von der hohen Publizität her, die sie erreichen konnten, war ihre Zahl kaum realistisch abzuschätzen. Wer Bescheid wußte, konnte sie jedenfalls an den Fingern einer Hand abzählen, wenn das Kriterium angelegt wurde, daß von einer Alternativschule gesprochen werden kann, wenn sie außerhalb des allgemeinen öffentlichen Schulwesens besteht und bewußt eine Alternative zur öffentlichen Schule sein will. Die derzeit bestehenden integrativen Schulen, in die behinderte Kinder jedweder Behinderungsart und jedweden Schweregrades von Behinderungen integriert werden, sind eigentlich Alternativschulen innerhalb des allgemeinen öffentlichen Schulwesens.

Durch sie ist ein Prozeß der Veränderung von Schule eingeleitet worden, der sich nicht nur in der Ausbreitung integrativer Schulen dieser Art manifestiert, sondern auch in einer neuen Auffassung einer Pädagogik der Schule etwa hinsichtlich dessen, was pädagogisch unter Leistung verstanden und wie Menschlichkeit im Zusammenleben von Schülern in der Schule gepflegt werden kann. Diese Veränderung impliziert ein Nachdenken über Bewertungsformen, über Schulabschlüsse, über curriculare Verbindlichkeiten, über Planung von Unterrichtsprozessen und die Dimension der Nichtplanbarkeit im Unterricht. Auch allgemeine Schulen, die noch nicht so weit sind, daß sie Behinderte integrieren, können sich dem alternativen Geist, der durch die Integration von Behinderten aufgekommen ist, auf die Dauer nicht entziehen.

4.2.7 Schulen, die alle Kinder eines Schulbezirks aufnehmen

Seit dem Beginn der achtziger Jahre gibt es eine Schule, es handelt sich um die Uckermark-Grundschule in Berlin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alle schulpflichtig werdenden Kinder aus ihrem Schulbezirk aufzunehmen, also die behinderten und die nichtbehinderten. Für sie gilt grundsätzlich das Prinzip, eine "Schule ohne Aussonderung" zu sein. Ein solches System sichert, daß die sozialen Kontakte, die in der Schule entstehen, auch außerhalb der Schulzeit erhalten werden können, und daß andererseits die Kontakte aus der außerschulischen Welt sich in die Schule hinein verlängern können. Deshalb reichen die pädagogischen Bemühungen des Personals der Uckermarkschule über den Unterricht und die tägliche Schulzeit der Kinder hinaus. Die Pädagogen der Schule versuchen, die Freizeit der Kinder und ihre Beziehungen in dieser Zeit miteinzubeziehen und überhaupt Schule und Freizeitbereich zu verbinden. Vielleicht liegt darin eine der wichtigen Aufgaben von Schulen dieser Variante der Integration, denn im allgemeinen wird die Leistung der Schule für die Erziehung der jungen Generation überschätzt. Schulzeit nimmt im Leben eines Kindes nur einen begrenzten Raum ein.

In der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates war in gewisser Weise schon einer Institutionalisierung der Kontakte zwischen Behinderten und Nichtbehinderten in der Schule das Wort geredet worden. Da solche Kontakte "nicht notwendig Vorurteile vermindern, dürfen sie nicht nur dem Zufall überlassen bleiben."[80] Das gilt mehr noch für die Kontakte außerhalb der Schule. Allerdings darf die Institutionalisierung nicht so weit gehen, daß sie die Freizeit der Kinder im ganzen planender Absicht und erzieherischem Zugriff unterwirft. Die Vorgänge der Erziehung sind so sensible Prozesse, daß die Aufdringlichkeit planvoller Absicht häufig kontrafinal wirkt, also in das Gegenteil des gewünschten Effekts umschlagen kann. (Der Hinweis auf Kinder aus Pfarrhäusern, die Atheisten oder auch Pfarrhäusern, die Atheisten oder auch Terroristen geworden sind, kann beispielhaft zum Ausdruck bringen, was hier gemeint ist.)

Eine Schule, die alle Kinder ihres Schulbezirks aufnimmt, muß für das Arrangement des Unterrichts, für die Gestaltung des Schullebens und für die Förderung und Therapie von behinderten Kindern flexibel sein und bleiben. Die Uckermark-Grundschule zum Beispiel hatte in den ersten Jahren ihres Bestehens kein geistigbehindertes Kind unter ihren Schülern. Sie mußte ihre Aktivitäten, was behinderte Kinder betrifft, insbesondere auf verhaltensauffällige und lernbehinderte richten. Von der konzeptionellen Vorstellung her kommt sie nicht umhin, potentiell auch auf Blinde und Gehörlose und überhaupt auf jedwede Behinderungsart eingestellt werden zu können. Das macht unumgänglich, daß sie der Früherfassung und der Frühförderung von behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern in ihrem Schulbezirk besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Dadurch kann nämlich vermieden werden, daß ein behindertes Kind und seine Familie ins Abseits geraten, es kann erreicht werden, daß schon früh die notwenige Therapie einsetzt, daß die Verhältnisse in der Schule rechtzeitig für das einzelne behinderte Kind eingerichtet und auf seine Bedürfnisse eingestellt werden. Beispielweise könnte es sich als sinnvoll erweisen, wenn durch eine Eingangsstufe in die Grundschule der Übergang aus der Familie und dem Kindergarten in die Schule kontinuierlich gestaltet würde.

Die derzeitige Schulsenatorin in Berlin hat die Absicht, Schulen in der Art der Uckermark-Grundschule als Versuchsschulen auch in einigen anderen Stadtteilen einzurichten. Das wird die Erfahrungsbasis erweitern, weil das Spektrum der Behinderungsarten und der Schweregrade selbst innerhalb der einzelnen Behinderungsart breiter wird. Aber auch Schulen, an denen allgemeine Pädagogen und Sonderpädagogen zusammenarbeiten mit dem die Zahl der Überweisungen und Sonderschulen zu reduzieren, bewegen sich auf die Konzeption der Uckermarkschule zu. Überhaupt stehen die Varianten untereinander in einer mehr oder weniger starken Beziehung. Es sind eben Varianten für die Umsetzung der sie alle verbindenden Idee der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten in der Schule.

Es könnte überlegt werden, ob Sonderschulen, die sich für allgemeine Schulen und für nichtbehinderte Kinder öffnen, in die Varianten integrativer Schulen einbezogen werden sollten. In der Vergangenheit war eine solche Öffnung keine Selbstverständlichkeit. Die Überweisung in eine Sonderschule war in der Regel eine Ein-für-allemal-Entscheidung für ein Kind, und jede einzelne Sonderschule war geradezu hermetisch von allgemeinen Schulen und von der Öffentlichkeit abgeschlossen. Man darf nicht meinen, daß diese Situation allein von den Sonderschulen hervorgebracht worden sei. Dafür ist heute noch die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik verantwortlich. Sie ist weithin bereit, alles, auch Gutes zu tun, wenn nur die Behinderten außerhalb der Öffentlichkeit verbleiben. Grüne Wiesen und frische Luft, die man Behinderten zukommen läßt, dürften ihnen, so meint die Öffentlichkeit, besonders entgegenkommen. In jedem Falle versucht man Behinderte in eigens für sie eingerichteten Formen der Internierung zu isolieren. Dazu gehören auch die Sonderschulen. In den letzten Jahren aber ist feststellbar, daß der Integrationsgedanke sich bei den Lehrern der Sonderschulen stärker auszubreiten beginnt als bei Lehrern allgemeiner Schulen und daß er sich besonders auch im Bewußtsein der Eltern behinderter Kinder stabilisiert. Darum wird es verständlich, daß Klassen aus Schulen für Behinderte gemeinsam mit Klassen allgemeiner Schulen beispielsweise Schullandheimaufenthalte durchführen, daß eine Körperbehindertenschule eine Projektwoche in einem Schulgarten zusammen mit Kindern einer allgemeinen Schule veranstaltet, daß zu einem Fest in einer Sonderschule die Kinder einer allgemeinen Schule eingeladen werden, daß es überhaupt Rücküberweisungsquoten aus den Sonderschulen in die allgemeinen Schulen gibt, daß Patenschaften zwischen Klassen allgemeiner Schulen und Klassen aus Schulen für Behinderte entwickelt werden usw.

Die konzeptionellen Varianten integrativer Schulen wurden von engagierten Lehrern und Eltern in spezifisch gearteten Situationen hervorgebracht. Die weitere Entwicklung wird möglicherweise noch zu anderen Formen führen. Es wäre ungut, wenn eine Schulverwaltung in einer Variante die ideale Form sähe und sie für verbindlich erklärte. Auch die vom Deutschen Bildungsrat empfohlene Konzeption hat ihren Sinn vor allem darin gefunden, daß sie eine Entwicklung anzuregen vermochte. Wäre sie als verbindlich erklärt worden, hätte nie die Entwicklung aufkommen können, die wir seit dem Anfang der siebziger Jahre erleben konnten. Es wäre aber auch ungut, wenn die Träger einer der beschriebenen Varianten die von ihnen vertretene Form als die einzig richtige ansähen und deshalb zu anderen in eine Konkurrenz träten, um sie nach Möglichkeit zu überwinden. Das soziale Feld, in dem es um die Integration von Behinderten geht, verträgt keine egozentrischen, rechthaberischen Ansprüche; sie würden, wo sie aufkämen, die Erfüllung der humanen Aufgabe beeinträchtigen, um die es geht.

4.3 Das Mißverständnis von Gesamtschule als Hindernis für die Integration

Der Deutsche Bildungsrat hatte im Jahre 1969 seine Empfehlung zur "Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen" vorgelegt. Von der Idee her ist die Integrierte Gesamtschule in der Sekundarstufe I eigentlich eine konsequente Fortsetzung der Grundschule, wie sie am Beginn der Weimarer Zeit entstanden war. Sie hatte die Aufgabe bekommen und übernommen, soziale Koedukation durch die Aufnahme und Unterrichtung aller Kinder des Volkes zu leisten. Als Schulstufe war sie deshalb von Anfang an durch ihren gesamtschulartigen Charakter profiliert, wenngleich es in der Zeit ihres Bestehens Höhen und Tiefen in der gemeinsamen Erziehung aller Kinder gab. Die Integrierte Gesamtschule, die als Fortsetzung der Grundschule in die Sekundarstufe hinein verstanden werden sollte, ist der Aufgabe, soziale Koedukation zu leisten, seit den Tagen ihrer Gründung am Ende der sechziger Jahre nicht gerecht geworden. Schon die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates hatte ausdrücklich die Aufnahme der Sonderschüler in die Gesamtschule ausgeschlossen, dazu wurde die Fachleistungsdifferenzierung in einigen Unterrichtsfächern favorisiert und einem Ausgleich des Leistungsstandes der Schüler auf allen Ebenen das Wort geredet. Dazu heißt es in der Empfehlung: "Um einen unterschiedlichen Leistungsstand und spezifische Leistungsausfälle, die durch die verschieden intensive Förderung in den Grundschulen bedingt sein mögen, so weit wie möglich auszugleichen, müssen in dieser Stufe mindestens für den Schulerfolg besonders bedeutsamen Fächern jeweils Förderkurse zugeordnet werden."[81] Wo so gedacht wird, da ist der gemeinsame Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten unmöglich. Das Bestreben, den unterschiedlichen Leistungsstand der Schüler auszugleichen, vernachlässigt die Förderung des einzelnen Kindes seinem individuellen Lernvermögen gemäß. In der Integration von Behinderten aber muß es möglich sein, daß Schüler gemeinsam unterrichtet werden, ohne daß sie auf die gleichen Ansprüche und die gleichen Abschlüsse festgelegt werden.

Schon im Jahre 1968, also noch vor Abschluß der Arbeit an der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates, waren die ersten beiden Gesamtschulen in Britz-Buckow-Rudow in Berlin und in Frankfurt-Nordweststadt gegründet worden. Als Differenzierungsform wurde in Berlin das sogenannte FEGA-System, eine Fachleistungsdifferenzierung auf vier Leistungsebenen eingeführt, und die Gesamtschule in Frankfurt arbeitete mit einem dreistufigen Differenzierungsmodell. Ein weiteres Jahr zuvor, also 1967, war von Sander/Rolff/Winkler "Die demokratische Leistungsschule" erschienen, ein Buch, das schon im Titel die Gesamtschule zur "Leistungsschule" erklärte.[82] Wo sollten in einem solchen Verständnis die behinderten Kinder und Jugendlichen bleiben? Das Buch der drei Autoren, die ihr Verständnis von damals längst korrigiert haben, dazu die beiden ersten Gesamtschulen in Berlin und Frankfurt, an denen sich die Gesamtschulentwicklung wesentlich orientiert hat, und schließlich die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates von 1969 waren die entscheidenen Komponenten in dem Mißverständnis von Gesamtschule, das die Behinderten nicht einbezog. Auf der Grundlage dieses Mißverständnisses vollzog sich am Beginn der siebziger Jahre eine Entwicklung und Ausbreitung von Gesamtschulen, die sich stärker am Selbstverständnis der traditionellen Gymnasien orientierten, als daß sie die soziale Idee der gemeinsamen Erziehung aller verfolgten.

Dennoch fühlte sich die Kultusministerkonferenz in ihrer "Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens" von 1972 bemüßigt, zum Verhältnis von "Sonderschule und Gesamtschule" Stellung zu nehmen.[83] Zuvörderst geht es ihr in ihrer Stellungnahme um eine Begründung der Aussonderung behinderter Kinder. Es komme darauf an, "die allgemeine Schule von Schülern zu entlasten, denen sie nicht gerecht werden kann." Das ist der teuflische Gedanke, der 1958 vom Bundesverwaltungsgericht formuliert worden war und den die Kultusministerkonferenz 1960 in ihr "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" übernommen hatten. In der Formulierung des Abschnitts "Sonderschule und Gesamtschule" der neuen Empfehlung wird deutlich, daß den Kultusministern zwischen 1960 und 1972 die Inhumanität und das Unpädagogische ihrer Auffassung nicht aufgegangen war.

Eigentlich brauchten die Minister, was die Eigenständigkeit der Sonderschulen betraf, nichts zu befürchten, weil sich die Gesamtschulen damals pädagogisch so konservativ gerierten , daß sie, wären sie befragt worden, der Empfehlung der Kultusminister ihre Zustimmung gegeben hätten. Vielleicht waren gar die Minister damals weiter als die meisten Vertreter der Gesamtschule. Sie erkannten nämlich die didaktisch revolutionierende Kraft des Individualisierungsprinzips: "Wieweit die von der Gesamtschule erstrebte Individualisierung behinderten Schülern gerecht werden kann, hängt zunächst von der Art der Behinderung ab. Neben Behinderungen, die einen hohen Grad an eigenständiger Schularbeit erfordern und deshalb schwer zu integrieren wären, stehen solche, deren Integration leichter durchzuführen wäre." Die Gesamtschulen haben es in den siebziger Jahren versäumt, auf das Angebot einzugehen, das aus einem solchen Zitat spricht. Sucht man nach Gründen dafür, so stößt man auf das fehlende Konzept für die Aufnahme Behinderter in den allgemeinen Unterricht der Gesamtschulen. Deshalb erkannten sie auch die Chance nicht, die in dem folgenden Satz der Empfehlung der Kultusminister ausgesprochen worden war: "Für die Eingliederung der behinderten Schüler in die Gesamtschule spricht die Tendenz, sie so weit wie möglich aus einem Sonderdasein in die Gemeinsamkeit mit anderen Schülern zu führen." Dieses Argument der Minister von damals hat von seiner Gültigkeit bis heute nichts verloren.

Wie wenig der Gedanke der Integration Behinderter sich in den siebziger Jahren in den Gesamtschulen verbreitet hat, das zeigt ein themengebundenes Heft der "Gesamtschul-Informationen" des Pädagogischen Zentrums Berlin mit dem Titel "Behinderte in Gesamtschulen" aus dem Jahre 1981. Sowohl aus den Artikeln des Heftes als auch aus einer Tabelle, die allgemeine Schulen aufführt, in die zu diesem Zeitpunkt Behinderte integriert waren, lassen sich nicht einmal zehn Gesamtschulen herauslesen, die sich dieser besonderen pädagogischen Aufgabe angenommen hatten.[84] Diese Zahl ist bis um die Mitte der achtziger Jahre nicht erheblich angewachsen. Hinzugekommen sind vor allem in Bonn und Berlin je eine Gesamtschule, die Klassen aus integrativen Grundschulen übernommen haben. Es ist an der Zeit, daß die Gesamtschule die Integration von Behinderten als Aufgabe entdeckt und von ihr her ein pädagogisches Profil zu entwickeln beginnt, das sie zur Alternative der bestehenden weiterführenden Schulen der Sekundarstufe werden läßt. Auf diesem Wege könnten die Gesamtschulen zur Bereicherung des Schulwesens in der Bundesrepublik werden. Denn die Schule ingesamt, unabhänigig von Schulstufen und Schulformen, hat sich in der in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts eine Vernachlässigung der Individualität des Schülers, des Eigenrechts jedes einzelnen Kindes und seiner Eigenart zuschulden kommen lassen. Die Festlegung aller Schüler auf die gleichen Ansprüche in den Lernprozessen, die gleichen inhaltlichen Anforderungen, die gleichen Ziele und Abschlüsse des Lernens, die gleichen Bewertungsmaßstäbe und -systeme erwecken den Eindruck, als gäbe es keine Unterschiede zwischen den Lernenden und kein Recht auf Unterschiedlichkeit. Die Anthropologie der Schule muß sich neu mit der Individualität des Schülers befassen ihrer Intensität vergleichbar den anthropologischen Entwürfen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Entdeckung der Kindheit als eigenständiger Stufe im Leben des Menschen des geführt haben und vergleichbar vielleicht den bildungspolitischen Anstrengungen, die im 19. Jahrhundert zur Durchsetzung der Schule für alle Kinder und damit zugleich zu ihrer Befreiung aus der Kinderarbeit in den Industrialisierungsprozessen beigetragen haben. Heute erscheint die Schule weithin so, als sei sie in ihrer Geschichte nie der Ort des Schutzes der heranwachsenden Generation vor unangemessener Beanspruchung gewesen, sondern als müsse sie den jungen Menschen Leistungsdruck, Konkurrenz und Angst bereiten, als müsse sie die Erfahrung der Inhumanität, des Egoismus und Egozentrismus lehren.

Die Gründe für die Entstehung des Sonderschulwesens im deutschsprachigen Raum lagen unter anderem in der Vernachlässigung der Ansprüche, die Behinderte an die Schule stellen. So war es schon 1973 in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates "Zur pädagogischen Förderung Behinderter" formuliert worden: "... einer der wesentlichen Gründe für die Entstehung der verschiedenen Formen des Sonderschulwesens liegt in der mangelnden Berücksichtigung der Lernmöglichkeiten behinderter Kinder im allgemeinen Schulwesen. In dem Maße, in dem durch innere und äußere Differenzierung stärker auf die Individualität des einzelnen Kindes und weniger auf eine angenommene Leistungsnorm Rücksicht genommen und die dominierende Rolle des Leistungsprinzips, wie es im gesellschaftlichen Wettbewerb gilt, in der Schule modifiziert wird, reduziert sich bis zu einem gewissen Grade die Notwendigkeit, behinderte Kinder in separate Schularten auszugliedern."[85] Die Aufgabe, die hier formuliert wird: Berücksichtigung der Individualität, Vernachlässigung nivellierender Normen, Abkehr von einem Leistungsprinzip, wie es im gesellschaftlichen Wettbewerb gilt, kann am ehesten von den Gesamtschulen gesehen und wahrgenommen werden. Was hat sich nicht alles im Schulwesen geändert, seit es Gesamtschulen gibt! Was wird sich noch alles ändern, wenn sich die Gesamtschulen wirklich zu pädagogischen Alternativen entwickeln!

4.4 Integration als bestimmendes Element für das Profil einer Schule

In dem Maße, in dem Schulen ein Freiraum zugebilligt wird, der ihnen die freie Gestaltung und Verantwortung ihres Tuns gewährt, frei von Vorgaben und Restriktionen der Schulverwaltung, wird es ihnen möglich, ein eigenes Profil zu entwickeln. Damit ist eine Binnenkultur gemeint, die zwar den Unterricht mitumgreift, die aber nicht allein aus ihm hervorgebracht werden kann. Sie rückt den Unterricht allerdings keineswegs in eine untergeordnete Position. Schulen sind eingerichtet, um junge Menschen zu unterrichten. Der Unterricht ist die Mitte aller Schularbeit. Unterricht konstituiert Schule. Im Unterricht wird gelehrt und gelernt, was die Lehrpläne vorgeben. Sie geben zum einen die Tradition unserer Kultur vor, mit der junge Menschen vertraut werden sollen. Unterricht ist deshalb rückwärts gewandt, weil er ein Einheimischwerden in unserer Kultur und die Einführung in die Geschichte unserer Kultur zu leisten hat. Zugleich ist er projektiv, in die Zukunft gerichtet, weil nur in der Verschränkung von Tradition und Projektion die Einführung der jungen Menschen in das gesellschaftliche Leben gewährleistet werden kann. Jede Schule hat die Aufgabe zu unterrichten. Deshalb kann der Unterricht nicht das besondere, individuelle Profil der Schulen herausbilden, es sei denn, daß er außergewöhnliche Formen annimmt. Das Profil einer Schule wird vor allem in Bereichen gewonnen, die über den Unterricht hinausreichen und andere Aufgaben eröffnen als sie gemeinhin dem Unterricht in einer Schule zukommen. Die Integration von Behinderten in den Unterricht und das Schulleben ist eine solche Aufgabe, und es ist die besondere Aufgabe, die einer Schule wie der in Hessisch-Lichtenau ihr besonders Profil gibt.[86] Integration meint Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten, meint eine Kommunikation, in der Behinderte sich eigentlich nicht mehr behindert vorkommen. Es gibt in der gegenwärtigen Situation unserer Schulen kaum eine Aufgabe, die sich als menschlicher erweisen könnte.

Nun kann man natürlich fragen, was solche Überlegungen zum Profil einer Schule für einen Sinn haben sollen. Eine erste Antwort auf diese Frage lautet: An dem humanen Geist, der sich in der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten einer Schule zeigt, orientieren sich andere. Sie ist Beispiel für andere. Im Blick auf die Freiherr-vom-Stein-Schule in Hessisch-Lichtenau läßt sich sagen, daß sie vom Ende der sechziger Jahre an in der Bundesrepublik Schule gemacht hat. An ihr hat sich in den sechziger Jahren das Gymnasium in Altdorf bei Nürnberg orientiert, als es sich der Aufgabe stellte, Behinderte in den allgemeinen Unterricht aufzunehmen, denn die Schule in Hessisch-Lichtenau hatte damit schon in den fünfziger Jahren begonnen. Und die Erfahrungen in Nordhessen trugen am Beginn der siebziger Jahre mit zur Ermutigung des Deutschen Bildungsrates bei, seine integrative Konzeption zu verfolgen und zu ihr zu stehen. Das Bewußtsein einer Schule, daß ihr besonderes Profil "Schule" macht, birgt freilich auch Probleme in sich. Eine solche Schule könnte um ihrer Wirkung auf andere willen humanen Geist praktizieren. Also: Weil die Altdorfer die Freiherr-vom-Stein-Schule zu einem Musterbeispiel stilisieren, weil der Deutsche Bildungsrat sich an ihr orientiert, deshalb könnte sie die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten betreiben. Wer sich aber mit der Wirkung beschäftigt, die er auf andere ausübt, das gilt für jegliches Handeln, der verliert seine Glaubwürdigkeit. Wer das Gute tut, weil die anderen ihn dafür loben, der ist in seinem guten Handeln nicht glaubwürdig. In der Bergpredigt ist das in treffender Einfachheit so formuliert: "Wenn Du Almosen gibst, laß es also nicht vor Dir her posaunen ... um von den Leuten gelobt zu werden... Wenn Du Almosen gibst, soll Deine linke Hand nicht wissen, was Deine rechte tut."

Auf die Frage nach dem Sinn von Überlegungen zum Profil einer Schule gibt es aber neben dem Hinweis auf die externe Wirkung auch eine Antwort, die sich mit den internen Verhältnissen und Beziehungen beschäftigt. Das Profil einer Schule gewährt Lehrern und Schülern die Möglichkeit, sich mit ihr zu identifizieren, sie zu bejahen, zu akzeptieren, zu ihr zu stehen. Das gilt für Eltern oder Menschen in einem Dorf, einer Stadt oder einem Stadtteil in gleicher Weise. Diese Einstellung hat Rückwirkungen auf das Handeln der Lehrer und der Schüler. Aus Untersuchungen vor allem an englichen Schulen zum Beispiel, wie sie in der sogenannten Rutters-Studie vorgelegt worden sind, ist bekannt geworden, daß die Qualität eines Lehrers unter anderem auch abhängig ist vom Profil einer Schule. Wer als Lehrer unter den besonderen Bedingungen der Freiherr-vom-Stein-Schule gute pädagogische Arbeit leistet, der könnte möglicherweise an einer Schule in Kassel oder an einem anderen Ort seine Fähigkeiten nicht so zur Geltung bringen. Das hängt zusammen mit dem erzieherischen Einfluß, der sich vom Profil einer Schule her auf die Lehrer und die Schüler in gleicher Weise ergibt. Das Profil der Schule beeinflußt die Einstellung und das Handeln der Lehrer und Schüler außerhalb des Unterrichts und im Unterricht.

Gerade neuerdings wird in der Pädagogik wieder stärker die Frage gestellt, wie Erziehung geschieht, wie gutes, menschliches Handeln bei jungen Menschen und auch bei Erwachsenen erreicht wird. Der Unterricht hat für das, was wir Erziehung nennen, natürlich eine wichtige Bedeutung. In ihm bildet sich der Gedankenkreis, der das spätere Handeln des Menschen bestimmt. Aber der Zusammenhang von Unterricht und späterem Handeln ist nicht zwingend. In der Abwandlung einer Stelle aus dem Jakobus- Brief des Neuen Testaments könnte man sagen: wer um das Gute weiß, handelt nicht immer gut. Oft schlägt die erzieherische Absicht, die den Unterricht bestimmt, ins Gegenteil um. Die Geschichte unseres Volkes gerade in diesem Jahrhundert bietet dafür vielfältige Belege. Erziehung ist sicher mehr das Ergebnis eines weithin nichtplanbaren Geschehens als eines zielgerichteten planvollen Handelns. Das allerdings darf für Lehrer, aber auch für Väter und Mütter nicht bedeuten, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Die Atmosphäre einer Schule, die Art und Weise, in der Menschen in ihr miteinander umgehen, der humane Geist einer Schule, der im Unterricht und im Schulleben außerhalb des Unterrichts wirkt, hat erheblichen Einfluß auf Schüler und Lehrer, hat erzieherische Kraft. Aus der Geschichte der Pädagogik kennen wir so hervorragende Beispiele wie Schulpforta und das Tübinger Stift. Das ist der Zusammenhang, der hier im mit dem Begriff Profil bezeichnet wird. Es ist also auch das besondere Profil einer Schule, was erzieherisch wirkt, die besondere Aufgabe, die in der Profilierung verfolgt wird. Allerdings läßt sich mit keiner empirischen Methode und keinem Maßstab die Erziehung messen, die als Wirkung aus einer Schule und ihrer besonderen Profilierung entsteht, zumal Erziehung auch nicht einem Zustand vergleichbar ist, der ein für allemal gewonnen und dann wie ein Besitz durch das Leben getragen wird. Was Erziehung ist, daß muß in den Situationen des Lebens im Handeln des Menschen jeweils neu realisiert werden. Alle Überlegungen, die hier zum Profil einer Schule angestellt werden, laufen darauf hinaus, daß der humane Impetus, der die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten bestimmt, möglicherweise über die Schule hinaus wirkt in das Erwachsenenleben derer, die hier Schüler waren. Diese Aussage ist zurückhaltend formuliert, weil sich in einem solchen Zusammenhang die Wirkungen nicht in absoluter Weise auf bestimmte Ursachen zurückführen lassen. Mancher Lehrer, der die Realität des Alltags der Schule in Hessich-Lichtenau über Jahre erlebt hat, mag den Eindruck haben, daß trotz aller Zurückhaltung solche Aussagen überzogen sind. Der gleiche Eindruck mag auch bei manchen Schülern vorherrschen, in deren Erinnerung die Konflikte und Belastungen ihrer Schulzeit dominieren. Ich kann mir gewissermaßen als Außenseiter eine Wertung der Arbeit der Freiherr-vom-Stein-Schule erlauben, weil ich um die Orientierung weiß, die der Deutsche Bildungsrat am Beginn der siebziger Jahre gesucht hat. Ein Insider der Schule, ein Lehrer oder ein Schüler, könnte sich eine solche wertende Aussage nicht erlauben. Überhaupt kann kein Insider einen Maßstab für eine Wertung entwickeln, unabhängig davon, ob es sich um eine Schule oder etwa um einen Markt handelt. Die Länge, die auf einem mittelalterischen Markt zum Beispiel eine Elle zu bedeuten hatte, war häufig an der Rathauswand neben dem Markt vorgegeben, also außerhalb des Marktgeschehens und unabhängig von ihm. An manchen Fachwerkrathäusern in Nordhessen ist das noch zu sehen. Man stelle sich vor, die Märkte selbst hätten damals und heute die Maßstäbe für die Maße und Gewichte und Beurteilungen gesetzt!

Integration als Aufgabe, die einer Schule Profil geben kann, wird in Hessisch-Lichtenau in anderer Weise realisiert als in Bendorf, in Trier oder an anderen Orten. Der Begriff Profil impliziert den einmaligen Charakter einer Schule, die sich in ihrer Binnenkultur um eine Aufgabe zentriert. Kopien eines Vorbilds würden die Einmaligkeit zerstören.

4.5 Integrative Schulen als Versuchsschulen

Mancherorts ist das Begehren von Eltern-Lehrer-Initiativen für gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern auf die Einrichtung von Versuchsschulen gerichtet, und in den letzten Jahren zeigt sich auch eine gewisse Offenheit der Schulbehörden hinsichtlich der Einrichtung von Versuchsschulen für die Integration von Behinderten in den allgemeinen Unterricht. Deshalb ist das Bedenken dieses Phänomens im Zusammenhang der Überlegungen zur Ausbreitung integrativer Schulen in der Bundesrepublik sinnvoll. Ein ähnlicher Vorgang hatte sich mit der "Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen" auf der Grundlage der entsprechenden Empfehlung des Deutschen Bildungsrates von 1969 an ereignet.[87] Am Beginn des Empfehlungstextes heißt es: "Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates empfiehlt, integrierte und differenzierte Gesamtschulen als Versuchsschulen einzurichten. Die Versuche sollen sowohl in ländlichen Gebieten als auch in Städten verschiedener Größenklassen erfolgen. Es sollten sich alle Bundesländer daran beteiligen. Die Anzahl der Versuche muß mindestens so groß sein, daß eine zuverlässige wissenschaftliche Auswertung möglich ist." (S. 15) Gedacht war an eine Zahl von "mehr als 40 Versuchsschulen" in einem wissenschaftlich kontrollierten Experimentalprogramm. Aber "darüber hinaus sollten möglichst viele Versuche in verschiedenen Formen der Gesamtschule gefördert werden." (S. 19)

Die Ständige Konferenz der Kultusminister hatte noch im Jahre 1969 dem Versuchsprogramm einmütig zugestimmt, und eigentlich stand von da an, so schien es wenigstens, dem größten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekt, das je im deutschsprachigen Raum beabsichtigt worden war, nichts mehr im Wege. In allen Bundesländern wurden Schulversuche mit Gesamtschulen eingerichtet. In der Aufbruchstimmung, die um 1970 die Bildungspolitik beherrschte, kam es zur Gründung von mehr als hundert Versuchsschulen schon in den ersten Jahren. Das Versuchsprogramm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung wies 1974 zum Beispiel für Baden-Württenberg 5 Integrierte und 3 Kooperative Gesamtschulen aus, für Bayern 3 Integrierte und 8 Kooperative. Das waren in diesen beiden Ländern mehr Gesamtschulen als heute in ihnen bestehen. Die Divergenz mag darin begründet sein, daß von Anfang an eine klare, von der Politik getragene Zielvorstellung für das Versuchsprogramm fehlte. Die Politik würde sich auch der Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Entscheidungen berauben, wenn sie sie von wissenschaftlichen Versuchsprogrammen abhängig machte.

Aus heutiger Perspektive erscheint es so, als ob das Ziel des Versuchsprogramms auch bei erreichten positiven Ergebnissen nicht die generelle Einführung der Gesamtschule in allen Bundesländern gewesen sein kann. Trotz der überwiegend ermutigenden Ergebnisse empirischer Forschung verschiedener Forschergruppen kam es in manchen Ländern zu einer rückläufigen Entwicklung. Eigentlich kann es die Wissenschaft der Politik nicht verdenken, wenn sie Ergebnisse nur zur Kenntnis nimmt, aber nicht in politisches Handeln umsetzt, und wenn sie Ergebnisse negiert, um sie der Öffentlichkeit vorzuenthalten. (Für unseren Zusammenhang beispielsweise, also nicht speziell für den Zusammenhang der Gesamtschule, ist es aufschlußreich, daß der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft auf einer Pressekonferenz im Jahre 1981 von einer großen Zahl von Modellversuchen zur Integration von Behinderten sprechen konnten. Das Manuskript, in dem die Auswertung dieser Versuche dargestellt ist, wurde der Öffentlichkeit bis heute vorenthalten). Die Wissenschaft muß aber hellhörig sein, wenn durch die Politik Schulversuche eingerichtet werden, um Entwicklungen zu verzögern oder gar zu verhindern, wenn die Politik das Instrument des Schulversuchs als Alibi mißbraucht, um sich vor anstehenden politischen Entscheidungen zu drücken.

In der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates "Zur pädagogischen Förderung Behinderter", die 1973 veröffentlicht wurde, also vier Jahre nach der Empfehlung zur "Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen" wurde kein Versuchsprogramm vorgeschlagen. Stattdessen enthielt der Empfehlungstext einen "Stufenplan zur Verwirklichung", der kurzfristige Maßnahmen wie zum Beispiel die Einführung disponibler Wochenstunden für die Lehrer der Grundschulen, mittelfristige Maßnahmen wie zum Beispiel die Entwicklung von Medien mit öffentlichen Mitteln für Behindertengruppen, "die zahlenmäßig so gering sind (z.B. Gehörlose und Blinde), daß sich die Medienherstellung für Lehrmittelhersteller" als nicht wirtschaftlich erweist, und längerfristige Maßnahmen wie zum Beispiel die Einrichtung der Kooperativen Schulzentren vorsah.[88] Der Verzicht auf ein Versuchsprogramm war nicht Ausdruck eines grenzenlosen Optimismus, sondern daraus sprach die Überzeugung, daß es für die Integration der Behinderten in die allgemeine Schule keiner Schulversuche mehr bedarf, die empirisch beweisen müßten, daß diese Aufgabe auch zu bewältigen ist. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Empfehlung gab es eine Reihe integrativer Schulen, die, auch wenn es sich nicht um Versuchsschulen handelte, ebensosehr wie das integrative Bemühen in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern belegten, daß die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern in allgemeinen Schulen möglich ist.

Im übrigen würde es den Charakter der Integration als Menschenrecht in Frage stellen, wenn sie durch Schulversuche und empirische Methoden und Meßverfahren zuerst noch begründet und abgesichert werden müßte. Man braucht sich analog dazu nur einmal vorzustellen, was aus der Grundschule geworden wäre, wenn vor ihrer Einführung am Beginn der Weimarer Zeit zuerst noch Schulversuche hätten eingerichtet und durchgeführt werden müssen, mit deren Hilfe zu belegen gewesen wäre, daß die vierjährige gemeinsame Schulzeit für alle Kinder effektiv ist; es kann nicht ausgeschlossen werden, daß heute noch um die Einführung der Grundschule diskutiert würde. Oder man muß sich vorstellen, daß die Durchsetzung der Koedukation in den Schulen[89], der gemeinsamen Erziehung von Jungen und Mädchen, von der Durchführung empirischer Untersuchungen und ihren positiven Ergebnissen abhängig gemacht worden wäre. Allein schon die Formulierung geeigneter Hypothesen für empirische Untersuchungen hätte uferlose Erörterungen bis zur Grenze der Lächerlichkeit hervorbringen können.

Es gibt dennoch Gründe, den Versuchsschulstatus integrativer Schulen zu befürworten. Allerdings kann dieser Status nicht erstrebt werden, um die Frage zu beantworten, ob die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten möglich ist. Es ist allein schon bezeichnend, daß einer ganzen Reihe integrativer Schulen, nachdem sie über Jahre erfolgreich gearbeitet hatten, von der Schulverwaltung oder der Bund-Länder-Kommission der Versuchscharakter angeboten, offeriert wurde. Das gilt zum Beispiel für die Schulen der Aktion Sonnenschein in München, für die Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg, für die Freiherr-vom-Stein-Schule in Hessisch-Lichtenau, für das Conrad-von-Soest-Gymnasium in Soest, für die Fläming-Grundschule in Berlin. Der Versuchscharakter wirkte sich zum Vorteil dieser Schulen aus. Er brachte ihnen finanzielle Mittel für eine angemessene personelle und sachliche Ausstattung und für zum Teil aufwendige bauliche Veränderungen. Es wäre ein Schildbürgerstreich, würde der Versuchsschulstatus angesichts der Möglichkeiten abgelehnt, die er den betreffenden Schulen eröffnet und die er für die Ausbreitung der Idee der Integration bedeutet.

Der Versuchsstatus ist aber auch zu befürworten, wenn er die Arbeit einer integrativen Schule, die auf der Grundlage einer Initiative entstanden ist, ermöglichen hilft. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es im Augenblick noch keine Möglichkeit, Sonderpädagogen an allgemeinen Schulen legal zu beschäftigen, es sein denn, eine allgemeine Schule bekommt unter Heranziehung von Paragraph 5 des Schulverwaltungsgesetzes den Status einer Schule zuerkannt, die von der Rechtsform abweicht. Das ist in Berlin auf der Grundlage der schulrechtlichen Bestimmungen eine Schule "abweichender Organisationsstruktur". Der Versuchsstatus, den Schulen durch solche juristischen Vorleistungen gewinnen, kann ihnen besondere Konditionen für ihre Arbeit verschaffen: daß sie also Sonderpädagogen beschäftigen können, daß sie Behinderte überhaupt aufnehmen dürfen, daß sie das an allgemeinen Schulen übliche Bewertungssystem abwandeln können oder für behinderte Kinder aussetzen, daß sie im Zwei-Lehrer-System arbeiten usf. Solche juristischen Möglichkeiten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine grundsätzliche Änderung der schulrechtlichen Bestimmungen in allen Bundesländern die generelle Legalisierung integrativer Schulen bringen muß.

Die juristischen Bestimmungen dürfen nicht zu eng sein, denn, sieht man einmal ab von juristischen Vorgaben und richtet den Blick auf die Integration von Behinderten, also hier des blinden Schulanfängers, da des Spastikers, der im Rollstuhl am Unterricht in der gymnasialen Oberstufe teilnimmt, dort des geistigbehinderten Grundschülers usf., so kommt man zu der Auffassung, daß jede einzelne Schule, die Behinderte integriert, einen Versuch darstellt. Die Situationen, in denen die Integration wirklich wird, also Realität gewinnt, haben einmaligen Charakter. Er wird hervorgebracht durch die Menschen, die in einer Situation agieren, die Behinderten und Nichtbehinderten, durch die Art und Schwere der Behinderungen, die in eine Situation eingebracht werden, durch die jeweilige Klassenstufe, die soziale Kompetenz jedes Schülers, die fachliche Kompetenz des Lehrers usf. Vielleicht wird in der Pädagogik gerade durch die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten in den Situationen der Schule und des Unterrichts wieder bewußt, daß, wie Paul Heimann es formuliert hat, eigentlich jede didaktische Situation einmalig ist. Für jede muß ein spezifisches theoretisches Äquivalent im Bewußtsein des Lehrers hervorgebracht werden, damit er situationsgerecht handeln kann. Deshalb kann es nicht darum gehen, daß man dem angehenden Lehrer in seiner Ausbildung fertige Theorien "beibringt", sondern für ihn muß eher die Fähigkeit zu theoretisieren erreicht werden, die ihm zugleich Flexibilität in seinem Handeln sichert. "Ziel der didaktischen Ausbildung ist die Bildung ... eines operativen theoretischen Bewußtseins ... das sich laufend in der unterrichtlichen Praxis aktualisiert." So formulierte Heimann.[90] Seine didaktische Konzeption war ursprünglich als Antwort auf die Einmaligkeit unterrichtlicher Situationen gedacht. Was ist das anders als in aller pädagogischen Arbeit einen Versuch zu sehen, der über seine Wirkungen nicht verfügen kann?



[63] Gewissermaßen als Ergebnis dieser in Hannover durchgeführten Tagung erschien ein Materialienband des Deutschen Bildungsrates mit Darstellungen der integrativen Schulen, die es um die Mitte der siebziger Jahre in der Bundesrepublik gab. Vgl. Jakob Muth/ Adrian Kniel/ Wilhelm Topsch (Hg.): Schulversuche zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht. Braunschweig: Westermann 1976 (Materialien zur Bildungsplanung, Heft 6)

[64] Wolfgang Becker: Integration körperbehinderter Kinder und Jugendlicher an der Gesamtschule in Hessisch-Lichtenau. In: Gesamtschul-Informationen. Pädagogisches Zentrum Berlin 4/1981, S. 142

[65] Vgl. dazu M. Heitmann/G. Prüssner: Körperbehinderte in der Gesamtschule Hessisch-Lichtenau. In: Jakob Muth u.a. (Hg.): Schulversuche zur Integration ..., a.a.O. (Anm.1), Seite 53f.

[66] H. Heckel: Körperbehinderte im Leibniz-Gymnasium Altdorf. In: Jakob Muth u.a. (Hg.): Schulversuche zur Integration ..., a.a.O. (Anm. 1), S. 51

[67] Theodor Hellbrügge u.a.: Integrierte Erziehung gesunder mit mehrfach und verschieden behinderten Kindern. In: Jakob Muth u.a. (Hg.): Schulversuche zur Integration ..., a.a.O., (Anm. 1), S. 160

[68] Ebenda, S. 161

[69] Brigitte Ockel: Ist die Integration behinderter Kinder in die Grundschule möglich? In: Jakob Muth u.a. (Hg.): Schulversuche zur Integration ..., a.a.O., (Anm. 1), S. 222

[70] Peter Appelhans: Zusammenarbeit von Regelschule und Sonderschule. In: Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen. Essen: Verlag Neue Deutsche Schule 1982, S. 97-110 (Reihe: neue pädagogische Bemühungen, 89)

[71] Margrita Appelhans: Regelschule als Chance für Behinderte und Nichtbehinderte? In: Gesamtschul-Informationen. Pädagogisches Zentrum Berlin 4/1981, S. 118f.

[72] Jörg R. Mettke: Eltern als Integrations-Antreiber vom Dienst. In: Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen ... (vgl. Anm. 8), S. 31. Bei den folgenden Zitaten aus dem Aufsatz von Mettke wird im Text jeweils die Seitenzahl angegeben.

[73] Manfred Bayer u.a.: Chancenungleichheit und Strukturkrise. Ein Memorandum zur Schulentwicklung für den Landesverband Nordrhein-Westfalen der GEW. Essen: Verlag Neue Deutsche Schule 1983, vgl. S. 209

[74] Armin Löwe: Hörgeschädigte Kinder in Regelschulen. Ergebnisse von Untersuchungen und Erhebungen. Dortmund: Geers-Stiftung 1985

[75] Ursula Haupt: Zur schulischen Situation gut begabter körperbehinderter Schüler in Rheinland-Pfalz. Ergebnisse einer Umfrage. Mainz: Kultusministerium 1978 (Manuskript)

[76] Landtag Nordrhein-Westfalen. 10. Wahlperiode, Drucksache 10/117 vom 23.8.1985. Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 42 der Abgeordneten Ruth Hieronymi, CDU, den Friesdorfer Modellversuch betreffend

[77] Karl-Heinz Dickopp: Der Krefelder Integrationsversuch normalbegabter körperbehinderter Schüler. In: Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen ... (vgl. Anm. 8), S. 61-73

[78] W. Soetemann/A. Wormland: Integrierte Schulische Erziehungshilfe (ISE) an einer Grundschule und Hauptschule in Köln. In: Jakob Muth u.a.: Schulversuche zur Integration .... a.a.O. (Anm. 1), S. 105. Heute besteht im Görlinger Zentrum eine Gesamtschule.

[79] Einen Überblick über die Arbeit der Fläming-Grundschule geben die Aufsätze von Jörg R. Mettke: Eltern als Integrations-Antreiber vom Dienst. - Norbert Stoellger: Erfahrungen mit dem Zwei-Pädagogen- System im gemeinsamen Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder. - Wolfgang Podlesch: Allgemeine Erfahrungen aus dem Berliner Integrationsversuch an der Fläming-Grundschule. In: Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen ... (vgl. Anm. 10), S. 31-59

[80] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung Behinderter ..., S. 93

[81] Deutscher Bildungsrat: Zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen. Bonn 1969, S. 36

[82] Sander/Rolff/Winkler: Die Demokratische Leistungsschule. Zur Begründung und Beschreibung der differenzierten Gesamtschule. Hannover: Schroedel 1967 (Reihe B, Auswahl 11/12)

[83] Ständige Konferenz der Kultusminister: Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens. Bonn 1972. Der Abschnitt "Sonderschule und Gesamtschule", aus dem hier zitiert wird, findet sich auf S. 20ff.

[84] Vgl. das Heft 4/81 der Gesamtschul-Informationen, Pädagogisches Zentrum Berlin. Die Übersicht der Gesamtschulen, die Behinderte integrieren, findet sich auf S. 92ff.

[85] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung Behinderter ..., S. 18

[86] Der Text des Kapitels 4.4 hält sich an den Festvortrag, den ich aus Anlaß der 30-Jahr-Feier der Integration an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Hessisch-Lichtenau im Jahre 1983 gehalten habe. Er ist nachgedruckt unter dem Titel: Jakob Muth: Jede Schule braucht ein Profil. In: Westermanns Pädagogische Beiträge, 36. Jg. (1984), S. 87-89

[87] Deutscher Bildungsrat: Zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, a.a.O., (vgl. Anm. 19)

[88] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung Behinderter ... vgl. 127-138

[89] Dieses plastische Beispiel entwickelte Jutta Schöler auf einer Tagung an der Fläming-Grundschule in der Diskussion über empirische Forschung an integrativen Schulen

[90] Paul Heinmann: Didaktik als Theorie und Lehre. In: Didaktik als Unterrichtswissenschaft (hg. von Kersten Reich und Helga Thomas). Stuttgart: Klett 1978, S. 149f.

5. Bedingungen - Dispositionen - Empfehlungen

Bedingungen für eine gute Ermöglichung des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Schülern hängen mit Empfehlungen zusammen, die in der gegenwärtigen Situation des Nebeneinanders für sich bestehender Sonderschulen und integrativer Schulen den Schulverwaltungen gegenüber für die Genehmigung der Integration und überhaupt für ihre Tolerierung ausgesprochen werden können, und beide sind mit den Dispositionen der Lehrer für den gemeinsamen Unterricht verschränkt. Hier allerdings, in diesem Kapitel, werden für das bessere Verständnis

  • Bedingungen zur Ermöglichung der Integration

  • Empfehlungen an die Verwaltung

  • Dispositionen der Lehrer für den gemeinsamen Unterricht

getrennt dargestellt in dem Bewußtsein, daß es sich dabei nur um Akzentuierungen in einem geschlossenen Komplex handeln kann.

5.1 Bedingungen zur Ermöglichung der Integration

Es gibt keine Bedingung, die als unverzichtbare Voraussetzung für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern angesehen werden müßte. Natürlich kann eine der Gemeinsamkeit vorausgehende Erfüllung von Bedingungen die positiven Wirkungen verstärken, die zu erreichen beabsichtigt sind. Aber auch die Gemeinsamkeit selbst verändert überall da, wo sie realisiert wird, die bestehenden Verhältnisse und bringt mit die Bedingungen für ihre Ermöglichung hervor. Deshalb wäre es, wo es um die Integration eines behinderten Kindes in den allgemeinen Unterricht geht, nicht angebracht, auf die Erfüllung dieser oder jener Bedingung zu warten. Geschieht dies, könnte es ein Indiz für die fehlende Bereitschaft zur Integration sein.

1) Die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern sollte schon in der frühen Kindheit beginnen. Im Zusammenhang der Darstellung der integrativen Konzeption des Deutschen Bildungsrates haben wir unter anderem auf die Bedeutung früher Lernprosse für die Entwicklung des Kindes und für die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im Raume der Schule hingewiesen. Pädagogik und Medizin sind die beiden Wissenschaften, um deren Aufeinanderangewiesensein es in diesem Felde in besonderer Weise geht. Eine pädagogische Frühförderung ist nur möglich, wenn behinderte Kinder früh diagnostiziert worden sind und durch die Diagnose die Möglichkeiten früher Förderung erschlossen wurden. Aber weil es in der Bundesrepublik keine Meldepflicht für behinderte Kinder durch die Eltern oder die Ärzte gibt, werden behinderte Kinder zwar manchmal früh diagnostiziert, aber danach keiner auf sie abgestimmten Förderung zugeführt, oder sie werden nicht diagnostiziert und darum auch nicht gefördert. Allerdings sind im letzten Jahrzehnt in der Bundesrepublik eine Reihe von Zentren unterschiedlicher Strukturen zur frühen Diagnose, zur frühen Therapie und zur frühen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder entstanden, die der Vernachlässigung des frühen Kindesalters und vorhandenen Mißständen zu begegnen versuchen.

Hellbrügges Kinderzentrum in München war die erste Einrichtung, in der Diagnose, Therapie und pädagogische Förderung in einen Kontext gebracht wurden. Sie ging allen anderen zeitlich voraus.[91] Von der Stadt Neuss im Rheinland wird seit einigen Jahren ein Früherfassungsmodell praktiziert, das dem Konzept der Zentren für Pädagogische Frühförderung des Deutschen Bildungsrates verwandt ist. Auf Neuss wird hier hingewiesen als ein Beispiel einer ganzen Reihe ähnlicher Einrichtungen. Durch die Zusammenarbeit mit Geburtskliniken, den niedergelassenen Ärzten und durch den hohen Bekanntheitsgrad des "Neusser Modells" bei den Eltern gelingt es, nahezu jedes Risikokind einer Diagnose und gegebenenfalls einer Therapie zuzuführen. Diese Praxis hat zum Beispiel zur Folge, daß der Landschaftsverband Rheinland als zuständige Behörde für die Behinderten in Neuss gegenüber der Stadtverwaltung den Vorwurf erhob, daß sie hinsichtlich der spastischen Kinder im schulpflichtigen Alter mit falschen Zahlen operiere, weil kaum Spastiker aus Neuss in der Schule für Körperbehinderte angemeldet worden seien. - Schließlich gibt es unter anderem die pädagogische Frühförderung, wie sie in einem Projekt unter der Leitung von Otto Speck flächendeckend für Bayern entwickelt worden ist. Speck hat an der Entwicklung der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates mitgarbeitet. An ihrer pädagogischen Konzeption ist die Frühförderung in Bayern orientiert.[92]

Über die spezielle pädagogische Förderung behinderter Kinder im frühen Alter hinaus setzt sich bundesweit die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kinder in den Kindergärten immer stärker durch. Die Projektgruppe "Integration von behinderten Kindern mit besonderen Problemen" des Deutschen Jugendinstituts, die ihre Arbeit im Jahre 1980 begann, hat in einem 1985 vorgelegten Projektbericht die Zahl von hundert integrativen Kindergärten berichtet, die neben Sonderkindergärten und Regelkindergärten bestehen und die zum großen Teil auch behinderte Kinder aufnehmen.[93] Wie groß das Ausmaß der Aufnahme behinderter Kinder tatsächlich ist, geht aus einem Bericht der "Kommission Kindertagesstätten der obersten Landesjugendbehörden" hervor, der den für Jugend zuständigen Ministern der Bundesländer auf ihrer Sitzung im September 1985 in Wiesbaden vorgelegen hat. Es gäbe ein Bundesland, so heißt es in dem Bericht, "in dem bereits nahezu die Hälfte aller Regelkindergärten einzelne behinderte Kinder aufgenommen hat". In einer Reihe von allgemeinen Kindergärten seien integrative Gruppen mit zeitlicher Konstanz eingerichtet, die als "teilstationäre Einrichtungen im Sinne des Paragraphen 100 BSHG" (Bundessozialhilfegesetz) gelten würden. Die bisherigen Erfahrungen in den Kindergärten, die sich weitgehend selbständig entwickelt haben, werden in dem Kommissionsbericht "insgesamt als positiv und ermutigend" eingeschätzt. Wörtlich wird dann formuliert: "Viele Pädagogen in Kindergärten und Sonderkindergärten wurden in ihren Aktivitäten bestärkt, weil sie feststellen konnten, wie anregend und hilfreich sich die integrativen Arbeitsformen auf behinderte und nichtbehinderte Kinder auswirkten: behinderte Kinder erfahren durch das Zusammenleben mit den nichtbehinderten Kindern Entwicklungsanreize in großer Vielfalt. Allen Kindern, behinderten und nichtbehinderten, wird es zu einer Selbstverständlichkeit, mit Menschen unterschiedlicher Möglichkeiten und Fähigkeiten zusammen zu sein.[94] Die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens der behinderten und der nichtbehinderten Kinder in einem so frühen Alter, von der hier gesprochen wird, ist eine der hervorragenden Bedingungen für das Gelingen der Gemeinsamkeit in der Schule. Eine gemeinsame Erziehung vom frühen Kindesalter an läßt die Integration überflüssig werden. Das meint: Wo nicht desintegriert wird, braucht nicht integriert zu werden.

2) Den Schulen muß ein hohes Maß an Eigenständigkeit vom Gesetzgeber und der Schuladministration zugebilligt werden. Sie müssen, um die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern im Unterricht in einer guten Weise zu gewährleisten, einen Freiraum der Verantwortlichkeit im Zusammenhang innerer Schulangelegenheiten haben, in dem sie in eigener Zuständigkeit entscheiden können. Mit diesem Bereich hatte sich der Deutsche Bildungsrat nach 1970 beschäftigt. Er legte eine Empfehlung mit dem Titel "Verstärkte Selbständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern" vor, die in ihren wesentlichen Grundzügen in der Ausbreitung integrativer Schulen neue Aktualität gewinnt.[95] Der Gesetzgeber und die zentrale Verwaltung sollten der Empfehlung zufolge die allgemeinen Grundsätze für die Organisation des Schulwesens, seine inhaltliche Bestimmung und seine Aufgaben vorgeben, für innerschulische Angelegenheiten aber sollten Richtlinien lediglich den Rahmen festlegen, der den Bereich absteckt, in dem die Schulkonferenz weitgehend selbständig entscheidet.

Am Beispiel des Zusammenhangs von Lehrer-Schüler-Relationen und Klassenfrequenzen läßt sich das Zusammenspiel von zentraler Richtlinie und dezentraler Verantwortlichkeit verdeutlichen. Die zentrale Schulverwaltung legt den Vorstellungen zufolge für ein ganzes Land fest, wieviel Schüler auf einen Lehrer kommen; Differenzierungen gibt es zum Beispiel nach den Altersstufen und den Behinderungsarten. Nach diesem Schlüssel bemißt sich die Zahl der Lehrer für eine Schule. Auf der Grundlage der "äußeren" Zuweisung der Lehrer wird die Schulkonferenz für die "inneren" Verhältnisse die Klassenstärken abstimmen. In dieser Abstimmung werden die didaktischen Notwendigkeiten die entscheidende Rolle zu spielen haben, beispielsweise also die Zahl der Kinder mit erschwerten Lernbedingungen in einer Klasse. Es kann aber auch darum gehen zu entscheiden, in welchen Klassen oder in welchen Bereichen im Zwei-Lehrer-System gearbeitet werden soll, wie auf der Grundlage der zentralen Lehrerzuweisung besondere Fördermaßnahmen eingerichtet werden können usf.

Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates ging in dem Bestreben nach verstärkter Selbständigkeit konsequenterweise so weit, daß sie den Schulen auch finanzielle Handlungsspielräume sichern wollte. Der Empfehlungstext sagt dazu: "Die Bildungskommission empfiehlt, den Schulen finanzielle Mittel zur eigenen Bewirtschaftung zu übertragen und ihnen Handlungs- und Entscheidungsräume bei ihrer Verwendung zu gewähren." Im Anschluß daran wird ausgeführt, daß ein Titel für Unterrichtsmittel, die im inneren Schulbetrieb gebraucht werden, ausgewiesen und den Schulen zur eigenen Bewirtschaftung bereitgestellt werden soll. Hier könnte durchaus auch an Hilfsmittel für die Therapie behinderter Kinder gedacht werden. Dann wird in dem Empfehlungstext vorgeschlagen: "Pauschalierte Personalmittel für nur vorübergehend beschäftigtes Personal sollen ebenfalls Teil der eigenen Bewirtschaftung durch die Schule sein; diese Personalmittel sollen mit den Sachmitteln einseitig zugunsten der Personalmittel deckungsfähig sein." (S. 25) Mit der Realisierung einer solchen Vorstellung bekämen die Schulen freie Beweglichkeit selbst im Bereich der Personalmittel, wenn auch in eingeschränktem Maße. Die Einschränkung liegt in der Möglichkeit einer zeitlich begrenzten Einstellung von Mitarbeitern für umschriebene Unterrichtszwecke, zur Vermeidung von Unterrichtsausfall und auch zur Durchführung notwendiger therapeutischer Maßnahmen bei behinderten Schülern.

Verstärkte Selbständigkeit der einzelnen Schule erstrebte die Bildungskommission vor allem auch hinsichtlich der Curricula. Zeitgleich mit der Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung behinderter ..." übergab sie den Regierungen von Bund und Ländern die Empfehlung "Zur Förderung praxisnaher Curriculum-Entwicklung."[96] In ihr wird von einem Curriculum-Modell ausgegangen, das sich "vom schon klassischen Modell des geschlossenen und lehrersicheren(teacher-proof) Curriculum" unterscheidet.

Das Modell, das der Bildungsrat 1973 vorstellte, ist das Modell eines "Offenen Curriculum". Damit ist gemeint,

  • "ein Mehr an bewußt ausgelegtem Handlungsspielraum für die Lehrenden und Lernenden";

  • ein Verzicht "auf Lernziele, die ausschließlich in beobachtbaren Verhaltensäußerungen angegeben sind";

  • eine Absage, an "eine Planung, durch die der Ablauf von Lernvorgängen bis ins einzelne festgeschrieben wird." (S. 21 f.)

Das Verständnis Offener Curricula kommt dem integrativen Unterricht in besonderer Weise entgegen. In der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im Unterricht brauchen alle Beteiligten, die Lehrer und die Schüler, "freie Beweglichkeit" wie Johann Friedrich Herbart das am Beginn des 19. Jahrhunderts schon ausgedrückt hat; sie brauchen ein Mehr an bewußt ausgelegtem Handlungsspielraum. Damit werden die Verwaltungen freilich immer Probleme haben. Deshalb wird unter Beachtung pädagogischer Notwendigkeiten ein Ausgleich zwischen juristischem und pädagogischem Denken gefunden werden müssen. Jedenfalls verträgt ein Handlungsspielraum keine engen Zielvorgaben, die ausschließlich in beobachtbaren Verhaltensäußerungen angegeben sind und den Unterricht in Gefahr bringen, zur Indoktrination zu werden, zur Schulung zu denaturieren. Der Unterricht im Sinne Offener Curricula ist eigentlich ein nicht-planbares Geschehen, das sich dagegen sperrt, den Ablauf von Lernvorgängen bis ins einzelne festzulegen.

3) Die personelle sonderpädagogische Qualifikation und die sachliche Ausstattung für die Gemeinsamkeit sollte gesichert werden, damit die Integration nicht auf Kosten und zu Lasten der behinderten Kinder realisiert wird. Keinesfalls darf es dazu kommen, daß die hohen Standards der deutschen Sonderpädagogik und ihrer verschiedenen Disziplinen in der Neuorientierung der Förderung behinderter Kinder und Jugendlicher verlorengehen. Schon für ein gehörloses Kind, das sich in einer allgemeinen Schule befindet, muß die sonderpädagogische Qualifikation durch einen entsprechend ausgebildeten Sonderpädagogen gesichert werden können, damit die Gemeinsamkeit mit nichtbehinderten Kindern nicht mit einem Verlust an spezieller behinderungsspezifischer Hilfe erkauft wird. Das ist die allgemeine Richtlinie. Auf ihrer Grundlage wird in der jeweiligen Situation des betreffenden Kindes und der Umstände der Schule auszumachen sein, wie der Einsatz des Sonderpädagogen gewährleistet werden kann, mit welcher zeitlichen Konstanz, oder ob er ambulant tätig sein kann, in einem Zwei-Lehrer-System, oder ob er gar als Klassenlehrer eingesetzt werden kann. Auch für ausgebildete Sonderpädagogen sollte es in integrativen Schulen nicht ausgeschlossen sein, Klassenlehrer zu werden.

Zum Personal, das für Behinderte auch in integrativen Schulen je nach den spezifischen Gegebenheiten tätig werden kann, gehören Menschen, die im engeren Sinne nicht pädagogisch oder sonderpädagogisch ausgebildet sind. Das gilt z.B. für den Ersatzdienstleistenden, der für ein glasknochenkrankes Kind engagiert ist, es gilt für die Krankenschwester, den Schularzt, die Ergotherapeutin und andere mehr. Wer mit einem blinden Schüler, der aus einer Grundschule kommt und nun in einer Schule der Sekundarstufe unterrichtet wird, das notwendige Mobilitätstraining durchführt, der muß nicht unbedingt eine pädagogische Ausbildung haben; aber Einfühlungsvermögen muß für ihn geradezu habitualisiert sein, und vor allem: ihn muß es geben, damit der Blinde sich "ein-läuft" in der neuen Umgebung, damit er sensibel wird für seine Bewegungsaktivitäten im Schulgebäude und in der Welt um ihn herum.

Über die personellen Notwendigkeiten wird von Fall zu Fall entschieden werden müssen.

Das gilt auch für die Bereitstellung der Materialien und Geräte, die für den Unterricht und die Therapie behinderter Schüler gebraucht werden. Peter Appelhans beschreibt die Hilfsmittel für blinde und sehgeschädigte Schüler des gymnasialen Zweigs der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg so plastisch, daß eine Übertragung auf den Unterricht von Kindern mit anderen Behinderungen vorstellbar wird: "Der sehgeschädigte Schüler kann nur dann in die Lernprozesse der Regelschule erfolgreich integriert werden, wenn er mit den gängigen Hilfsmitteln ausgerüstet ist: der Punktschriftbogenmaschine, einer normalen Schreibmaschine, Reliefkarten und -globus für Erdkunde und Geschichte, Zeichengeräten für den Mathematikunterricht. Darüber hinaus muß die Versorgung mit Texten in Brailleschrift gesichert werden, weil der Unterricht am Gymnasium in den meisten Fällen (oft auch in Musik, Kunst, den Naturwissenschaften) von Lehrbuch- oder hektographierten Texten ausgeht oder sie zur Vor- und Nachbearbeitung des Unterrichts zugrunde legt. - Wo die Beschaffung oder Herstellung von Punktschriftliteratur zu aufwendig oder schwierig ist, werden oft Tonträger (vor allem Kassetten) eingesetzt. - Ein kleiner, leicht transportabler Kassettenrekorder wird von jedem Blinden und vielen Sehbehinderten in der Schule ständig mitgeführt. - Für den Mathematikunterricht konnten ... elektronische Taschenrechner mit Brailleanzeige zur Verfügung gestellt werden. Einige Sehbehinderte arbeiten bei Klassenarbeiten und zu Hause mit dem Fernsehgerät (Rand-Sight-Gerät). Die naturwissenschaftlichen Sammlungen sind um haptisch interpretierbare Modelle, Meßgeräte mit Anzeigenvorrichtungen für Blinde, Reliefskizzen und -pläne erweitert worden."[97]

Für das Land Nordrhein-Westfalen wurde im Zusammenhang der Entwicklung von Grundschulrichtlinien am Beginn der siebziger Jahre eine Empfehlung für die sachliche Ausstattung der Grundschulen an die Schulträger gegeben. Sie sollten daraus ersehen, was alles notwendig ist, um den Schulen die Erfüllung dessen zu ermöglichen, was in den Richtlinien gefordert wurde. In ähnlicher Weise werden für die integrativen Schulen Richtwerte für die verschiedenen Behinderungsarten zu entwickeln sein.

Auf die notwendige bauliche Gestaltung integrativer Schulen war in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates schon hingewiesen worden. In ihr heißt es: "Insbesondere sind die zusätzlichen Gruppen- und Kursräume sowie Räume für Einzelförderung und Therapie bereitzustellen. Gegebenenfalls sind auch besondere Gymnastik- und Krankengymnastikräume, Bewegungsbäder und zusätzliche technische Einrichtungen vorzusehen. Sofern Körperbehinderte ein Kooperatives Schulzentrum besuchen, muß für ausreichende Bewegungsmöglichkeit Sorge getragen werden (z.B. Aufzüge, schiefe Ebenen, breitere Türen)."[98]

5.2 Dispositionen der Lehrer für den gemeinsamen Unterricht

1. Die wichtigste Konstante in der Disposition der Lehrer ist ihre Bereitschaft, behinderte Schüler in den allgemeinen Unterricht aufzunehmen und gemeinsam mit allen anderen zu des fördern. Das Bewußtsein des Lehrers muß durch Offenheit für Behinderte charakterisiert sein, durch Verständnis für ihren erschwerten Lebensvollzug und ihre erschwerten Lebensbedingungen, und andererseits muß sich der Behinderte durch den Lehrer angenommen wissen. Nur in dieser Gegenseitigkeit kann ein pädagogischer Bezug als ein Verhältnis des Aufeinanderangewiesenseins von Lehrer und Schüler entstehen, das für beide fruchtbar wird. Die Bewußtseinsdisposition des Lehrers für Behinderte ist in integrativen Schulen ebenso wichtig wie die spezielle sonderpädagogische Qualifikation, die in einem Studium erworben werden kann.

In der heutigen Situation des Nebeneinanders von Sonderschule und allgemeiner Schule ist es nicht ratsam, die gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten in einer Klasse gegen den Willen der Lehrer zu erzwingen, nicht einmal gegen ihre Gleichgültigkeit der Integration gegenüber. Es wäre zum Nachteil behinderter Kinder, wenn Lehrer an allgemeinen Schulen gezwungen würden, sie in ihre Klasse aufzunehmen und zu unterrichten. Beispielsweise wurde ein sehr stark schwerhöriges Kind, nachdem es die Grundstufe einer Schwerhörigenschule durchlaufen hatte, in ein allgemeines Gymnasium angemeldet und von dem betreffenden Oberstudiendirektor auch aufgenommen. Die Lehrer, die in der Sexta unterrichteten, zu der das Kind gehörte, sollten ein Mikrofon tragen, das auf das Hörgerät des schwerhörigen Kindes eingestellt war. Dazu aber fanden sich nicht alle Lehrer der betreffenden Klasse bereit. Weil sich den Emotionen der Menschen keine Befehle erteilen lassen, änderte der Schulleiter den Stundenplan, um nur Lehrer in der Klasse unterrichten zu lassen, die auch die innere Bereitschaft dazu mitbrachten.

Man muß in einem solchen Zusammenhang aber auch sehen, daß heranwachsende junge Menschen sich in ihrem Handeln am Beispiel erwachsener Menschen orientieren, die sie schätzen und denen sie Achtung entgegenbringen. Unter allen Faktoren, von denen erzieherische Wirkung ausgeht, kommt vielleicht dem Beispiel die stärkste Bedeutung zu. Deshalb kann für integrative Klassen (mit allen Vorbehalten) ausgesagt werden, daß die Akzeptierung und Respektierung des Behinderten, so wie er von sich selbst her ist, durch den Lehrer, die Einstellung des Lehrers dem behinderten Mitschüler gegenüber, die Art und Weise seines Umgangs mit ihm, beispielhaft für alle Schüler werden. Wollte der Lehrer bewußt und willentlich durch sein Handeln erzieherisch wirken, so würde er den Behinderten zu einem Mittel des Zwecks der Erziehung der Nichtbehinderten denaturieren. Er verlöre zugleich in den Augen aller Schüler seine Glaubwürdigkeit. Nur in der Unabsichtlichkeit natürlichen Handelns des anderen Menschen erwachsen die Orientierungen für das eigene Handeln. Eine Erziehung, die durch das Beispiel geschieht, ist darum prinzipiell unplanbar. Jeder Erzieher sollte sich deshalb hüten davor, durch sein Vorbild erziehen zu wollen. Im übrigen würde er den einzelnen Schüler, der das Vorbild kopierte, um seine eigene Individualität betrügen. Das Vorbild ruft zum Nachbilden auf, das Beispiel aber entläßt in die eigenen Möglichkeiten.

Vielleicht ist im Erreichen der humanen Bewußtseinsdisposition für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern bei den Lehrern, aber auch bei den Eltern, den Schulverwaltungen und überhaupt in der Öffentlichkeit die wichtigste Aufgabe zu sehen, die für die Integration von Behinderten in allgemeinen Schulen in den nächsten Jahren zu erfüllen ist. Aber durch Belehrung, Information, durch Fernsehsendungen und öffentliche Veranstaltungen kann eine wesentliche Bewußtseinsänderung nicht herbeigeführt werden. Am stärksten wirken Beispiele. Deshalb ist jede einzelne integrative Einrichtung, die neu entsteht, zugleich die Bedingung für die Ermöglichung weiterer.

2. In der Disposition des Lehrers spielt eine wichtige Rolle, daß er zu einem pädagogisch vertretbaren Leistungsverständnis findet. Gemeinhin kommt Leistungsdruck in unserem Schulwesen zustande, weil die einzelnen Schulformen hierarchisch gegliedert sind und deshalb Selektionsmechanismen brauchen, um Schüler für die jeweils höheren Schulformen oder Bildungsstufen auszulesen. Dieser Leistungsdruck, der Behinderte benachteiligt und Behinderungen immer wieder neu produziert - darüber muß man sich im klaren sein, daß die Schule manche Behinderungen geradezu "macht" - , kann eigentlich nur abgebaut werden, wenn sich das Individualisierungsprinzip für die Lernprozesse allgemein durchsetzt, wenn das Berechtigungswesen, das auf der Grundlage schulischer Leistungen, vorwiegend kognitiver, etabliert ist, negiert wird und wenn die Schule sich nicht mehr an den Ansprüchen außerschulischer Instanzen orientiert, die Konkurrenz und Leistung fordern, weil wir, wie sie vorgeben, in einer Leistungsgesellschaft leben. Es stellt sich doch die Frage, ob der Schüler in der Schule der Gegenwart nicht einem härteren Leistungsstreß ausgesetzt ist als viele Erwachsene in der vielberufenen Leistungsgesellschaft der Erwachsenen. Schon die Sechsjährigen werden in der Schule durch die Ansprüche auf Pünktlichkeit, Ordnung, Einfügung in eine Klasse neben dem permanenten Anspruch des Lernens in den verschiedenen Lernbereichen stark gefordert. Daneben schaffen Versetzungen, Zeugnisse, Klausuren und Prüfun¬gen für die Kinder Ernstsituationen, die rücksichtsloser sein können als die Ansprüche, die in der Welt der Erwachsenen aufkommen, zumal der Erwachsene die Möglichkeit hat, zu kündigen und seinen Arbeitsplatz zu wechseln. Das Leistungsprinzip, das in unserer Gesellschaft verherrlicht wird und dem sich die Schule weithin unterworfen hat, verhindert die Emanzipation einzelner gesellschaftlicher Gruppen, vor allem der Behinderten in unserer Welt.

Drei Aspekte sind es vor allem, die zu einer Veränderung des Leistungsverständnisses in der Schule und überhaupt in der Pädagogik beitragen können.

  • Es wird darauf ankommen, das Kind nicht maßlos zu überfordern und nicht zu unterfordern, sondern es nach dem Maße seines Vermögens zu beanspruchen, nach seiner Leistungsfähigkeit, seinen Möglichkeiten. Das klingt für einen Lehrer selbstverständlich, er weiß aber auch, wie schwierig es ist, einem solchen Prinzip in den heutigen schulischen Gegebenheiten zu folgen. Das Herausfinden der individuellen Lern- und Leistungsfähigkeit eines Kindes ist eine seiner vornehmlichen Aufgaben. Vom Erfolg seines Bemühens wird das Glück des Kindes in der Schule abhängig sein. Es ist nicht einfach, die individuelle Leistungsfähigkeit zu bestimmen, zumal ihre Grenze nicht ein für allemal objektiv vorgegeben ist, sondern in den Prozessen des Lehrens und Lernens immer wieder neu ermittelt werden muß. Eindrucksvoll hat Pearl S. Buck dies aus dem Umgang mit ihrer geistigbehinderten Tochter geschildert: Sie wollte durch täglichen Unterricht herausfinden, was das Kind zu lernen in der Lage ist, und ihre Anforderungen waren relativ hoch. "Aber als ich eines Tages in meinem immer sehr freundlichen, aber stetigen und durch meine Besorgnis vielleicht ein wenig unbarmherzigen Drängen ihr rechtes Händchen ergriff, um es beim Schreiben eines Wortes zu führen, war es naß von Schweiß. Ich ergriff ihre beiden Hände und öffnete sie: ich sah, daß sie naß waren. Und da begriff ich, daß das Kind unter einer ungeheueren Spannung stand." Danach bekennt sie: "Mir war, als bräche mein Herz ... dieses Kind war ein Mensch. Es hatte ein Recht auf Glück, und dieses Glück konnte dort erstehen, wo es in seiner Art wirken konnte."[99]

  • Der zweite Aspekt des pädagogischen Leistungsverständnisses ist darauf gerichtet, den Vergleich der Schüler untereinander zu vermeiden. Vorrangig sollte der Schüler den Fortschritt seiner Leistung durch den Vergleich mit sich selbst erfahren, wie es Rousseau schon für den Emil empfohlen und durch Beispiele veranschaulicht hat. Ein Vergleich mit anderen drängt den Schüler zur Orientierung an anderen. Er wird möglicherweise unzufrieden mit sich selbst, weil er seine individuelle Leistung als unzulänglich erfährt. Darum mündet seine Anstrengung mitunter in Frustrationen. Man muß sich, um das recht zu vergegenwärtigen, einmal vorstellen, daß in Norwegen die ersten acht Schuljahre frei von Ziffernzensuren sind. Zweimal im Jahr muß ein Lehrer die Eltern verbal informieren, ohne daß er ein Kind mit einem anderen vergleicht. Es ist eine pädagogisch wirksame Empfehlung des Storting, des norwegischen Parlaments, denn vor allem der Vergleich der Kinder untereinander bringt Streßsituationen für sie hervor. - Die Problematik des Vergleichs der Schüler untereinander durch den Lehrer zeigt sich aber auch von der anderen Seite her: durch den Vergleich werden Schüler mitunter herausgehoben und in die Spitzengruppe einer Klasse eingeordnet. Das kann zu Egozentrismus führen, wenn es sich wiederholt, zu einem nur auf sich selbst bezogenen Lebensvollzug. Das allerdings ist ein Verständnis vom Menschen, das eigentlich nur eine im Ökonomischen begründete Leistungsgesellschaft bevorzugen kann.

  • Im dritten Aspekt geht es um die Heterogenität der Schülerpopulation in integrativen Schulen. Was Peter-Petersen als "Bildungsgefälle" bezeichnet hat, ist in integrativen Schulen deutlich ausgeprägt. Deshalb können die gleichen Leistungsanforderungen nicht an alle Schüler in der gleichen Weise gestellt werden. Es wäre auch nicht gut, wenn der Unterricht in der Schule so erteilt würde, als müßten alle Kinder auf die gleichen Abschlüsse festgelegt und den gleichen Ansprüchen gerecht werden. Schule muß vorrangig so konzipiert sein, daß im Unterricht auf das Rücksicht genommen wird, was Kinder können und was sie zu lernen in der Lage sind. Das ist in so eingängigen Formulierungen wie beispielsweise der gemeint, daß die Schule die Kinder da abholen müsse, wo sie stehen oder daß unter Schulreife auch die Reife der Schule für das Lernen der Kinder verstanden werden könne. Viel zu sehr wurde in der Vergangenheit der selektive Charakter der Schule betont und nach Schwächen, Ausfällen und Defiziten der Kinder geradezu gefahndet, statt positiv von dem auszugehen, was sie zu leisten imstande sind und waren.

3. Zur Disposition des Lehrers gehört es, daß er in der Lage ist, in den Situationen des Unterrichts offen zu agieren.[100] Der Gegensatz der Offenheit des Lehrers ist darin zu sehen, daß er verschlossen ist und nicht erkennt, was sich in einer Situation zeigt. Es kann von den Schülern ausgehen, dem einen, der schnell auffaßt, und einem anderen, der Schwierigkeiten hat, einen neuen Sachverhalt einzusehen und zu verstehen. Das Verschlossensein des Lehrers, sein Festgelegtsein, kann zustandekommen durch eine sorgfältige Vorbereitung des Unterrichts, die so weit geht, daß er glaubt, auf das letzte Detail des unterrichtlichen Geschehens eingestellt sein zu müssen. Die gute Vorbereitung kann den Lehrer zu einem didaktischen Technokraten werden lassen, der sich sklavisch an das bindet, was er geplant und damit im Vorhinein beabsichtigt hat. Im Unterschied dazu sollte die Vorbereitung des Lehrers eigentlich so beschaffen sein, daß sie ihn freimacht für unterrichtliches Agieren, nicht festlegt und bindet. Sie sollte ihm Sicherheit geben, den Gang einer didaktischen Entwicklung im Augenblick zu ändern, weil er vielleicht durch einen Schüler, durch seinen fragenden Blick, seinen Gesichtsausdruck, durch den Einwand, den er macht, vielleicht auch durch seine Unaufmerksamkeit, dazu provoziert wird.

Die hier gemeinte Offenheit des Lehrers ist immer darauf gerichtet, die Schüler zu respektieren, denn sie gestalten die Situationen des Unterrichts mit. Im Zusammenspiel des Lehrens und Lernens sind die Schüler Träger eigener Handlungsvollzüge, die dem Handeln des Lehrers mitunter das Konzept verderben, das Handeln des Lehrers durchkreuzen, überschneiden oder nur tangieren, vielleicht auch unterstützen, bis endlich sich ein Koinzidieren beider Handlungsstränge ereignen kann. Die möglichen Imponderabilien eines solchen Handlungsgeschehens nötigen den Lehrer zu einer intensiveren Planung des Unterrichts als sie da angebracht ist, wo er sich der Vorbereitung wie eines Lattenzaunes bedient, an dem er sich festhält, während er im Unterricht fortschreitet. In jedem unterrichtlichen Handlungsablauf liegt eine eigenartige Spannung besonders dann, wenn der Lehrer offen ist für das Unvorhersehbare, das sich immer nur in "offenen" Situationen zeigen kann, wenn er überhaupt dem Unvorhersehbaren Raum gewährt - er könnte sich ihm ja auch verschließen. Dann nämlich läßt sich in der Augenblicklichkeit einer Situation noch nichts über das ihr folgende Geschehen ausmachen, und immer spielt die Überraschung als didaktisches Phänomen in den Handlungsablauf hinein.

Johann Friedrich Herbart hatte in seiner ersten pädagogischen Vorlesung im Jahre 1802 die hier beschriebene Handlungsmöglichkeit des Lehrers mit dem Begriff "Pädagogischer Takt" bezeichnet, mit dem er zugleich das Verhältnis von Theorie und Praxis für die Erziehungswissenschaft zu bestimmen versuchte. Takt ist für ihn "eine schnelle Beurteilung und Entscheidung", aus denen ein Handeln erwächst, das in die Stellen eintritt, "welche die Theorie leer ließ."[101] Das ist eine Vorgabe, die das taktvolle Handeln außerhalb systematischer Ordnungen sieht, aber auch frei von Regeln, jedoch auf dem Grunde der Regelmäßigkeit, gewissermaßen als Ausnahme von der Regel, als die Unregelmäßigkeit im Regelmäßigen. Ein solches Handeln transzendiert das Regelmäßige, hebt es auf eine höhere Ebene. Es nimmt improvisatorischen Charakter an, denn auch der Improvisation eignet jene Offenheit, die dem Lehrer für unvorhersehbare Situationen eigen sein sollte, wenn er nicht in starren Schemata festgelegt ist. Die Improvisation hat spielerischen Charakter. Sie vertraut auf den glücklichen Einfall, der dem Handeln Leichtigkeit gibt. Aber das geschieht nicht "im luftleeren Raum", sondern aus der Sicherheit einer immerwährenden Vorbereitung heraus. In das improvisatorische Handeln schießt "all das an geistiger Arbeit, was sonst in der Vorbereitung geleistet werden muß, gleichsam in dem Augenblick ein, in dem der Lehrer sich einer unerwartet aufspringenden, fruchtbaren Situation stellt und sie aufgreift."[102]

Die hier beschriebene didaktische Offenheit des Lehrers steht im Gegensatz zu den sogenannten "eacher-proof-curricula", die in der Curriculumentheorie der USA propagiert wurden und in den sechziger und siebziger Jahren auch die europäische Diskussion beeinflußten. Damit waren Curricula gemeint, die den Lehrer als Unsicherheitsfaktor ausschalten oder zumindest die von ihm ausgehenden Risiken soweit reduzieren sollten, daß sie unerheblich würden. Der Lehrer sollte gewissermaßen zu einem Curriculum-Funktionär werden, ohne eigenes Denken, ohne Kreativität, nur "ausführendes Organ" für all das, was ihm in den Curricula vorgegeben wird. Ein tiefes Mißtrauen dem Lehrer gegenüber kommt in einer solchen Konzeption zum Ausdruck. Zumindest der Intention nach versuchen die teacher-proof-curricula eine Regelung aller Details der Prozesse des Lehrens und Lernens. Das legt den Lehrer fest und läßt ihn und die Schüler in einer extremen Weise kontrollierbar werden. Eigentlich ist das eine Curriculum-Konzeption, die autoritären Systemen entspricht, nicht aber demokratischen Gesellschaften.

5.3 Empfehlungen an die Verwaltungen zur Einrichtung integrativer Schulen

1. Wo Eltern und Lehrer sich für die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Schülern entschieden haben, da sollte die Schulverwaltung sie nicht nur gewähren lassen, sondern sie unterstützen. Sie kann beraten, wie dieses oder jenes Problem zu lösen ist, denn ihre Perspektive ist anders als die einer Schulleitung, die des Schulträgers und die der Eltern und Lehrer. Über die beratende Funktion hinaus sollte die Schulverwaltung besorgt sein, sonderpädagogischen Sachverstand an die jeweilige allgemeine Schule zu bringen, also Sonderpädagogen und Therapeuten. In einigen Bundesländern wird es dazu nötig sein, daß die entsprechenden gesetzlichen Vorleistungen geschaffen werden. Die Verwaltung kann aber auch die Weiterbildung des gesamten Personals einer Schule in allgemeinen Zusammenhängen der Behindertenpädagogik und speziellen Fragen der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im Unterricht ermöglichen.[103] Darüber hinaus sollte sie in Kooperation mit den Schulträgern die sonderpädagogischen Hilfssysteme bereitstellen, die für die Therapie gebraucht werden, und die Medien und Materialien für die gemeinsame unterrichtliche Förderung von Behinderten und Nichtbehinderten.

2. Nachdem die Kultusministerkonferenz für die ersten beiden Klassenstufen der Grundschule die Ziffernzensuren abgeschafft hat, muß es pädagogische und schulpolitische Zielvorstellung sein, diese Freiheit in höhere Klassenstufen hinein auszudehnen. Heute schon ist es möglich, die behinderten Kinder in allgemeinen Schulen nach den Richtlinien und Lehrplänen zu fördern und zu bewerten, die für sie in den jeweiligen Schulen für Behinderte gelten würden. Konkret bedeutet das zum Beispiel, daß das geistigbehinderte Kind in einer Grundschule nicht auf die Anforderungen und die Bewertungssysteme festgelegt werden muß, die für die nichtbehinderten Kinder gelten; vielmehr können, auch wenn es die Grundschule besucht, die Verbindlichkeiten herangezogen werden, die für es in der Schule für Geistigbehinderte maßgeblich wären. Aber diese Möglichkeit kann auf die Dauer nicht befriedigen. Man muß in diesem Zusammenhang sehen, daß sich die Unterrichtswirklichkeit schon zu verändern beginnt, daß sie sich gewissermaßen humanisiert, wenn der einzelne Lehrer um die Problematik der Zensuren und um ihre Fragwürdigkeit weiß. Ein Lehrer, der dem Zwang, Schüler bewerten zu müssen, wie einer Selbstverständlichkeit folgt, destruiert die pädagogische Beziehung zu den Schülern, vermag überhaupt nicht in ein pädagogisches Verhältnis zu ihnen zu kommen. Die Nötigung zur Bewertung bringt die Gefahr auf, daß die Schüler in den Unterrichtsvollzügen zu Objekten denaturieren. Dieser Gefahr kann begegnet werden, wenn der Lehrer offen mit den Schülern über die Zensurenproblematik spricht und sie an seiner Belastung teilnehmen läßt. Vielleicht kommen die Schüler dadurch zu einer realistischen Einschätzung ihres Lern- und Leistungsvermögens, was sie aus der Objekthaltung befreien und für die humane Beziehung zum Lehrer freigeben könnte. Aber auch ein solches Problembewußtsein bei Schülern und Lehrern ist noch keine Lösung. Die allgemeine Schule insgesamt muß sich der Aufgabe stellen, auf unpädagogische Bewertungssysteme zu verzichten, um pädagogischer zu werden.

Die Überlegungen zur Befreiung der Schule von Ziffernzensuren ließen sich fortsetzen in einer Problematisierung der Abschlüsse, die es in den Ländern der Bundesrepublik für die Sekundarstufe I gibt. Sieben sind es in einigen Bundesländern. Jeder einzelne Abschluß hat den Charakter einer Zensur, und alle zusammen klassifizieren beim Übergang in die Sekundarstufe II oder bei der Entlassung aus der Schule die jungen Menschen in einer Weise, die im Widerspruch zum dem Verständnis von Pädagogik steht, das sich seit den Tagen Pestalozzis ausgebreitet hat.

3. Welches Kriterium soll für die Aufnahme eines behinderten Kindes in eine allgemeine Klasse maßgeblich sein? Sicher läßt sich die Frage nicht generell beantworten. Für integrative Schulen und Klassen kann man von der Voraussetzung ausgehen, daß in ihnen die Schüler nicht auf das Erreichen gleicher Lernziele und gleicher Abschlüsse für alle festgelegt sind. Im Zentrum ihres didaktischen Bemühens steht das Individualisierungsprinzip, und in der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten geht es ihnen um gelebte Mitmenschlichkeit. Deshalb kann die Chance eines individuellen Lernfortschritts, verbunden mit der Möglichkeit, in der Kommunikationsfähigkeit weiterzukommen, als allgemeines Kriterium für die Aufnahme eines behinderten Kindes gelten. Dieses Kriterium eröffnet die Chance, auch schwerbehinderte Kinder in allgemeine Klassen aufzunehmen. Es wäre ungut, wenn in der Diskussion der Integration immer zuerst auf behinderte Kinder aufmerksam gemacht würde, beispielsweise auf geistigbehinderte, für die ein gemeinsamer Unterricht und eine gemeinsame Erziehung mit nichtbehinderten Kindern in der allgemeinen Schule nicht zu realisieren sei. Wer kann sich anheischig machen, das für den individuellen Fall definitiv zu bestimmen? Das ernsthafte Bemühen um Integration muß von der Möglichkeit des gemeinsamen Unterrichts ausgehen. Diese Möglichkeit und auch die Grenze wird für manches behinderte Kind in der integrativen Schulwirklichkeit ermessen werden müssen. Jede im Vorfeld dieser Wirklichkeit und unabhängig von ihr getroffene Entscheidung wird von Unsicherheit behaftet sein. Integration ist unteilbar. Damit ist gemeint, daß sie für alle gilt. Man kann nicht die Gemeinsamkeit der jungen Menschen in der allgemeinen Schule anstreben, aber einen Teil davon ausschließen.



[91] Vgl. u.a. Theodor Hellbrügge: Unser Montessori-Modell. Erfahrungen mit einem neuen Kindergarten und einer neuen Schule. Frankfurt: Fischer Taschenbuchverlag 1984 und Theodor Hellbrügge (Hg.): Klinische Sozialpädiatrie. Ein Lehrbuch der Entwicklungs-Rehabilitation im Kindesalter. Berlin/Heidelberg/New York: Springer Verlag 1981

[92] Arbeitsstelle für Frühförderung am Institut für Sonderpädagogik der Universität München (Otto Speck): Pädagogische Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts der Bund-Länder-Kommission. München 1982

[93] Deutsches Jugendinstitut: Gemeinsam leben, 6. Jg. (1985), Heft 15, S. 4f.

[94] Kommission Kindertagesstätten der obersten Landesjugendbehörden: Gemeinsame Förderung und Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder in Kindertagesstätten. Vorlage für die Konferenz der Jugendminister am 18. September 1985

[95] Deutscher Bildungsrat: Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen. Teil 1: Verstärkte Selbständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern. Bonn 1973. - Diese Empfehlung sollte in zwei Teilen erscheinen. Der Widerstand und die Kritik der Regierungskommission waren allerdings so vehement, daß die Bildungskommission nur den ersten Teil als Empfehlungstext herausbrachte, der zweite Teil bekam einen andersfarbigen Einband und wurde zwar auch publiziert, aber nicht als Empfehlung. Die Auseinandersetzungen um die "verstärkte Selbständigkeit der Schule" waren einer der gewichtigen Anlässe für die Auflösung des Deutschen Bildungsrates im Jahre 1975.

[96] Deutscher Bildungsrat: Zur praxisnaher Curriculumentwicklung. Bonn 1973

[97] Peter Appelhans: Blinde und sehbehinderte Kinder an einem allgemeinen Gymnasium. In: E. Funke/G.G. Wendt (Hg.): Rehabilitation '77 - Wege zur Prävention und Integration. Marburg 1977, S. 236f.

[98] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, S. 87f.

[99] Pearl S. Buck: Geliebtes unglückliches Kind. Wien/Hamburg: Zsolnay Verlag 1952, S. 60f. (Titel der amerikanischen Ausgabe. The Child Who Never Grew)

[100] Die folgende Partie über die Offenheit des Lehrers lehnt sich an den Gedankengang an, der in meiner Schrift über den Pädagogischen Takt in dem Kapitel über den "Takt als Form didaktischen Handelns" dargestellt ist. Vgl. Jakob Muth: Pädagogischer Takt. 3. Aufl. Essen: Neue Deutsche Schule 1982, bes. S. 51-76

[101] Joh.Fr. Herbart's sämtliche Werke. Herausgegeben von Karl Kehrbach. Langensalza: Beyer 1887, Bd. Iff. Vgl. Bd. 1, S. 285f

[102] Wolfgang Klafki: Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. In: Die Deutsche Schule, 50. Jg. (1958), S. 451

[103] Für Weiterbildung sind sehr hilfreich die Studienbriefe des Deutschen Instituts für Fernstudien (DIFF) an der Universität Tübingen aus dem Projekt: Behinderungen: Diagnose, schulische und außerschulische Förderung betroffener Kinder und Jugendlicher in allgemeinen Schulen. Tübingen 1986

6. Überlegungen zur Theorie der Schule unter dem Aspekt der Integration von Behinderten

Theodor Ballauff leitet seine Theorie der Schule, eine der wichtigen pädagogischen Publikationen der letzten Jahrzehnte, die unter dem Titel "Funktionen der Schule" erschienen ist, mit den folgenden Sätzen ein:

"Die Geschichte der Schule ist ein Trauerspiel. Gemessen an dem, was man ihr auftrug und was man von ihr erwartete, enttäuschten ihre Institution und die Vorgänge in ihr immer aufs Neue. Ja ihre beobachtbare, feststellbare Wirklichkeit bot oft den gegenteiligen Anblick zu ihrer postulierten Gestalt und Verfassung."[104] Die kritischen Feststellungen Ballauffs treffen in besonderer Weise auf das Schulwesen zu, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Deshalb sollen hier abschließend Überlegungen zur Schultheorie, zu der Frage, "was die Schule soll, weshalb man sie einrichtet", angestellt werden, wie sie sich von der Aufgabe der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten her aufdrängen.

Der Begriff Schule leitet sich von dem griechischen Wort scholé ab und bedeutet ursprünglich Muße, Sammlung, gelehrtes Gespräch. Scholé ist im gleichen Sinne aber auch der gleiche Ort des Freiseins von äußeren Zwängen und Zwecken. Natürlich darf man die Etymologie nicht überschätzen. Sie kann in unserem Zusammenhang auch nur heuristische Bedeutung haben und deshalb helfen, den Sinn von Schule zu klären, womit hier das sogenannte allgemeine Schulwesen gemeint ist. Das ist also die Grundschule, und es sind die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I. Nicht gemeint ist das berufsbildende Schulwesen. Vollkommen zweckfrei ist freilich die allgemeine Schule bis zum Ende der Sekundarstufe nicht. Sie hat einen inneren Zweck, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff "Bildung" bezeichnet wird. Gemeint ist damit Menschlichkeit, die Fähigkeit zu mitmenschlichem und sachlichem Handeln. Die Führung der jungen Menschen in diese Fähigkeit kann nur in einem Bereich geschehen, in dem Zwänge und Zwecke von außen abgeschirmt werden, weshalb sich in ihm Besinnung, Sammlung, Muße ermöglichen. Es wäre müßig zu streiten, ob das Athen der Antike, das diesen Schulbegriff hervorgebracht hat, vergleichbar ist der Situation in einem Industriestaat des 20. Jahrhunderts, und sicher entsprachen Schulen in der Antike nicht durchweg der inhaltlichen Bestimmung, die uns die Etymologie zeigt. Dennoch ist das Verständnis der Schule als eines freien Raumes, frei von äußeren Zwängen und Zwecken, frei für die Bildung des Menschen, heute so aktuell wie damals.

Die Schule hat in unserer Zeit den Charakter einer Stätte der Muße verloren. Aus der Vielzahl von möglichen Belegen dafür sei an dieser Stelle nur einer ausgeführt: auf der Grundlage einer Vereinbarung der Konferenz der Kultusminister zur gegenseitigen Anerkennung der Schulabschlüsse gibt es beispielsweise im Lande-Nordrhein-Westfalen sieben verschiedene Abschlüsse für die Sekundarstufe I. also für die Altersgruppe der etwa Fünfzehn- und Sechzehnjährigen. Es sind sieben die jungen Menschen in unterschiedlicher Weise qualifizierende, berechtigende, aber auch diskriminierende Abschlüsse. Das dürfte in anderen Bundesländer kaum anders sein, zumal es eine Eigenart der deutschen Bildungspolitik ist, daß sie ihre besondere Fürsorge immer denen gewährt, die in der Bildungspyramide nach oben kommen können. Das sind zuerst die Abiturienten, danach all jene, die die Mittlere Reife erreichen, die Fachoberschulreife usf. Abschlüsse, die in der Hierarchie weiter unten stehen haben mehr den Charakter von Trostpreisen für die Teilnahme an einem Wettkampf, bei dem, keine Qualifizierung erreicht wurde. Es mag formale Unterschiede in den Abschlüssen der einzelnen Bundesländer geben. Identisch ist ihnen aber die selektierende Absicht. Angesichts einer solchen Realität muß man sich einmal daran erinnern, daß der Deutsche Bildungsrat im Jahre 1970 in seinem "Strukturplan für das Bildungswesen" einen Abschluß für die Sekundarstufe I mit differenzierten Profil gefordert hatte. Und man muß sich einen Bildungsbereich einmal vorstellen, in dem gelernt werden kann, ohne daß am Ende eine Klassifizierung der jungen Menschen in siebenfacher Weise vorgenommen werden muß. Vielleicht wäre in einem solchen Bereich, der frei von Abschlußzwängen ist, die Realisierung der Schule als einer Stätte der Muße, der Besinnung möglich.

Allgemein bekannt ist der Satz: Non scholae sed vitae discimus (Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir). Er geht auf Seneca zurück, den römischen Philosophen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Von diesem Satz leitet sich die Auffassung ab, daß in der Schule die Zwecke des künftigen Lebens verfolgt werden sollen. Der Sinn der Schule, so wird der Satz interpretiert, liege in der Vorbereitung des Erwachsenenlebens. Das ist so selbstverständlich geworden, so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir kaum verstehen können und deshalb auch nicht wahrhaben wollen, daß Seneca im hunderstsechsten einer Briefe an Lucilius das Gegenteil formuliert hat, vielleicht um das Nachdenken darüber anzuregen: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. - non vitae sed scholae discimus. Sicher ist ein solcher Satz, aus dem Kontext der Gedankenwelt Senecas herausgelöst, nicht ohne weiteres zu verstehen. Vielleicht kommt man dem Sinn näher, wenn man andere Stellen aus den Briefen heranzieht.

Im achtundachtzigsten Brief an Lucilius beschäftigt sich Seneca mit den "Freien Künsten und Wissenschaften". Da heißt es zum Beispiel: "Der Geometer lehrt mich, Grundstücke zu vermessen - statt mich zu lehren, woran ein Mensch genug hat." Wer gelernt hat zu wissen, woran ein Mensch genug hat, der ist eigentlich in die Menschlichkeit gelangt. Menschlichkeit mag als eine nutzlose Qualität angesehen werden. Sie muß aber trotz ihrer vermeintlichen Nutzlosigkeit nach der Auffassung Senecas dem Lernen nützlicher Qualitäten vorausgehen. Bevor also das Nützliche, das Brauchbare gelernt wird, zum Beispiel, wie Grundstücke zu vermessen sind, muß die Führung in die Fähigkeit zu menschlichem Denken und Handeln geleistet, muß also das "Nutzlose" gelernt werden. Die Beispiele Senecas für diese pädagogische und anthropologische Wahrheit sind zweitausend Jahre alt. Dennoch sind sie anschaulich genug, um auch in unserer Zeit verstanden zu werden. So etwa, wenn es heißt: "Was nutzt mir die Kenntnis, wie man ein kleines Bauerngut aufteilt, wenn ich nicht mit meinem Bruder zu teilen verstehe?" Oder an anderer Stelle im gleichen Brief: "Du willst mich den Zusammenhang von hohen und tiefen Tönen lehren, ... lehre mich vorher die seelische Harmonie meines Inneren, die Übereinstimmung aller meiner Entschlüsse!" Nicht für das Leben lernen, sondern für die Schule, das könnte von solchen Beispielen Senecas her auch meinen: zuerst muß es in der Erziehung um die Menschlichkeit des Menschen gehen. Natürlich ergeben sich daraus auch Orientierungen und Maximen für das künftige Leben des Menschen. Sie erwachsen aber nicht aus vordergründigen Orientierungen des Lehrens und Lernens an Normen der Brauchbarkeit.

Ganz sicher sind heutzutage die zwölf-, dreizehnjährigen Schüler mehr noch als die früherer Zeiten aufgeschlossen für brauchbare Kenntnisse und Fertigkeiten. Aber die Brauchbarkeit, der Nutzen des Unterrichts in der Schule kann gerade nicht das Kreterium der allgemeinen Bildung sein. Das muß wissen, wer zum Beispiel den Kindern die Möglichkeit verschaffen möchte, jedwede Rechenoperation von Rechnern ausführen zu lassen, bevor sie selbst die Rechenoperation gelernt haben. Im übrigen könnte eine solche Praxis in den Kindern das Mißverständnis hervorbringen, Mathematik sei die Fähigkeit zum geschickten Bedienen von Rechnern. Oder: Wer in der allgemeinbildenden Schule zum Beispiel lehrt, wie ein Fahrrad geflickt wird, dem fällt es nicht schwer, für die Schüler einsehbare Begründungen seines Lehrens zu finden. Wie steht es aber etwa um das Gleichnis vom verlorenen Sohn? Vielleicht fällt es uns als Erwachsenen heutzutage schwer, das Zweckfreie, das Nutzlose zu lehren, weil unser Verhältnis dazu in den ökonomischen Verhältnissen der gegenwärtigen Welt zerstört oder zumindest beeinträchtigt worden ist. Es ist einem Lehrer im Bereich der Sekundarstufe einfach nicht möglich, alles und jedes, was in Richtlinien und Lehrplänen vorgegeben wird, auf seine Verwendbarkeit im späteren Leben hin auszulegen. Könnte ein Lehrer das, wäre sein Unterricht nicht mehr eine Stätte der Freiheit von äußeren Zwängen.

In den letzten Jahren hat Neil Postman mit seinem Buch "Das Verschwinden der Kindheit" die Gemüter in der westlichen Welt bewegt. Er vertritt die These, die Kindheit sei in der Gefahr, in Verlust zu geraten. Postman führt aus, "daß die Pädagogen nicht mehr recht wissen, was sie mit den Kindern in der Schule anfangen sollen. Den Gedanken, man sollte Bildung zur höheren Ehre Gottes oder der Nation erwerben oder gar, um die Russen zu schlagen, mangelt es sowohl an ernsthaften Argumenten wie an seriösen Verfechtern, und so sind viele Pädagogen bereit, sich mit einem Einfall zufriedenzugeben, den Marx selbst entschieden abgelehnt hätte: die Schulerziehung diene der Vorbereitung auf den Eintritt ins Wirtschafts- und Konsumleben."[105] Die Verfolgung eines solchen utilitaristischen Zieles in der allgemeinen Schule würde die Menschenbildung in Gefahr bringen. Deshalb heißt es bei Postman weiter: "In dieser Situation verliert die Kenntnis von Geschichte, Literatur und Kunst, die früher das Kennzeichen des gebildeten Erwachsenen war, viel von ihrer Bedeutung" Geschichte, Literatur und Kunst werden nicht für die Anwendung im Leben gelehrt und gelernt. In ihrer "Nutzlosigkeit" helfen sie, für den jungen Menschen die Menschlichkeit zu erschließen.

Die Konsequenz einer solchen Überlegung ist es, eine Entkoppelung der Sekundarstufe I vom Beschäftigungssystem zu erstreben. Das Ziel der Pädagogik muß es sein, Schule und Beschäftigungssystem voneinander zu lösen. Man könnte einwenden, sie seien nicht verkoppelt. Welchen Sinn sollten dann die sieben Abschlüsse haben, die der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen eingeführt hat? Welchen Sinn soll das hierarchische System von Abschlüssen für die Sekundarstufe in anderen Bundesländern haben? In Senecas Formulierung ist die Trennung dieser beiden Bereiche gemeint. Der Begriff "Leben" steht bei ihm für das Beschäftigungssystem. Deshalb können wir in seinem Sinne für die Sekundarstufe I formulieren: Nicht für das Beschäftigungssystem, sondern für die Schule, für das Gewinnen der Menschlichkeit, lernen wir. Die Kindheit wurde nicht zu allen Zeiten als eigenständige Stufe im Leben eines Menschen angesehen. Auf dieses Faktum stützt Postman seine These vom "Verschwinden der Kindheit". Dem nach seiner Auffassung in der Gegenwart feststellbaren Verschwinden der Kindheit muß die Entdeckung der Kindheit und ihr wiederum eine Zeit vorausgegangen sein, in der es die Kindheit nicht gab oder in der sie zumindest nicht gesehen und respektiert wurde. Postman bringt die Entdeckung der Kindheit in einen Zusammenhang mit der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg am Ende des15. Jahrhunderts. Sie habe die geistige Welt so verändert, daß es notwendig geworden sei, lesen zu lernen, um in sie integriert zu werden. Der notwendige Lernprozeß in einem frühen Alter hinwiederum habe die Respektierung der Kindheit als eines eigenständigen Lebensalters und mit ihr zugleich die Institutionalisierung und Ausbreitung von Schulen hervorgebracht und zu einer wichtigen Aufgabe gemacht. Das Lesenlernen ist in dieser Theorie nur pars pro toto zu sehen; es steht eigentlich für das Lernen in der Kindheit insgesamt.

Man muß der Gedankenführung Postmans nicht in allen Details folgen. Richtig bleibt dennoch, daß die Kindheit erst vom Beginn der Neuzeit an als eigenständige Lebensstufe profiliert worden ist. Damit ist die Epoche angesprochen, die gemeinhin als Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen gilt. In ihr vollzog sich vor allem im Kontext der Reformation im 16. Jahrhundert eine erste Welle der Ausbreitung von Schulen. Die ersten großen Entwürfe der Didaktik und Pädagogik wurden von Ratke und Comenius im 17. Jahrhundert vorgelegt, und der Durchbruch von Theorien der Kindheit ist dann im 18. Jahrhundert vor allem an die Namen Rousseau und Pestalozzi gebunden. Im "Emile" etwa hatte Rousseau formuliert, die Kindheit sei eine Lebensstufe, die nicht um späterer Lebensstufen willen geopfert werden dürfe. Wörtlich heißt es bei ihm: "Wieviele Stimmen werden sich gegen mich erheben! Ich höre schon von weitem den Schrei der Entrüstung, den jene falsche Weisheit ausstoßen wird, welche uns unaufhörlich nur außer uns liegende Ziele vorsteckt, die Gegenwart beständig für nichts achtet und unablässig einer Zukunft nachjagt, die bei jedem Fortschritt, den wir machen, nur desto weiter vor uns flieht."[106] Hier ist deutlich Stellung genommen gegen die Formulierung des Glücks in Zielen, die außer uns, die in der Zukunft liegen, vielleicht im Beschäftigungssystem angenommen werden. Das impliziert zugleich eine Stellungnahme für die Bildung des Menschen als Ziel. Für das Erreichen der Bildung wird gewissermaßen eine Stufe im Leben des Menschen freigehalten, ausgespart. Dazu wird "Schule" eingerichtet.

Otto Friedrich Bollnow ist in seiner "Pädagogik der deutschen Romantik" bei der Darstellung der Pädagogik Friedrich Fröbels auf diese Stufentheorie eingegangen, durch die eine Respektierung der Kindheit als eigenständiger Stufe im Leben eines Menschen aufkommen konnte. "Der Grundgedanke ist dabei der vom Eigenwert der Stufe. Das bedeutet, auf die Entwicklung des menschlichen Lebens angewandt, keine Altersstufe soll nur Mittel zur Erreichung einer höheren Stufe die Kindheit insbesondere nicht bloßes und in sich selber sinnloses Durchgangsstadium um möglichst bald das Ziel im Erwachsenendasein zu erreichen, ... zwischen den einzelnen Stufen besteht kein quantitativer Unterschied der Vollkommenheit, sondern ein qualitativer der individuellen Eigenart."[107] Die Auffassungen Rousseaus und Fröbels erinnern an Seneca, und in ihnen tritt uns auch wieder der etymologische Ursprung des Begriffs "Schule" in der griechischen Antike entgegen. Darin spricht sich die immerwährende Aufgabe abendländischer Pädagogik aus.

Der simple Gedanke vom Eigenwert und der Eigengesetzlichkeit einer Lebensstufe wird heute in seiner Bedeutung kaum mehr eingesehen, weil uns die Kindheit als Lebensalter und das Wissen um sie so selbstverständlich zu sein scheinen, daß man darüber nicht mehr nachdenken muß. Natürlich gab es auch vor dem 18. Jahrhundert im biologischen Sinne schon eine Kindheit. In diesem Sinne gab es sie in der ganzen Menschheitsgeschichte. Von der Antike an hatten manche Denker sich bemüht, die Bedeutung dieses Lebensalters für die Erziehung herauszustellen. Ein verbreitetes und fundiertes anthropologisches und pädagogisches Verständnis der Kinder und der Kindheit fehlte aber noch weitgehend. Philippe Ariés macht das in seiner "Geschichte der Kindheit" eindrucksvoll an Beispielen aus der Kunst deutlich. Einleitend sagt er zu seinem Aufweis künstlerischer Darstellungen, mit denen er belegt, daß es den Künstlern offensichtlich schwer fiel, Kinder zu malen: "Bis zum 17. Jahrhundert kannte die mittelalterliche Kunst die Kindheit entweder nicht oder unternahm doch jedenfalls keinen Versuch, sie darzustellen. Es fällt schwer zu glauben, daß diese Tatsache der Ungeschicklichkeit oder Unfähigkeit der Künstler zuzuschreiben ist. Man sollte eher annehmen, daß in jener Welt kein Platz für die Kindheit war."[108] Das Fehlen der Kindheit im Bewußtsein der Menschen ist eine Erklärung dafür, daß Kinder noch im 18. Jahrhundert im keinem Testament erwähnt werden, daß es bis zu dieser Zeit die Geburtstagsfeier für Kinder nicht gab, daß die spätere Heilige Elisabeth im Mittelalter als vierjähriges Kind an den Hof der Eltern ihres künftigen Gemahls nach Thüringen gebracht wurde, daß der Kindesraub erst am Beginn des 19. Jahrhunderts ein strafbares Delikt wurde usw. usw.

Ganz gleich, ob die Erfindung der Buchdruckerkunst oder überhaupt die Einsicht in die Notwendigkeit der Erziehung zur Entdeckung und Respektierung der Stufe der Kindheit geführt hat: Es bleibt festzustellen, daß wir dabei sind, in den Schulen und in den Elternhäusern die Kindheit der Kinder zu mißachten und zu verspielen. Sieben verschiedene Abschlüsse am Ende der Sekundarstufe I sind einer der Belege dafür. Sie bestimmen die Atmosphäre des Unterrichts und lassen ihn für viele Kinder zum Streß werden. Die Irrwege der Schule wirken auf die Elternhäuser zurück. Im Verständnis vieler Eltern muß die Vorbereitung auf das Abitur schon in der Grundschule beginnen. Zensuren und Zeugnisse sind deshalb bestimmende Größen für die permanenten Ausleseprozesse der Schule geworden. Dazu kommen Versetzungen und Nichtversetzungen. Die Schule ist zu einem Ernstfall im Leben der Kinder geworden, der häufig schärfer ausgeprägt ist als die Ernstsituationen im Leben der Erwachsenen. Das ist unter anderem gemeint, wenn Ballauff davon spricht, die Geschichte der Schule sei ein "Trauerspiel", weil Schule oft nicht ihrer "postulierten Gestalt" entsprochen habe (und entspreche).

Schule hat vor allem im 19. Jahrhundert die Funktion des Schutzes der Kinder vor unangemessener Beanspruchung übernommen, denn die Stufe der Kindheit im Leben eines Menschen und die Schule als Institution waren vom Beginn jenes Jahrhunderts an eng miteinander verbunden. Schule gewährte gewissermaßen die Respektierung der Kindheit. Das Bewußtsein der Stufentheorie, der Eigengesetzlichkeit jeder Lebensstufe, auch der Stufe der Kindheit, hat im 19. Jahrhundert wesentlich zur Ausbreitung von Schulen beigetragen. Die Ausbreitung war andererseits eine der wichtigsten Bedingungen für die Profilierung der Eigengesetzlichkeit der Kindheit. Das läßt sich verdeutlichen am Zurückdrängen der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert. In einem Bericht des Schulverwaltungsmannes Grashoff von 1815 heißt es: "Kinder von sechs Jahren werden bereits hinter die Maschinen gestellt, um dort selbst zur Maschine zu werden. Sechs Tage lang in jeder Woche, wenn nicht ein eintretender Feiertag eine Ausnahme macht, und auch wohl bei dringender Arbeit - sieben Tage."[109]

Vor allem durch die Einrichtung von Schulen konnte solchen Mißständen begegnet werden. Die Schule hatte gewissermaßen die Funktion einer Glucke für ihre Kücken, die Kinder, übernommen. Aber für die Ausbreitung der Schulen mußte sich zugleich die Einsicht in das Eigenrecht und den Eigenwert der Stufe der Kindheit durchsetzen. Die Schulpflicht im 19. Jahrhundert war deshalb mehr die Pflicht des Gesetzgebers, Schulplätze zu schaffen, als ein Zwang für die Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, war also mehr ein Angebot zum Schutze der Kindheit. Ein ähnliches Verständnis der Schule als Angebot zum Schutze der jungen Menschen setzt sich heute in manchen Entwicklungsländern durch, während ich in Industrieländern ein Verständnis der Schule als Zwangsanstalt breitmacht.

Freilich darf man nicht verkennen, daß auch außerpädagogische Argumente in der vehementen Ausbreitung von Schulen im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. So brachte beispielsweise im Jahre 1828 der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III in einer Order, den Aspekt der physischen Gesundheit für den Militärdienst zum Ausdruck. Dem König war der Übelstand berichtet worden, "daß von den Fabrikunternehmern sogar Kinder in Masse des nachts zu den Arbeiten benutzt werden." Deshalb verlautbarte er: "Ich kann ein solches Verfahren umsoweniger billigen, als dadurch die physische Ausbildung der zarten Jugend unterdrückt wird und zu besorgen ist, daß in den Fabrikgegenden die künftige Generation noch schwächer und verkrüppelter werden wird, als es die jetzige schon sein soll. Daher trage ich Ihnen auf, in höhere Erwägung zu nehmen, durch welche Maßregeln jenen Verfahren kräftig entgegengewirkt werden kann."[110] Einige der Maßregeln, mit denen den Mißständen (um des Militärs willen) begegnet werden konnte, war die Ausbreitung von Schulen. Aber sie setzte sich nicht von heute auf morgen durch. Noch aus dem Jahre 1843 wird berichtet: "Im Regierungsbezirke Düsseldorf werden allein über 5000 Kinder in Fabriken beschäftigt. Die Fabrikkinder treten meist im sechsten, wohl auch im siebten oder achten Jahre, seltener in höherem Alter, im Kreise Geldern (Rgbzk. Düsseldorf) sogar im vierten Jahre, in die Arbeit ein. Die tägliche Arbeitsstundenzahl ist verschieden; sie reicht von 8 bis 15, ja bis 16 Stunden, mit mehr oder weniger Erholungspausen."[111]

Die Zitate über die Kinderarbeit lassen die Bedeutung der Schutzfunktion der Schule einsichtig werden. Schule wurde im 19. Jahrhundert eine humane Notwendigkeit in der Inhumanität der Industrialisierungsprozesse. Aus dem allerdings, was unter der Geißel des ökonomischen Leistungsverständnisses aus der Schule geworden ist, kann der Eindruck entstehen, daß die Kinder aus dem Regen (der Kinderarbeit) unter die Traufe (der Schule) gekommen sind. Bei der Entlassung aus der Schule wird den Schülern zwar immer wieder gesagt, nun beginne für sie der Ernst des Lebens. Aber das ist eine unreflektierte Aussage von Schulleitern und Lehrern, die am Tage der Entlassung von Schülern vergessen zu haben scheinen, wie die Realität der Schultage für die Schüler beschaffen war. Sie unterstellen deshalb, daß schulisches Lernen und Arbeiten nicht so ernst ist wie die Lebenswirklichkeit nach der Schulzeit.

Heute noch aber kann man wie vor zwanzig Jahren an jedem Morgen in den öffentlichen Verkehrsmitteln die Unterschiede der Ernsthaftigkeit vom Schultag der Schüler und Arbeitstag der Erwachsenen vor Augen haben. Während die erwachsenen Fahrgäste in großer Zahl auf dem Wege zu Büros, Baustellen und Fabriken die Bildzeitung lesen oder sich über abseitige Dinge unterhalten, kaum aber über ihre Arbeit, der sie am Morgen zeitlich nahe sind, sprechen viele Schüler über den Unterricht an dem bevorstehenden Schultag oder über die Art und Weise, in der sie die zurückliegenden Hausaufgaben erfüllt haben. Für sie ist vornehmlich das Gesprächsinhalt, was in ihren speziellen Arbeitsbereich gehört. Ein solches Beispiel mag wie eine Äußerlichkeit erscheinen. Es zeigt aber, daß offensichtlich der Ernst des Lebens für einen jungen Menschen nicht erst bei der Schulentlassung und dem Übergang in die Arbeitswelt der Erwachsenen beginnt, sondern schon beim Eintritt in die Schule. Der Ernstcharakter der Schule nimmt in unserer Zeit allerdings eine paradoxe Struktur an, weil die Realität des Unterrichts, der die Mitte aller Schularbeit ist, seinen humanen Zielen weithin entgegengewirkt. Dabei müßte es so sein, daß das, was dem Unterricht als Ziel vorgegeben wird, den Prozeß des Lehrens und Lernens selbst bestimmt und durchdringt. Wird also zum Beispiel Selbständigkeit als Ziel postuliert, so darf man nicht darauf hoffen, daß Schüler am Ende ihrer Schulzeit selbständig sind, wenn der Lehrer ihnen im Unterricht jederzeit die Möglichkeit, selbständig zu sein, abgenommen hat. Genauso ist es mit der Mitmenschlichkeit als Ziel des Unterrichts und der Erziehung. Wie soll sie aufkommen, entstehen, wie soll sie erreicht werden, wenn ihr in der Schulzeit selbst entgegengewirkt wird? In Erziehungsprozessen können die Ziele nicht von den Wegen isoliert werden. Weg und Ziel verschränken sich. Sie werden eins. Das Ziel ist nicht nur Endpunkt, sondern schon am Anfang des Weges mitgegeben. Es sollte in jedem Augenblick des Prozesses gegenwärtig sein. Das heißt mit anderen Worten, daß der Unterricht eine zyklische Struktur annehmen kann, daß also die Unterrichtsprozesse in sich selbst zurücklaufen, daß im Verweilen, im Zeitlassen kreisförmige Abläufe für die Lernenden entstehen, daß sich die Gegenwärtigkeit des Augenblicks erfüllt und nicht verlorengeht, weil nur das in der Zukunft, das außerhalb des Augenblicks liegende Ziel als wichtig angesehen wird. Natürlich ist Unterricht immer auf Ziele gerichtet. Deshalb hat er immer eine teleologische Struktur, aber er wäre mißverstanden, wenn er deshalb einen ausschließlich linearen Charakter annähme. Das war der Fall, als die Pädagogik auf den Irrweg ging, für alle Lernprozesse operationalisierte Lernziele zu formulieren.

Vom pädagogischen Standpunkt her ist es aber auch ein Irrweg, daß in der Sekundarstufe I sich extreme Formen des Fachlehrersystems ausgebreitet haben, die so aussehen, daß ein Fachlehrer lediglich zwei Fächer in einer Klasse unterrichtet. Er hat deshalb nur eine geringe Wochenstundenzahl in der betreffenden Klasse. Darum kann er keine hohe pädagogische Intensität gewinnen. Sie erwächst unter anderem aus dem Umgang, der zeitliche Dauer hat und nicht einem ständigen Wechsel unterworfen ist. Es ist nicht gut, in der Sekundarstufe I einem überzogenen Wissenschaftsverständnis zu huldigen und als Konsequenz daraus das Fachlehrersystem zu praktizieren. Allen Schulformen der Sekundarstufe I ist aus pädagogischen Gründen eine gemäßigte Form des Klassenlehrerprinzips angemessen, das so zu verstehen ist, daß ein Lehrer den wesentlichen Teil des Unterrichts einer Klasse in seiner Hand hat. Mit dem gleichen Recht ließe sich deshalb auch von einer gemäßigten Form des Fachlehrerprinzips sprechen.

Die pädagogischen Bemühungen im Kontext der Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern werden in der Bundesrepublik auf eine deutliche Zäsur zwischen der Sekundarstufe II und der Sekundarstufe II gerichtet sein müssen. Mit dieser Zäsur ist der Zeitpunkt gemeint, der mit Unterschieden in den einzelnen Bundesländern als Ende der Schulpflicht gilt. Die Jahre nach der Zäsur, also die gehören in die Sphäre der Ausbildung. Die Jahre vor der Zäsur bis etwa zum fünfzehnten Lebensjahr des jungen Menschen, gehören der Sphäre der Bildung an. Diese Jahre werden von der allgemeinbildenden Schule in Anspruch genommen, die eine Schule für alle ist, für Behinderte und Nichtbehinderte. Würde sie selektieren, wäre sie eigentlich keine allgemeinbildende Schule für alle. Sie kann auf einen Abschluß für alle am Ende der Sekundarstufe I gerichtet und frei von Ziffernzensuren sein und ein pädagogisches Leistungsverständnis kultivieren. In den nordrhein-westfälischen Richtlinien für die Grundschule von 1973 ist in der Präambelformuliert, es müsse gegen die "Selektionspraxis" der Schule "festgestellt werden, daß die Grundschule eine Stätte sein soll, in der sich das Lernen für Kinder in einer freien und befreienden Atmosphäre vollziehen kann und in der sich Kinder glücklich fühlen." Die Richtlinien für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 1985 haben sich bis in die Formulierung hinein der pädagogischen Auffassung von 1973 angeschlossen. Gemeint ist damit ein Verständnis der Grundschule als Stätte der Muße, wie es der griechische Ursprung des Begriffs Schule zum Ausdruck bringt. Die Ausweitung dieses Verständnisses über die Grundschule hinaus auf die Sekundarstufe I ließe die allgemeinbildende Schule insgesamt zu einer Schule werden, in der die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern eine Selbstverständlichkeit ist.

Quelle:

Jakob Muth: Integration von Behinderten. Über die Gemeinsamkeit im Bildungswesen

erschienen bei Neue-Deutsche-Schule-Verlagsgesellschaft, Essen. ISBN 3-87964-255-9

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 27.02.2013



[104] Theodor Ballauff: Funktionen der Schule. Historisch-systematische Analysen zur Scolarisation. 2. durchges. Auflage Köln/Wien: Böhlau 1984, S. 1

[105] Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt: Fischer 1983, S. 158

[106] Jean Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. Leipzig: Reclam o.J., S. 91

[107] Otto Friedrich Bollnow: Die Pädagogik der deutschen Romantik. Stuttgart: Kohlhammer 1952, S. 146

[108] Philippe Aris: Geschichte der Kindheit. München/Wien: Hauser 1975, S. 92

[109] Vgl. Lotte Adolphs: Erziehung und Bildung im 19. Jahrhundert. Duisburg: Braun 1979, S. 20

[110] Robert Alt: Kinderausbeutung und Fabrikschulen. Berlin: Volk und Wissen 1958, S. 256f.

[111] ebenda, S. 225

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