Behinderte in allgemeinen Schulen

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in der Reihe: neue pädagogische bemühungen, Band 89, Herausgeber: Prof. Dr. Werner Loch, Prof. Dr. Jakob Muth. ISBN-Nr. 3-87964-240-0
Copyright: © Neue Deutsche Schule Verlagsgesellschaft mbH, Essen 1982

Inhaltsverzeichnis

Jakob Muth: Behinderte in allgemeinen Schulen

1. Zur Förderung behinderter Schüler nach dem Zweiten Weltkrieg

Der Ausbau des allgemeinen und des beruflichen Schulwesens nach dem Zweiten Weltkrieg forderte besonders durch die Vielzahl der Neubauten und der sachlichen Ausstattungen der Schulen für einen ordnungsgemäßen Unterricht so große öffentliche Mittel von den Ländern und Gemeinden, daß die Sonderschulen und überhaupt die Aufmerksamkeit für behinderte Kinder und Jugendliche über mehr als ein Jahrzehnt im Schatten der Bildungspolitik blieben. Lediglich die Schulen für Behinderte, die sich über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg gehalten hatten, und die Einrichtungen, die in privater Trägerschaft bestanden, nahmen auch nach 1945 Behinderte auf und setzten ihre Arbeit fort. Zu Neugründungen ist es im Sonderschulbereich am Ende der vierziger Jahre und in den fünfziger Jahren kaum gekommen.

Eine große Zahl von Behinderten verschiedener Behinderungsarten befand sich zu dieser Zeit in allgemeinen Schulen, wie es in früheren Jahrzehnten schon der Fall war. Man braucht sich nur einmal vor Augen zu halten, daß auf der Reichsschulkonferenz des Jahres 1920 der Stadtschulrat Grote aus Hannover im Ausschuß Einheitsschule, weil es keinen Ausschuß Hilfsschule oder Sonderschule gab, ausführen konnte: "Wir haben im Deutschen Reich an Hilfsschulen, in runden Zahlen angegeben, schon reichlich 1.800, in denen mindestens 40.000 Kinder eingeschult sind. An einer solchen Schulorganisation kann auch die Reichsschulgesetzgebung nicht vorübergehen." Es ist eigentlich verwunderlich, daß auf der im ganzen progressiven Reichsschulkonferenz in keinem anderen Ausschuß über die Förderung von Behinderten gesprochen wurde und daß selbst in dem Ausschuß Einheitsschule nur der Gedanke der Separation der Behinderten eine Rolle spielte.[1])

Die von dem Stadtschulrat Grote angegebene Zahl von 40.000 behinderten Kindern, die sich im ganzen Reichsgebiet damals in Sonderschulen befunden haben, macht nicht einmal 0,5% der Bevölkerung zwischen 6 und 15 Jahren aus; sie betrug am Beginn der Weimarer Zeit annähernd neun Millionen. Von solchen Zahlen her ist die Annahme berechtigt, daß viele behinderte junge Menschen zu dieser Zeit in allgemeinen Schulen unterrichtet worden sind, daß viele aber auch überhaupt keine Schule besuchten. Wie auch in späteren Jahren leitete sich aus Gesetzen zur Schulpflicht nicht der Anspruch auf Schulplätze für alle Behinderten ab. Die Vernachlässigung behinderter Kinder und Jugendlicher war in früheren Jahrzehnten (und Jahrhunderten) noch stärker ausgeprägt als in unserer Zeit.

Deutlich wird das unter anderem für die ersten beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg auch aus der Arbeit, die der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen geleistet hat. Er wurde 1953 ins Leben gerufen und hatte "die Aufgabe, die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern".[2]) Die Vernachlässigung des Schulwesens für Behinderte zeigt sich darin, daß sich von den fast dreißig Empfehlungen des Deutschen Ausschusses, die bis zu seiner Auflösung im Jahre 1965 erschienen sind, nicht eine einzige mit Behinderten, ihrer Förderung in Sonderschulen oder ihrer Integration in die Schule und in die Gesellschaft befaßt. Auch die bekannteste Empfehlung des Deutschen Ausschusses, der "Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens", macht keinerlei Aussagen über den Unterricht und die Förderung für Behinderte. Er war im Jahre 1959 veröffentlicht worden, und obgleich der Deutsche Ausschuß keine legislative Funktion haben konnte, sondern lediglich empfehlende und beratende Aufgaben wahrzunehmen hatte, datiert mit der Übergabe des Rahmenplans an die Öffentlichkeit der Beginn der strukturellen Reform der Schule nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Rahmenplan war das fünfte und sechste Schuljahr als Förderstufe für die Zehn- und Elfjährigen vorgesehen worden. Sie wurde der Angelpunkt einer breiten, öffentlichen Diskussion.

Im Kontext dieser Diskussion bemühte sich die Ständige Konferenz der Kultusminister um das Schulwesen für Behinderte. Sie war im Jahre 1949 gegründet worden mit der Maßgabe, daß sie "Angelegenheiten der Kulturpolitik von überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen" behandeln sollte. [3]) Eine solche Angelegenheit war auch das Schulwesen für Behinderte. Im Jahre 1960 brachte die Kultusministerkonferenz das "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" heraus. In der Einführung des Gutachtens heißt, bezugnehmend auf die jüngste Vergangenheit unseres Volkes: "Das Ansehen der Sonderschulen in der Öffentlichkeit muß gehoben werden. Das deutsche Volk hat gegenüber den Menschen, die durch Leiden oder Gebrechen benachteiligt sind, eine geschichtliche Schuld abzutragen. Sie dürfen nicht als weniger wertvoll betrachtet oder behandelt werden. Das deutsche Volk muß die Aufgabe wieder ernst nehmen, allen Kindern und Jugendlichen, die die allgemeinen Schulen nicht mit Erfolg besuchen können, den Weg zu einem sinnerfüllten Leben zu bereiten."[4])

Das besondere Verdienst des Gutachtens der Kultusminister besteht darin, daß es allgemeine Richtlinien für die Einrichtung von Sonderschulen in allen Bundesländern, die einheitliche Benennung dieser Sonderschulen, die Regelung der Ausbildung der Lehrer, die Klassenfrequenzen und alle übrigen formalen Notwendigkeiten vorgeschlagen hat. Auf dieser Grundlage erfuhren die Behinderten eine bis dahin unbekannte Zuwendung, die sich vor allem in einem immensen Ausbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik zeigt. Er wird aus einigen Zahlen aus der Zeit von 1960 bis 1973 deutlich, die vom Sekretariat der Kultusministerkonferenz als Ergebnis einer Auswertung der amtlichen Schulstatistik mitgeteilt wurden:[5])

  • "Der Bestand an Sonderschulen (1960 = 1.106, 1973 = 2.574) ist mehr als verdoppelt worden.

  • Außer der Zahl der Schulen wuchs auch deren durchschnittliche Aufnahmekapazität: 1973 kamen 27 Schüler, 4 Klassen und 5 Lehrer mehr auf eine Sonderschule als 1960.

  • Die Schülerquote erhöhte sich in der Berichtszeit von 226 auf 424 in Sonderschulen betreute Schüler je 10.000 Kinder und Jugendliche im Alter der Vollzeitschulpflicht.

  • Die Zahl der Klassen (1960 = 6.480; 1973 = 24.657) wurde fast vervierfacht. Gleichzeitig konnten die Klassenstärken von 20,5 auf 15,4 Schüler je Klasse verringert werden.

  • Mehr als vervierfacht wurden die Lehrerzahlen: 1960 unterrichteten an den Sonderschulen 6.237 hauptamtliche und hauptberufliche Lehrer: 1973 waren es dagegen 27.422. Da die Vergrößerung der Lehrerbestände das Wachstum der Schülerbestände noch übertraf, konnte die Betreuungsquote (Schüler je Lehrer) von 21,3 auf 13,8 gesenkt werden.

Die Daten verdeutlichen, daß sich die Zahl der behinderten Kinder, die in Sonderschulen unterrichtet werden, zwischen 1960 und 1973 fast verdreifacht hat, Sie stieg von rund 133.000 im Jahre 1960 auf etwa 375.000 im Jahre 1973, und sie überstieg in den darauffolgenden Jahren gar 400.000. Das größere Platzangebot wurde durch die Gründung neuer Sonderschulen, also durch die Verdichtung des Schulnetzes, und die Vergrößerung der Aufnahmekapazitäten der einzelnen Schulen möglich. Während 1960 noch 2,26% der schulpflichtigen Kinder Sonderschulen besuchten, waren es 1973 immerhin 4,24%. Dieser Prozentsatz ist in den auf das Jahr 1973 folgenden Jahren auf annähernd 6% gestiegen. Gegenwärtig ist dieser Anteil der Sonderschüler an der Gesamtpolulation aller Schüler aber wieder rückläufig. In absoluten Zahlen ist die Rückläufigkeit eklatant, weil sich der Geburtenrückgang, der die Grundschule und die ersten Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I erreicht hat, nun auch in die Sonderschulen hinein fortsetzt. Während es im Jahre 1964 in der Bundesrepublik noch über eine Million Geburten gab, war die Zahl bis 1972 auf 700.000 gesunken. Sie ging in den folgenden Jahren soweit zurück, daß 1978, verglichen mit 1964, der Rückgang 45% betrug.[6])

Die Zuwendung, die Behinderte erfuhren, richtete sich besonders auf den Ausbau und die Einrichtung für sich bestehender Sonderschulen. Die Verfasser des Gutachtens aus dem Jahr

1960 waren der Auffassung, daß den Behinderten am ehesten in der Isolierung geholfen werden kann und daß sich die Integration von Behinderten in die Gesellschaft am besten in besonderen Schulen für Behinderte, fernab vom allgemeinen Schulwesen vorbereiten läßt. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, daß sich in dem Gutachten auch der folgende Satz wie eine Konzession an die Vertreter des Integrationsgedankens findet: "Sofern es für die Erziehung zur Gemeinschaft als dienlich erscheint, ist daher die Gemeinsamkeit zwischen Schülern der Sonderschulen und der allgemeinen Schule zu pflegen."[7]) Dieser Satz erscheint aber wie verirrt in dem Text, der im ganzen die Separation befürwortet.

Im Zusammenhang der Sprachheilschule ist in dem Gutachten der Kultusminister davon die Rede, daß Kinder separiert werden sollen, wenn sie "dem Unterricht in den allgemeinen Schulen nicht folgen können oder dort ihre Mitschüler erheblich hemmen".[8]) Damit hatte sich die Kultusministerkonferenz auf eine Position zurückgezogen, die das Bundesverwaltungsgericht 1958 einem Vater gegenüber vertrat, der gegen die Einweisung seines Sohnes in die Hilfsschule geklagt hatte. Wörtlich heißt es in der Begründung, daß einem Kind der Besuch einer weiterführenden Schule und analog dazu auch einer allgemeinbildenden Pflichtschule zu versagen sei, "wenn es dort mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit seine Mitschüler erheblich hemmen würde".[9]) Mit dieser Formulierung in der Begründung des Bundesverwaltungsgerichts und in dem "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" der Kultusministerkonferenz hat das Verständnis der Schule als Leistungsschule eine wesentliche Legitimation erhalten. Wer den Lernfortschritt seiner Mitschüler hemmt, wird aus der allgemeinen Schule ausgewiesen und in die Sonderschule eingewiesen!

Die gleiche Konzeption wurd von der Ständigen Konferenz der Kultusminister auch im Jahre 1972 in der "Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens" verfolgt. Die Sonderschule mit in dieser Empfehlung weiterhin als eine "eigenständige Schulform". Manche Formulierung ist schärfer, noch deutlicher geworden als 1960. So heiß es jetzt etwa, es gelte, "die allgemeine Schule von Schülern zu entlasten, denen sie nicht gerecht werden kann".[10]) Auch dieser Empfehlung von 1972 kommen hervorragende Verdienste für die Weiterentwicklung des Schulwesens für Behinderte zu. Sie nennt zum Beispiel prozentuale Anteile der einzelnen Behindertenarten an der Gesamtzahl der Vollzeitschulpflichtigen, um den Schulträgern Orientierungen für die Einrichtung von Sonderschulen zu geben, sie gibt Klassenfrequenzen für die einzelnen Typen des Sonderschulwesens vor, sie strebt zweizügige Sonderschulen an und bemüht sich in besonderer Weise um die Früherfassung und Frühbetreuung von Behinderten und um das Sonderschulaufnahmeverfahren. Wie stark der Gedanke der Eigenständigkeit die Kultusministerkonferenz auch 1972 beherrschte, geht aus dem Satz hervor: "Auch dort, wo aus zwingenden Gründen kleine Schulen nicht zu vermeiden sind, werden sie als selbständige Sonderschulen geführt."[11])

Im Jahre 1973 wurde durch den Deutschen Bildungsrat die Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher" den Regierungen von Bund und Ländern übergeben. Sie waren gewissermaßen die Auftraggeber des Deutschen Bildungsrats, der aus einer Bildungskommission und einer Regierungskommision bestand. Während der Bildungskommision im wesentlichen Sachverständige aus verschiedenen Bereichen angehörten, wurde die Regierungskommission im wesentlichen von den Kultusministern der Länder und Mitgliedern der Bundesregierung gebildet. Sachverstand und Politik waren demnach im Deutschen Bildungsrat in Kooperation gebracht. Der Bildungskommission kam die Aufgabe zu, Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen, Vorschläge für die Struktur des Bildungswesens zu machen und den Finanzbedarf zu berechnen sowie Empfehlungen für eine langfristige Planung des Bildungswesens auszusprechen.

In der Einleitung der genannten Empfehlung von 1973 heißt es: "Für diese neue Empfehlung mußte die Bildungskommission davon ausgehen, daß behinderte Kinder und Jugendliche bisher in eigens für sie eingerichteten Schulen unterrichtet wurden, weil die Auffassung vorherrschte, daß ihnen mit besonderen Maßnahmen in abgeschirmten Einrichtungen am besten geholfen werden könne. Die Bildungskommission folgt dieser Auffassung nicht. Sie legt in der vorliegenden Empfehlung eine neue Konzeption zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher vor, die eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung mit nichtbehinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontakte mit nichtbehinderten ermöglicht. Damit stellt sie der bisher vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schulische Integration entgegen."[12])

In der umfassenden Konzeption des Deutschen Bildungsrates wird ein Strukturvorschlag für die Früherkennung und Frühförderung von behinderten Kindern vorgestellt, und es wird ein System didaktischer Organisationsformen des Unterrichts entwickelt, das einer Aussonderung der Behinderten aus der allgemeinen Schule begegnen soll. Für unseren Zusammenhang ist der Vorschlag der Einrichtung Kooperativer Schulzentren wichtig, in denen jeweils eine allgemeine Schule mit einer sonderpädagogischen Einheit verbunden werden soll. Die formale Zusammenführung der beiden Systeme in einer Einheit kann nach der Auffassung der Bildungskommission zu einem gestuften System der Förderung behinderter Kinder führen. Damit ist also keineswegs an ein Aufgeben all dessen gedacht, was Sonderschulen leisten. Vielmehr geht es darum, daß diese spezifischen Leistungen in selbständigen pädagogischen Einheiten erhalten bleiben und mit allgemeinen Schulen in eine Verbindung gebracht werden. In einer solchen Verbindung läßt sich für jedes behinderte Kind effektiv prüfen, inwieweit es mit anderen gemeinsam unterrichtet und gefördert werden kann oder aber separat unterrichtet und therapiert werden muß. Die Bildungskommission hatte bei der Ausarbeitung ihrer Empfehlung die Überlegung, daß es nicht gut wäre, behinderte Kinder einfach in die allgemeinen Schulen einzubringen. Die Kinder könnten sich verloren vorkommen und kein Selbstkonzept für ihren Lebensvollzug entwickeln, wenn sie keine spezifische Verantwortung Erwachsener für sich spürten und erführen. In einer Konzeptiton aber, die sonderpädagogische Einheiten in der Kooperation administrativ selbständig sein läßt, besteht so etwas wie eine Zuständigkeit für sie. Diese Zuständigkeit bringt pädagogische Verantwortung hervor.

Für die Kooperativen Zentren geht die Bildungskommission davon aus, daß sie in der Regel als Schulen in Tagesform vorgesehen werden. Entsprechend der Zahl behinderter Kinder in einer Region soll an einzelnen allgemeinen Schulen die Ausstattung für jeweils eine Behinderungsart, höchstens für zwei Behinderungsarten, vorgenommen werden. Es kann nach dieser Konzeption demnach durchaus sein, daß an einer allgemeinen Schule eine sonderpädagogische Einheit für Sprachbehinderte angegliedert wird, an einer anderen für Körperbehinderte, an einer dritten für Verhaltensgestörte und so fort. Durch die dezentralisierte Struktur sollte eine Massierung von behinderten Kindern in den Kooperativen Schulzentren vermieden werden. Sie könnte nämlich die Gefahr einer neuen Isolation für die Behinderten aufbringen. Deshalb sind bewußt in der Empfehlung der Bildungskommission keine Zahlenangaben für die Größe der sonderpädagogischen Einheiten gemacht worden. Je kleiner sie sind, um so näher können sie bei den Wohnungen der behinderten Kinder eingerichtet werden. Es wäre auch problematisch, die Integration von Behinderten in allgemeinen Schulen mit ihrer Desintegration aus ihren Wohnbereichen zu erkaufen.

Der Unterricht in den Zentren sollte in drei verschiedenen Organisationsformen organisiert werden können:

  • Es soll eine behinderungsspezifische Hilfe für behinderte Kinder bei voller Integration in den allgemeinen Unterricht ermöglicht werden.

  • Es soll eine Teilintegration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht vorgenommen werden, wobei der nichtintegrierte Teil des Unterrichts für die Behinderten separat stattfinden und auf die Behinderungen und spezifischen Belastungen der Kinder Rücksicht nehmen kann.

  • Es soll ein Unterricht für Behinderte ohne Teilintegration, also in ausschließlich separater Form erfolgen, darüber hinaus aber im Schulleben Kommunikation von Behinderten und Nichtbehinderten möglich sein.

Dieser Dreigliederung liegt die Überlegung zugrunde, daß es in jeder Behinderungsart Kinder gibt, die sich voll in den allgemeinen Unterricht integrieren lassen, wenn die besondere Therapie gesichert werden kann, die sie benötigen, oder die besonderen Einrichtungen vorhanden sind, die sie brauchen. Eigentlich dürfte es nicht mehr vorkommen, daß, wie es im Ruhrgebiet in den siebziger Jahren der Fall war, ein körperbehindertes Kind täglich einen weiten Schulweg in die Sonderschule zurücklegen muß, nur weil dort eine Toilette vorhanden ist, die es benutzen kann. Schon in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates heißt es: "Für behinderte Kinder, die voll in den allgemeinen Unterricht integriert sind, deren Therapiebedarf aber so gering geworden ist, daß ihm ambulant entsprochen werden kann, ist eine Rückführung in die allgemeine Schule ihres Wohnbezirks vorzusehen."[13])

In der schriftlichen Fixierung wirkt die Konzeption des Deutschen Bildungsrates wie ein starres System. Aus der zweiten Organisationsform aber, der Teilintegration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht, wird die Flexibilität ersichtlich, die eigentlich gemeint ist. Die Anteile nämlich, die im separaten und im integrativen Unterricht verbracht werden, können von Kind zu Kind verschieden sein, und sie können im Laufe der Schulzeit wechseln. Frühe Therapie erhöht in einer Vielzahl von Fällen die Chancen der Therapie überhaupt und damit auch die Möglichkeiten einer Teilintegration oder gar der vollen Integration in den allgemeinen Unterricht. Für manches spastische Kind zum Beispiel kann der Grad der Behinderung durch die Frühförderung stark reduziert werden. Und für etwa 10% der Kinder im Vorschulalter wird angenommen, daß sie sprachbehindert sind. Auch für sie lassen sich durch die frühe Förderung die Möglichkeiten zur Integration schon in der Grundschule steigern. Es gibt aber auch Behinderungen, die erst in der Sekundarstufe für eine Teilintegration in Frage kommen können, weil die behinderten Schüler dazu befähigt werden müssen. Das gilt zum Beispiel für Schwerhörige, deren Sprachverständnis und Sprachanbahnung soweit gefördert sein müssen, daß sie kommunikationsfähig sind. Hier zeigt sich, daß von den individuellen Möglichkeiten eines Kindes her der Umfang der Integration und der Separation ausgemacht werden muß.

In der dritten Organisationsform schließlich geht es für den Deutschen Bildungsrat um eine additive Verbindung einer sonderpädagogischen Einheit für schwerbehinderte Kinder mit einer allgemeinen Schule. Die Berechtigung einer solchen Verbindung begründet sich von daher, daß außerhalb des Unterrichts Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern ermöglicht werden sollen. Das wird besonders in Ganztagsschulen zu realisieren sein, weil in ihnen über den Unterricht hinaus Zeiten zur Verfügung gestellt werden, in denen sich die beiden Schülergruppen eines Kooperativen Schulzentrums begegnen können. Die Bildungskommission war sich bei der Entwicklung der Empfehlung darüber im klaren, daß Kontakte zwischen den behinderten und nichtbehinderten Schülern außerhalb des Unterrichts nicht ohne weiteres zum Abbau von Vorurteilen und zur humanen Annahme der Behinderten durch die Nichtbehinderten führen. Sie sagt dazu. "Da Kontakte zwischen Behinderten und Nichtbehinderten im Rahmen der Schule nicht notwendig Vorurteile vermindern, dürfen sie nicht nur dem Zufall überlassen bleiben. Sie müssen vielmehr als Teil des Curriculums durch Lehrer, Eltern und freiwillige Helfer dort, wo es möglich ist, geplant und pädagogisch begleitet werden."[14])

Von 1973 an kam es im Anschluß an die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates in verstärktem Maße wieder dazu, daß behinderte Kinder in allgemeine Schulen aufgenommen wurden, daß andere in allgemeinen Schulen verbleiben konnten und nicht in Sonderschulen überwiesen wurden und daß eine ganze Anzahl von allgemeinen Schulen sich die Aufgabe gestellt hat, behinderte Schüler zu integrieren. Das war keine breite und von Enthusiasmus getragene Bewegung, sondern mehr eine allmähliche und bedächtige Ausweitung. Sie hat 1981 durch die Informationen und Initiativen des Jahres der Behinderten eine wichtige Unterstützung erfahren. Heute ist es möglich, auf der Grundlage der Erfahrungen eine Differenzierung und Konkretisierung der Strukturvorstellungen des Deutschen Bildungsrates auf den Weg zu bringen, gewissermaßen eine Fortschreibung der Empfehlung, die nun bald zehn Jahre alt wird.

2. Grundsätze für die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Schülern

1. Die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern sollte schon in der Vorschulzeit beginnen. - Einige integrative Grundschulen in der Bundesrepublik vollziehen die Genese der Fläming-Grundschule nach, wie sie in den Beiträgen der vorliegenden neuen pädagogischen Bemühung von Mettke, Podlesch und Stoellger dargestellt ist. Für die Eltern der behinderten und nichtbehinderten Kinder in Berlin war nicht einzusehen, daß die gemeinsame Erziehung aus dem Kindergartenalter mit dem Beginn der Schulpflicht im sechsten Lebensjahr zu Ende sein sollte. Sie drängten auf eine Fortset¬zung in der Grundschule. Das wiederholte sich mit dem Beginn des Schuljahres 1981/82 zum Beispiel in Schenefeld in Schleswig-Holstein, und auch die integrative Klasse an der Evangelischen Grundschule in Bonn-Friesdorf ist entstanden, weil es am Gustav-Heinemann-Haus in Bonn einen integrativen Kindergarten gab und weiterhin gibt. Aus diesen Erfahrungen läßt sich die Annahme wagen, daß die in den nächsten Jahren entstehende Zahl integrativer Grundschulen an der Zahl der integrativen Kindergärten ablesbar ist. Deshalb stimmt es die Vertreter integrativer Erziehung hoffnungsvoll, daß auf einer Tagung des Deutschen Jugendinstituts in München im Mai 1981 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus integrativen Vorschulrichtungen in beachtlicher Zahl, es wird von über sechzig berichtet, vertreten waren.[15])

Das integrative Bemühen im Vorschulraum muß allerdings unterstützt werden durch die Frühdiagnose und Frühtherapie von Behinderungen, wie sie zum Beispiel in den Einrichtungen der Aktion Sonnenschein in München geschehen, die Theodor Hellbrügge verantwortet, aber auch etwa in dem Zentrum für Sozialpädiatrie in Mainz, das Johannes Pechstein aufgebaut hat. Schon Hellbrügge beschränkte sich nicht auf die Diagnose von Behinderungen, sondern realisierte die gemeinsame Förderung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in einem Kindergarten und der anschließenden Grundschule, und in dem Zentrum seines Schülers Pechstein in Mainz ist die gleiche Entwicklung angelegt. Es wäre auch sinnlos, wollte man Frühdiagnose propagieren und durchführen, ohne ihr eine pädagogische Frühförderung folgen zu lassen, die im Verständnis der Mediziner integrative Förderung sein kann. Vielleicht sind sie in diesem Zusammenhang heute noch pädagogischer als die Pädagogen. Im Verlaufe der Geschichte der Pädagogik waren es immer wieder Außenseiter, die auf das aufmerksam gemacht haben, was sich in der Pädagogik als sinnvoll erwies. Maria Montessori ist ein Beispiel aus unserem Jahrhundert dafür.

Der Deutsche Bildungsrat hatte die besondere Bedeutung der Früherkennung und der mit ihr verbundenen Frühförderung berücksichtigt. Mit drei Beispielen veranschaulichte er seine Vorstellungen.[16])

  • "Das Einprägen von Fehlbewegungsmustern bei einer zerebralen Schädigung kann durch krankengymnastische Behandlung von den ersten Lebensmonaten ab weitgehend vermieden werden.

  • Die Ausbildung von falschen Hörschemata bei hörgeschädigten Kindern, die später kaum korrigierbar sind, aufgrund inadäquater Hörreize in den ersten zwei bis drei Lebensjahren, können durch technische Hörhilfen in Verbindung mit einem Hör-Sprach-Training vermieden werden. Dadurch wird der Erwerb der Lautsprache erleichtert.

  • Retardierungen, die sich später als Schulversagen manifestieren, lassen sich bei Kindern, die in der frühen Kindheit aufgrund sozio-kultureller Benachteiligung mangelnde Lernanregungen im perzeptiven, sprachlichen und motorischen Bereich erhalten haben, durch geeignete Förderprogramme weitgehend vermeiden."

Mit den Beispielen wollte der Deutsche Bildungsrat die Notwendigkeit einer Institutionalisierung der Früherkennung und Frühförderung unterstreichen. Er schlug die Errichtung von dreihundert Zentren für pädagogische Frühförderung in der Bundesrepublik vor, in denen die Frühdiagnose und die Frühförderung geleistet werden sollte, ein Zentrum auf jeweils 200.000 Einwohner. Leitlinien waren für ihn die Ergebnisse der empirischen Forschungen zum frühen Lernen im internationalen Bereich besonders aus den sechziger Jahren, mit denen wie nie zuvor auf die Bedeutung früher Lernprozesse aufmerksam gemacht worden ist. Außer in München und in Mainz sind in den letzten Jahren eine Reihe solcher Zentren entstanden oder im Aufbau begriffen. Sie haben nicht alle die gleiche Struktur. Das aber ist positiv zu interpretieren, weil jedes einzelne in jeweils spezifischer Weise auf die besonderen Bedingungen in einer Region ausgerichter ist.

2. Eine wichtige Voraussetzung für integrativen Unterricht ist die Bereitschaft der Lehrer, behinderte Schüler in ihrem allgemeinen Unterricht zu fördern. - Damit ist die entsprechende Bewußtseinsdisposition der Lehrer gemeint, ihre Offenheit für Behinderte, für ihren besonderen Lebensvollzug und ihre erschwerten Lebensbedingungen. Diese Bewußtseinsdisposition ist zumindest ebenso wichtig wie die spezielle sonderpädagogische Qualifikation, die in einem Studium erworben werden kann. Vor allem durch die Bewußtseinsdisposition für Behinderte und das aus ihr erwachsende emotionale Engagement kommt es zur Gründung von Einrichtungen für die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten. So kam zum Beispiel die Integration von blinden Schülern in die Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg, Über die hier berichtet wird, nicht zuletzt aus dem Grunde zustande, daß Peter Appelhans, Lehrer an dieser Schule, selbst Vater eines blinden Kindes ist. Oder die nach der Montessori-Methode in der Trägerschaft des Bischofs von Aachen arbeitenden Einrichtungen in Krefeld - ein Kindergarten, eine Grundschule und eine Gesamtschule - verdanken ihre Gründung unter anderem dem Umstand, daß Heinz Dickopp, Professor für Erziehungswissenschaft, selbst ein spastisches Kind hat. Er verantwortet die wissenschaftliche Begleitung der integrativen Grundschule von Anfang an, über die er hier schreibt.

Die Beispiele ließen sich vermehren, aus denen deutlich werden kann, daß die Bewußtseinsdisposition der Lehrer die entscheidende Voraussetzung für die gemeinsame Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern ist. In Essen-Vogelheim, einem Arbeitervorort im nördlichen Ruhrgebiet, wurden in der zweiten Hälfte der sechziger und am Beginn der siebziger Jahre annähernd 20% der Kinder eines Geburtsjahrgangs in die Sonderschule überwiesen, vor allem in die für Lernbehinderte. Der Stadtrat und die Stadtverwaltung wollten diesem Zustand begegnen. Deshalb wurde von 1974 an ein Projekt der Kooperation von Sonderschule und Grundschulen geplant mit dem erklärten Ziel, die Zahl der Kinder, die in die Sonderschule überwiesen werden, zu reduzieren. In die Planungsarbeit, die fast zwei Jahre dauerte, wurden die Kollegien der beiden Grundschulen und der Sonderschule für Lernbehinderte einbezogen, und auch die Eltern wurden ausführlich informiert. Als der eigentliche Schulversuch nach der Planungszeit im Rahmen der Versuche der Bund-Länder-Kommission begann, war die Zahl der Überweisungen aus den Grundschulen in die Sonderschule auf etwa 6% zurückgegangen. Die gesteckten Ziele des Versuchs waren also eigentlich schon vor dem Beginn weitgehend erreicht, weil sich das Bewußtsein der Lehrer im Planungszeitraum verändert hatte.

In der anschließenden Durchführung dieses Schulversuchs ist aber deutlich geworden, daß die gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten in einer Klasse nicht gegen den Willen der Lehrer, nicht einmal gegen ihre Gleichgültigkeit, vorgenommen werden darf. Es wäre zum Nachteil behinderter Kinder, wenn Lehrer an allgemeinen Schulen gezwungen würden, sie in ihre Klasse aufzunehmen und zu unterrichten. Beispielsweise wurde ein sehr stark schwerhöriges Kind, nachdem es die Grundstufe einer Schwerhörigenschule durchlaufen hatte, in ein allgemeines Gymnasium angemeldet und von dem betreffenden Oberstudiendirektor auch aufgenommen. Die Lehrer, die in der Sexta unterrichteten, zu der das Kind gehörte, sollten ein Mikrophon tragen, das auf das Hörgerät des schwerhörigen Kindes eingestellt war. Dazu aber fanden sich nicht alle Lehrer der betreffenden Klasse bereit. Weil sich den Emotionen der Menschen keine Befehle erteilen lassen, änderte der Schulleiter den Stundenplan, um nur Lehrer in der Klasse unterrichten zu lassen, die auch die innere Bereitschaft dazu mitbrachten.

Vielleicht ist im Erreichen der Bewußtseinsdisposition für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern bei den Lehrern, aber auch den Eltern, den Schulverwaltungen und überhaupt in der Öffentlichkeit die wichtigste Aufgabe zu sehen, die für die Integration von Behinderten in allgemeine Schulen in den nächsten Jahren zu erfüllen ist. Aber durch Belehrung, Information, durch Fernsehsendungen und öffentliche Veranstaltungen kann eine wesentliche Bewußtseinsänderung nicht herbeigeführt werden. Am stärksten wirken Beispiele. Deshalb ist jede einzelne integrative Einrichtung, die neu entsteht, zugleich die Bedingung für die Ermöglichung weiterer. Die allmähliche Änderung des Bewußtseins dokumentiert sich vor allem auch in der großen Zahl einzelner behinderter Kinder, die seit der Veröffentlichung der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates im Jahre 1973 in allgemeine Schulen aufgenommen worden sind. Der blinde Denis Herrenbrück, dessen Schulgeschichte sein Vater in dieser neuen pädagogischen Bemühung beschreibt, ist dafür ebenso ein Beispiel wie Klaus Bloedhorn, auf dessen Eltern vor allem die anfängliche Initiative für den Unterricht ihres behinderten Kindes in der allgemeinen Schule zurückgeht. Schon solche einzelnen Beispiele haben einen Ausbreitungseffekt. Ursula Haupt etwa konnte in einer Untersuchung feststellen, daß im Schuljahr 1978/79 in Rheinland-Pfalz über hundert körperbehinderte Kinder in allgemeinen Grundschulen unterrichtet wurden. Eine solche Zahl ist ermutigend, weil sie positive Rückschlüsse auf das pädagogische Bewußtsein der Lehrer und die sich vollziehende Bewußtseinsänderung ermöglicht.

3. Wo Behinderte in den allgemeinen Unterricht integriert werden, ist zu akzeptieren, daß es qualitative und quantitative Unterschiede im Lernen gibt. - Nicht alle Kinder haben das gleiche Lerntempo, nicht alle das gleiche Auffassungsvermögen, die gleiche Intelligenz und was immer an Unterschieden aufgezählt werden kann. Deshalb wäre es nicht gut, wenn der Unterricht in der Schule so erteilt würde, als müßten alle Kinder auf die gleichen Abschlüsse festgelegt und den gleichen Ansprüchen gerecht werden. Schule muß vorrangig so konzipiert sein, daß im Unterricht auf das Rücksicht genommen wird, was Kinder können und was sie zu lernen in der Lage sind. Das ist in so eingängigen Formulierungen wie beispielsweise der gemeint, daß die Schule die Kinder da abholen müsse, wo sie stehen oder daß unter "Schulreife" auch die Reife der Schule für das Lernen der Kinder verstanden werden könne. Viel zu sehr wurde in der Vergangenheit der selektive Charakter der Schule betont und nach Schwächen, Ausfällen und Defiziten der Kinder geradezu gefahndet, statt positiv von dem auszugehen, was sie zu leisten in der Lage waren. Dabei wird seit den Tagen der pädagogischen Reformbewegung der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts die Bedeutung der Inneren Differenzierung des Unterrichts betont, womit zugleich die Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten des einzelnen Kindes gemeint ist. Eigenartigerweise finden pädagogische Bemühungen, in denen die Individualität und die Selbsttätigkeit der Kinder akzentuiert wird, immer wieder Anhänger wie die Trends der Mode. Neuerdings erleben wir einen solchen Trend im Zusammenhang der Freinet-Pädagogik, in der Vergangenheit waren es die Jena-Plan-Schulen Peter Petersens. Eigentlich ist es zu beklagen, daß solche pädagogischen Bewegungen von den Lehrern wieder abgelegt werden wie Kleidungsstücke, die der Mode nicht mehr entsprechen.

Der Deutsche Bildungsrat hatte in seiner Empfehlung von 1973 die Individualisierung der Lernprozesse deutlich empfohlen. Anders als durch das konsequente Berücksichtigen des Individualisierungsprinzips kann die gemeinsame Förderung von behinderten und nichtbehinderten Schülern kaum geleistet werden. Von daher wird es verständlich, daß manche integrativen Schulen auf die Montessori-Methode zurückgreifen, die eine individualisierende Unterrichtspraxis ermöglicht, in der zugleich aber auch das einzelne Kind in seinen Möglichkeiten und Grenzen auf sich selbst gestellt wird. Brigitte Ockel berichtet aus der Praxis der integrativen Schule in München darüber, und die Bischöflichen Krefelder Schulen, die ihre integrative Konzeption auf der Grundlage der Montessori-Pädagogik verwirklichen, tragen selbst den Namen der großen italienischen Ärztin. In der weiteren Ausbreitung der integrativen Schulen wird zwar nicht das enge Verfolgen der Montessori-Methode neue Aktualität gewinnen, aber die Prinzipien der Montessori-Pädagogik werden eine neue Renaissance erleben. Sie sind im übrigen ursprünglich in der Arbeit mit behinderten Kindern entwickelt worden.

Bei der Betonung des Individualisierungsprinzips und der Zurückdrängung des selektiven Charakters der Schule verwundert es nicht, daß Länder, in denen die Zensurensysteme für die Bewertung von Schülerleistungen weitgehend abgeschafft sind, in der Integration von Behinderten in die allgemeinen Unterrichtsprozesse den weitesten Forschritt haben. Das gilt für Italien, aber auch zum Beispiel für Dänemark, Norwegen und Schweden in gleicher Weise. In diesen Ländern bekommen die Kinder in den ersten sieben bzw. acht Jahren ihrer Schulzeit keine Ziffernzensuren, die den deutschen vergleichbar wären. Auf die Dauer werden sich die Schulen in der Bundesrepublik der internationalen Tendenz in der Frage der Zensurenproblematik stellen müssen. Ein verheißungsvoller Anfang ist durch die Kultusministerkonferenz mit der Empfehlung gemacht worden, in den ersten beiden Klassen der Grundschule keine Ziffernzensuren mehr zu geben. Diese Empfehlung ist mit einigen Unterschieden in allen Bundesländern verwirklicht.

4. In Klassen, in denen behinderte Kinder mitunterrichtet werden, sollten die Klassenstärken niedriger sein als in anderen Klassen. Das heißt, daß in einer integrativen Schule die Klassenstärken flexibel gehalten werden müssen. Sie sollten den Notwendigkeiten des Unterrichts angepaßt werden können. Es wäre verfrüht und vielleicht auch verfehlt, definitive Zahlen zu nennen, zumal gegenwärtig in den integrativen Schulen noch Erfahrungen gewonnen werden. Für die Klassenfrequenzen wird in Krefeld, wie Heinz Dickopp es beschreibt, von den Meßzahlen für allgemeine Schulen und für Körperbehindertenschulen ausgegangen, weil in den Krefelder integrativen Schulen ausschließlich körperbehinderte Kinder aufgenommen werden, die einer Unterrichtung in der betreffenden Sonderschule bedürften. Es sind andere Berechnungsmodi denkbar. Beispielswiese ließe sich für ein behindertes Kind, je nach Art und Schwere der Behinderung, die Frequenz einer Klasse um eine bestimmte Zahl, beispielsweise fünf, senken. Die niedrigere Frequenz rechtfertigt sich von daher, daß durch die in integrativen Klassen notwendige differenzierende und individualisierende Unterrichtsarbeit der Lehrer stärker gefordert wird als in anderen Klassen, wenn er jedem einzelnen Kind, dem nichtbehinderten und dem behinderten, gerecht zu werden versucht.

Als allgemeine Direktive kann gelten, daß die Zahl der behinderten Kinder in einer Klasse nicht zu groß werden sollte. Wenn zum Beispiel in einer Klasse von fünfzehn Kindern fünf schwerbehindert sind, so besteht die Gefahr, daß sie als Behindertengruppe gerade in einer relativ freien Unterrichtsorganisation zu starke Binnenkontakte entwickeln, weil sie ohnehin vielleicht von den anderen Kindern etwas distanziert sind, und deshalb Cliquenstrukturen zeigen. Diese Gefahr besteht selbst noch bei drei behinderten Kindern in einer allgemeinen Klasse. Solche Gefahren stellen sich immer dann ein, wenn integrative Schulen im Sinne der Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates von 1973 eingerichtet werden, denn Kooperative Schulzentren sollten der Empfehlung zufolge für jeweils eine Behindertenart sein, wie es zum Beispiel in Krefeld oder auch an der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg der Fall ist.

Es gibt immer Probleme, wenn integrative Schulen die Ausnahme im Schulsystem insgesamt bleiben und die Trennung von behinderten und nichtbehinderten Schülern in Sonderschulen und allgemeinen Schulen die Regel ist. Die jeweilige integrative Schule ist in dieser Situation so sehr eine besondere Schule, daß zum Beispiel schon bei der Aufnahme der Schüler in die Schule eine Selektion vorgenommen werden muß, wie immer sie auch beschaffen sein mag; und in den Klassen einer solchen besonderen Schule wird es immer eine größere Zahl von behinderten Kindern geben, wenngleich sie in Grenzen noch vertretbar sein kann. Die Integration in allgemeine Klassen wird in diesen besonderen Schulen immer noch erkauft mit der Desintegration der behinderten Kinder aus ihrer Wohnumgebung. Das gilt in extremer Form zum Beispiel für die sehr positiv zu beurteilende Integration von körperbehinderten Schülern in die Gymnasien in Altdorf bei Nürnberg und. Bendorf am Rhein sowie in die Kooperative Gesamtschule Hessisch-Lichtenau, es gilt aber auch zum Beispiel für die integrativen Grundschulen in Schenefeld in Schleswig-Holstein, in Bonn und in Berlin. Sollte in Berlin der Versuch in der Uckermark-Schule Wirklichkeit werden, was zu erwarten ist, die behinderten Kinder des betreffenden Schulbezirks alle in die für sie zuständige allgemeine Schule einzuschulen, so lassen sich neue Erfahrungswerte gewinnen.

5. In den integrativen Schulen breiten sich Zwei-Lehrer-Systeme aus, deren weitere Verbreitung verstärkt werden sollte. - In einer guten Weise läßt sich die in einer integrierten Klasse notwendige individuelle Förderung leisten, wenn zwei Erwachsene mit unterschiedlicher Qualifikation zugleich tätig sind. Damit ist eine Organisationsform gemeint, die in den USA als Two-Teacher-System bezeichnet wird. Das kann also zum Beispiel ein Lehrer und ein Sozialpädagoge sein, aber auch ein Sonderpädagoge. In manchen Schulen wird der zweite Erwachsene in einer Klasse als Pädagogische Unterrichtshilfe bezeichnet. Den Begriffen und Bezeichnungen sollte man keine allzu große Bedeutung beimessen. Sie dürfen jedenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, daß in integrativen Klassen mit Zwei-Lehrer-Systemen eine Kooperation auf sachlicher Ebene unabhängig von Besoldungskategorien und Beschäftigungshierarchien notwendig ist. Der zweite Erwachsene in einer Klasse wird vor allem wegen der besonderen Situationen und Aufgaben tätig, die durch die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Schülern entstehen. Da sind zum Beispiel besondere Arbeitsmaterialien für ein blindes Kind zu erstellen, da ist vielleicht einem lernbehinderten Kind in einem Arbeitsprozeß zu assistieren, da ist die Schreibmaschine eines Spastikers einzurichten usf. Ein sehr persönliches Beispiel kann diesen Sachverhalt weiter veranschaulichen: Vor einigen Monaten war ich in der Fläming-Grundschule mit Studenten hospitierend in einer Klasse, in der ein epileptisches Kind einen Anfall bekam. Die Klassenlehrerin legte das anfallsstarre Kind über ihren Schoß. Der Unterricht lief unter der Leitung einer Kindergärtnerin ganz natürlich weiter, die in dem Zwei-Lehrer-System als zweite erwachsene Kraft in der Klasse tätig war. Die anderen Kinder der Klasse nahmen von dem Anfallskind kaum Notiz. Sie hatten solche Situation schon des öfteren erlebt.

Über die besonderen Ansprüche hinaus muß man sehen, daß ein Zwei-Lehrer-System die Unterrichtsprozesse stark verändert. Die darstellende Unterrichtsform tritt zurück, und damit reduziert sich der Anteil des Frontalunterrichts. Es scheint, als hätte der eine Erwachsene in einer Klasse eine Sperre dagegen, darstellend vor dem zweiten zu agieren. Viel stärker als in Ein-Lehrer-Systemen, so läßt sich beobachten, werden die Kinder im Unterricht auf sich selbst gestellt. Diese Eigentätigkeit vergrößert den Aktionsraum der beiden Erwachsenen. Würde ein Erwachsener im Sinne eines lehrerzentrierten Unterrichts in einer integrativen Klasse aktiv, so bliebe dem zweiten kaum Raum für seine didaktischen und pädagogischen Engagements, und die didaktische Manigfaltigkeit eines Zwei-Lehrer-Systems, die durch die unterschiedliche Qualifikation der beiden Lehrer möglich ist, könnte sich nicht auswirken.

Die Erfahrungen mit zwei Erwachsenen in einer Klasse, über die Norbert Stoellger von der Fläming-Grundschule her in der vorliegenden neuen pädagogischen Bemühung geschrieben hat, sind im deutschen Schulwesen noch spärlich. Die integrativen Schulen können wesentlich dazu beitragen, über dieses Defizit hinwegzukommen. Selbst in Praktika von Lehramtsstudenten wird heute noch überwiegend hospitiert, statt den angehenden Lehrern einen eigenen Aktionsraum zu ermöglichen, was ihrer späteren Tätigkeit als Lehrer zumindest ebenso zugute käme wie eine überwiegend rezeptive Hospitation. Der Einsatz von Praktikanten in integrativen Klassen, die eine relativ große Heterogenität durch das Zusammensein von behinderten und nichtbehinderten Kindern haben, eröffnet andere Möglichkeiten unter der Voraussetzung, daß es sich um längerfristige Praktika handelt. In ihnen kann der Praktikant im Sinne des Zwei-Lehrer-Systems in den jeweiligen Ernstsituationen des Unterrichts und der Erziehung mittätig werden. Seine Aktivität besonders im Umgang mit behinderten Kindern vermittelt ihm zugleich die Erfahrung, ob er für einen Beruf geeignet ist, in dem er pädagogisch verantwortlich tätig sein muß.

Zwei-Lehrer-Systeme geben aber auch Spielraum für die Realisierung der schon in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates vorgeschlagenen disponiblen Wochenstunden für Lehrer. Damit sind Stunden gemeint, die zwar in das Unterrichtsdeputat des Lehrers gehören, aber weder durch administrative Verpflichtungen noch durch Auflagen des Curriculums verplant sein sollten, sondern die in der freien Disposition des einzelnen Lehrers stehen. Drei Stunden hatte der Deutsche Bildungsrat im Laufe einer Schulwoche besonders für die Grundschullehrer dazu vorgeschlagen. In ihnen sollten sie Einzelunterricht oder Unterricht in Kleingruppen erteilen können, also individuelle Hilfe geben, ohne das Ziel zu verfolgen, alle Schüler möglichst auf ein Leistungs- oder Lernniveau zu bringen. Für diese pädagogische Hilfe sollten die Lehrer die Schüler nicht verpflichten, sondern geradezu einladen. Im ganzen kommt es dabei also auf die pädagogische Atmosphäre an, in der für die Schüler das Gefühl erwachsen kann, daß ihnen vom Lehrer geholfen werden soll. Eine solche institutionalisierte Form der Hilfe reduziert die selektive Funktion der Schule auch im Bereich der Sekundarstufe und hilft, das Selbstverständnis der Lehrer pädagogisch zu disponieren.

6. Welches Kriterium soll für die Aufnahme eines behinderten Kindes in eine allgemeine Klasse maßgeblich sein? - Sicher läßt sich die Frage nicht generell beantworten. Für Schulen oder Klassen, die nicht auf das Erreichen gleicher Ziele und gleicher Abschlüsse für alle Kinder festgelegt sind, dürfte gelten, daß die Chance eines individuellen Lernfortschritts, verbunden mit der Möglichkeit, in der Kommunikationsfähigkeit weiterzukommen, das Kriterium für die Aufnahme ist. Dieses Kriterium eröffnet die Chance, auch geistigbehinderte Kinder in allgemeine Klassen aufzunehmen.

In diesem Zusammenhang muß man sehen, daß es problematisch ist, wenn in der Diskussion der Integration immer zuerst auf behinderte Kinder aufmerksam gemacht wird, für die ein gemeinsamer Unterricht und eine gemeinsame Erziehung mit nichtbehinderten in der allgemeinen Schule nicht zu realisieren sei. Wer kann sich anheischig machen, das für den individuellen Fall definitiv zu bestimmen! Ein ernsthaftes Bemühen um Integration wird von der Möglichkeit des gemeinsamen Unterrichts aller ausgehen müssen. Freilich wird es dabei Probleme geben. Sie dürfen aber nicht der Anlaß sein, ihnen aus dem Wege zu gehen, ohne sich um ihre Bewältigung bemüht zu haben.

Die Situation ist in Schulen anders, die behinderte und nichtbehinderte Schüler auf die gleichen Abschlüsse festlegen. In ihnen gelten Aufnahmekriterien, die sich von den Abschlüssen her bestimmen. In Hessisch-Lichtenau zum Beispiel gestaltet sich die Situation relativ günstig. Das dort bestehende integrative Schulsystem ist in den Jahrgangsstufen fünf und sechs als Förderstufe organisiert, und von der Klasse sieben an gliedert es sich in eine jeweils selbständige Hauptschule, eine Realschule und ein Gymnasium. Alle drei Schulformen sind "unter einem Dach" als Kooperative Gesamtschule vereinigt. Für einen körperbehinderten Schüler in diesem System muß erst am Ende von Klasse sechs eine Entscheidung für eine Schulform getroffen werden, und in den folgenden Klassenstufen ist ein Wechsel von einer Schulform in die andere möglich. Die Sekundarstufe I der Montessori-Schule in Krefeld ist als integrierte Gesamtschule organisiert. Das Kriterium für die Aufnahme eines körperbehinderten Kindes wurde mit dem Begriff "normalbegabt" formuliert. Die Entscheidung über den möglichen Schulabschluß braucht erst im Laufe der Zeit in der Sekundarstufe I getroffen zu werden.

Eigentlich ist es wünschenswert und erforderlich, daß die Schulen, die behinderte Kinder integrieren, in eine Verbindung gebracht werden, damit sie ihre Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig korrigieren, aber auch ermutigen können. Vor allem aber sollten sie als die Gruppe integrativer Schulen ihre Erfahrungen jeder neuen Schule zugute kommen lassen, die sich entschließt, behinderte Kinder nicht mehr auszusondern. Der Deutsche Bildungsrat hatte 1974 Lehrer aus den damals bestehenden und in der Entstehung begriffenen integrativen Schulen zum Gespräch zusammengeführt. Daraus ist der Band 6 der Reihe "Materialien zur Bildungsplanung" des Deutschen Bildungsrates mit dem Titel entstanden: Schulversuche zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht. Braunschweig 1976.

Vielleicht ermöglicht das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft das permanente Gespräch der Lehrer und Eltern aus integrativen Schulen, vielleicht die Ständige Konferenz der Kultusminister oder auch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung. Ein solches Gespräch ist für die weitere Entwicklung der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im Vorschulraum und in der Schule unabdingbar. Davon wird die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten in der nachschulischen Gesellschaft wesentlich abhängig sein.



[1] Reichsministerium des Inneren (Hrsg.): Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen. Leipzig: Verlag Quelle & Meyer 1921, S. 521f.

[2] Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen: Empfehlungen und Gutachten. Gesamtausgabe. Stuttgart: Verlag Klett 1966, S. 966

[3] Handbuch für die Kultusministerkonferenz 1969-1970. Bonn 1969

[4] Ständige Konferenz der Kultusminister: Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens. Bonn 1960, S. 7

[5] Sekretariat der Kultusministerkonferenz: Die Sonderschulen in der bundeseinheitlichen Schulstatistik 1960/61 bis 1973/74. Bonn o. J. (1975?), S. 1 (Unterstreichungen im Original sind hier kursiv)

[6] Vgl. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1973, S. 12

[7] Ständige Konferenz der Kultusminister: Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens. Bonn 1960, S. 10

[8] ebenda, vgl. S. 23

[9] Vgl. dazu Jakob Muth: Zu Überweisungsverfahren in Sonderschulen. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 28. Jg. (1980), S. 185

[10] Ständige Konferenz der Kultusminister: Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens. Bonn 1972, S. 21

[11] ebenda, S. 9

[12] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn 1973, S. 15f.

[13] ebenda, S. 90

[14] ebenda, S. 93

[15] Vgl. Deutsches Jugendinstitut: Gemeinsame Betreuung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Elementarbereich. Berichte und Materialien einer Fachtagung im Deutschen Jugendinstitut/München vom 20. - 2. Mai 1981

[16] Deutscher Bildungsrat, a.a.0., S. 44

Jörg R. Mettke: Eltern als Integrations-Antreiber vom Dienst

Bürgerinitiative - heute als Vokabel fast vernutzt und als politische Bewegung zwischen Messingschild-Inflation und Bundesverbands-Hierarchie bereits im Gerinnungsprozeß befindlich - Bürgerinitiative war damals, im West-Berlin des Jahres 1971, beinahe noch ein Fremdwort, und ein ziemlich gestelztes dazu.

Was es dagegen reichlich gab, als Beiprodukt der aus studentischem Milieu herausgewachsenen Außerparlamentarischen Opposition, waren die "Kinderläden" oder - wie sie für den Briefverkehr mit Behörden braver firmierten - die "Eltern-Kinder-Gruppen". Ideologisch ziemlich in die Breite gegangen, exotisch eigentlich nur noch für bayerische Touristen und die einheimische Skandalpresse, verstanden sich diese Kinderläden Anfang der siebziger Jahre kaum noch als pädagogischer Appendix politisch-progressiver Wohngruppen, sondern zumeist als ausgesprochene Selbsthilfe-Institute zur Versorgung etwa gleichaltriger Vorschul-Kinder. Die Zersplitterung der Apo, forciert durch Rekrutierungsdruck und Kaderklausur der K-Gruppen, verdrängte den politisch-pädagogischen Konsens zunehmend auch aus den Eltern-Kinder-Gruppen. Übrig blieb oft nur die Zweckgemeinschaft. Die maoistischen Kader zogen sich meist mit ihren Kindern zurück, um sie entsprechend der Parteilinien in den städtischen Kindertagesstätten der Arbeiterbezirke unterzubringen. Manche der Kinderläden, die diese Auflösungsphase als Institution überdauerten, und auch viele aus der Elterngeneration, die jene Gruppen einst mitgegründet hatten, suchten der inhaltlichen Erosion dadurch entgegenzuwirken, daß sie ihre Kinderläden für soziale Problembereiche sensibilisierten, derer sich staatliche Einrichtungen nicht oder nur unzureichend annahmen.

Es entstanden, häufig in räumlicher Nähe zu Großbetrieben, "multinationale" Kindergärten, die sich vorrangig um die Kinder der Arbeitsemigranten kümmerten. Andere Eltern-Kinder-Gruppen öffneten sich dem Kietz und damit ausländischen wie auch Berliner Arbeiter-Familien in deren Wohnbereich. Und es konstituierten sich, mitten in diesem politisch-sozialen Bedingungsgefüge, im West-Berliner Bürgerstadtteil Friedenau die "Therapeutischen Eltern-Kinder-Gruppen", die die selbstorganisatorischen Strukturen der Berliner Kinderladen-Bewegung vor allem für Eltern behinderter Kinder nutzbar zu machen trachteten.

Wichtige Starthilfe bei diesem Projekt leistete der Facharzt für Kinderkrankheiten Dr. B. Karimi, der sich auf die "Früherfassung und Frühbehandlung cerebral bewegungsgestörter Kinder" spezialisiert und ein gleichnamiges Behandlungszentrum als eingetragenen Verein gegründet hatte. Aus Diskussionen zwischen Eltern, deren Kinder in diesem Zentrum therapeutisch versorgt wurden, und solchen, die ihre nichtbehinderten Kinder in die Karimi-Praxis brachten, erwuchs rasch die Einsicht, daß eine krankengymnastische Betreuung behinderter Kinder allein für deren Rehabilitation wie als Hilfe für die betroffenen Eltern in keiner Weise ausreichend sein konnte. Es bildete sich daher eine Initiativ-Gruppe, deren Mitglieder im März 1972 bei den Vorstandswahlen des Vereins breites Vertrauen erhielten und mit der Entwicklung eines methodischen, personellen und finanziellen Integrationskonzepts beauftragt wurden.[17])

Mit dem Ziel, eine öffentliche Förderung zu erhalten, wurde ein solches detailliertes Konzept im Mai 1972 der West-Berliner Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport übergeben.[18]) In ihrer Analyse beklagen die Autoren einerseits, daß das Behandlungszentrum in seinem damaligen Zuschnitt weder Logopädie noch Beschäftigungstherapie anbieten konnte noch über Mitarbeiter mit psychologischen und sozialpsychologischen Kenntnissen verfügte.[19]) Andererseits wurde aus diesen Defiziten, aber auch grundsätzlich die Forderung nach "Hilfe und Anleitung" abgeleitet, "die sich bis in den Bereich der Erziehung allgemein erstreckt".[20]) Neben diese Reklamierung einer besseren personellen und finanziellen Ausstattung tritt gleichrangig der Integrationsgesichtspunkt: "Behinderte Kinder sollen mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam erzogen werden. Diese Erziehung soll in Eltern-Kind-Gruppen stattfinden, wo die Eltern behinderter Kinder ihre Probleme gemeinsam mit den Eltern nichtbehinderter Kinder besprechen und anpacken. Dadurch soll verhindert werden, daß die behinderten Kinder in einer Ghettosituation aufwachsen, die mit einiger Sicherheit schädliche Folgen für ihre weitere Entwicklung mit sich bringt. Den behinderten Kindern soll so das Stigma des ‚Anomalen' genommen werden."[21])

Auf der Basis der damals im Behandlungszentrum des Vereins betreuten Kinder errechneten die Eltern einen Bedarf von elf Eltern-Kinder-Gruppen. Als Arbeitseinheit, die vom denkbar kleinsten Therapeuten-Team (Pädiatrie, Krankengymnastik, Logopädie, Beschäftigungstherapie, Psychologie) gruppenübergreifend versorgt werden konnte, ergab sich die Zahl von fünf Gruppen ("Fünfer-Projekt"), von denen jede sieben Kinder, davon drei nicht behindert, zwei mittelschwer behindert und je ein schwer und ein leicht behindertes Kind, aufnehmen sollte. Die erzieherische Arbeit in der Gruppe selbst sollte ausgebildeten und dem Integrationsgedanken aufgeschlossenen Kindergärtnerinnen übertragen werden, die in ihrer Arbeit von wochenweise eingeteilten Halbtags- "Elterndiensten" zu unterstützen waren.

Ohne eine Förderungszusage des Senats abzuwarten hatten bereits im April 1972 zwei solcher Gruppen mit der Arbeit begonnen: In einem pleitegegangenen Kartoffelgeschäft und einem ehemaligen Zeitungsladen gegenüber dem S-Bahnhof Friedenau im West-Berliner Bezirk Schöneberg spielten täglich von 9 bis 16 Uhr je vier bewegungsgestörte mit jeweils drei nichtbehinderten Krabbel-Kindern zusammen. Für einzelne Mitglieder dieser beiden Gründer-Gruppen überstiegen die monatlichen Unterstützungsbeiträge nicht selten 500 Mark, und es war absehbar, daß das Projekt aus eigener Kraft nicht

sehr lange aufrecht zu erhalten sein würde. Obwohl die damalige Jugend-Senatorin Ilse Reichel (SPD) in dem Unternehmen ein "wichtiges Integrationsmodell" sah, dem sie ebenso wie ihre Fachverwaltung von Anbeginn wohlwollend gegenüberstand, konnte sie zunächst mit keinerlei finanzieller Unterstützung aufwarten und mußte noch im November 1972 resignierend erklären: "Für solche Initiativen, die auf lange Sicht sogar eine Menge Geld sparen würden, bietet unser Haushalt einfach nicht die Voraussetzung".[22])

Erst als die Elterninitiative mit einer Demonstration in den Amtsräumen der Senatorin auf ihr Anliegen aufmerksam machte und bei diesem "Go-in" die Öffentlichkeit über ihr Konzept aufklärte, verstärkte sich auch der politische Druck auf den Finanzsenator, die für 1973 als notwendig errechneten 300.000 Mark an Zuschüssen zu bewilligen.[23]) Dennoch konnte sich die Verwaltung zunächst nicht bereitfinden, das erste "Fünfer-Projekt" trotz seiner therapeutischen, pädagogischen und nicht zuletzt ökonomischen Sinnfälligkeit in toto zu bezuschussen. Stattdessen sagte der Senat lediglich zu, die beiden bereits arbeitenden Gruppen zu finanzieren, nicht aber jene drei weiteren, die zu jenem Zeitpunkt in Wartestellung verharrten und das erste "Fünfer-Projekt" komplettieren sollten. Die Elterninitiative wertete diese Entscheidung als "Schildbürgerstreich" und als Versuch, "die Gruppen in eine unterprivilegierte Mehrheit und eine privilegierte Minderheit aufzuspalten".[24]) Eine solche Spaltung lehnte die Eltern-Vollversammlung ab und beschloß stattdessen, die zugesagten Mittel als Vorschuß zu betrachten und für die Errichtung des "Fünfer-Projekts" zu verwenden; sollten weitere Gelder ausbleiben, würde der Senat "die Verantwortung für (den dann unausweichlichen) Zusammenbruch ... in vollem Umfang zu tragen haben".[25])

Diese ernsteste Konfliktsituation in der Gründungsgeschichte der damals einzigen Integrations-Elterninitiative West-Berlins (und nach freilich ungesicherter Kenntnis des Autors auch des Bundesgebietes) taugt nicht nur - sie zwingt nachgerade zur Kontrastierung mit der Gegenwart:

Die damals im Durchschnitt zweieinhalbjährigen Kinder der zweiten Pioniergruppe, jener aus dem Kartoffelladen, sind heute zwischen zehn und elf Jahre alt. Sie besuchen - Fluktuation abgerechnet - immer noch gemeinsam nachmittags "ihren" Laden, der inzwischen "Schülerladen" heißt, und vormittags die Schule: Als 5d und damit älteste der sogenannten "Integrationsklassen" an der staatlichen Fläming-Grundschule in der Friedenauer Nachbarschaft,[26]) Vier weitere Integrationsklassen sowie eine Integrations-Vorklasse "mit einer verminderten Frequenz von etwa 15 Schülern, darunter bis zu 5 behinderten Kindern"[27]) existieren an dieser Schule, und mit Ausnahme von einer bilden "Therapeutische Eltern-Kinder-Gruppen" auf Schüler- wie auch auf Elternseite die "Integrationskerne" dieser Klassen sui generis. Der vorschulische Projektteil besteht völlig eigenständig seit rund acht Jahren als "Fünfer-Projekt", ungefähr Jahrgangsgestuft mit z.T. erheblichen Altersabweichungen bei den behinderten Kindern. Alle fünf Gruppen wohnen in einem der Deutschen Postgewerkschaft abgemieteten Haus unter einem Dach; erst mit Erreichen der ersten Klasse muß die Gruppe sich einen Laden in der Nachbarschaft suchen und Platz für die kleinen Nachrücker machen. Über dem Eingang Hedwigstraße 13 steht "Kinderhaus I", betrieben wird es vom Verein "Kinderhaus Friedenau - Modellgruppen zur integrativen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kleinkind- und Schulalter", und für die Fläming-Grundschule ist die jeweils älteste Kinderhaus-Gruppe (inzwischen durchschnittlich mit 9-er-Frequenz) alljährlich praktisch der harte Kern der zu bildenden Integrations-Vorklasse.

Auf rund 250 Eltern mit über 130 Kindern aus fast allen West-Berliner Bezirken ist das Friedenauer Integrationsprojekt mit seinen beiden Komponenten Kinderhaus und Flämingschule inzwischen angewachsen - für basisdemokratische Lernprozesse bekanntlich bereits eine soziologische Größenordnung, die Informations- und Koordinationsprobleme aufwirft und mitunter Kommunikations- und Kontaktverlust bedeutet. Dadurch hat sich die Organisationsstruktur vor allem des Kinderhauses über die Jahre mehrfach geändert.

War der Gründer-Generation mit einem überproportional starken Anteil von Studenten und Akademikern und einem noch weitgehenden allgemeinpolitischen Konsens eine streng rätedemokratische Regelung der inneren und äußeren Angelegenheiten wichtig gewesen, mit weitgehender Gruppenautonomie und einem starken Elternrat, der im Rotationsverfahren von allen Gruppen beschickt wurde und wenigstens zeitweilig als zentrale Entscheidungsinstanz fungierte, so setzte die Etablierung und finanzielle Sicherung der Institution Kinderhaus allmählich auch neue Prioritäten. Für immer mehr Therapeuten und Erzieher, aber auch für immer mehr Eltern, die mit der Ausweitung des Projekts neu hinzukamen, war die oben skizzierte Erfahrung von praktischer Solidarität im gemeinsamen und letztlich erfolgreichen Widerstand gegen externe Spaltungsversuche bald nurmehr Historie. Ihre Ansprüche richteten sich nicht mehr vorrangig gegen den Staat und seine öffentliche Armut verwaltenden Instanzen, sondern gegen die fertig vorgefundene Sonderkindertagesstätte Kinderhaus selbst: Deren reibungslosem Ablauf, der internen Kooperation von Eltern und Mitarbeitern, der Angleichung individueller und genereller Therapie- und Erziehungskonzepte, der möglichst detaillierten satzungsrechtlichen Regelung und Abgrenzung von Gruppenkompetenzen wurde nun verstärkt Aufmerksamkeit und Aktivität gewidmet.

Obwohl der außer- und vorschulische Bereich (Kinderhaus) und die schulische Integration (Flämingschule) bislang an zwei verschiedene Senatsverwaltungen angebunden waren - erst der seit Juni 1981 im Amt befindliche CDU-Minderheitssenat hat Familie, Jugend und Schulwesen in einem Ressort zusammengelegt - ist auf beiden Feldern dasselbe Phänomen zu beobachten: Aus der Betroffenen-Initiative wird durch die staatliche Akzeptation und durch das verstärkte Hinzutreten von engagierten Fachleuten über weite Strecken ein Unternehmen von Betroffenen-Betreuern. Die Eltern haben sich, wie die rückläufige Beteiligung an Mitgliederversammlungen und gemeinsamen Elternabenden der Integrationsklassen ausweist, aus dem Routinebetrieb Integration bis zu einem gewissen Grade zurückgezogen. Dies freilich darf nicht mit Desinteresse oder gar Abkehr verwechselt werden, sondern es gleicht weit eher einem durchaus wach beobachtenden Sich-in-Bereitschaft-Halten. Ein Beweis dafür ist im Schulbereich einmal die weit überdurchschnittliche Aktivität auf Klassenebene und die sehr enge persönliche Kooperation von last allen Eltern, besonders aber der von behinderten Kindern, mit den beiden in den Klassen arbeitenden Pädagogen.

Zum anderen werden die Eltern stets dort zu finden sein, wo die Dinge noch offen, ungesichert und ständig von Kassation durch die Verwaltung bedroht sind. Dieser unsichere Ort ist nach Lage der Dinge weniger der vor- und außerschulische Bereich als vielmehr die Schulbehörde, der ein Tertium comparationis namens Integration zwischen Regel- und Sonderschule allen Absichtserklärungen zum Trotz immer noch ziemlich unheimlich ist.

Nun ist es wirklichen Betroffenen-Initiativen eigentümlich, daß sie sich schwertun mit großen und weitreichenden Perspektiven. Ihre Devise scheint mehr das pragmatische "first things first"; die ferne Zukunft dagegen ist meist nur vage oder gar nicht konturiert. Die mit solchen Betroffenen-Forderungen konfrontierte Verwaltung deutet diese futuristische Blässe meist falsch - nämlich als Perspektivlosigkeit oder Phrasendrescherei. In Wahrheit hat die Zurückhaltung sehr viel mehr mit Selbstschutz zu tun - damit, daß ein schärferes Bewußtmachen der gesellschaftlichen Veränderungen, die Betroffenen-Engagement zumeist im Visier hat, den Aktivisten leicht den Atem für die gegenwärtige Praxis verschlagen könnte. Auf den Punkt brachte dies der Stoßseufzer eines sozialdemokratischen Bildungspolitikers, dem ich Mitte der siebziger Jahre von dem Friedenauer Integrationsansatz in Richtung Schule erzählte: "Was ihr da vorhabt ist so, als wolltet ihr den Mount Everest mit der Kinderschippe abtragen." Wer über ein solches Bild länger ins Grübeln gerät, wird mit dem Schippen kaum noch anfangen.

Insofern ist verständlich, daß in dem eingangs erwähnten Grundkonzept für die "Therapeutischen Eltern-Kinder-Gruppen" nicht einmal der Begriff Schule auftaucht. Erst Anfang 1975 findet sich in den Elternabend-Protokollen der damals ältesten Kinderhaus-Gruppe 1 ein erstes Schulkonzept, basierend auf der "Einsicht, daß eine sozialintegrative Erziehung ihrem Anspruch nur gerecht wird, wenn sie nicht auf Einzelbereiche des gesellschaftlichen Zusammenseins wie Kindergarten-Zeit, Freizeitbeschäftigung etc. beschränkt bleibt, sondern wenn alle Umwelterfahrungen gemeinsam erlebt werden können... Unser Ziel ist es somit, den sozial-integrativen Prozeß im Schulbereich fortzusetzen... Wichtigste Voraussetzung ist ohne Frage der Besuch einer ,normalen' Grundschule und einer gewöhnlichen Klasse in derselben."[28])

Auf diese Vorstellungen reagierte der zuständige Schulaufsichtsbeamte mit weitgehender Ablehnung: Die Gruppe könne ihre Kinder "in die für den Standort Ihres Heims (sic!) zuständige Uckermark-Grundschule einschulen" - freilich "schulärztliche Untersuchung" und einen unbedenklichen Ausgang derselben vorausgesetzt; und: "Eine Aufnahme in die Fläming-Grundschule kommt nicht in Frage."[29]) Wäre es bei diesem schulamtlichen Punktum geblieben - über ein Integrationsprojekt Fläming-Grundschule wäre hier und heute nichts zu vermelden. Zwar gelangte diese erste Gruppe noch nicht zum Erfolg: Ihr wurde nur ein integratives Vorschul-Jahr erlaubt, danach mußte ihr schwerbehindertes Kind als "nicht integrationsfähig" die Regelschule verlassen und die Klasse wurde bis zur Normalfrequenz aufgefüllt. Erst mit dem zweiten Anlauf seiner Gruppe 2 setzte sich das Kinderhaus durch - der Anfang für einen integrativen Zug an der Flämingschule war gemacht. Die Bedeutung der Eltern-Arbeit für die schulische Integration an der Flämingschule war konkret die, daß es ohne sie das Projekt nicht gäbe.

Doch auch unabhängig von der Projektgenese ist die Begründung für Elternbeteiligung, starke Elternbeteiligung, eine doppelte: Zum einen gilt der Gemeinplatz von der notwendigen erzieherischen Kooperation zwischen Schule und Elternhaus um so stärker, je mehr ein Kind in seiner Entwicklung durch eine wie auch immer gesetzte Behinderung beeinträchtigt ist:

Nicht immer, aber häufig sind die Eltern, oder doch ein Elternteil, die wichtigsten Therapeuten des behinderten Kindes - wichtig nicht in dem Sinne, daß ihre Therapie auch immer die richtige wäre, aber wichtig, was den Einfluß auf und den unmittelbaren Zugang zu dem betreffenden Kind angeht. Hier ein ständiges feed back zwischen allen am Lernprozeß Beteiligten zu institutionalisieren, zu pflegen und zu vervollkommnen ist für integrative Schule, wie sie das Fläming-Projekt unternimmt, nachgerade unerläßlich.

Zum anderen ist da - neben der individuellen - eine erhebliche kollektive Kompetenz der Eltern zu nennen, die sie in jahrelangem gemeinschaftlichem Bemühen um integrative Erziehung erworben haben: Sie haben eine große Erfahrung, was die Defizite einzelner Kinder und deren allmähliche Kompensation, aber auch was die Entwicklungsgeschichte von Konflikten in der Kindergruppe selbst angeht. Schule, die dieses Erfahrungspotential nicht nutzt oder gar mißachtet, handelte mindestens fahrlässig.

Anders verhält es sich mit häufig organisch gewachsenen Kontakten, die Eltern solcher Initiativen zu Behörden, zu Trägern offentlicher Meinung, zu Projekten ähnlicher Art und Zielstellung entwickelt haben: Diese Partner-Funktion wird Schule nicht ohne weiteres übernehmen können. Hier ist sie in Konfliktsituationen gut beraten, wenn sie diese Kontakte zu nutzen versteht und dabei Zielkonflikte tunlichst vermeidet. Zum Beispiel: Schulleitung und Lehrer sind in der Regel gehalten, den nicht immer förderlichen Dienstweg zu gehen. Eltern sind das nicht. Sie können Wege gehen, die schnurstracks zum verantwortlichen Senator, zu parlamentarischen Gremien oder aber in die Öffentlichkeit führen. Es ist, wiederum, eine Frage des Klimas, ob Schule sich in solchen Fällen ausmanövriert fühlt und jählings in eine bürokratische Gegnerschaft zu Elterninteressen gerät, oder ob sie ihren Platz und ihr Gewicht in einer solchen Doppelstrategie zu finden versteht, ohne ihre Loyalität nach der einen noch nach der anderen Seite dadurch aufzugeben.

An der Fläming-Grundschule arbeiten seit mehr als zwei Jahren Lehrer, pädagogische Mitarbeiter, Schulleitung, wissenschaftliche Begleitung und Eltern in einer vorn Senator gestifteten Projektgruppe zusammen - von Elternseite aus jeder Integrationsklasse je ein Vertreter. Seit Mai 1981 verfügen die Elternvertreter auch über uneingeschränktes Stimmrecht in dieser Projektgruppe, der die pädagogische Koordination des Modellversuchs obliegt. Auch in diesem Zusammenhang muß zumindestens mit der Gefahr gerechnet werden, daß mit einer solchen Institutionalisierung, mit dem Aufnehmen des Betroffenen-Balles durch die Bürokratie, zugleich Elemente von Demotivierung einhergehen können. Früher, in der Vorschulphase der ersten beiden Klassen, hatten die Eltern - ohne wissenschaftliche Begleitung, oft ganz auf sich allein gestellt - die Resultate des Projekts noch selbst verifizieren oder falsifizieren müssen. Heute ist ihnen vieles davon abgenommen, und das ist gut und richtig so. Aber es kann zugleich bequem machen und den inneren Rückzug von einem Unternehmen vorbereiten helfen, das mindestens zum Teil in andere Hände gekommen ist, kommen mußte, wenn es überhaupt die Chance gesellschaftlicher Multiplikation haben soll. Deshalb darf - und diese Dialektik gilt es für Schule zu begreifen - die Demission der Eltern nicht stattfinden: Die Rolle des den Karren ziehenden Gaules muß die Institution übernehmen, aber die betroffenen Eltern müssen, quasi als Integrations-Antreiber vom Dienst, auf dem Karren sitzen bleiben. Und das ist nur scheinbar der bequemere Platz, wie die unter den Eltern der ältesten Integrationsklasse derzeit stattfindende Diskussion über die Projekt-Fortführung in der weiterführenden Schule schon jetzt erweist.



[17] vgl. hierzu ausführlicher Ulrike Jung-Geißler in: Die Zeitung vom Kinderhaus (DZvK), Nr. 1, Berlin (West) 1973.

[18] Therapeutische Eltern-Kind-Gruppen zur Rehabilitation cerebralbewegungsgestörter Kinder: Das methodische, personelle und finanzielle Grundkonzept. Ein Projekt des Zentrums zur Früherfassung und Frühbehandlung cerebralbewegungsgestörter Kinder e. V. Berlin; als Manuskript gedruckt, Berlin (West) Mai 1972.

[19] a.a.O., S. 1

[20] a.a.O., S. 3

[21] ebenda

[22] Der Spiegel, Nr. 48, Hamburg 1972, S. 77 f.

[23] Spandauer Volksblatt v. 9.11.1972

[24] Entschließung der Eltern-Vollversammlung v. 22.1.1973; als Flugblatt gedruckt, Berlin 1973.

[25] ebenda

[26] zu Organisation, Struktur und pädagogischer Evaluation des Integrationsprojekts Flämingschule vgl. die Darstellungen Norbert Stoellgers auf S. 43 ff. und von Wolfgang Podlesch auf S. 53 ff. dieses Buches.

[27] zit. nach Genehmigungsschreiben des Senators für Schulwesen, II c B 11, Berlin (West), v. 14.9.1978 (unveröffentlicht). Nach der jüngsten, derzeit gültigen Genehmigung (11 c B 52 v. 14.5.1981) ist die Frequenz verbindlich mit 15 Schülern festgesehrieben; davon "dürfen maximal 5 Schüler behindert sein" (unveröffentlicht).

[28] Schulkonzept der Gruppe 1, enthalten im Elternabend-Protokoll vorn 25.3.1975 (unveröffentlicht).

[29] Schreiben des Bezirksamtes Schöneberg von Berlin, Abt. Volksbildung (Schul III) v. 22.4.1975 in: Integrative Erziehung gesunder und behinderter Kinder, herausgegeben von der Gruppe 1 im Kinderhaus, Berlin 1975.

Norbert Stoellger: Erfahrungen mit dem Zwei-Pädagogen-System im gemeinsamen Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder

1. Skizze eines Integrationsprojekts

An der Berliner Fläming-Grundschule gibt es seit 1975 Klassen zur gemeinsamen Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder. Ursprünglich hatte man auf Drängen einer Elterninitiative mit einer Klasse begonnen, in den folgenden Jahren waren weitere Klassen hinzugekommen, so daß heute von einem integrativen Zug gesprochen werden kann. Die Klassen werden - analog zur üblichen Struktur der Berliner Grundschule - von der Vorklasse bis zur 6. Klasse geführt.

Der Integrationsversuch an der Fläming-Grundschule soll einen möglichen schulischen Weg zur besseren gesellschaftlichen Eingliederung Behinderter aufzeigen, indem modellhaft die institutionelle Isolierung Behinderter im Schulalter reduziert bzw. aufgehoben wird und behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam schulisch erzogen werden. Die integrativen Klassen realisieren weitgehend die von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1973 formulierte schulpolitische Zielsetzung, daß zukünftig eine "weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten ..." (Bildungskommission, 15/16) anzustreben sei.

Selbstverständlich ist unsere herkömmliche Schule für die Übernahme einer zwar wünschenswerten, aber eben schwierigen und komplexen Aufgabe, wie sie die gemeinsame Schulerziehung darstellt, nicht ohne weiteres geeignet. Welche Veränderungen der Rahmenbedingungen und des Unterrichts- und Erziehungskonzepts erforderlich sind, hängt im konkreten Fall wesentlich davon ab, welche behinderten Kinder mit welchem Schweregrad von Behinderung gemeinsam mit nichtbehinderten schulisch erzogen und unterrichtet werden sollen. Die integrativen Klassen der Fläming-Grundschule nehmen verschiedenartig und unterschiedlich schwer behinderte Kinder auf, von denen sich annehmen läßt, daß sie an gemeinsamen Lernsituationen im binnendifferenzierten Unterricht entsprechend ihren Lernmöglichkeiten werden teilhaben können. Außerdem werden nur solche behinderten Kinder aufgenommen, die son¬derpädagogisch innerhalb der Schule versorgt werden können, falls dies erforderlich ist. In den Integrationsklassen befinden sich lernbehinderte, geistigbehinderte, verhaltensgestörte, sprachbehinderte, körperbehinderte, schwerhörige und anfallskranke Kinder. Die Klassenfrequenz beträgt 15; davon können bis zu fünf Kinder behindert sein. Die Gruppen werden auch unter dem Gesichtspunkt zusammengestellt, daß es in den Klassen nicht zu einer Häufung gleichartiger und schwerer Behinderungen kommt. Im Projekt arbeiten Grund- und Sonderschullehrer mit unterschiedlichen Lehrbefähigungen; es wird klassenübergreifend Sprachtherapie erteilt. Pro Klasse steht täglich eine Stunde für Förderunterricht zur Verfügung. Die Klassen werden von einem Grund- oder Sonderschullehrer geführt und gemeinsam mit einer Pädagogischen Unterrichtshilfe (Erzieher, Sozialpädagoge, Krankengymnastin o.ä.) unterrichtet. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern und mit außerschulischen Institutionen (Familien- und Behindertenfürsorge, Kinder- und jugendpsychiatrischer Dienst u.ä.). Die wissenschaftliche Begleitung arbeitet im Sinne handlungsbegleitender Forschung im Projekt mit.

Die gemeinsame Schulerziehung für behinderte und nichtbehinderte Kinder setzt eine Reform der allgemeinen Schule voraus. Rahmenbedingungen, z.B. Klassenfrequenzen, müssen verändert oder neu geschaffen werden, z.B. Kooperationsmöglichkeiten für Regel- und Sonderschullehrer, Zwei-Pädagogen-Systeme. Solche reformierten Rahmenbedingungen, verbunden mit der Zielsetzung einer möglichst optimalen Förderung sowohl der behinderten als auch der nichtbehindertern Kinder, haben Veränderungen des herkömmlichen Erziehungs- und Unterrichtskonzepts zur Folge, die hier nur schlagwortartig angedeutet werden können: Stellenwert der Sozialerziehung, Binnendifferenzierung des Unterrichts, Individualisierung der

Lernanforderungen und Erfassung der individuellen Lernvoraussetzungen, Hineinnahme sonderpädagogischer Interventions- und Therapiemaßnahmen in den Unterricht sind Kernfragen der Praxis integrativer Schulerziehung (vgl. N. Stoellger).

2. Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation

Die in der Praxis der integrativen Schulerziehung auftretenden Probleme lassen sich nur lösen, wenn dabei relativ neue Vorgehensweisen entwickelt und praktiziert werden, von denen man aber wohl annehmen muß, daß sie generell wünschenswerte Entwicklungen darstellen. Hierzu gehört unbedingt die Kooperation innerhalb schulischer Arbeitszusammenhänge und im Umfeld der Schule.

2.1 Kooperation zwischen Pädagogen unterschiedlicher Qualifikation

Die Absicht, behinderte und nichtbehinderte Kinder innerhalb der Regelschule gemeinsam zu unterrichten, führt nahezu zwangsläufig zur Institutionalisierung der Zusammenarbeit von Pädagogen unterschiedlicher Ausbildung. Auf die Mitarbeit von Sonderpädagogen wird man nicht verzichten können, wenn die pädagogische Versorgung der behinderten Kinder nicht auf einen Stand zurückfallen soll, der unterhalb des in unserem herkömmlichen Sonderschulsystem erreichten Niveaus liegt. Andererseits ist die Mitarbeit von Regelschullehrern erforderlich, wenn man den Integrationsklassen den Charakter von Regelschuleinrichtungen bewahren will. Wir halten die Kooperation von Regel- und Sonderschullehrern für ein konstitutives Merkmal der integrativen Schule. An der Arbeit im integrativen Zug der Fläming-Grundschule sind Regel- und Sonderschullehrer annähernd paritätisch beteiligt.

Im Unterricht der integrativen Klassen steht die Gemeinsamkeit der Lernsituation für alle Kinder im Vordergrund. Schulisches Lernen darf sich hier weniger als anderswo auf die Vermittlung der Kulturtechniken reduzieren. Gemeinschaftserziehung, basales Lernen im Sinne des psychomotorischen Trainings, der rhytmisch-musikalischen Erziehung und der Umweltorientierung werden als mindestens ebenso wichtige Lernbereiche verstanden wie Lesen, Schreiben und Mathematik. Für solche Lernbereiche sind Erzieher von ihrer Ausbildung her häufig besser qualifiziert als Lehrer. Die Zusammenarbeit von Lehrern und Pädagogischen Unterrichtshilfen im Zwei-Pädagogen-System führt zu einer inhaltlich sinnvollen, wechselseitigen Ergänzung.

Ein weiterer Grund für die Einführung des Zwei-Pädagogen-Systems ergibt sich aus der Tatsache, daß im stark binnendifferenzierten Unterricht, wie er in integrativen Klassen erforderlich wird, jedes einzelne Kind ein wesentlich höheres Ausmaß an Lehrerzeit benötigt als im herkömmlichen Frontalunterricht.

2.2 Vertikale Kooperation: Verlagerung von Problemlösungskompetenz

Integrative Schulerziehung wirft in ihrer Praxis eine Vielzahl neuer Probleme auf, für die fertige Lösungen nicht vorhanden sind, sondern von den unmittelbar "vor Ort" Arbeitenden gefunden werden müssen. Die auftauchenden Fragen konzeptioneller und praktischer Art können kaum ohne weiteres auf den oberen Ebenen von Schulverwaltung und Schulaufsicht beantwortet werden. Faktisch verlagert sich die Problemlö¬sungskompetenz nach unten, wobei die Schuladministration vor allem entsprechende Freiräume für Teamentscheidungen schaffen muß. Integrative Schulerziehung als innovative Aufgabe der allgemeinen Schule intensiviert die vertikale Kooperation und führt zu einer Verlagerung der inhaltlichen Entscheidungskompetenz nach unten. Sie ist damit auch als eine Chance zur Demokratisierung des schulischen Arbeitszusammenhangs zu verstehen (vg. A. Combe, 128).

2.3 Organisation der Kooperation im Fläming-Projekt

Die Zusammenarbeit aller am Projekt Beteiligten ist gegenwärtig mit folgenden Schwerpunkten institutionalisiert:

  • Zwei-Pädagogen-System: Jeweils ein Lehrer bzw. Sonderschullehrer und eine Pädagogische Unterrichtshilfe unterrichten gemeinsam eine Klasse.

  • Elterngespräche, Hospitationen der Eltern im Unterricht, Elternversammlungen

  • Klassenstufenkonferenzen: Der Unterricht der Integrationsklassen wird thematisch-inhaltlich mit dem der Regelklassen abgestimmt. Klassenarbeiten werden für die jeweilige Klassenstufe gemeinsam vorbereitet. Durch die Zusammenarbeit mit den parallelen Regelklassen soll schon bei der Unterrichtsvorbereitung abgesichert werden, daß die Integrationsklassen nicht hinter den Leistungsstand der Regelklassen zurückfallen.

  • Projektgruppe: Stimmberechtigte Mitglieder sind die Lehrer und die Pädagogischen Unterrichtshilfen. Elternvertreter der Integrationsklassen, die Vertreter der wissenschaftlichen Begleitung und der Schulleiter. Die Projektgruppe ist faktisch das Leitungsgremium des Integrationsversuchs: Sie berät alle auftauchenden inhaltlichen und organisatorischen Fragen; sie formuliert entscheidungsfähige Vorschläge, sofern schulrechtlich die Entscheidungskompetenz nicht bei ihr liegt; sie entscheidet selbst.

  • Für die Zusammenarbeit mit Schulaufsicht und Schulverwaltung haben sich zwei Wege als erfolgreich erwiesen: Zum einen läuft die Kommunikation über die Schulleitung, zum anderen gelingt es häufig leichter - insbesondere im Vorfeld wichtiger Entscheidungen - über die wissenschaftliche Begleitung mit der Schuladministration ins Gespräch zu kommen.

3. Kooperation im Zwei-Pädagogen-System

3.1 Bezug zum Team-Teaching

Wenn zwei Pädagogen gemeinsam eine Klasse unterrichten, handelt es sich um Team-Teaching. Lehrer und Pädagogische Unterrichtshilfe "... tragen die Verantwortung für den gesamten Unterricht(s) derselben Schülergruppe und arbeiten zusammen" (J. T. Shaplin, 30). Sie legen auf der Basis der geltenden Rahmenpläne, zu deren Einhaltung die Klassen des Integrationsversuchs verpflichtet sind, die Unterrichtsziele und die Gruppierung der Schüler im Unterricht fest. Sie planen den Unterricht gemeinsam und handeln unterrichtlich gemeinsam. Dabei werden die Aufgaben im Unterricht nach Kompetenz und Interesse der beiden Teammitglieder untereinander aufgeteilt. Sie beobachten sich gegenseitig im Unterricht und reflektieren ihre Beobachtungen im nachbereitenden Gespräch. Sie tauschen Informationen über ihre Schüler aus. Solche Tätigkeiten werden als kennzeichnende Merkmale des Team-Teaching verstanden (F. Wellendorf, 164).

3.2 Tätigkeiten der Pädagogischen Unterrichtshilfen im Unterricht

Obwohl Lehrer und Pädagogische Unterrichtshilfen unterschiedliche Qualifikationen in den Arbeitszusammenhang einbringen, gehen wir davon aus, daß beide in ihren Funktionen in der Praxis des Unterrichts grundsätzlich austauschbar sind. Voraussetzung dazu ist die intensive gemeinsame Unterrichtsvorbereitung. Dies schließt sowohl die Planung über größere Zeitabschnitte (Monats- und Wochenpläne, Unterrichtseinheiten) als auch die Planung des täglichen Unterrichtsablaufs ein. An der Konzeptionierung der Individuellen Lehrpläne (und Lernberichte) sind die Pädagogischen Unterrichtshilfen beteiligt, ebenso an der Herstellung zusätzlich erforderlicher Arbeitsmaterialien für die Schüler.

Im binnendifferenzierten Unterricht leiten die Pädagogischen Unterrichtshilfen häufig Teilungsgruppen oder auch einzelne Kinder an. Der Unterricht mit dem überwiegenden Teil der Klasse kann ebenfalls von ihnen durchgeführt werden, so daß der Lehrer dann freigesetzt ist, um einzelne Kinder speziell zu fördern. Bei Bedarf übernehmen die Pädagogischen Unterrichtshilfen auch längerfristig die Anleitung bei der Durchführung individueller Lernprogramme mit einzelnen Kindern, z.B. Wahrnehmungstraining, Lesetraining.

Eine wichtige Aufgabe ist die Beobachtung der Kinder in der Unterrichtssituation, der Austausch der Beobachtungen mit dem Lehrer und die gemeinsame Dokumentation der Lernentwicklung in den Individuellen Lernberichten.

Selbstverständlich sind die Unterrichtshilfen in die Zusammenarbeit mit Eltern, Erziehern und Therapeuten im außerschulischen Bereich voll eingebunden; solche Aufgaben werden gemeinsam mit dem Lehrer oder auch arbeitsteilig wahrgenommen.

3.3 Vorteile des Zwei-Pädagogen-Systems für die Kinder

  • Die ständige Anwesenheit zweier Pädagogen im Unterricht bietet zunächst einmal in einem wesentlich höheren Ausmaß als sonst üblich die Möglichkeit, dem einzelnen Kind mehr Lehrerzeit, mehr Zuwendung, mehr Anleitung und mehr flexible Hilfe bei der Überwindung von Lernschwierigkeiten zur Verfügung zu stellen.

  • Das Zwei-Pädagogen-System ermöglicht ein genaueres Erfassen der Lernvoraussetzungen im Schüler, eine genauere Beobachtung der Lernsituation und -entwicklung des einzelnen Schülers, und stellt damit die Basis für eine individualisierte Planung von Lernprozessen mit angemessenem Schwierigkeitsgrad, so daß Über- und Unterforderung weitgehend vermieden werden können.

  • Das Zwei-Pädagogen-System führt zur Auflösung des lehrerzentrierten Frontalunterrichts, zur Realisierung binnendifferenzierten Unterrichts und zur Pflege kooperativer Arbeitsformen in der Klasse.

  • Die Zusammenarbeit zweier Pädagogen im täglichen Unterricht stellt ein für die Schüler wahrnehmbares Modell für Kooperation dar, von dem man sich positive Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Kooperationsfähigkeit versprechen kann (vgl. E. Meyer, 1972, 10).

  • Das Zwei-Pädagogen-System liefert die Schüler nicht einem Pädagogen allein aus, sondern läßt ihnen eine gewisse Wahlmöglichkeit bei der Orientierung auf Erwachsene.

  • Darüberhinaus vermag das Zwei-Pädagogen-System zur Stabilisierung eines wünschenswerten Lehrerverhaltens im Sinne des partnerschaftlichen, sozial-integrativen Führungsstils beizutragen, da die Pädagogen weniger häufig in Überforderungssituationen geraten und zudem etwaige Konflikte im nachbereitenden Gespräch mit ihrem Teampartner aufarbeiten können.

Insgesamt profitieren die Schüler davon, daß das Zwei-Pädagogen-System - wie andere Formen des Team-Teaching auch - eine "optimale Nutzung der fachlichen und didaktischen Kompetenz des Lehrerpersonals" ermöglicht und zu "gegenseitiger Qualitätskontrolle und wechselseitiger Fortbildung" (W.-P. Teschner, 162) zwingt.

3.4 Schwierigkeiten, Vorbehalte, Einschränkungen

Die Arbeit in einem innovativen Projekt integrativer Schulerziehung stellt alle Beteiligten in eine neue Situation, die während einer unterschiedlich langen Einarbeitungszeit eine zusätzliche zeitliche und arbeitsmäßige Belastung bedeutet und auch prinzipiell das Risiko des Scheiterns in sich trägt. Die Pädagogischen Unterrichtshilfen kommen meist aus außerschulischen Arbeitszusammenhängen, z. B. aus der Kindertagesstätte, und müssen sich sowohl auf die heterogener zusammengesetzten Kindergruppen und die Behindertenproblematik als auch auf das systematisch-planvolle Arbeiten in der Grundschule einstellen. Grundschullehrer haben zu allermeist keine Kenntnisse über behinderte Kinder und auch keine Erfahrungen mit ihnen, während Sonderschullehrer mindestens das Problem haben, sich auf die im Lehrplan der Grundschule vorgegebenen Leistungsanforderungen einzustellen und eine grundschulkonforme Arbeitsweise zu entwickeln. Allen Beteiligten fehlen zunächst einmal Erfahrungen in der Anwendung von Strategien unterrichtlicher Binnendifferenzierung in derar tig heterogenen Lerngruppen.

Nun stellt die Arbeit in einer Integrationsklasse die Betroffenen nicht nur inhaltlich vor neue Aufgaben, sondern das Zwei-Pädagogen-System bringt auch unter dem Beziehungsaspekt Orientierungsprobleme mit sich. Bei der Neukonstituierung von Arbeitsteams kann man anfangs grundsätzlich erwarten, daß die Teampartner eine Phase persönlicher Verunsicherung erleben (vgl. H. Rosenkranz, 29). Die in den bisherigen Arbeitszusammenhängen erworbenen Verhaltensmuster werden teilweise infragegestellt, mehr oder weniger starke Konflikte mit dem Teampartner sind wahrscheinlich, die eigene Rolle muß wenigstens teilweise neu definiert und die Verteilung der Rollen zwischen den Partnern erprobt werden. Es wird einige Zeit vergehen, ehe ein Zwei-Pädagogen-System sich einen Gleichgewichtszustand erarbeitet hat, der es voll arbeitsfähig macht. Zum zusätzlichen Zeit- und Arbeitsaufwand, der inhaltlich bedingt ist, tritt also ein von den Partnern zu lösendes Beziehungsproblem, das zugleich psychisch belastend wirken mag.

Die geschilderten Schwierigkeiten sprechen dafür, daß eine Zuordnung zu einem Zwei-Pädagogen-System gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nur auf freiwilliger Basis erfolgen kann. Kooperative Arbeitsformen sind in unserem Schulsystem nicht zwingend vorgeschrieben, so daß die entsprechenden Kompetenzen sich kollektiv nicht ausbilden können. Nicht jeder Pädagoge wird sich zu einer solchen Arbeitsform entschließen können, denn "für einige ist es eine unerwünschte Erfahrung, Kollegen Einblick in den Unterricht zu gewähren und sich genau in einen (selbst vorher besprochenen und in freier Diskussion beschlossenen) Vorgang einzupassen" (E. Meyer, 197 1, 10). Das Team als "Instanz permanenter professioneller Kritik" (F. Wellendorf, 171) bietet zwar die Chance einer Weiterentwicklung der beruflichen Kompetenz über die Kooperation mit dem Teampartner, dies verlangt aber zugleich, daß die tatsächlichen Fähigkeiten des einzelnen offengelgt werden. Eine konstruktive Grundhaltung muß in das Zwei-Pädagogen-System eingebracht und weiterentwickelt werden, die sich mit Begriffen wie Leistung, Sachlichkeit und, Fachlichkeit (vgl. U. Perle, 31) umschreiben läßt.

Das Zwei-Pädagogen-System schafft die personellen Voraussetzungen, um auf die komplexe Aufgabe, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten, mit einem angemessenen Unterrichtskonzept zu reagieren. Dabei verändert sich die Schulsituation der Kinder grundlegend: Der Unterricht richtet sich nicht mehr auf eine als homogen verstandene Lerngruppe aus, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen und Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes, unabhängig davon, ob es üblicherweise als behindert oder nichtbehindert klassifiziert würde. Außerdem stellt das Zwei-Pädagogen-System eine Arbeitsplatzsituation her, die von den meisten Pädagogen, die sich zu dieser Form der Zusammenarbeit entschließen, als sehr befriedigend erlebt wird.

Literatur

Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, 34. Sitzung, 12./13.10.1973; zitiert nach: Zeitschrift für Heilpädagogik, 25, Jg, Beiheft 11

Arno Combe. Kritik der Lehrerrolle. Gesellschaftliche Voraussetzungen und soziale Folgen des Lehrerbewußtseins. München 1971

Ernst Meyer (Hrsg.): Team Teaching. Versuch und Kontrolle. Heidelberg 1971

Ernst Meyer (Hrsg.): Gruppenpädagogik zwischen Moskau und New York. Heidelberg (1972)

Udo Perle: Arbeiten im Team. Tübingen (1969)

Hans Rosenkranz. Führung und Dynamik von Arbeitsgruppen in Schule und Betrieb. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 1971, S. 27-37

Judson T. Shapfin: Team-Teaching, Versuch einer Definition. In: Hans-Wilhelm Dechert (Hrsg.): Team-Teaching in der Schule. München (1972)

Norbert Stoellger. Kooperation zwischen Grund- und Sonderschullehrern - Sonderpädagogik in der Grundschule. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 32. Jg. 198 1. H. 1, S. 107-110

Wolfgang-P. Teschner: Interdisziplinärer Unterricht. In: Theo Dietrich und Franz-J. Kaiser (Hrsg.): Brennpunkte der Schulpädagogik. Bad Heilbrunn 1975, S. 157-163

Franz Wellendorf.- Teamarbeit in der Schule. In: Theo Dietrich und Franz-J. Kaiser (Hrsg.): Brennpunkte der Schulpädagogik. Bad Heilbrunn 1975, S. 163-174

Wolfgang Podlesch: Allgemeine Erfahrungen aus dem Berliner Integrationsversuch an der Fläming-Grundschule

Wer mit Eltern, Pädagogen oder Vertretern der Schulverwaltung über Möglichkeiten integrativer Erziehung verhandelt, wird immer wieder mit der Frage der optimalen Förderung aller Kinder konfrontiert; ob denn nicht doch die Nichtbehinderten zu wenig lernten, die Behinderten überfordert seien, eben auch nicht angemessen unterstützt würden und ob man es für Kinder mit so unterschiedlichen Voraussetzungen nicht besser bei der üblichen Trennung in Sonderschulen und Grund- bzw. Oberschulen beließe.

Diese Fragestellung wird im folgenden erörtert, indem aufgrund der bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen im ersten Berliner Integrationsversuch an der Schöneberger Fläming-Grundschule sechs Thesen zur Diskussion gestellt werden. (Näheres zu Aufbau und Organisation des Schulversuchs ist den Beiträgen von Mettke und Stoellger zu entnehmen.) Sie gehen von einer Generalthese aus: Integrative Erziehung fördert die Entwicklung behinderter und nichtbehinderter Kinder gleichermaßen und trägt zur Vermeidung der Aussonderung Behinderter bei.

These 1

Soziales Lernen wird wesentlicher Bestandteil schulischer Erziehung, wenn behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden.

Peter, häufig lautstark und aggressiv, wendet sich sozusagen "von hinten" an einen hörgeschädigten Jungen und fragt ihn: "Darf ich mitspielen?" Peter erhält keine Antwort, fühlt sich abgelehnt und schlägt zu. Anlaß genug, um über adäquates Verhalten Hörbehindertern gegenüber zu reden.

Manuela sitzt in einer Pause vor ihrer 1. Klasse auf dem Boden und hat gerade ihre Beinprothese abgelegt. Zwei Mädchen sitzen daneben und massieren den Stumpf, offenbar tut er ihr weh. Manuela erklärt den anderen dabei ihre Narben.

Solche und ähnliche Begebenheiten gehören zum Schulalltag integrativer Klassen. Die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, z.B. selbstverständlicher miteinander umzugehen, Vorurteile, Ängste und Unsicherheiten bewältigen zu lernen, kann in dieser Intensität und Häufigkeit nur in Integrationsklassen erfolgen. Soziale Lern- und Lebenserfahrungen werden aufgrund der gemeinsamen Schulsituation in so reichhaltigem und anregendem Maße ermöglicht, wie sie isoliert an Sonderschulen und Grundschulen überhaupt nicht denkbar sind.

These 2

Integrative Lerngruppen begünstigen die Steigerung schulischer Leistungen.

Ein nach herrschender Sprachregelung geistigbehinderter Junge der Klasse 3 möchte von seinem Erlebnis am Wochenende erzählen, gelangt allerdings über die Äußerung "Dampfer gefahren" nicht hinaus. Erst als die anderen Kinder mehr wissen wollen, ihn fragen, wo und mit wem er unterwegs war, beginnt er, Einzelheiten wiederzugeben.

Für solche Beobachtungen, daß behinderte Kinder insbesondere durch andere Mitschüler zu Leistungen motiviert werden, die sie sonst kaum oder nur mit sehr großem Aufwand ausbilden würden, lassen sich einige plausible Gründe nennen:

  • Die Leistungs- und Risikobereitschaft, neue Aufgaben lösen zu wollen, stellt sich häufiger ein, wenn sich Gleichaltrige damit erfolgreich auseinandersetzen als wenn lediglich der Pädagoge verbal dazu auffordert. Die konkreten Handlungen der Mitschüler regen zur Nachahmung an, sie sind oft wirksamer als allein die vom Lehrer formulierte Instruktion.

  • "Natürliche" Lerngruppen sind leistungsheterogen, ihr Leistungsspektrum ist so abgestuft, daß für jeden Schüler Orientierungen möglich sind, die ihn weder überfordern noch entmutigen.

  • Erfolgreiche Tätigkeiten einzelner Kinder, die durch Anstoß und Nachahmung anderer Kinder zustandekommen, führen zu sozialer Anerkennung und emotionaler Sicherheit, die die Entwicklung kognitiver Leistungsfähigkeit erleichtern, d.h. die häufig zu beobachtende Blockierung der Lerntätigkeit aufgrund sozial-emotionaler Störungen wird aufgehoben.

Mit dem Tatbestand, daß in Integrationsklassen Kinder ihr unterschiedliches Spektrum an Fähigkeiten einbringen und voneinander lernen können, ist der weitere Vorteil verbunden, daß die Pädagogen Zeit und Kraft für notwendige Unterstützungs- und Beratungstätigkeit gewinnen, sowohl leistungsstarken Gruppen gegenüber als auch Kindern mit spezifischen Lernschwierigkeiten.

These 3

Der gemeinsame Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinderfördert die Verbesserung der pädagogischen Arbeit.

Die tagtägliche Konfrontation der Pädagogen mit sozialen, emotionalen und geistigen Schwierigkeiten einzelner, nicht nur der behinderten Kinder fordert zu besonders gründlichen Unterrichtsvorbereitungen heraus. Dazu gehört die Bestimmung der Lernvoraussetzungen ebenso wie die Analyse der Anforderungsstruktur des jeweiligen Lerninhaltes, so daß im Unterricht Aneignungsprozesse besser verfolgt, gesteuert und häufig Lernschwierigkeiten vermieden werden können. Die damit verbundenen Erfahrungen und Erkenntnisfortschritte auf Seiten der Pädagogen kommen nicht nur den Behinderten zugute, sondern allen Kindern. Erste bestätigende Hinweise dafür sehen wir in den guten Ergebnissen, die Integrationsklassen beim Leistungsvergleich im Rechtschreiben und Rechnen mit Parallelklassen erzielt haben.

These 4

Die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder bewirkt die Einführung neuer Unterrichtsformen und -inhalte.

Die über den üblichen Rahmen hinausgehende Verschiedenartigkeit der Lern- und Leistungsfähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse erfordert adäquate Veränderungen sowohl der Unterrichtsformen als auch der Lerninhalte. Dabei haben sich folgende Gesichtspunkte als besonders wichtig erwiesen:

  • Themen und Inhalte müssen - um allen Kindern gerecht zu werden - auf die unterschiedlichen Lebenssituationen bezogen sein, sie sollten didaktisch vielschichtig sein, d.h. an möglichst viele Interessen und Bedürfnisse der Schüler anknüpfen und sie gleichzeitig auf allen Ebenen der Erkenntnistätigkeit herausfordern.

  • Sowohl die erkennende als auch die verändernde Tätigkeit der Schüler sollte grundsätzlich mit praktisch-gegenständlichen Handlungen beginnen, weil sich Kinder vorwiegend handelnd mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und sich daraus - vermittelt über sprachliches Handeln - kognitive Leistungen entwickeln.

Bei Kindern mit Lernschwierigkeiten, insbesondere körperbehinderten Kindern, ist die konkret-materielle Tätigkeit konsequent sicherzustellen. Hilfen anderer Kinder bzw. der Pädagogen, die z.B. darin bestehen, den Behinderten Teilarbeiten "aus der Hand zu nehmen", sind zwar gut gemeint und sprechen u.U. für eine starke soziale Entwicklung, sind immer dann zu vermeiden, wenn dadurch die Basis für alle weiterführenden Tätigkeiten genommen wird.

  • An der Planung von Unterricht, Projekten und Vorhaben sind die Schüler zu beteiligen, mindestens über Planungsgesichtspunkte zu informieren, weil zielbezogenes Handeln nur dann erfolgreich ist, wenn vorher eine Orientierungsgrundlage erarbeitet bzw. vorgegeben wurde, die sowohl Steuerung als auch Kontrolle der Tätigkeit ermöglicht.

  • Bei der Ausführung der Planung ist die Interaktion und Kooperation der Kinder anzustreben. Sie können dabei erfahren, daß Problemlösungen durch Kooperation aufgrund der verschiedenartigen Fähigkeiten effektiver erfolgen als durch isolierte Lösungsversuche einzelner Schüler.

  • Die Resultate der erkennenden und verändernden Tätigkeit der Schüler sollten nicht zensiert werden. Leistungsermittlung und -beurteilung sollten sich vielmehr aus der Sache heraus ergeben; denn sachfremde Verstärker wie Zensuren und materielle Belohnungen sind ungeeignet für die Erkenntnis des Zusammenhanges der objektiven Anforderungsstruktur eines Problems und der angemessenen Auswahl und erfolgreichen Anwendung aufgabenrelevanter Tätigkeiten.

These 5

Die Einrichtung von Integrationsklassen stellt einen notwendigen Beitrag zur Veränderung der Grundschule dar.

Bernd, ein gehbehinderter Junge aus einer Vorklasse, wird während der großen Pause auf dem Schulhof von älteren Schülern auf seinen "komischen Gang" angesprochen. Bernd reagiert ausweichend, er habe sich das Bein gebrochen. Eine Lehrerin, die zufällig diesen Vorgang miterlebt, nimmt ihn zum Anlaß, mit ihren Schülern darüber zu sprechen.

In der Klasse 4 stellt ein ausländischer Junge die Mitschüler und Pädagogen immer wieder vor neue Probleme, u.a. durch häufige Prügeleien in der Klasse und auf dem Schulhof.

Eine Zeitlang hatte er sich angewöhnt, Schüler aus anderen Klassen unter Androhung von Schlägen Frühstücksbrote und Obst "abzunehmen". Nach einem krassen Vorfall zwingt ihn die Parallelklasse zur Diskussion. Er hat die ganze Klasse gegen sich. In dieser Situation versuchen Schüler seiner eigenen Klasse, die sonst auch unter ihm zu leiden haben, sein Verhalten und seine Probleme zu erläutern. Am Ende der Auseinandersetzung werden Absprachen getroffen, die den Umgang miteinander verbessern sollen.

Schüler wie Lehrer, die nicht zum Integrationszug der Schule gehören, werden immer wieder von den Problemen Behinderter und den eigenen Schwierigkeiten, die sie im Umgang mit ihnen erfahren, betroffen. Daraus ergeben sich Veränderungen, die zu anderen Verhaltensweisen und Einstellungen, mitunter auch zu neuen Unterrichtsthemen führen. Auch die schulorganisatorische Ebene wird von Integrationsimpulsen zu neuen Aktivitäten angeregt: Auf Gesamt- und Schulkonferenzen müssen Anträge und Stellungnahmen an die Schuladministration, die sich z.B. auf die Zulassung einer neuen Integrationsklasse beziehen, abgestimmt werden. Bei personellen Veränderungen im Kollegium muß beraten werden, welcher Lehrer bereit ist, eine Integrationsklasse zu übernehmen,

These 6

Integrativer Unterrichtführt zur Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule.

Auf der einen Seite kommt es aufgrund der speziellen Sorgen Eltern behinderter Kinder sowie dem Interesse der Eltern der nichtbehinderten zu erfahren, wie es ihren Kindern in den Integrationsversuch ergeht, zu weitaus stärkerer Motiviertheit, Einfluß auf schulische Belange zu nehmen als üblicherweise. Auf der anderen Seite sind Lehrer und Erzieher in hohem Maße auf die Gespräche und Hinweise der Eltern angewiesen, um die auch für sie sehr neuartigen Probleme einzelner Kinder sowie die Konflikte der Lehrer mit ihnen, Fragen zur Unterrichtsgestaltung, Förderung und inneren Differenzierung erörtert werden, finden häufiger als sonst statt, in einigen Klassen zeitweise vierzehntäglich. Es kommt auch vor, daß die Situation eines Kindes es erforderlich macht, daß sich die zuständigen Pädagogen, die Eltern und Vertreter der wissenschaftlichen Begleitung regelmäßig treffen, um gemeinsam - u.U. gestützt auf Gutachten und Videoaufnahmen - Ursachen für bestimmte Verhaltensweisen herauszufinden und nach Möglichkeiten zu ihrer Veränderung zu suchen.

Die bisherigen Erfahrungen ermutigen uns zu der Aussage, daß integrative Erziehung nicht nur zur Vermeidung der Aussonderung Behinderter führt, sondern auch die Lernbedingungen der Nichtbehinderten verbessert.

Karl-Heinz Dickopp: Der Krefelder Integrationsversuch normalbegabter körperbehinderter Schüler

1. Der Bedingungsrahmen

Seit Beginn des Schuljahres 1973/74 wird an der Bischöflichen Maria-Montessori-Schule Krefeld, einer vierzügigen privaten Grundschule mit dem Status einer Ersatzschule, ein Modellversuch durchgeführt, der das Ziel verfolgt zu prüfen, unter welchen Bedingungen normalbegabte körperbehinderte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern gefördert werden können. Diese Zielsetzung ist unter den gleichen Voraussetzungen auf die am 1.8.1977 neu errichtete gleichnamige private Gesamtschule übertragen worden. Grundschule wie Gesamtschule sind beide vierzügig und werden in Halbtagsform als Koedukationsschulen geführt. Der Träger beider Schulen ist das Bistum Aachen; die Refinanzierung geschieht im Rahmen der generellen gesetzlichen Regelungen des Landes Nordrhein-Westfalen.

Die wissenschaftliche Begleitung des Modellversuches ist auf den Grundschulbereich begrenzt. Als Verantwortlicher für diese Aufgabe stütze ich mich im folgenden auf die dort erhobenen Daten und gewonnenen Erfahrungen.

Im Schuljahr 1980/81 befanden sich in der Grundschule 31 normalbegabte körperbehinderte Schülerinnen und Schüler von insgesamt 476.

15 körperbehinderte Schüler hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die Grundschule verlassen und besuchten die Gesamtschule, die darüber hinaus bis zum Beginn des Schuljahres 1980/81 noch weitere 28 körperbehinderte Kinder aus anderen Schulen Krefelds und Umgebung aufgenommen hatte.

Im Genehmigungserlaß des Kultusministers die Grundschule betreffend heißt es, daß der Anteil der körperbehinderten Schüler in einer Klasse 20% nicht überschreiten und im Regelfall mindestens 10% betragen sollte. Der tatsächliche Anteil betrug bisher ca. 7%, was der örtlichen Nachfrage entsprach. Bei durchschnittlichen Klassenstärken von 28 bis 30 Kindern befinden sich in einer Klasse in der Regel zwei bis drei körperbehinderte Schüler.

Die Eingrenzung auf "normalbegabte" körperbehinderte Schüler will die Maßgabe umschreiben, daß die körperbehinderten Kinder über ein den in der Grundschule befindlichen nichtbehinderten Kindern vergleichbares geistiges Potential verfügen sollten.

Der Rahmen der sachlichen und personellen Ausstattung des Modellversuches ist durch die Übertragungen der gegebenen Bedingungen der Sonderschule für Körperbehinderte auf die allgemeine Schule gesteckt. Das bedeutet, daß die im Lande NW festgelegte Schüler-Lehrer-Relation 6:1 auch für die körperbehinderten Schüler der Bischöflichen Montessori-Schule in Anwendung gebracht wird; die Lehrerstellen werden dementsprechend für behinderte und nichtbehinderte Kinder getrennt berechnet. Für 31 körperbehinderte Schüler standen der Grundschule im ausgelaufenen Schuljahr sechs Lehrerstellen zur Verfügung, von denen sie mindestens eine mit einem Sonderschullehrer der Fachrichtung "Sondererziehung und Rehabilitation der Körperbehinderten" besetzen mußte. Ebenfalls werden entsprechend der Anzahl der körperbehinderten Schüler die erhöhten sachlichen Mittel zugeteilt. Der Schulträger bekräftigte sein dauerndes Interesse an der Aufgabe, körperbehinderte Schüler integriert zu beschulen auch dadurch, daß er die Neubauten der Grundschule und der Gesamtschule körperbehindertengerecht planen und ausführen ließ: alle Flächen sind mit Rollstühlen erreichbar; Aufzüge und Behindertentoiletten sind vorhanden, ausreichend Räume für Differenzierungsmaßnahmen stehen zur Verfügung, einschließlich eines Raumes für Therapie und Sonderturnen. Darüber hinaus wurde der Schulträger verpflichtet, eine Sozialpädagogin sowie weitere Hilfskräfte für die notwendige Pflege und Betreuung aus eigenen Mitteln zur Verfügung zu stellen.

Die Übertragung des Bedingungsrahmens der Sonderschule für Körperbehinderte auf die allgemeine Schule ist dabei eine Konsequenz der pädagogischen Konzeption des Modellversuchs, die 1973 innerhalb eines pädagogisch-organisatorischen Konzepts vom Autor dieses Beitrages beschrieben und ministeriell genehmigt worden ist.

2. Das pädagogisch-organisatorische Konzept

Die Grundkonzeption des Krefelder Modellversuchs besteht in einer Verbindung von allgemeiner Schule und Sonderschule. Zentral ist für diesen Versuchstyp die Aufgabe, die Vorteile der allgemeinen Schule mit den Vorteilen der Sonderschule zu verbinden und die möglichen Nachteile beider Systeme durch Integration auszuschließen.

Dieser Schultyp im Versuch ist also von seiner Struktur her sowohl eine allgemeine Schule als auch eine Sonderschule.

Konstruktiver Ausgangspunkt für die Planung dieses Schultyps ist die allgemeine Schule, hier also zunächst die Grundschule.

Ausgehend von der Montessori-Pädagogik ist in dieser Schule in Krefeld der Anteil des Frontalunterrichts auf ein Minimum zurückgedrängt. Maßgebend für die innere Differenzierung - in der Montessori-Pädagogik geschieht sie vorwiegend in der Form der sog. "Freiarbeit" - ist die Motivation bzw. das vom Lernstoff und vom Lehrer her gelenkte Interesse des Kindes. Das gesamte Lernprogramm der Grundschule ist so materialisiert, daß der Lernstoff vom Kinde selbst erarbeitet und auch kontrolliert werden kann.

Der Lehrer hält sich in diesem Lernprozeß weitgehend zurück. Ihm kommt im wesentlichen die unterstützende Aufgabe zu, die Kinder zu einem geordneten Umgang mit dem Lernmaterial zu führen, den Lernvorgang zu unterstützen, bei Lernstörungen bzw. Lernschwierigkeiten zu helfen, das Arrangement in der gesamten Klasse im Gleichgewicht zu halten, Kinder immer wieder neu zu motivieren und so den Lernprozeß voranzubringen. So gibt z. B. der Lehrer den Schülern jahrgangsbezogen Arbeitspläne als Wochenpläne in die Hand; dadurch hat jeder Schüler im Blick, was gelernt werden soll und kann sich auf den Lernprozeß einstellen.

Seit dem Schuljahr 1980/81 hat sich der Bedingungsrahmen des Modellversuchs dann dadurch verändert, daß das Jahrgangsprinzip innerhalb der Grundschule teilweise aufgegeben wurde. Die 16 Grundschulklassen setzen sich von dieser Zeit an in der Freiarbeitsphase jetzt anteilig aus Schülern der ersten vier Schuljahre zusammen.

Mit der Aufgabe des Jahrgangsprinzips für die Freiarbeitsphase beträgt der Anteil der Freiarbeit für alle vier Grundschuljahrgänge 15 Wochenstunden, d. h. das erste Schuljahr hat noch weiterhin 5 Stunden in jahrgangsbezogenem Unterricht, das zweite Schuljahr noch insgesamt 7 Stunden, das dritte Schuljahr 8 Stunden und das vierte Schuljahr weitere 10 Stunden Unterricht innerhalb des Jahrganges. Nach der Freiarbeitsphase - an fünf Schultagen pro Woche drei Stunden am Vormittag - und der anschließenden großen Pause werden die Schüler in Jahrgangsklassen zusammengeführt und dort auch jahrgangsbezogen unterrichtet. Der jahrgangsbezogene Unterricht ist fachbezogen: Vom ersten Schuljahr an in Sport, Kunst/Werken/Textilgestaltung und Religion, vom dritten Schuljahr an in jeweils einer Stunde Musik und Sachunterricht sowie durchgängig vom ersten Schuljahr an bis zum vierten Schuljahr in einer Stunde Sprache. Der verantwortliche Klassenlehrer ist der Lehrer der jahrgangsübergreifenden Freiarbeitsgruppe; der spezifisch jahrgangsbezogene Unterricht ist nach dem Fachlehrerprinzip geregelt.

Der Förderunterricht, einschl. des zusätzlich erforderlichen Unterrichts in Maschinenschreiben, Sonderturnen und des Spezialunterrichts für Legastheniker und Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwächen vollzieht sich teilweise innerhalb der Freiarbeit oder ist parallel zur Freiarbeitsphase organisiert.

Was, so lautet nun die weiterführende Frage, wird hinsichtlich der Sonderschulbedürftigkeit ihres Schüleranteils an diese Schule zusätzlich geleistet? Eine Vielzahl von behinderungsspezifischen Aufgaben und Problemen wird schon dadurch aufgefangen bzw. tritt in wesentlich entschärfter Form auf, daß der Unterricht generell schülerzentriert und individualisiert durchgeführt wird. Weil jedes Kind in seiner individuellen Andersartigkeit - ob behindert oder nichtbehindert - ernstgenommen wird, tritt seine Besonderheit als behindertes Kind nicht mehr als etwas Besonderes in den Vordergrund.

Für die körperbehinderten Kinder hat die Schule im Bedarfsfall dann noch teilweise größere und besser handhabbare Lernmaterialien direkt zur Verfügung, so daß auch hier die Behinderung nicht als Besonderheit zu Tage tritt. Bedarf das Kind aufgrund seiner körperlichen Disposition einer gesonderten Hilfe, weil es z.B. pflegebedürftig ist oder weil es eine Schreibmaschine zum Schreiben notwendig hat, ..., so steht dafür in der Klasse für ca. die Hälfte der Unterrichtszeit ein Praktikant zur Verfügung. Diese Möglichkeit eröffnet sich dadurch, daß an dieser Schule Fachoberschüler und Fachhochschüler ihr Jahrespraktikum absolvieren können; ein Teil dieser Praktikanten dient hier auch ein sog. soziales Jahr ab, für das sie sich im Rahmen einer kirchlichen Tätigkeit entschlossen haben. Diese Praktikanten sind in der Regel zwei Klassen jeweils für ein Jahr zugewiesen und nehmen am Unterricht unterstützend teil, übernehmen die Pausenaufsicht und helfen beim Transport der körperbehinderten Kinder.

Weil körperbehinderte Kinder im Ablauf ihrer Lernprozesse trotz der günstigen äußeren Bedingungen dieses Modellversuchs natürlich notwendig mehr Zuwendung bedürfen als andere, wird zum größten Teil die Freiarbeit in einem Zwei-Lehrer-System durchgeführt, d.h. dem Klassenlehrer steht noch ein zweiter Lehrer zur Seite, der ihn fachbezogen entlastet. Mit anderen Worten: Ein zweiter Lehrer übernimmt für die Freiarbeitsphase eine spezifisch fachliche Verantwortung, z.B. für Sprache oder Mathematik oder Sachunterricht. Er arbeitet hierzu die Wochenpläne aus, stellt die notwendigen Materialien bereit und übernimmt die anfallenden individuellen Leistungskontrollen. Durch die zusätzlichen Lehrerstellen im Rahmen des Modellversuchs ist der Klassenlehrer so für etwa die Hälfte der Freiarbeitsphase entweder durch einen Zweitlehrer oder durch einen parallel zur Freiarbeitsphase durchgeführten individuellen Kleingruppenunterricht entlastet.

Dieses gegenseitige Zuarbeiten ermöglicht es offensichtlich, auf das Besondere der behinderten Kinder pädagogisch einzugehen, obwohl weder Klassen- noch Zweitlehrer speziell auf körperbehinderte Kinder hin ausgebildet sind.

Einen eigenen Sonderpädagogen hat die Montessori-Grundschule erst seit gut 1 1/2 Jahren. Ihm kommt in bezug auf den Unterricht die Aufgabe zu, die Lehrer vom aufgegebenen Einzelfall her zu beraten, die speziellen Schwierigkeiten zu lokalisieren und ggf. zusätzliche Maßnahmen mit zu planen und zu veranlassen. Er ist zuständig für die Planung und Durchführung von Maßnahmen der äußeren Differenzierung, so z.B. für den schon genannten Schreibmaschinenkurs oder den gesonderten Sportunterricht oder einen zusätzlichen Lese- und Schreibkurs oder für individuelle Tests, in denen die Leistungen dieser Kinder individuell ermittelt werden. Der Sonderpädagoge hat selbst keine Klassenführung. Etwa ein Viertel seines Stundensolls besteht in der Beratung der Eltern, der Lehrer, der Praktikanten, der Sozialpädagogin und in der Durchführung von Tests. Die restlichen drei Viertel seiner Unterrichtsverpflichtungen werden über selbstgeführte Sonderkurse erfüllt oder in der Funktion als Zweitlehrer, und zwar in solchen Klassen, in denen die körperbehinderten Kinder einer spezielleren Hilfe bedürfen.

Insgesamt gesehen konzentrieren sich die zusätzlichen sonderpädagogischen Hilfen und Maßnahmen weitgehend auf eine Verstärkung der inneren Differenzierung. Maßnahmen in Form der äußeren Differenzierung sind als individualisierte Hilfen konzipiert. Innere wie äußere Differenzierung korrespondieren dabei dem Prinzip der Individualisierung.

Aus der Sicht des Unterrichts ist der notwendig werdende sonderpädagogische Anteil kein Fremdkörper, da die zusätzlichen sonderpädagogischen Maßnahmen nur den allgemeinen Unterricht verstärken wollen. Davon profitieren letztlich alle Schüler.

3. Ergebnisse

Die bisherige Auswertung des hier vorgestellten Modellversuchs kann mit ein Beweisstück dafür sein, daß der prinzipielle Anspruch auf Integration von behinderten Kindern innerhalb der allgemeinen Schule für einen Teil der Körperbehinderten einlösbar ist. Für diese Kinder ist kein gesondertes Schulwesen notwendig. Eine solche gravierende Aussage empirisch zu belegen und abzusichern, ist schon allein aufgrund der verhältnismäßig geringen Anzahl von behinderten Schülern zu nichtbehinderten problematisch; hinzu kommt noch, daß sich die Gruppe der körperbehinderten Schüler in ihrer Erscheinungsweise als eine äußerst komplexe Gruppe darstellt: Querschnittsgelähmte, Muskeldystrophie-Kranke, Spastiker, Herzkranke, Mehrfachbehinderte ...

Um die individuelle Schullaufbahn eines jeden behinderten Kindes im einzelnen verfolgen und beurteilen zu können, werden von den jeweiligen Klassenlehrern, dem Sonderschullehrer und dem Sozialpädagogen jeweils Berichte zum Sozial- und Lernverhalten fortgeschrieben. Für jedes behinderte Kind sind im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung individualanalytisch strukturierte Stammakten erstellt worden, in denen alle verfügbaren Daten zusammengetragen sind: Art der Behinderung, sozialer Status der Eltern, Status des Kindes in der Familie, notwendige Hilfsmittel, Leistungsdaten im Bezug zur Klassengruppe, Ergebnisse von Tests, Soziogramme, gezielte Fremdbeobachtungen, Gesamtauswertungen für die Beratung von Eltern und Lehrern, Notizen und Vermerke über angeregte Maßnahmen, ärztliche und sonderpädagogische Beurteilungen.

Eine im März/April 1981 durchgeführte soziometrische Untersuchung in fünf Klassen bei 132 nichtbehinderten und 16 körperbehinderten Kindern hat weitgehend die Lehrerbeurteilungen und die individualanalytischen Erhebungen bestätigt. In dem abschließenden Bericht kommt M. Frerichs zu folgendem zusammenfassenden Ergebnis:

"Die körperbehinderten Kinder zeigen kein auffällig unterschiedliches Wahlverhalten gegenüber nichtbehinderten Kindern. Auch sie wählen vorwiegend jahrgangs- und geschlechtsbezogen, Sofern die körperbehinderten Kinder isoliert sind, orientieren sie sich in ihren Wahlen an wesentlich jüngeren oder älteren Gruppenmitgliedern wie es die nichtbehinderten Kinder auch tun.

Es finden nur wenige Wahlen körperbehinderter Kinder untereinander statt. Dieses Ergebnis legt den Schluß nahe, daß sie sich trotz gewisser Abstriche angenommen fühlen und nicht das Bedürfnis nach Solidarität Körperbehinderter untereinander entwickeln.

Sofern in den untersuchten Gruppen Subgruppen vorhanden sind, werden die körperbehinderten Kinder in diese engeren Beziehungen nicht so intensiv mit einbezogen wie nichtbehinderte Kinder. Setzt man die nicht einbezogenen körperbehinderten Kinder allerdings in Relation zur Mitläuferzahl gesunder Kinder, so läßt sich diese Aussage relativieren. Als auffällig könnte lediglich die Tendenz bezeichnet werden, daß die Einbindung körperbehinderter Kinder in festere Beziehungen des außerschulischen Bereichs unproportional geringer ist als bei nichtbehinderten Kindern.

Abschließend kann gesagt werden, daß unter den alle Gruppen betreffenden Bedingungen die körperbehinderten Kinder als größtenteils positiv angenommen bezeichnet werden können. Es muß auch davon ausgegangen werden, daß noch weitere körperbehinderte Kinder fester in die bestehenden oder sich verfestigenden Subgruppen mit einbezogen werden, wenn die allgemeinen Orientierungsprobleme innerhalb der Gruppen nach Abschluß der Orientierungsphase abnehmen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit sich diese positiven Verschiebungen auch auf den außerschulischen Bereich auswirken, da die körperbehinderten Kinder zum einen in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und zum anderen aus einem weiter gestreuten Einzugsbereich stammen. Die räumliche Distanz könnte sich im Freizeitbereich als ein integrationshemmender Faktor deutlich auswirken."[30])

Als überzeugendster Nachweis aber, daß an dieser Schule Integration glückt, darf wohl die Tatsache gelten, daß laut einer individuellen Befragung im Rahmen der Erstellung von individualanalytischen Beurteilungen die behinderten Kinder durchgängig alle gerne diese Schule besuchen und sich dort offenbar optimal angenommen und wohlfühlen. Ohne hier im einzelnen den Nachweis führen zu können, scheint die Schulzufriedenheit bei diesen behinderten Kindern erheblich größer zu sein als bei ihren nichtbehinderten Mitschülern. Auch ist es in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß bisher keine Unzufriedenheit bei der Elternschaft laut geworden ist. Da dieser Integrationsversuch von Anfang an mit zu dieser Schule gehört und sich gerade auch im Gelingen dieser Integration die generelle Qualität dieser Schule auch immer wieder unter Beweis stellen kann, trägt dieser Schulversuch auch zum Ansehen der Schule in der Öffentlichkeit bei.

Inwiefern dieser Versuch übertragbar ist, läßt sich nicht aus den Versuchserfahrungen allein heraus beantworten, weil das allgemeine öffentliche Schulwesen - hier die Grundschule - in der Regel nicht die günstigen Voraussetzungen einer privaten Grundschule mit einer dezidiert personal orientierten Erzie¬hungskonzeption hat. Auch ist zu bedenken, daß die Errichtung dieser Montessori-Grundschule von Anfang an die Integration normalbegabter körperbehinderter Kinder zum Ziel hatte und an diese Zielsetzung gebunden war. Die Konsequenzen waren u.a. eine entsprechende Gebäudeplanung und - was noch viel entscheidender ist - eine aufgabenspezifische Personalauswahl. Die institutionellen und personellen Faktoren greifen aber so ineinander, daß sie nur hypothetisch und normativ voneinander getrennt werden können. Selbst nach achtjähriger Erfahrung ist erst jetzt der Zeitpunkt gekommen, den institutionellen Rahmen tätigkeitsfeldbezogen festzulegen.

4. Empfehlungen

Trotz der Vorbehalte, die gegen die Formulierung eines Übertragungskonzeptes sprechen, sollen im folgenden Empfehlungen zu Maßnahmen ausgesprochen werden, die aufgrund der gewonnenen Erfahrungen und einer Auswertung von Ergebnissen, die hier nicht ausführlich berichtet werden konnten, für eine gemeinsame Beschulung von körperbehinderten Schülern mit Nichtbehinderten in allgemeinen Schulen erfolgversprechend sein dürften.

  1. Grundvoraussetzung für eine Integration ist der Konsensus der unmittelbar Beteiligten: Lehrer, Eltern und Schulaufsicht. Dieser Konsensus sollte die möglichen Probleme und Schwierigkeiten nicht wegideologisieren oder pathetisch überhöhen, sondern seine tragfähige Basis in einer gemeinsamen prinzipiell habitualisierten personalen Grundeinstellung haben, jedes Kind, ob behindert oder nichtbehindert, optimal in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld zu fördern, Lernen und Erziehen als eine Einheit zu sehen und das Ziel verfolgen, ein gemeinsames Zusammenleben auf Dauer zu ermöglichen.

  2. Die Systeme der allgemeinen Schule und der Sonderschule sollten schülerorientiert auf mehr Kooperation hin geöffnet werden. So könnte z.B. eine Sonderschule mit einer allgemeinen Schule so vernetzt werden, daß von Seiten der Sonderschule spezifisch sonderpädagogische Aufgaben übernommen werden können. Die allgemeine Schule sollte für die Sonderschule zu einem planmäßigen Ort einer differenzierten beschulung werden wie umgekehrt die Sonderschule für die allgemeine Schule.

  1. Es ist sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, daß sich die integrierende allgemeine Schule auf eine, höchstens aber zwei Behinderungsarten spezialisiert. Das bedingt in größeren Kommunen die Zentrierung auf wenige Schulen, die ggf. baulich und ausstattungsmäßig nachgerüstet werden müßten.

  2. Der allgemeinen Schule und der Sonderschule sollen mehr Anreize und Möglichkeiten gegeben werden, behinderte Kinder in allgemeinen Schulen zu integrieren. Ein praktikabler Vorschlag wäre z.B. die Übertragung der personellen und sachlichen Bedingungen der Sonderschulen auf die allgemeinen Schulen entsprechend dem Anteil ihrer "eigentlich" sonderschulbedürftigen Schüler. Lehrer an Sonderschulen sollten z.B. teilweise oder ganz an allgemeinen Schulen tätig werden können; die Pflichtstundenzahl sollte den Aufgaben entsprechend erhöht oder vermindert werden können. Die Stelle eines Sozialpädagogen bzw. einer entsprechend qualifizierten Person sollte z.B., wenn sie den Ausstattungsrahmen der jeweiligen Sonderschulform übersteigt, zusätzlich gesichert werden; ggf. sollte der Schule freigestellt sein, die Lehrerstellen durch weitere Sonderschullehrer oder Lehrer ihrer Schulform bzw. Schulstufe zu besetzen; ggf. sollte auch die Möglichkeit bestehen, aus nicht besetzten Lehrerstellen pädagogische Hilfskräfte zu finanzieren.

  3. Das Aufnahme- und Überweisungsverfahren in Sonderschulen sollte dahingehend überprüft werden, daß die allgemeine integrierende Schule immer auch mitzuentscheiden hat, wo das einzelne Kind beschult wird. Die Position der Eltern in diesem Verfahren, als die nächsten Interessenvertreter des Kindes, soll dabei gestärkt werden.

  4. Die integrierende Schule sollte ihren Unterricht soweit wie nur für sie möglich individualisieren und durch ihre Schulorganisation unterstützen. Ein weitgehendes Zurückdrängen des Frontalunterrichts zugunsten von schülerorientierten und schülergesteuerten Unterrichtsformen ist wohl eine Grundvoraussetzung und sollte sich auf alle Schüler - behinderte und nichtbehinderte - beziehen.

  5. In eine Klassengruppe von ca. 25 Schülern sollten nicht mehr als zwei bis drei behinderte Mitschüler aufgenommen werden.

  6. Behinderte Schüler sollten eine ihrer Schulklassen vergleichbare Intelligenz haben und so disponiert sein, daß sie möglichst im Rahmen der differenzierenden Maßnahmen, die für die gesamte Klassengruppe durchgeführt werden, die wesentlichen Lernprozesse mitvollziehen können. Maßnahmen in Form der äußeren Differenzierung sollten nichtbehinderte Kinder grundsätzlich mit einbeziehen; Ausnahmen sollten nur auf den Erwerb von besonderen Techniken bzw. spezielle therapeutische Maßnahmen zutreffen.

  7. Notwendige sonderpädagogische Maßnahmen wie Diagnose, Beratung der Lehrer, Unterstützung der Erziehungs- und Lehrprozesse sollten verantwortlich auf einen Sonderschullehrer mit entsprechender Qualifikation übertragen werden, der allerdings die pädagogische Gesamtverantwortlichkeit des Klassenlehrers nicht infrage stellen darf. Die Kommunikationsformen dieses Sonderschullehrers sollten möglichst institutionalisiert sein, so z.B. durch regelmäßige Konsultationen innerhalb der einzelnen Klassen, bzw. in wöchentlich oder alle vierzehn Tage stattfindenden Besprechungen mit den Klassenlehrern.

  8. Die Verantwortung der für behinderte Schüler zusätzlich zu erbringenden Hilfen wie Transport. Aufsicht, Durchführung spezieller therapeutischer Maßnahmen innerhalb und außerhalb der integrierenden Schule, die aktive Unterstützung der sozialen Kontakte im Freizeitbereich, notwendige Hilfen bei den Hausaufgaben, die Abstimmung der pädagogischen Maßnahmen von Elternhaus und Schule, die Hilfestellung bei sozialen Problemen im Elternhaus ... sollte auf einen Sozialpädagogen oder eine entsprechend qualifizierte Person übertragen werden. Zur Erfüllung dieser Aufgaben sollten auch pädagogische Hilfskräfte gewonnen werden, so z.B. Praktikanten der sozialpädagogischen Ausbildungsgänge, aber auch Eltern, die sich für ein Jahr zu einer regelmäßigen Mitarbeit in der Schule verpflichten.

  9. Die sonderpädagogischen Maßnahmen des Sonderschullehrers und des Sozialpädagogen sollten hinsichtlich ihrer Planungen und Aktivitäten durch eine sonderpädagogische Fachkonferenz unterstützt und kontrolliert werden. Dieser Fachkonferenz sollten sowohl Klassenlehrer, Eltern wie auch einige Fachleute von außen angehören, so z.B. der zuständige Amtsarzt, weitere Sonderpädagogen aus der nächstgelegenen Sonderschule der jeweiligen Behinderungsart (oder auch einer Hochschule) sowie ein Vertreter aus dem Kreis der in vorschulischen Einrichtungen Tätigen. Aus dieser Fachkonferenz heraus sollte auch das Gremium für die Entscheidungen und Beurteilungen der Aufnahme von behinderten Schülern gebildet werden.

  10. Um die sonderpädagogischen Bedürfnisse in allen grundlegenden Entscheidungen der integrierenden Schule entscheidungswirksam zu verankern, sollte der zuständige Sonderschullehrer oder der Sozialpädagoge Mitglied der Schulleitung und geborenes Mitglied mit beratender Stimme der Schulkonferenz werden. Es spricht vieles dafür, eine solche Funktion auf den Sozialpädagogen zu übertragen, um dadurch die unterrichtsübergreifende Aufgabenstellung einschließlich der Anerkennung seiner Tätigkeit innerhalb der Schule besonders zu gewichten.

  11. Die Schulaufsicht sollte zumindest für die Aufbauphasen der Integration (möglichst beginnend mit dem ersten Schuljahr, für eine Schule zusätzlich auch auf den zuständigen sonderpädagogischen Fachdezernenten beim Regierungspräsidenten übertragen werden. Ihm gegenüber sollte die integrierende Schule auch jährlich innerhalb der Vorlage ihrer Stundenpläne ausweisen, daß die für sonderschulbedürftige Schüler berechneten Lehrerstellen und Sachmittel aufgabenspezifisch verwandt werden.

  12. Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung sollten mehr als bisher für eine gemeinsame Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Schülern qualifizieren.



[30] Unveröffentlichtes Manuskript des Zwischenberichts zum Modellversuch in Krefeld 1981.

Klaus Bloedhorn jr.: Schule aus der Sicht eines körperbehinderten Schülers

An der Körperbehindertenschule

Ich bin Spastiker von Geburt an, habe mit viereinhalb Jahren sprechen gelernt und bekam von 1960 an Privatunterricht. Anfang März 1966 wurde ich zum erstenmal nach D. in die Körperbehindertenschule gebracht. Die Schüler wurden aus weitem Umkreis mit Kleinbussen von Zuhause zur Schule abgeholt und nachmittags auch wieder auf diese Weise heimgefahren. Wir wurden teils von Sonderpädagogen teils von Lehrern an allgemeinen Schulen unterrichtet, die teilweise noch in anderen Schulen arbeiteten.

Hier in D. lernte ich zum erstenmal eine Klassengemeinschaft kennen. Bald machte es mir Spaß, mit den Mitschülern und Mitschülerinnen zusammenzuarbeiten und unsere Leistungen zu vergleichen. Was noch wichtiger war: ich kam auch zum erstenmal mit anderen Körperbehinderten in engen Kontakt und stellte dabei fest, daß es noch viel schwerer behinderte Menschen als mich gab, was ich bisher nicht realisiert hatte, und ich erlebte Solidarität unter Behinderten, wenn sich die Schüler gegenseitig nach ihren Kräften und körperlichen Fähigkeiten halfen und unterstützten. Da wurden Rollstühle geschoben, man half einander, auf die Toilette zu kommen oder wieder davon herunter, und Geschicktere halfen den schwerer Behinderten bei handwerklichen Tätigkeiten wie Basteln oder Schreiben.

In der Körperbehindertenschule lernte ich auch das Schreiben. Man stellte dort den Schülern, die wegen ihrer Behinderung nicht oder nur schwer mit der Hand schreiben konnten, elektrische Schreibmaschinen zur Verfügung, in deren Bedienung wir von einer Sekretärin der Schule unterrichtet wurden. Da die Tasten einer elektrischen Schreibmaschine nur leicht angedrückt zu werden brauchen, kann der Kraftaufwand beim Tippen auf ein Minimum reduziert werden. Das Schreiben strengte mich nun nicht mehr so an wie früher auf der mechanischen Maschine oder gar mit der Hand. Auch lernte ich mit der Zeit so schnell damit zu hantieren, daß ich zum Beispiel bei Diktaten genauso schnell mit der Maschine schrieb wie meine Mitschüler mit der Hand. Lange Zeit über war meine Schreibmaschine das wichtigste Mittel, mit dessen Hilfe ich meine Gedanken formulieren und anderen mitteilen konnte, denn freies Sprechen habe ich erst später gelernt.

Daß die Körperbehindertenschule ihre Grenzen hatte, merkte ich schon in den ersten Tagen und Wochen meines Dortseins. Obwohl ich damals in die oberste Klasse der Schule eingegliedert wurde, war ich allen Klassenkameraden in allen schulischtheoretischen Fächern weit voraus. Hier machte sich der vorausgegangene Privatunterricht bemerkbar. Als ich meiner ehemaligen Privatlehrerin meine Schulbücher zeigte, fiel sie aus allen Wolken: Es waren Bücher für Sonderschulen für Lernbehinderte. Da eine Verbesserung der schulischen Situation an dieser Körperbehindertenschule nicht abzusehen war, sahen sich meine Eltern nach einer qualifizierten Ausbildungsstätte für mich um. Sie wollten mir die bestmögliche Schulausbildung zukommen lassen.

Übergang zur Realschule

Meine älteste Schwester, sie ist ein Jahr jünger als ich, war Anfang 1967 im zweiten Jahr der Realschule, also in Klasse 6. In dieser Zeit lud ihre Klassenlehrerin zu einem Elternabend ein, den auch meine Eltern besuchten. Die Realschule liegt in unserem Wohnort. Nach Schluß der Veranstaltung sprachen meine Eltern die Klassenlehrerin an und fragten sie, ob sie es für möglich hielte, daß ich als Körperbehinderter in ihrer Klasse mitunterrichtet würde. Sie war sofort damit einverstanden, warf aber ein, daß erst der Direktor der Schule seine Zustimmung geben müsse. Er war einverstanden, und so wurde ausgemacht, daß ich ab Frebruar 1967 zuerst einmal vier Wochen zur Probe die Realschule besuchen sollte. Nach dieser Probezeit sollten Eltern und Lehrer dann entscheiden, ob meine weitere Ausbildung dort sinnvoll erschiene oder nicht.

Als mein Vater mich in der Körperbehindertenschule abmelden wollte und der Schulleiterin erklärte, daß ich in Zukunft zu einer Realschule gehen sollte, erhob sie seltsamerweise viele Einwände gegen diesen Plan. Die Realschule sei technisch nicht für Behinderte eingerichtet. Ich könnte dort geistig überfordert werden und bei einem Mißerfolg vor Enttäuschung und Minderwertigkeitsgefühlen einen seelischen Schaden davontragen. Außerdem wolle sie mich gern an ihrer Schule behalten, weil sie dann bessere Chancen habe, der Institution ein höheres Niveau zu geben. Vater blieb bei dem Vorhaben, mich in der Realschule unterzubringen. Er argumentierte, daß wir das Risiko des Mißerfolgs eingehen müßten, damit wir uns später nicht den Vorwurf machen müßten, eine mögliche Chance meiner Schulausbildung nicht genutzt zu haben. Die gegebene Möglichkeit des Realschulbesuchs sollte unbedingt zumindest versuchsweise wahrgenommen werden.

Anfang Februar 1967 ging ich zum erstenmal in die Klasse 6a der Realschule. Während der Unterrichtszeit saß ich in meinem Rollstuhl, auf dessen Armlehnen ein Brett montiert werden konnte, so daß ich sowohl eine Stütze als auch eine Arbeitsunterlage anstatt eines Tisches hatte. Bald erwies sich dieser Rollstuhl aber als zu unhandlich, da er mit dem Tischbrett nur schwer von einem Klassenraum in den anderen gefahren werden konnte. Das Brett war auch nicht groß und stabil genug, um meine Schreibmaschine tragen zu können, die ich für Klassenarbeiten brauchte. Außerdem brauchte ich den Rollstuhl auch täglich Zuhause, und so mußte er täglich hin- und her- transportiert werden. Mein Vater kaufte mir darum einen Bürosessel mit Rollen darunter. In diesem hatte ich körperlich genug Halt, konnte bequem umhergefahren werden und konnte an einem ganz normalen Schultisch sitzen und arbeiten, auf dem auch eine elektrische Schreibmaschine genug Platz hatte. Da die Tische und Stühle in unserem Klassenraum in Reihen hintereinander standen mußte ich immer in der letzten Reihe sitzen, weil ich mit dem Rollstuhl nicht zwischen den Reihen fahren konnte.

Ein großer Vorteil für meinen Start in der Realschule war, daß meine Schwester Astrid mit mir in einer Klasse war. Wenn während des Unterrichts etwas zu notieren oder mitzuschreiben war, brauchte ich mich nicht anzustrengen, denn ich wußte, daß Astrid auch mitschrieb und ich das Nötige später bei ihr ein- und nachsehen konnte. Diese Erleichterung war auch mit allen Lehrern so vereinbart worden. Ich denke, daß wir als Geschwister während unserer gemeinsamen Schulzeit voneinander profitiert haben. Oft konnte einer das ergänzen, was der andere nicht ganz begriffen oder teilweise vergessen hatte. Von der Vereinbarung zwischen den Lehrern der Realschule und meinen Eltern, daß ich erst einmal 4 Wochen zur Probe in die für mich neue Schule gehen sollte, habe ich zuerst nichts gewußt. Weder von den Eltern noch von den Lehrern wurde ich damals unter einen besonderen Leistungsdruck gesetzt. Jede Verantwortung und jedes Risiko lag bei uns. Das Kultusministerium in Düsseldorf hatte es abgelehnt, mich in den Versicherungsschutz der Schule einzubeziehen, den normalerweise alle Schüler genießen.

Aus dem Schulalltag

Im allgemeinen stellten die Lehrer der Realschule die gleichen Anforderungen an mich wie an meine Klassenkameraden. Im Unterricht wurde ich ebensooft aufgerufen wie die anderen und mußte die gleiche Menge an Hausaufgaben erledigen. Mußte etwas an der Tafel angeschrieben oder aufgezeichnet werden, so mußte ich dem Lehrer genau diktieren, gegebenenfalls sogar buchstabieren, oder genaue Anweisungen geben, wie die Zeichnung anzufertigen sei. Letzteres wurde besonders im Fach Geometrie zum Problem. Da ich handwerklich nicht mit Lineal, Zirkel und Winkelmesser umgehen konnte, durften meine Schwester und ich die entsprechenden Hausaufgaben gemeinsam anfertigen, wobei sie das Zeichnen besorgte und ich die Rechnungen durchführte. Bei Geometrie-Klassenarbeiten brauchte ich nur den mathematischen Teil auszuführen. Dafür examinierte mich der Lehrer dann nach der Arbeit an der Tafel, ob ich auch die Zeichnungen und ihre Konstruktionen begriffen hatte. Im Fach Mathematik mußte ich mir oft im Bezug auf die Schreibweisen etwas einfallen lassen. Bruchrechnen mit der Schreibmaschine ist eine Kunst für sich. Griechische Buchstaben schrieb ich aus (alpha, beta, pi). Als Wurzelzeichen vereinbarte ich mit unserem Mathematiklehrer den großen Buchstaben W. Bei Klassenarbeiten in Deutsch, Englisch und Mathematik erlaubten mir in den ersten Monaten die Lehrer, länger als meine Schulkameraden zu schreiben, weil sie sahen, daß ich nicht so schnell schreiben konnte wie die anderen. Diktate wurden etwas langsamer verlesen oder mir nachdiktiert. Allerdings lernte ich bald, mit der Maschine ebenso schnell zu schreiben, wie die Mitschüler es mit der Hand taten. Nur bei Mathematikarbeiten blieb ich immer langsamer als die anderen, so daß ich sie immer länger schreiben durfte. Im Kunstunterricht, in dem wir damals meistens mit Wasserfarben malten, sah der Lehrer bald, daß meine künstlerischen Fähigkeiten wegen meiner Behinderung nicht mit denen der Mitschüler zu vergleichen waren. Trotzdem ließ er mich mittun und bewertete meine Anstrengungen und meinen Fleiß.

Durch die beschriebenen Maßnahmen und Hilfestellungen wurde ich vollständig in den Schulunterricht integriert, ohne daß ich, nach meiner Beurteilung, bevorzugt oder entscheidend benachteiligt wurde. Meine Klassenkameraden und -kameradinnen in der Realschule haben mich vom ersten Tag meiner Schulzeit an als einen der Ihren angenommen. Das konnte ich daran erkennen, daß sie sich sofort mit mir unterhielten und sich auch sonst ganz natürlich mir gegenüber verhielten. Notwendige Hilfeleistungen wurden selbstverständlich getan, ohne daß ich übermäßig "bemuttert" wurde. Wenn unsere Klasse in andere Schulräume wechseln mußte, wurden mein Rollstuhl und ich von den größeren Jungen meiner Klasse transportiert. Für manche wurde es geradezu ein Sport, mich Treppen hinauf- und hinabzutragen; sie konnten dabei ihre "männlichen" Kräfte beweisen.

In unserer Klasse war noch ein körperbehinderter Junge, der mit einer Beinprothese gehen mußte. Vielleicht hat dieser Umstand dazu beigetragen, daß wir von den Mitschülern vollständig akzeptiert wurden, zumal sie sahen, daß wir die gleichen schulischen Leistungen brachten wie sie. Wichtig war sicher auch, daß uns die Lehrer keine "Sonderbehandlung" zukommen ließen. Die Hilfestellungen technischer Art, die ich bekam, wurden von den anderen als angemessen und für mich notwendig hingenommen. Möglicherweise habe ich auch etwas vom Ansehen meiner Schwester Astrid profitiert, die in unserer Klasse recht beliebt war. Daß ich in der Klasse akzeptiert war, mag auch die Tatsache unterstreichen, daß ich einmal für ein Halbjahr zum Klassensprecher gewählt wurde. Allerdings wurde ich im beiderseitigen Einvernehmen nicht wiedergewählt, da sich gezeigt hatte, daß ich damals den Aufgaben und Pflichten dieses Amtes von meiner Behinderung her nicht ganz gewachsen war.

Zu eintägigen und mehrtägigen Klassenfahrten wurde ich regelmäßig mitgenommen. Dabei ist es den begleitenden Lehrern umso höher anzurechnen, daß sie mich mitfahren ließen, als sie nun die Verantwortung für mich übernahmen, obwohl ich auch während Klassenreisen nicht unter dem Versicherungsschutz der Schule stand. Bei unserer ersten einwöchigen Schulreise ins Odenwaldgebiet mußte unser Klassenlehrer auch noch pflegerische Aufgaben an mir übernehmen. Ich mußte damals noch zur Toilette gebracht werden und beim Essen die Brotschnitten fertiggemacht bekommen. Beim An- und Auskleiden halfen mit die Zimmergenossen. Auf späteren Reisen konnte ich das alles selbst besorgen oder ließ mir von Klassenkameraden helfen.

Um Mitschüler, die meinen Rollstuhl schoben, war ich nie verlegen. Auf einer Reise verstauchte sich ein Klassenkamerad bei einer Bergwanderung seinen Fuß. Von da an schob er immer meinen Wagen, weil er sich an ihm beim Gehen aufstützen konnte; so war uns beiden geholfen: Ich hatte einen ständigen Chauffeur, und er konnte fast schmerzlos laufen.

Abitur am Gymnasium

Nach viereinhalb Jahren Realschulbesuch konnte ich im Sommer 1971 die Mittlere Reife erreichen. Da meine Abschlußnoten gut genug waren, meldeten mich meine Eltern für den Aufbauzweig für Realschulabsolventen am Gymnasium im Nachbarstadtteil an. Ich sollte und wollte nun auch das Abitur anstreben. Meine Eltern sagten sich, daß meine späteren Berufschancen umso größer sein würden, je qualifizierter meine Schulausbildung sein würde. Auf dem Gymnasium wurde ich anstandslos angenommen und konnte nun auch unter den Versicherungsschutz der Schule gestellt werden. Meine Schwester kam nicht mit aufs Gymnasium, da sie eine Berufsausbildung begann, nachdem wir zusammen die Mittlere Reife erlangt hatten. Unsere Klasse setzte sich aus Schülern verschiedener Realschulen zusammen. Wir wurden schnell zu einer guten Klassengemeinschaf, und wieder wurde ich von allen akzeptiert. Unser Klassenraum wurde mit Rücksicht auf meinen Transport von der 2. Etage ins Erdgeschoß verlegt.

Im Juni 1974 beendete ich meine Schulausbildung mit dem Abschluß der Reifeprüfung. Unter denselben Bedingungen wie meine Mitschüler hatte ich mich den einzelnen Teilprüfungen zu unterziehen, außer dem Sportabitur. Am Schluß erreichte ich einen Notendurchschnitt von 3,0, was in mir die Hoffnung auf Erlangung eines Studienplatzes erweckte. Mit 7 Jahren hatte mein Privatunterricht begonnen, nun, im Sommer 1974, war ich 21 Jahre alt. In der durchaus normalen Zeit von 14 Jahren konnte ich als Körperbehinderter meine Schullaufbahn bis zum Abitur durchlaufen. Gott danke ich, daß Er mir Eltern gegeben hat, die nichts unversucht ließen und alles dafür einsetzten, daß ich eine gute Ausbildung bekam; daß Er immer zur richtigen Zeit Lehrerinnen und Lehrer bereit gemacht hat, mich zu unterrichten und zu fördern und mir Hilfestellungen zu geben; daß Er mir Mitschüler gegeben hat, die mich als Ihresgleichen angenommen und mir praktisch sehr viel geholfen haben; daß Er mir Kraft, Ausdauer und Gelingen geschenkt hat, den schulischen Anforderungen zu genügen.

Brigitte Ockel: Warum die Montessori-Pädagogik geeignet ist, verschiedenartig und mehrfach behinderte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern in der Schule lernen zu lassen

Ein Bericht aus dem Kinderzentrum der Aktion Sonnenschein in München

Maria Montessori (1870-1952) erhielt als erste Frau in Italien im Jahr 1896 das Diplom als Doktor der Medizin und der Chirurgie. Sie arbeitete zunächst in der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom. Dort wurde sie mit den Problemen behinderter Kinder vertraut. Sie begann, sich mit den in Vergessenheit geratenen Schriften von Jean Marc Gaspard Itard (1774-1838), Arzt-Taubstummenlehrer, "Bericht über die Erziehung des Wilden vom Aveyron"[31]) und seines Schülers Eduard Seguin (1814-1880), Taubstummenlehrer und Arzt, "Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode"[32]) intensiv zu befassen.

In der im Jahr 1900 in Rom gegründeten Schule für geistig- und lernbehinderte Kinder - Scuola Magistrale Ortofrinico - war sie zwei Jahre lang leitend tätig. Sie befaßte sich lehrend und lernend mit Pädagogik im weitesten Sinne.

Montessori schreibt[33]):

"Der Generaldirektor des Istituto dei Beni Stabili di Roma bot mir an, die Gestaltung von Kindergärten zu übernehmen, die in Häusern mit Sozialwohnungen errichtet werden sollten... Dieser Plan wurde mit der einfach grandiosen Idee verknüpft, alle Kinder, die noch nicht schulpflichtig waren (von 3-6 Jahren), in einer Art "Schule im Haus" unterzubringen.

... Dieser besondere Schultyp erhielt den entzückenden Namen "Casa dei Bambini" (Kinderhaus). Das erste wurde unter dieser Bezeichnung am 6. Januar 1907 in der Via dei Marsi 53 eröffnet."

Maria Montessori begann, sich von nun an dem Studium des gesunden Kindes zu widmen. Sie entdeckte, daß Kinder ganz anders sind als man sie bisher eingeschätzt hatte.[34])

Sie beobachtete:

  • Kinder sind zu großer Konzentration fähig

  • Kinder strengen sich gern an

  • Kinder sind sehr aufmerksam

  • Kinder lieben die Stille

  • Kinder können sich sehr ausdauernd einer Tätigkeit hingeben

  • Kinder können sehr genau sein

  • Kinder können einen starken Willen entwickeln

  • Kinder können sich selbst kontrollieren

All diese Fähigkeiten können sich nur offenbaren, wenn den Kindern eine entsprechende Umgebung geschaffen wird, in der sie durch eigenes Tätigsein ihren Geist aufbauen und ihre manuellen Fähigkeiten entwickeln können.

Im Kinderhaus Montessoris finden wir eine vorbereitete Umgebung und eine Leiterin, die das Kind mit den vorbereiteten Dingen in Kontakt bringt.

Montessori schreibt:[35])

"Das Kind sollte von der Erziehung des Muskelsystems zur Erziehung des Nerven- und Sinnessystems geführt werden;

von der Erziehung der Sinne zu den Begriffen;

von den Begriffen zu allgemeinen Ideen;

von allgemeinen Ideen zur Moral.

Das ist die Erziehungsmethode von Seguin."

Wenn man das Buch von Frederic Vester "Denken, Lernen und Vergessen"[36]) liest, dann wird einem klar, daß der damalige experimentelle Ansatz wissenschaftlich begründet ist.

Wesentliche Kennzeichen eines Montessori-Kinderhauses sind:

Die vorbereitete Umgebung

Bereitstellung vielseitiger Übungen des praktischen Lebens

Beispiel: Schüttübungen, Gießübungen, Anziehrahmen, Schuhputzen, ...

Ziel: Koordination der Bewegung, Erziehung zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Erwachsenen

Übungen mit dem Sinnesmaterial

Beispiel: Einsatzzylinder

Geometrische Figuren

Farbtäfelchen

Rote Stangen, Braune Treppe, Rosa Turm ...

Ziel: Koordination der Bewegung, Erkennen von Eigenschaften,

Übung im Vergleichen und Differenzieren, Gleiches Finden, Kontraste Finden, eine Graduierung aufstellen,Wahrnehmungsschulung aller Sinne - sehen, hören, riechen, schmecken, tasten

Übung mit mathematischen Materialien

Beispiel: Blaurote Stangen

Spindelkästen

Ziffern und Chips

Zur Einführung ins Dezimalsystem: Goldenes Perlenmaterial Markenspiel, Rechenrahmen

Ziel: Stufenweises Voranschreiten von der konkreten zur abstrakten Darstellung

Möglichkeit, ein System zu erkennen und zu durchschauen

Übung mit sprachlichen Materialien

Beispiel: Sandpapierbuchstaben

Bewegliche Buchstaben

Buchstabenkästen zum Legen von kürzeren und längeren Texten

Bildkarten mit Namenskarten ...

Ziel: Laute in unserer Sprache wahrnehmen,

Lautzeichen kennenlernen

Selbsttätiges Bilden von Wörtern

Entdecken des Lesens und Schreibens

Bildkarten aus allen Bereichen mit entsprechenden Namenskarten - Wortschatzerweiterung

Möglichkeit, sich mündlich und schriftlich mitzuteilen

Ausstattung für den Bereich "Kosmische Erziehung"

Beispiel: Tier- und Pflanzenpflege

Bildmaterial Tiere - Pflanzen

Für die Vorstellung unserer Erde:

Globus, Weltkarte mit Erdteilen, Erdteilkarten,

Flaggen des betreffenden Erdteiles, in dem man wohnt, konkrete Darstellung geographischer Begriffe wie

See - Insel, Meerenge - Landenge etc.

Ziel: Erkennen der Bedürfnisse von Tieren und Pflanzen

Liebe und Verantwortung wecken

Das Kennenlernen unseres Planeten Erde

Auch der musische Bereich,

darstellendes Spiel

modellieren

malen

musizieren

rhythmische Bewegung

sind wichtig in einer Montessori-Einrichtung.

Da dieser Bereich aber nicht artspezifisch für den Beitrag Montessoris ist, bleibt er hier ohne Ausführung.

In der Grundschule für die 6-12jährigen Kinder finden wir das erweiterte Material für die Bereiche

Sprache

Mathematik

Kosmische Erziehung

(Geographie, Geschichte, Biologie, Physik, Chemie)

Freiarbeit

Kernstück in Kinderhaus und Schule ist die Freiarbeitsphase.

Sie findet in der Regel täglich zu Beginn des Schul- oder Kindergartentages statt.

Die Kinder können ihren eigenen Wünschen nachgehen. Sie haben etwa zwei volle Stunden Zeit, sich nacheinander verschiedenen Tätigkeiten zuzuwenden.[37])

Friederike (l. Schuljahr) beginnt mit etwas Leichtem, um sich anzuwärmen. Sie holt sich eine Rechenarbeit, die sie schon kann. Es sind Wendekärtchen mit Aufgaben + und - im Zahlenraum von 1-20. Sie fragt Paul, ob er mitmachen möchte, denn zum Abfragen muß man zu zweit sein. Nach 15 Minuten ist die Arbeit zuende. Sie holt sich jetzt das Multiplikationsbrett mit den 100 Perlen. Sie hat es schon einmal gezeigt bekommen, so daß sie ohne Aufenthalt weiterarbeiten kann. Sie legt mit Perlen 1 x 3, 2 x 3... Anschließend schreibt sie jeweils die Resultate auf ein vorgedrucktes Blatt. Sie arbeitet mehrere Reihen durch. Bei der 6er Reihe hört sie auf. Die Lehrerin bestätigt ihr ihre Arbeit, die sie an einem nächsten Tag fortsetzen wird. Jetzt holt sie auch den Buchstabensetzkasten und legt zu Bildkarten kleine Sätze. Der Ball ist rot. Am Baum hängen Äpfel ... Die Lehrerin sieht beim Vorbeigehen, daß nicht alle Buchstaben richtig gelegt sind. Sie tauscht mit dem Kind den falschen Buchstaben "e" in "ä" in "hängen" um. Auf Erklärungen wird sie verzichten, da das Ableiten in diesem Stadium das Kind von seiner eigentlichen Arbeit des Schreibens ablenken würde.

Kinder lernen, sich helfen zu lassen. Fehlermachen gehört mit zum Lernen.

Die Gruppenzusammensetzung

Montessori fordert, daß eine Gruppe sowohl im Kinderhaus als auch in der Schule 3 Jahrgänge umfassen soll, damit das Miteinanderarbeiten und das Voneinanderlernen sich optimal vollziehen kann.

Die Erfahrung, daß ein Kind einem Mitschüler etwas erklären kann, stärkt sein Selbstbewußtsein, und es lernt auch, seine eigenen Kräfte richtig einzuschätzen. In einer gemischten Jahrgangsgruppe kann jeder zu seiner Zeit die Rolle des Gebenden und Nehmenden spielen.

Merkmale des autodidaktischen Montessori-Materials

  • Jedes Material ist nur einmal vorhanden - das bedeutet, daß man sich einigen muß, wer damit arbeitet. Es bedeutet auch, daß während der Freiarbeit sehr viele verschiedene Aktivitäten laufen und dadurch die Anregungen und Motivationen hervorgerufen werden, sich den verschiedenen Tätigkeiten zuzuwenden.

  • Das Material ist durch seine wissenschaftliche Erprobung funktionstüchtig, und es besitzt durch seine solide Herstellung Aufforderungscharakter.

  • Viele Materialien sind sogenannte Schlüsselmaterialien. Das goldene Perlenmaterial z. B. stellt die Funktion des Dezimalsystems dar. Der Kubikkettenkasten beinhaltet die erste bis dritte Potenz für die Zahlen von 1-10 und gibt so ein Bild des Potenzierens und der Relationen der Zahlen untereinander.

  • Andere Materialien dienen der Erkenntnis und Übung, Beispiel: Das Divisionsbrett mit 9 Halmamännchen und 81 Perlen. Bei einer Divensionsaufgabe möchte ich wissen, was einer erhält. Ich zähle also die Perlen ab, die ein Männchen erhalten hat, und schreibe das Resultat auf Das Verteilen wird geübt.

  • Einige Materialien dienen in erster Linie der Übung und Mechanisierung. Dazu gehören die Tabellen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.

Da auf diesen Tabellen auch das System wiederum sichtbar wird, können sie für Kinder von großem Interesse und Nutzen sein.

  • Die Materialien beginnen mit der konkreten Darstellung und führen über mehrere Stufen zur abstrakten Zeichensprache.

Indirekte Vorbereitung, Isolierung einer Schwierigkeit und Beachtung der sensitiven Phasen

Kinder, die mit 4 Jahren Bekanntschaft mit Buchstaben und dem Wahrnehmen der Laute unserer Sprache gemacht haben, sind für das Studium von neuen Wörtern sensibilisiert.

Ihr aktiver Wortschatz erweitert sich. Ihr Interesse an den verschiedenen Dingen nimmt zu.

Die Tatsache, daß vorschulpflichtige Kinder in der Phase des Spracherwerbs sind, sollte die Erwachsenen, die für die gesunde Entwicklung der Kinder verantwortlich sind, veranlassen, Übungsmöglichkeiten für die Kinder zu schaffen.

Das Sinnesmaterial Montessoris stellt abstrakte Begriffe wie lang - kurz, dick - dünn, groß - klein, heil - dunkel, rot, blau, gelb, laut - leise, rauh - glatt, kalt - warm ... konkret und isoliert von anderen Eindrücken dar.

Das Kind kann die dargestellten Eigenschaften begreifen. Diese Stange ist lang, jene ist kurz ...

Es überträgt diese Erkenntnis in seine Umgebung. Dieser Bleistift ist lang, jener ist kurz.

Beispiele der indirekten Vorbereitung, der Isolierung einer Schwierigkeit und die Beachtung sensitiver Phasen ließen sich vielfach beschreiben.

Aus der Organisation einer Montessori-Einrichtung - Kindergarten oder Schule - geht hervor, daß es ohne weiteres möglich ist, verschieden weit entwickelte Kinder gemeinsam lernen zu lassen. Deshalb ist es auch nicht schwierig, behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder mit einer Gruppe nichtbehinderter Kinder gemeinsam zu unterrichten und damit die Integration zu ermöglichen oder vielmehr die Desintegration gar nicht erst eintreten zu lassen.

Grenzen der Integration behinderter Kinder in eine Gruppe von 20-24 Kindern

Die Aufnahme in eine Kindergruppe von 20-24 Kindern ist dann kritisch, wenn die Arbeitshaltung des Kindes sehr gestört oder überhaupt noch nicht vorhanden ist. Ist dies der Fall, sollte die Aufnahme in eine Gruppe von 8, 10 oder 12 Kindern vorgenommen werden. Erst wenn das Kind zu eigener Tätigkeit motiviert werden kann und die Arbeitsfreude stabilisiert ist, wird es auch in der größeren Gruppe seinen Stand finden.

Sehr wichtig ist, daß das Kind und vor allem die Eltern keine frustrierende Erwartungshaltung haben in Bezug auf das, was erreicht werden kann.

Grundsätzlich ist zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern kein Unterschied. Nicht selten besitzt ein behindertes Kind mehr Selbstbewußtsein und mehr Frustrationstoleranz als ein nichtbehindertes Kind und wirkt in der Gruppe beispielgebend und erregt auch die Bewunderung der nichtbehinderten Kinder.

Diese Erfahrung war auch der Grund, der die Eltern der nichtbehinderten Kinder in unserem 1968 gegründeten Montessori-Modell-Kindergarten für behinderte und nichtbehinderte Kinder veranlaßte, die Fortsetzung des Modells in einem Schulversuch nach Maria Montessori zu wünschen und zu fordern.

Der Versuch läuft erfolgreich seit 11 Jahren.

Jedes Jahr verläßt uns ein doppelter Schülerjahrgang nach der 4. Klasse. Gewöhnlich gehen 50 - 60% in weiterführende Schulen. 30 - 40% bleiben in unserer eigenen Hauptschule.

Da die Aktion Sonnenschein 3 Private Sonderschulen, alle nach den Prinzipien Maria Montessoris, betreibt, ist die Einteilung der Kinder in die für sie geeignetste Gruppe - 10-15 oder 20-24 Kinder - ohne große Probleme.

Antwort auf die eingangs gestellte Frage:

Die Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder ist in einer Montessori-Schule deshalb kein Problem, weil das Unterrichtsprinzip heißt:

"Hilf mir, es selbst zu tun!"

Merkmale dieses Unterrichtsprinzips sind:

Die Eigentätigkeit,

die Möglichkeit, nach eigenem Rhythmus voranschreiten zu können, die Sinnesschulung und die damit verbundene Früherkennung von bestimmten Defiziten und deren Behandlung, das stufenweise Voranschreiten vom konkreten Material zur Abstraktion,

das Miteindanderleben in einer altersgemäß gemischten Gruppe, die Arbeitsorganisation, die soziales Lernen im weitesten Sinne erfordert und ermöglicht,

der nahtlose Übergang vom Kinderhaus zur Schule.

Es wäre zu wünschen, daß unsere Organisation Verbreitung fände denn wir haben sehr viel mehr Anmeldungen in unsere Schule, als wir berücksichtigen können.



[31] Jean Itard: Vietor, das Wildkind vom Aveyron, Rotapfel-Verlag Zürich

[32] Med. Dr. S. Edward Seguin. Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode, Verlag von Karl Graeser, Wien 1912

[33] Maria Montessori: Entdeckung des Kindes, Herder-Verlag 1969 S. 39/40

[34] Maria Montessori: Kinder sind anders, Klett-Verlag 1980

[35] Maria Montessori: The Advanced Montessori Method, Adgar, Madras 20 India, 1965

[36] Frederic Vester: Denken, Lernen und Vergessen, Deutsche Verlagsanstalt, 1975

[37] Neben der Freiarbeit gibt es auch täglich den gebundenen lehrerzentrierten Unterricht in den verschiedenen Fachbereichen. Da er sich nur wenig vom bekannten Unterricht unterscheidet, bleibt er hier unerwähnt.

Egbert Herrenbrück Eine Familie berichtet über ihr blindes Kind

Wenn Anfang September in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien zu Ende gehen, und das Schuljahr 1981/82 beginnt, ist dies für unseren achtjährigen Denis bereits sein drittes Schuljahr in einer Regelschule, in diesem Fall einer Konfessionschule einer industriellen Mittelstadt am Südrande des Ruhrgebietes. Die beiden ersten Schuljahre hat der nun seit über fünf Jahren blinde Schüler erfolgreich gemeistert. Und so heißt es in seinem jüngsten Schulzeugnis: "Denis arbeitet gern und erfolgreich mit seinem Partner zusammen. Auch in der Gruppe versteht er es, seine Meinung angemessen zu vertreten. Wo es nötig erscheint, kann er rasch umdenken, um sich auf neue Aufgaben einzustellen. Dabei hat er in letzter Zeit an Selbständigkeit gewonnen. Er arbeitet zügig und mit großer Ausdauer. Dem Unterrichtsgeschehen folgt er mit wachem Verstand. Aus seinen Beiträgen geht hervor, daß er über ein gutes Vorstellungsvermögen und Aufgabenverständnis verfügt. Er erzählt anschaulich, folgerichtig und mit Engagement."

Zum Lernbereich heißt es, daß er sehr sicher in Blindenschrift lesen und schreiben kann. Geübte Texte schreibe er meist fehlerfrei. Er verfüge über ein sehr differenziertes Sprachvermögen. In Mathematik beherrsche er die meisten Zahlenreihen und rechne in den vier Grundrechenarten weit über 100. Sehr sicher sei er im Kopfrechnen. Es bereite ihm daher keine Schwierigkeiten, sein mathematisches Wissen bei Textaufgaben anzuwenden.

Im dritten Lebensjahr erblindete Denis. Über die Ursachen, die nach Meinung seiner Eltern durchaus umstritten sind, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Bis zum dritten Lebensjahr hatte er seine Umwelt bewußt mit allen Sinnen aufgenommen. Er verfügte - für sein Alter - über einen erstaunlichen Wortschatz und über eine Anzahl abstrakter Begriffe.

Mengenstrukturen haben ihn immer interessiert. Ordnungen versuchte er herzustellen oder zu durchschauen. Farbsicher, auch bei Mischfarben wie rose, orange und lila, war er schon mit zwei Jahren.

Seine Erblindung fiel auf, als er plötzlich gegen Türpfosten rannte. Dies ereignete sich dann immer häufiger, so daß ein Augenarzt aufgesucht wurde, und eine Odyssee zu und durch mehrere deutsche Universitätskliniken begann.

Alle Angehörige versuchten, ihn bei der Findung neuer Begriffe behilflich zu sein. Tagesabläufe, Wohnungseinrichtungen bei den Eltern und bei den Großeltern, wo er sich sehr häufig aufhielt, wurden auf ihn abgestimmt. Mit dem Ziel, ihm Sicherheiten in seiner Umwelt zu geben, wurde jede Veränderung mit ihm besprochen.

Sein Sinn für Strukturprinzipien festigte sich und baute such aus. So war es zwangsläufig, daß er einen Zugang zur Mathematik fand. Er rechnete von sich aus alle möglichen Operationen durch, ohne jegliche Erläuterung. Im Gegenteil, die Angehörigen waren überrascht, wenn er Zahlen- oder Operationszusammenhänge durchschaute. Trotz eifriger Beobachtung ist es nie klar geworden, von welchen Zahlenvorstellungen er ausging.

Mit vier Jahren interessierte er sich für Buchstaben. Er ertastete sie an Autos und deren Nummernschildern, die ihm heute für den Bereich der Bundesrepublik sowie der Nationalkennzeichen geläufig sind.

Monate später wurde eine Betreuung durch die Rheinische Blindenschule in Düren angeboten. Da er bereits die Buchstaben kannte und einfache Worte las, erleichtet, Blindenschrift zu lernen. Die Blindenschule stellte Arbeitsmaterial, die Familie entwickelte Arbeitsmittel auf allen Ebenen. Besonders Buchstabenwendekarten (eine Seite der Buchstabe in Blindenschrift mit Rechenplättchen, auf der anderen Seite der Druckbuchstabe aus Filz) fand Anklang.

Es erfolgte ein Versuch in einem Kindergarten. Die Bedingung der Leiterin allerdings war, daß Denis den Kindergarten nur nachmittags und in Begleitung der Mutter besuchen könne. Der Versuch mißlang. Das Kind wurde als Außenseiter empfunden. Der Versuch wurde deshalb abgebrochen.

Stattdessen wurde jede Gelegenheit genutzt, ihn mit sehenden Kindern spielen zu lassen, wie es auch von der Landesblindenschule empfohlen worden war.

In einem neugegründeten kommunalen Kindergarten fand er mit etwa fünf Jahren Aufnahme. Diesmal gab es keine Vorbedingungen. Er spielte dort als blindes Kind unter sehenden Kindern. Er war beliebt und wegen seiner Phantasie oft tonangebend. Er ging gerne in den Kindergarten. Wichtiger aber war, daß er im Umgang mit anderen Kindern seine Behinderung zu akzeptieren lernte. Die Leiterin des Kindergartens hielt ihn für eine Bereicherung der Gruppe. Denis Anwesenheit wirkte sich positiv auf die Verhaltensweise der anderen Kinder aus, die hier nun bereits im vorschulischen Alter lernten, sich mit Behinderten auseinanderzusetzen.

Nun stand die Einschulung kurz bevor. Nach Besuchen der Eltern in der Landesblindenschule, wo man das krasse Leistungsgefälle in den einzelnen Klassen sah, unterrichtete, sie sich dort über Möglichkeiten zum Besuch und zur Integration in eine Regelschule. Die Verantwortlichen an der Blindenschule hielten dies für möglich und wünschenswert.

Als die Lehrerin des ersten Schuljahres von sich aus anbot, den Versuch zu wagen, war die Entscheidung für alle Betroffenen gefallen.

Denis bekam von seiner Mutter eine Fibel, in der alle Bilder appliziert waren - dies kannte er bereits aus den selbsterstellten Bilderbüchern -. Die Texte waren in Blindenschrift. Für die Lehrerin trugen sie die Unterschrift in Schreibschrift. In der Schule arbeitete Denis von Anfang an mit einer Blinden-Kleinstschreibmaschine mit Schreibrolle.

Durch die Unterstützung des Betreuers der Landes-Blindenschule bekam auch bald die Klassenlehrerin eine solche Schreibmaschine, mit der sie kurze Arbeitsaufträge schreiben konnte. Die Erstellung der Texte (Lesebuch, Sprachbuch, Rechenbuch etc.) blieb Aufgabe der Familie, insbesondere der Großmutter, ohne deren Hilfe und Engagement der Versuch sicherlich nicht so erfolgreich gewesen wäre. Sie unterstützte in der Anfangszeit auch die Pausenaufsicht.

Bei seinen Klassenkameraden ist Denis sehr beliebt. dies beweisen für den Außenstehenden regelmäßige Schul- und Klassenfeste.

Seine Anwesenheit in der Klasse hat sich auch auf die übrigen 22 Mitschüler sehr positiv ausgewirkt. Die Klassenlehrerin: "Ich habe noch nie eine Klasse geführt, die so rücksichtsvoll ist!"

Nach den Zeugnissen und Beurteilungen gehört Denis zur Spitzengruppe, was seine Leistungen betrifft.

Was nach dem vierten Grundschuljahr im schulischen Bereich kommen wird, steht derzeit noch nicht konkret fest, aber die Angehörigen haben auch jetzt schon ihre Gedanken.

Peter Appelhans: Zusammenarbeit von Regelschule und Sonderschule

Zwölf Jahre blinde und sehbehinderte Schüler an der Heinrich-Hertz-Schule, Hamburg

Mit Beginn des Schuljahres 1970/71, am 1.4.1970, traten zwei blinde und zwei sehbehinderte Schüler in eine 7. Klasse der Heinrich-Hertz-Schule, Abt. Gymnasium ein. Sie hatten zuvor die Hamburger Blinden- und Sehbehindertenschule besucht und waren ein halbes Jahr lang mit Förderunterricht auf den Übergang vorbereitet worden. Bis 1977 ist die Zahl der sehgeschädigten Schüler gewachsen, seitdem bleibt sie relativ konstant zwischen 30 und 40.

Blinde und Sehbehinderte in Klassen der Regelschule aufzunehmen war keine grundsätzlich neue Idee. Sehbehinderte Kinder und Jugendliche besuchen zum größten Teil ohnehin die Schule in der Nachbarschaft und nicht eine - meist weit entfernte - Sonderschule. Auch einzelne Blinde haben seit dem 18. Jahrhundert durch eigene Anstrengung und Unterstützung Dritter, z.B. Eltern, Hauslehrer, engagierter Klassenlehrer, die Abschlüsse der Regelschule, meist eines Gymnasiums, erreicht. In verschiedenen Staaten Europas und der U.S.A., aber auch anderen Teilen der Welt gab es während der letzten Jahrzehnte verschiedenartige Programme und Methoden, die es dem blinden oder sehbehinderten Schüler ermöglichen, entweder in die Schule zu gehen, in die er als nichtbehinderter Schüler gehen würde, oder eine nicht zu entfernt vom Elternhaus liegende Regelschule zu besuchen. Die behinderungsspezifische pädagogische Hilfe und das Unterrichtsmaterial, das den Behinderten zur Mitarbeit im Unterricht befähigt, werden von einem reisenden Lehrer zum Blinden oder Sehbehinderten gebracht (Ambulanzlehrerprogramm) oder in besonderen Räumen in einer Regelschule bereit gehalten (Förderzentrum).

Die Heinrich-Hertz-Schule ist in vieler Hinsicht einem Förderzentrum für sehgeschädigte Schüler vergleichbar. Das war in Deutschland im Jahr 1970 das eigentlich Neue, daß eine Regelschule die Verantwortung für die kognitive und soziale Lernentwicklung von blinden und sehbehinderten Schülern übernahm, blinden- bzw. sehbehindertengemäße Lehr- und Lernmittel zur Verfügung stellte und sonderpädagogische Hilfe anbot. Das Vorhaben schien vielen zweifelhaft, weil insbesondere Blinden- und Sehbehindertenlehrer sich kaum vorstellen konnten, wie sehgeschädigte Schüler im allgemeinen deutschen Bildungssystem ihrer Behinderung entsprechend gefördert werden könnten, weil auch im Bereich der Hochschulen erst die Diskussion begann, ob behinderte Schüler zusammen mit nichtbehinderten mit Erfolg eine Regelschule besuchen können oder ob sie in ihrer Lern- und Persönlichkeitsentwicklung Schaden nehmen.

Die Heinrich-Hertz-Schule hatte schon vor 1970 einzelne sehbehinderte Schüler aufgenommen und bis zur Hochschulreife geführt. Wenn sie aber die Verantwortung für mehrere Schüler, vor allem auch für sehbehinderte mit nur geringem Sehrest und blinde übernehmen wollte, mußte sie die Unterstützung der Einrichtungen in Anspruch nehmen, die, wenn man von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, den Universitäten Dortmund und Hamburg absieht, als einzige über kompetentes Personal und behinderungsspezifische Hilfsmittel verfügen: der Sonderschulen; in Hamburg also: der Blinden- und Sehbehindertenschule am Borgweg, deren Grundstück unmittelbar an das der Heinrich-Hertz-Schule grenzt.

Unterstützung durch die Sonderschule konnte nicht heißen, daß

  • die Lehrer der Blinden- und Sehbehindertenschule für die Lernentwicklung und die soziale Eingliederung der Blinden und Sehbehinderten in die Klassen der Regelschule verantwortlich waren,

  • Lehrer der Blinden- und Sehbehindertenschule mögliche Defizite der Regelschule durch Zusatz- oder Förderunterricht oder sonstige Betreuungsmaßnahmen ausglichen oder daß

  • Lehrbücher in Punktschrift und alle taktilen oder auditiven Hilfsmittel von der Sonderschule aus ihren Beständen zur Verfügung gestellt werden konnten.

Die Zusammenarbeit hatte schon vor der Aufnahme sehgeschädigter Schüler in die Heinrich-Hertz-Schule begonnen und mußte von vornherein auf eine viel breitere Basis als die der Kooperation zwischen Lehrern und Schulleitungen beider Schulen gestellt werden. Es ging darum, für die Schüler und Eltern sicherzustellen, daß die Heinrich-Hertz-Schule auf Dauer in den Stand gesetzt wird, den besonderen pädagogischen Bedürfnissen blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher gerecht zu werden, auch wenn die Zahl dieser Schüler größer wird und die Anforderungen in den höheren Klassen der Abteilung Gymnasium wachsen. Also mußten die verantwortlichen Beamten der Schulbehörde und die politischen Entscheidungsträger in die Zusammenarbeit einbezogen werden. Das wiederum setzte voraus, daß die Eltern an der Erarbeitung und Durchsetzung der Konzepte beteiligt wurden. Und schließlich wuchsen auch die blinden und sehbehinderten Schüler und auch die nichtbehinderten in die Rolle hinein, über die Heinrich-Hertz-Schule hinaus Anregungen zu geben und aufzunehmen.

1. Zusammenarbeit zwischen Lehrern

Die ersten Überlegungen, wie begabte sehgeschädigte Kinder und Jugendliche zur Hochschulreife geführt werden können, ohne daß sie weit entfernt vom Elternhaus eine Sonderschule für Blinde besuchen (einen Gymnasialzweig für Sehbehinderte gab es überhaupt noch nicht), wurden zwischen Lehrern angestellt: einem von der Blindheit seiner Tochter betroffenen, aber im blindenpädagogischen Bereich unerfahrenen Gymnasiallehrer und einem Blinden- und Sehbehindertenlehrer, der im Rahmen der Universitätsausbildung von Sonderschullehrern Seminare über blinden- und sehbehindertenpädagogische Fragen abhielt. Unmittelbar einbezogen wurde der Leiter der Blindenschule.

Die Ergebnisse der Überlegungen sind in einem Brief des genannten Blinden- und Sehbehindertenlehrers vom 16.8.69 an den Schulleiter der Heinrich-Hertz-Schule zusammengefaßt:

"Ich möchte Ihnen die Punkte, die ich mit Herrn ... besprochen habe, fragmentarisch skizzieren. In Übereinstimmung mit Herrn Dir. ..., mit dem Kollegium der Blinden- und Sehbehindertenschule und mehreren betroffenen Eltern halte ich es für dringend notwendig, begabte Sehgeschädigte in einem Gymnasium für Normalsichtige zu fördern.

  1. Das Ziel der Sehgeschädigten-Pädagogik ist es, die Behinderten so schnell und so umfassend wie möglich in den Lebensbereich der Sehenden zu integrieren.

  2. Es gibt bisher in der BRD noch kein Gymnasium für Sehbehinderte.

  3. Das Aufbaugymnasium für Blinde in Marburg stellt an Eltern und Schüler Anforderungen, die häufig nicht zu erfüllen sind. Es handelt sich hierbei um

a) finanzielle Belastungen

b) Belastungen persönlicher Art durch lange Trennungen und

c) oft nicht behinderungsgemäße Erziehung und Bildung.

Viele Eltern haben deshalb in den letzten Jahren darauf verzichtet, ihren Kindern eine höhere Schulbildung in Marburg zukommen zu lassen. In einigen wenigen Fällen haben Sehbehinderte bereits die Heinrich-Hertz-Schule durchlaufen.

Durch die Erwägungen, die Herr ... und ich angestellt haben, dürfte es nach den gegenwärtig voraussehbaren Umständen wahrscheinlich sein, daß pro Jahr etwa 2 Sehgeschädigte das Gymnasium besuchen werden. Es ist durchaus möglich, daß sich diese Zahl noch erhöhen wird, wenn an den bundesdeutschen Sehgeschädigtenschulen bekannt wird, in welcher Form der Versuch, Sehgeschädigte mit Sehenden gemeinsam zu unterrichten, realisiert wird. M, E. wäre vor allem noch die organisatorische Form des Versuchs zu diskutieren."

Drei Punkte dieses Briefes sollen kurz kommentiert werden:

a) es war erklärtes Ziel dieses Versuches, "die Behinderten so schnell und umfassend wie möglich in den Lebensbereich der Sehenden zu integrieren." Dazu gehören

  • die Klassenverbände und Lerngruppen, in denen die Sehgeschädigten zusammen mit vielen Nichtbehinderten lernen;

  • Elternhaus und Nachbarschaft, in die die meisten Schüler täglich, alle aber am Wochenende zurückkehren können;

  • die außerschulischen Veranstaltungen

  • und als letzte Entwicklung die Wohngemeinschaften des "Vereins Integratives Wohnen", in denen Sehende und Sehgeschädigte zusammen leben.

b) die Zahl der Sehgeschädigten pro Jahr wurde 1968 mit 2 veranschlagt. Da sich in den letzten Jahren der Durchschnitt auf etwa 35 Schüler in neun Jahrgängen (Klassenstufe 5 bis 13) eingependelt hat, ist eine Verdoppelung der Schätzzahl eingetreten. Das hat vor allem zwei Ursachen: das Interesse sehbehinder Schüler, die zuvor eine andere Regelschule besucht haben und an der Heinrich-Hertz-Schule sehbehindertengemäße Unterstützung erwarten, und die Bereitschaft der Behörde für Schule und Berufsbildung, Amt für Schule, auch sehgeschädigten Schülern aus anderen Bundesländern den Übergang auf die Heinrich-Hertz-Schule zu ermöglichen.

c) die "organisatorische Form des Versuchs" stand noch nicht fest. Das lag nicht daran, daß diejenigen, die die Form zu finden versuchten, nicht hinreichend über Entwicklungen im Ausland (z.B. Skandinavien und U.S.A.) unterrichtet gewesen wären. Vielmehr kam es darauf an, unter den gegebenen Umständen einen Rahmen zu finden, der einen kleinen, aber effektiven Beginn ermöglichte und sich auch ausweiten ließ, wenn die Zahl der für den Versuch geeigneten Schüler wächst. Aufgrund des geringen personellen und materiellen Rückhalts schied ein Reiselehrerprogramm aus, das dem sehgeschädigten Schüler erlaubt hätte, die Schule in der Nähe seines Elternhauses zu besuchen. Die Form des sog. Förderzentrums, die das Ergebnis der Überlegungen war, ist also von den Initiatoren des Versuchs nicht als grundsätzliche und unumstößliche Festlegung verstanden worden, sondern als ein Anfang, der ausgeweitet und verändert werden kann.

In den folgenden 12 Jahren bedeutete Zusammenarbeit zwischen Lehrern:

  • die Sonderschule hilft mit blinden- und sehbehindertenpädagogischer Fachkompetenz aus, indem Lehrer stundenweise in der Regelschule unterrichteten, kurzfristig auch mit vollem Lehrauftrag, bis der abgeordnete Kollege plötzlich verstarb.

  1. In folgenden Fächern waren Sonderschullehrer in der Heinrich-Hertz-Schule tätig: Mathematik, Erdkunde, Physik. Einige dieser Lehrer übernahmen als Fachlehrer die gesamte Klasse oder Lerngruppe, in der auch einzelne Sehgeschädigte waren, andere gingen auf die besonderen Probleme blinder und sehbehinderter Schüler, etwa in Mathematik dadurch ein, daß sie diese Schüler Parallel zum üblichen Unterricht in einer Kleingruppe zusammenfaßten (auch klassenübergreifend) oder ihnen im Unterricht, der von Regelschullehrern erteilt wurde, zusätzliche Hilfe gaben und Material bereitstellten.

  • einzelne Lehrer der Sonderschule übertrugen für blinde Schüler an der Regelschule Texte in Punktschrift, solange die Regelschule diese Übertragungsarbeiten noch nicht selbst erledigen konnte.

  1. Nach der Anlaufphase konnten nicht pädagogisch ausgebildete Punktschriftschreiber gefunden oder ausgebildet werden, die gegen Entgelt Bücher und Einzeltexte in Punktschrift umsetzen.

  • Blinden- und Sehbehindertenlehrer waren stets bereit, Probleme zu erörtern und nach Lösungen zu suchen, wenn im Unterricht oder bei anderen Aktivitäten der Regelschule Schwierigkeiten oder Unsicherheiten auftraten, die im Zusammenhang mit der Integration behinderter Schüler in eine Klasse nichtbehinderter standen.

  1. Manchmal reichte ein Gespräch mit einem Kollegen oder mit wenigen, um dem Regelschullehrer einen methodischen Hinweis zu geben, ihn auf behinderungsspezifische Hilfsmittel aufmerksam zu machen oder ihm zu helfen, die Möglichkeiten und Grenzen des blinden oder sehbehinderten Schülers richtig einzuschätzen. In unregelmäßigen Abständen wurden gemeinsame Konferenzen der Kollegien der Blinden und Sehbehindertenschule und der Heinrich-Hertz-Schule einberufen, die immer zahlreich besucht wurden, obwohl die Beteiligung nicht verpflichtend war. Gegenstand dieser Konferenzen waren personelle Zusammenarbeit, Medienfragen, Abstimmung und Initiativen gegenüber Behördenstellen, Einbeziehung der Eltern und der Elternräte, Fragen des Übergangs, Rückläuferprobleme, Einwirkungsmöglichkeiten der Lehrer bei der sozialen Integration sehgeschädigter Schüler in die Gruppen und Klassen der Regelschule.

  • Lehrer der Sonderschule übernehmen die Förderung einzelner blinder oder sehbehinderter Schüler der Regelschule in den behinderungsspezifischen Techniken, die Lehrer der Regelschule nicht vermitteln können, weil die Kompetenz fehlt.

  1. Dieser Unterricht ist stets zeitlich begrenzt. Er endet, wenn die Technik altersgemäß sicher beherrscht wird. Teils reichen einige Stunden, so bei der Einführung in den Gebrauch eines Monokulars oder einer elektronischen Lesehilfe (Fernsehlesegerät); teils erstrecken sich die Lehrgänge über mehrere Wochen oder Monate, z.B. beim Mobilitätstraining, das manchmal in Kursen angeboten werden muß, die parallel zum regulären Unterricht laufen. Techniken wie Maschinenschreiben (auf der üblichen Schreibmaschine) können mit der notwendigen Schnelligkeit und Sicherheit nur erworben werden, wenn die zweistündigen Förderstunden mindestens ein Halbjahr, meist aber ein Jahr lang erteilt werden.

  • einzelne Lehrer der Regelschule unterrichten in der Sonderschule.

  1. Derartige z.T. kurzfristige, z.T. über viele Jahre sich erstreckende stundenweise Abordnungen von Lehrern haben immer mehrere Ziele verfolgt:

  2. der Regelschullehrer hilft der Sonderschule in einem Fach aus, das sie selbst nicht besetzen kann. Das ist geschehen in den Fächern Französisch, Werken, Musik.

  3. der Regelschullehrer kann im Unterricht der Sonderschule erfahren, welches typische Probleme blinder und sehbehinderter Kinder sind, und mit Kollegen der Sonderschule über fach- und allgemeinpädagogische Fragen sprechen, die sich aus diesen Beobachtungen ergeben.

  4. der Regelschullehrer kann anderseits erkennen, daß die Organisationsformen der Sonderschule die Lern- und Sozialprozesse der Schüler beeinflussen und Blinde und Sehbehinderte an der Regelschule anderen Anforderungen ausgesetzt sind.

  • Lehrer unterstützen die Kollegen der anderen Schulform, indem sie bei Entscheidungen über die Schullaufbahn ihre Kenntnisse und Erfahrungen einbringen.

  1. Die Sonderschullehrer, die in der Grundschulzeit Klassenlehrer waren, nehmen an den Zeugniskonferenzen der 5. und 6. Klassen der Regelschule teil, wenn über die Lernentwicklung ihrer ehemaligen sehgeschädigter, Schüler beraten wird. Das Mitglied der Schulleitung der Regelschule, das für das Integrationsmodell verantwortlich ist, informiert alle Eltern der 4. und 5. Klassen der Sonderschule über die möglichen Wege blinder und sehbehinderter Schüler zur Hochschulreife und berät sie im Einzelfall in Zusammenarbeit mit dem Klassenlehrer. Wenn sehgeschädigte Schüler die Schulform später als nach der 5. Klasse wechseln, z.B. nach dem Realschulabschluß an der Blinden- und Sehbehindertenschule, aber auch bei notwendiger Rückschulung von der Regelschule zur Sonderschule, werden die Umsetzung und erforderliche Fördermaßnahmen zwischen den Schulleitungen und betroffenen Lehrern abgestimmt. Kinder und Jugendliche, die nicht Schüler einer der beiden kooperierenden Schulen sind und mit ihren Eltern Auskunft über Möglichkeiten, eine abgebrochene Ausbildung fortzusetzen oder eine neue aufzunehmen, haben möchten, werden vom Landesarzt für Blinde und Sehbehinderte und Lehrern beider Schulen gemeinsam beraten. Auch die Probleme junger Erwachsener, die als Sehgeschädigte eine höhere Qualifikation anstreben, lassen sich meist am besten lösen, wenn Kenntnisse und Erfahrungen der Sonderschule und der Regelschule eingebracht werden.

  • Medien der Sonderschule können von Lehrern der Regelschule benutzt werden; aber auch die an Regelschulen üblichen und die inzwischen beschafften sehgeschädigtenspezifischen Lehr- und Lernmittel der Heinrich-Hertz-Schule stehen Lehrern der Blinden- und Sehbehindertenschule mit zur Verfügung. Vor der Anschaffung teurer moderner Hilfsmittel stimmen sich die Schulen über eine gemeinsame Nutzung ab. Über die technische Entwicklung von Blinden- und Sehbehindertenhilfsmitteln und ihre Verwendung in der Schule und für häusliche Arbeiten, über Finanzierungsmöglichkeiten und Bewährung im Unterricht und bei der Einzelarbeit werden Erfahrungen ausgetauscht.

  1. In den letzten Jahren hat die Blinden- und Sehbehindertenschule u. a. ein neues Gerät beschaffen können, das für beide Schulen Schwarzschrifttexte entsprechend den Bedürfnissen der Sehbehinderten vergrößert. Die Heinrich-Hertz-Schule ist z.B. imstande gewesen, ein Kassettenkopiergerät zu kaufen, das Lehrern beider Schulen ermöglicht, in wenigen Minuten bis zu vier Kopien von Tonbandkassetten gleichzeitig herzustellen.

  • Lehrer beider Schulformen machen die in der Zusammenarbeit gewonnenen Erfahrungen und methodisch-didaktischen Konzepte bei Kollegen der Blinden- und Sehbehindertenschulen außerhalb Hamburgs bekannt; und Regelschulen, die blinde und/oder sehbehinderte Schüler aufnehmen möchten, erhalten Erfahrungsberichte, Beratung, Hospitationsmöglichkeiten und methodische Hilfe durch Einführungsveranstaltungen von Lehrern der Regelschule.

  1. Einige Beispiele: die Arbeitsgemeinschaft "Integration sehgeschädigter Schüler in Regelschulen" im Verband der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen e. V. wurde nach ihrer von Lehrern der Blindeninstitutsstiftung Würzburg angeregten Gründung fast zwei Jahre von dem Lehrer der Heinrich-Hertz-Schule geleitet, der den Versuch mit blinden und sehbehinderten Schülern an dieser Schule initiiert hat. Die Arbeitsgemeinschaft "Kunst" hat neuerdings einen Fachlehrer für bildende Kunst der Heinrich-Hertz-Schule zum Vorsitzenden, nachdem er zusammen mit Kollegen der Blinden- und Sehbehindertenschule die gemeinsam erarbeiteten Konzepte auf einer Tagung vorgetragen hat.

Auf den Kongressen für Sehgeschädigtenpädagogik vertreten der Leiter der Blinden- und Sehbehindertenschule und einige seiner Kollegen ebenso wie der für die Integration blinder und sehbehinderter Schüler in die Heinrich-Hertz-Schule verantwortliche Lehrer das gleiche Konzept eines umfassenden, flexiblen Bildungsangebots für sehgeschädigte Schüler, das die Schullaufbahnentscheidung von den Lern- und Sozialisierungsmöglichkeiten des Kindes abhängig macht.

Gymnasien in Köln, München, Berlin und Soest sind bei ihren Überlegungen und praktischen Anfängen von Lehrern der Heinrich-Hertz-Schule unterstützt worden. Wesentliches Element aller Beratung war: ohne personelle und mediendidaktische Unterstützung durch Blinden- und Sehbehindertenlehrer kann die Regelschule keine wirksame Hilfe geben. Diese Lehrer sind in Deutschland stets an einer Sonderschule tätig,

2. Zusammenarbeit mit der Schulbehörde und mit Elterngremien

Die Heinrich-Hertz-Schule hat bei der Realisierung des Integrationskonzepts nicht nur mit der Sonderschule zusammengearbeitet. Ohne daß die Form der meist gegenseitigen Hilfe und Anregung bis ins letzte durch Verwaltung und politische Instanzen genehmigt werden könnte und müßte, schien es beiden Schulen von Anfang an wichtig, möglichst viele Entscheidungsträger mit dem Konzept vertraut zu machen und ihnen den Bedarf an Personal und Sachmitteln zu verdeutlichen. Die Gründe liegen auf der Hand:

  • Die durch den Beginn im April 1970 bei sehgeschädigten Schülern und deren Eltern geweckten Hoffnungen, die Hochschulreife in der Nähe des Elternhauses erwerben zu können, durften nicht dadurch enttäuscht werden, daß die Heinrich-Hertz-Schule den Versuch wieder einstellt, wenn sich durch zunächst kontinuierliche Erhöhung der Zahl blinder und sehbehinderter Schüler die Aufgaben der Schule vermehren;

  • Die Belastung der Lehrer durch differenzierte Unterrichtsvorbereitung, Herstellung von behinderungsspezifischen Lehr- und Lernmitteln, Förderunterricht und individualisierende Lösung von Lern- und Sozialproblemen mußte auf Dauer durch eine angemessene Entlastung (Reduzierung der Pflichtstundenzahl) ausgeglichen werden, wenn engagierte, der individuellen Problemlage entsprechende Hilfe des Regelschullehrers für den pädagogischen Erfolg unabdingbar ist;

  • Da von vornherein die Hoffnung vorhanden war, daß ein erfolgreicher Verlauf des Versuchs andere Schulen ermutigen wird, blinde und sehbehinderte Schüler mit nichtbehinderten zusammen lernen zu lassen, mußte das erste derartige Modell personell und sachlich ausreichend ausgestattet werden; nur so war der Anspruch auf Übertragbarkeit zu verantworten.

Die Schulleitungen beider Schulen haben folglich in einem Antrag vorn 6.12.1972 an die vorgesetzte Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Amt für Schule, die grundsätzliche Bedeutung des Versuchs hervorgehoben und den Personal-und Sachmittelbedarf im einzelnen aufgeschlüsselt. Das Schreiben schließt: "Wie aus dem obigen Antrag hervorgeht, kommt dem Versuch eine doppelte Bedeutung zu: Einmal wird für Sehbehinderte eine weiterführende Bildungseinrichtung geschaffen, deren Fehlen bisher eine schmerzliche Lücke bedeutete. Zum andern wird die Frage einer Beantwortung nähergeführt, unter welchen Voraussetzungen Blinde und Sehbehinderte in Normalschulen integrierbar sind... Deswegen bitten wir nochmals darum, ihn als Modellversuch finanziell zu fördern."

Diese und weitere Bemühungen der Schulleitungen blieben im folgenden Jahr noch ohne spürbares Ergebnis. Das leuchtete den meisten Betroffenen um so weniger ein, als in einem 16-seitigen Informationsblatt mit dem Titel "Schulreform in Hamburg", das die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Pressestelle 1973 in der Öffentlichkeit verteilen ließ, an. zwei Stellen der Schulversuch erwähnt wird. Unter der Überschrift "Moderner Unterricht" findet sich der Satz: "Blinden und sehbehinderten Schülern wurde die Teilnahme am Unterricht eines Gymnasiums ermöglicht." Und unter dem Stichwort "Förderung behinderter Kinder in allgemeinen Schulen" steht zu lesen: "Der Senat führt seit einigen Jahren dazu Versuche mit Schwerhörigen im Lohmühlen-Gymnasium und mit Blinden und Sehbehinderten in der Heinrich-Hertz-Schule durch."

In die Fortsetzung des Dialogs zwischen den Schulen und den politisch Verantwortlichen schalteten sich jetzt die Elternräte der Heinrich-Hertz-Schule und der Blinden- und Sehbehindertenschule durch Schreiben an den Präses der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Senator Apel, ein. Das Amt für Schule: teilte mit Schreiben vom 11.4.1974 dem 1. Sprecher des Elternrats der Heinrich-Hertz-Schule mit, "daß die Prüfung der Möglichkeiten, wie den sehbehinderten Kindern zu helfen ist, mit Nachdruck betrieben wird... (Es sei) aber zu bedenken, daß in solchen Fällen nicht nur die Höhe der bereitzustellenden Mittel, sondern auch deren haushaltsmäßige Absicherung eine entscheidende Rolle spielt. Als Staatsbürger und Steuerzahler werden Sie ein Interesse daran haben, daß Behörden nicht Mittel zweckentfremdet verwenden. "

Es wurde zugesagt, daß "die Schulaufsicht ... sich in der Zwischenzeit bemühen (werde), im Rahmen der bei ihr verfügbaren Mittel der Schule zu helfen." Die Antwort des Senators an den Elternrat der Heinrich-Hertz-Schule vom 22.4.74 stellt fest:

"Der Versuch, an der Heinrich-Hertz-Schule blinde und sehbehinderte Kinder in den Unterricht mit nicht behinderten Kindern zu integrieren, scheint mir ein Beweis dafür zu sein, wie vorbildlich private Initiative und staatliche Bemühungen sich zu ergänzen vermögen. Die bisherigen guten Erfahrungen mit den dort beschulten Kindern haben die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung ermutigt, solche Versuche in der kommenden Legislaturperiode zu intensivieren und auszudehnen. Auch der Senat hat in seiner Schrift "Schulreform in Hamburg" ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er durch Versuche klären wird, wie mit besonderen Hilfen behinderte Kinder in allgemeinen Schulen gehalten und wie in Sonderschulen geförderte Kinder wieder in allgemeine Schulen eingegliedert werden können.

Im Zusammenhang damit prüft die Behörde zur Zeit Ihre Bitte, ob und wann die finanziellen Auswirkungen des Versuchs im vollen Umfang übernommen werden können.

Sie dürfen versichert sein, daß die Behörde im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles tut, um Benachteiligungen behinderter Kinder gegenüber ihren gesunden Altersgefährten auszugleichen."

Durch die Darstellung der Schulbehörde und der Staatl. Pressestelle, daß "der Senat diesen Versuch ... durchführt", war die Frage, ob und wann die Heinrich-Hertz-Schule mit dem Bedarf entsprechenden Sachmitteln und Lehrerstellen versorgt werden könnte, auf die politische Ebene gebracht worden.

Am 5.8.1974 schließlich gelang der erste Durchbruch: drei Lehrerstellen wurden genehmigt. Sie sollten den "qualitativen Mehrbedarf" an Lehrerstunden für die zu der Zeit fünfzehn blinden und sehbehinderten Schüler decken. Vom 1.1.1975 bis zum 31.7.1978 wurde die Integration sehgeschädigter Schüler in die Lerngruppen der Heinrich-Hertz-Schule als Modellversuch von der Bund-Länder-Kommission gefördert, Danach sind weitere Lehrerstellen für die seit 1974 mehr als verdoppelte Schülerzahl bewilligt worden: ab 1.8.1980 sechs Lehrer.

Von entscheidender Bedeutung für Fortschritte bei der behinderungsspezifischen Unterstützung der sehgeschädigten Schüler an der Regelschule war, daß

  • die Behörde selbst dieses Vorhaben als Teil ihrer Schulreformpolitik betrachtete,

  • die Elternräte der Regel- und der Sonderschule gemeinsam das Problem der pädagogischen Unterstützung aufgriffen, als politisches erkannten und direkt an den Präses der Behörde herantraten und

  • daß die Lehrer mehr Lehrerstunden für behindertengerechte Hilfe forderten, nachdem sie Vorgaben an pädagogischer Arbeit geleistet und in der Unterrichtspraxis erfahren hatten, wie sehr der Lernerfolg der sehgeschädigten Schüler von individuell zugemessener Hilfeleistung abhängt.

3. Zusammenarbeit mit weiteren Einrichtungen des Bildungswesens

Es gäbe ein falsches Bild, würde man nicht wenigstens erwähnen, daß sich die Zusammenarbeit im Laufe der Jahre weit über die Blinden- und Sehbehindertenschule und die vorgesetzte Behörde ausweitete. Dabei hat die Heinrich-Hertz-Schule auch keineswegs nur Hilfe angenommen, Erfahrungsaustausch und Anregungen zur Innovation im gegenseitigen Geben und Nehmen kennzeichneten die Beziehungen zu vielen Institutionen: zu Blinden- und Sehbehindertenschulen des In- und Auslands, zu Elterngremien, z.B. der Arbeitsgemeinschaft der Elternbeiräte an Blindenschulen, zu Verbänden, etwa dem Deutschen Blindenverband und dem Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands, zu Stiftungen und Instituten (das Institut für Lehrerfortbildung ermöglichte Kurse, in denen Lehrer der Heinrich-Hertz-Schule in die pädagogische Arbeit mit blinden und sehbehinderten Schülern eingeführt wurden), zur Bildungskommission des deutschen Bildungsrates, zum Schulausschuß des Deutschen Städtetages, zur Universität Hamburg, Fachbereich Sonderpädagogik u. a. Zusammenarbeit kompetenter Fachleute ist notwendig, wenn Behinderte erfolgreich in Lern- und Lebensprozesse ihrer Umwelt, die weitestgehend von Normen, Verhalten und Interessen der Nichtbehinderten bestimmt wird, eingegliedert und nicht durch vermeidbaren Besuch einer Sonderschule von geeigneten Übungsfeldern ihrer intellektuellen, sozialen und psychischen Kräfte ferngehalten werden sollen.

Daß Zusammenarbeit eine Veränderung der Sichtweise in diesem Sinne auch bei den Fachleuten an Sonderschulen bewirken kann, dafür gibt es in Hamburg viele Belege. Zwei seien. herausgehoben:

  • seit 1.8.1978 wird ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Forschungsprojekt "Entwicklung und Evaluation eines förderdiagnostischen Erfassungs- und Kategorisierungssystems für sehbehinderte Schüler" betrieben. Gegenstand der Arbeit ist, Kinder und Jugendliche mit Sehschwierigkeiten in Regelschulen aufzufinden, ihre Probleme zu analysieren und Bedingungen und Methoden zu beschreiben, die die Lernentwicklung solcher Schüler verbessern können. Ziel ist zu verdeutlichen, wie im Gebiet dieses Stadtstaates ein Unterstützungssystem für sehschwache Schüler aufgebaut werden kann. Die Durchführung des Projektes ist nur möglich, weil Blinden- und Sehbehindertenlehrer der Sonderschule, die von Schulleitung und Behörde ganz oder teilweise beurlaubt werden, mitarbeiten. Die Sonderschule hat also gebrochen mit dem Grundsatz "Entweder der blinde oder sehbehinderte Schüler kommt zu uns, oder er muß auf jegliche behinderungsspezifische Hilfe durch dafür ausgebildete Lehrer verzichten".

  • die Festversammlung, die am 12.6.1981 das 150-jährige Bestehen der Hamburger Blindenbildung feierte, wurde von dem Leiter der Blinden- und Sehbehindertenschule mit der aktuellen Frage der Schulpolitik in diesem Bereich konfrontiert: "Kann die integrative Beschulung ausgedehnt werden auf weitere Bereiche unserer Schüler?" Die Antwort des Leiters der Sonderschule. "Ich meine: Ja." Natürlich ist das Ja an Grundbedingungen der angemessenen Vorbereitung und pädagogischen Begleitung der Schüler und der Regelschule geknüpft. Aber es wird ins Auge gefaßt, Schüler, die als Sehgeschädigte z.Z. noch die Sonderschule besuchen, mit Sehenden zusammen in der Schule zu unterrichten, in der sie auch als Nichtbehinderte wären. "Das System der integrativen Schule wird für viele Behinderte bedeuten, daß sie nicht mehr die Sonderschule besuchen, sondern der mit ihren Problemen vertraute Fachmann zu ihnen in ihre vertraute natürliche Schulumgebung kommt."

Die alten Römer sagten:

Worte belehren, Beispiele reißen mit. (Verba docent, exempla trahunt)!

Die Autoren

Peter Appelhans, Jg. 1936, Studiendirektor und stellvertretender Schulleiter an der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg, Initiator der Integration von blinden und sehbehinderten Schülern in diese Schule.

Klaus Bloedhorn Jg. 1953, nach dem Studium der Evangelischen Theologie und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum derzeit Studienreferendar in Nordrhein-Westfalen

Karl-Heinz Dickopp, Professor für Pädagogik an der Fernuniversität Hagen, beauftragt mit der wissenschaftlichen Begleitung des integrativen Schulversuchs der Montessori-Grundschule um Krefeld

Egbert Herrenbrück, Jg. 1947, Journalist und Redakteur an einer Tageszeitung im Ruhrgebiet

Jörg R. Mettke, Jg. 1943 Journalist, Redakteur beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, lebt in Berlin. Mitbegründer des Friedenauer Integrationsprojekts, Elternvertreter in der Projektgruppe Integrationsversuch und Mitglied der Schulkonferenz der Fläming-Schule

Jakob Muth, Jg. 1927, Professor für Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum, ehemals Vorsitzender des Ausschusses Sonderpädagogik des Deutschen Bildungsrates

Brigiite Ockel, Jg. 1928, Leiterin des Schulversuchs nach Maria Montessori der Aktion Sonnenschein in München

Wolfgang Podlesch, Diplom-Psychologe, Wissenschaftlicher Oberrat am Pädagogischen Zentrum Berlin, Mitarbeit in der wissenschaftlichen Begleitung der Fläming-Grundschule

Norbert Stoellger, Jg. 1937, Professor am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Freien Universität Berlin, Mitarbeit in der wissenschaftlichen Begleitung der Fläming-Grundschule in Berlin

Quelle:

Jakob Muth u.a.: Behinderte in allgemeinen Schulen

erschienen in der Reihe: neue pädagogische bemühungen, Band 89, Herausgeber: Prof. Dr. Werner Loch, Prof. Dr. Jakob Muth. ISBN-Nr. 3-87964-240-0

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 12.02.2013

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