Integration aus der Sicht der Schulbehörde

Autor:in - Holger Müller
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988, S. 25-48
Copyright: © Curio Verlag 1988

A) Zur Entwicklungsgeschichte des Schulversuchs

Der erste große und wichtige Schritt zur Integration behinderter Kinder in unsere Gesellschaft ist mit der Einrichtung des Sonderschulwesens getan worden. Behinderte Kinder werden nicht mehr in Familien "versteckt" oder in Heimen lediglich "verwahrt". Man hat erkannt - und daran haben Eltern in starkem Maße mitgewirkt -, daß auch Kinder mit schweren Behinderungen lernfähig sind und durch spezielle pädagogische Angebote und therapeutische Maßnahmen gefördert werden können. Diese Erkenntnis hat die Entwicklung zu dem jetzt erreichten hohen Grad der Ausdifferenzierung des Sonderschulwesens bestimmt.

Der Grundsatzreferent für das Sonderschulwesen in Hamburg, Oberschulrat J.v. Melle, hat die Situation sonderpädagogischer Förderung in unserer Stadt so beschrieben:

"Durch das hohe quantitative und qualitative Niveau des Sonderschulwesens ist es in der Vergangenheit weitgehend gelungen, die behinderten Schüler ihrem Leistungsvermögen entsprechend optimal zu befähigen. War vor Jahren ein über den Hauptschulabschluß hinausgehender Abschluß bei einem behinderten Schüler nur durch besonders glückliche Umstände zu erreichen, so ist heute ein Realschul- bzw. gymnasialer Abschluß für manche Behinderungsarten keine Ausnahme mehr."

Er fährt dann aber fort: "Dagegen konnte die soziale Integration nicht in dem wünschenswerten Maße gelingen. Jede gesonderte Beschulung führt zwangsläufig dazu, daß Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern erschwert bzw. verringert werden. Durch vielfältige Kooperationsmaßnahmen zwischen Sonderschulen und allgemeinen Schulen wird versucht, diesem Mangel abzuhelfen. Doch bleiben die so entstehenden Kontakte in aller Regel auf Bereiche beschränkt, die nicht im Zentrum des täglichen Lernens stehen."

Bei vielen Eltern, Pädagogen und Bildungspolitikern ist daher die Überzeugung gewachsen, daß eine angemessene Vorbereitung behinderter und nichtbehinderter Kinder auf ein gemeinsames Leben in unserer Gesellschaft nur gelingen kann, wenn die soziale Integration behinderter Kinder in der allgemeinen Schule - soweit wie möglich - verwirklicht wird.

Trotz der vielfältigen präventiven, kooperativen und integrativen Maßnahmen, die mit dieser Zielsetzung - initiiert und unterstützt von den Sonderschulen - gegenwärtig bereits in der allgemeinen Schule durchgeführt wurden, haben Elterninitiativen in Hamburg seit 1981 verstärkt darauf gedrungen, neue Formen gemeinsamen Lebens und Lernens behinderter und nichtbehinderter Kinder in der Schule zu entwickeln, um Nachteile einer gesonderten pädagogischen Betreuung wo immer möglich zu vermeiden. Die Forderungen der Eltern fanden in wachsendem Maße öffentliche Unterstützung bei Wissenschaftlern, Politikern und Schulpraktikern. Sie beinhalten im Kern: Anders als bei den bereits verwirklichten Integrationsmaßnahmen soll angestrebt werden, behinderte Kinder auch dann in die allgemeinbildende Schule einzugliedern, wenn nicht erwartet werden kann, daß sie die Lernziele der aufnehmenden Schulform erreichen. In diesen Schulen sollen entsprechend differenzierte Anforderungsprofile und integrative Unterrichtskonzeptionen entwickelt werden.

Der Hamburger Senat hat mehrfach erklärt, daß er das Ziel verfolge, behinderte und nichtbehinderte Kinder soweit wie möglich gemeinsam zu unterrichten.

Die logische Folge dieser Erkenntnisse, Forderungen und bildungspolitischen Zielvorstellungen war die Einrichtung eines Schulversuchs, mit dessen Hilfe herausgefunden werden soll, wie die jeweils notwendige sonderpädagogische Förderung und die soziale Integration der nach bisherigem Sprachgebrauch sonderschulbedürftigen Kinder in Lerngruppen der allgemeinen Grundschule verwirklicht werden können. Diese Aufgabe kann die allgemeine Schule nur in enger Zusammenarbeit und in gemeinsamer Verantwortung mit den Einrichtungen der Sonderpädagogik übernehmen. Der Schulversuch bietet m.E. die besten Chancen, pädagogische Erfahrungen zu sammeln und entsprechend flexibel angemessene Änderungen in den Rahmenbedingungen herbeizuführen. Er kann damit Erkenntnisse liefern, die für die Entwicklung eines Regelangebots schulischer Integration grundlegend sind.

Aber unabhängig davon, ob Integration als Schulversuch oder anders begonnen wird, erscheint es mir wichtig, die nachfolgenden Grundsätze angemessen zu berücksichtigen.

B) Darstellung und Erläuterung tragender Grundsätze

Grundsatz 1

1. Eine prinzipielle Ausgrenzung von Kindern mit bestimmten Behinderungsarten oder -graden darf nicht erfolgen.

In vielen Fällen ist es unmöglich, in anderen höchst fragwürdig, Arten und Grade sog. Behinderungen insbesondere bei Kindern in so frühem Alter (bei Schuleintritt) nach Sonderschularten zu klassifizieren. Es geht darum, auch im behinderten Kind nicht die "Behinderung", sondern den ganzen Menschen zu sehen.

Behinderte Kinder, deren intellektuelle Fähigkeiten so weit entwickelt sind, daß sie die Lernziele der Grundschule noch teilweise oder ganz erreichen könnten, sind nicht schon deshalb leichter "integrierbar" als andere. Die Integration eines sog. lernbehinderten Kindes ist u.U. viel schwieriger als die eines sog. geistig behinderten Kindes. Die Meinung, je höher die intellektuellen Fähigkeiten entwickelt seien, desto leichter gelänge Integration, ist nach unseren Erfahrungen in Hamburg irrig und unhaltbar. Eine derartige Hierarchie läßt sich nicht aufstellen. Besonders schwierig ist es, verhaltensgestörte Kinder zu integrieren, weil Verhaltensstörungen von den Mitschülern im allgemeinen nur schwer als "Behinderung", als "nicht anders können" erkannt und akzeptiert werden. Sie sind zudem in ihren Auswirkungen häufig für alle Beteiligten nicht leicht zu ertragen. Gerade für diese Kinder ist es aber besonders wichtig, sie in ein gedeihliches gemeinsames Leben und Lernen einzubeziehen.

Würden nur sog. "pflegeleichte" behinderte Kinder in die allgemeine Schule aufgenommen, würden auf Dauer Schwierigkeiten in den Sonderschulen unverantwortbar vergrößert. Man beraubte die Sonderschulen ihrer "Elite".

Auch deshalb ist es also notwendig, Kinder aus dem ganzen Spektrum sog. "Sonderschulbedürftigkeit" aufzunehmen. Das heißt aber nicht: Alle Kinder mit Behinderungen, deren Eltern es wünschen, können auch tatsächlich ohne weiteres sofort in die allgemeine Schule aufgenommen werden. So wünschenswert das auch wäre, es ist de facto nicht möglich, wenn man sie dort nicht wieder wie vor der Einrichtung von Sonderschulen - im Bild gesprochen - "hinterm Ofen liegenlassen" will. Denn die allgemeine Schule ist auf ihre Förderung nicht hinreichend vorbereitet.

Grundsatz 2

2. Zur Aufnahme der behinderten Kinder müssen Aufnahmekommissionen gebildet werden, der Grund- und Sonderschulpädagogen angehören sollten. Aufgabe der Kommissionen sollte es sein, den Förderbedarf der Kinder festzustellen, bzw. zu bestätigen und ohne formalisiertes Verfahren in jedem Einzelfall zu prüfen, ob zu erwarten ist, daß ein Kind unter den gegebenen Bedingungen einer Integrationsklasse seinen Möglichkeiten entsprechend gefördert werden kann. Die Empfehlungen der Aufnahmekommissionen sollten Grundlage für die amtlichen Entscheidungen der zuständigen Behörde sein.

Zur Aufnahmekommission gehören in Hamburg:

  • ein/e Schulleiter/in der Grundschule,

  • ein/e Schulleiter/in einer möglichst nicht benachbarten Sonderschule,

  • ein Mitglied des künftigen Pädagogenteams (meist die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer) der Integrationsklasse.

Das Amt für Schule kann ein viertes Mitglied in die Kommission berufen mit der Aufgabe, die Interessen der Eltern wahrzunehmen. Außerdem können weitere Personen zur Beratung herangezogen werden.

Als gegebene Bedingungen sind beim Aufnahmeverfahren vor allem zu berücksichtigen:

  • die Räumlichkeiten der allgemeinen Schule,

  • die Zusammensetzung der Lerngruppe,

  • die Fähigkeit und Bereitschaft zu innerer Akzeptanz des behinderten Kindes bei Pädagogen, Eltern und Kindern der allgemeinen Schule,

  • die Möglichkeit, die aus fachlicher Sicht notwendige sonderpädagogische Betreuung (z.B. eines blinden Kindes) sicherzustellen.

Verantwortbar erscheint die Aufnahme eines behinderten Kindes nur, wenn diese Bedingungen seinen speziellen Bedürfnissen entsprechen oder ihnen angepaßt werden können. Schwer überwindbare Hindernisse ergeben sich in der Praxis vor allem dann, wenn eine notwendige sonderpädagogische Betreuung nicht bereitgestellt werden kann oder wenn die innere Bereitschaftzu ehrlicher Annahme des Kindes bei den Grundschulpädagogen nicht gegeben ist. Eine solche Bereitschaft läßt sich nicht erzwingen und sollte daher auch nicht einfach verordnet werden.

Der Auftrag an die Aufnahmekommissionen, die Aufnahmemöglichkeit jeweils ohne formalisiertes Verfahren zu prüfen, beinhaltet die Überzeugung: Die eigentlichen Experten sind in dieser Frage die Eltern und Pädagogen, u.U. auch die Ärzte und Therapeuten, die langjährige Erfahrungen im Umgang mit dem Kind gesammelt haben. Sie können der Aufnahmekommission wichtige Hinweise über dessen persönliche Entwicklung und seine spezielle Hilfsbedürftigkeit geben. Die Aufnahmekommisionen besuchen die Kinder deshalb in ihrem bisherigen Lebensraum (Vorschulklasse, Kindergarten, Familie) und führen ausführliche Gespräche mit den Erwachsenen, die das Kind bisher betreut haben. Die Empfehlungen der Aufnahmekommissionen haben sich in Hamburg außerordentlich bewährt. Von den 106 ihnen entsprechenden Aufnahmeentscheidungen mußte nur eine einzige nach zwei Jahren revidiert werden.

Grundsatz 3

3. Die Frequenz der Integrationsklassen sollte die Zahl 20 nicht wesentlich über- oder unterschreiten. Das Zahlenverhältnis zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern sollte je nach Art und Grad der Behinderung flexibel gestaltet werden. In der Regel sollten nicht weniger als zwei und nicht mehr als vier behinderte Kinder in einer Integrationsklasse sein.

Warum diese Richtwerte? Integrationsklassen dürfen sich m.E. nicht zu weit von der sog. "Normalität" einer allgemeinen Grundschulklasse entfernen, damit ihnen in der Öffentlichkeit nicht die gleiche negative Diskriminierung widerfährt, wie vielen Sonderschulen.

Wichtig für die integrative Erziehung ist der wohnortnahe Schulbesuch. Er bietet die besten Voraussetzungen dafür, daß die behinderten Kinder auch nachmittags in die Freizeitaktivitäten ihrer Mitschüler einbezogen werden. Die Aufnahme verhältnismäßig vieler behinderter Kinder pro Integrationsklasse hätte eine Konzenztration auf verhältnismäßig wenige Schulen zur Folge und widerspräche dem Prinzip des wohnortnahen Schulbesuchs.

In einer Gruppe von 2O Kindern ist nach unseren Erfahrungen eine positive Entwicklung des Lern- und Sozialverhaltens im allgemeinen eher zu erwarten als in wesentlich kleineren Gruppen von z.B. nur 15 Schülern. Mehr Kinder sind bei dieser Größenordnung von Lerngruppen nicht gleichzusetzen mit mehr Schwierigkeiten, wie manche glauben. Im Gegenteil. Mehr Kinder bringen auch mehr und vielseitigere Interessen und Fähigkeiten in eine Lerngruppe ein, und es werden vielfältigere wechselseitige Anregungen und verteiltere Sozialkontakte möglich.

Grundsatz 4

4. Gemeinsames Leben und Lernen behinderter und nichtbehinderter Kinder in Kindergarten und Schule sollte nur auf der Grundlage uneingeschränkter Freiwilligkeit aller Beteiligten verwirklicht werden.

Mit Druck oder Zwang zur Integration wird man eher Integrationsfeindlichkeit provozieren als alles andere und damit der Sache schweren Schaden zufügen. Aber Chancen für Erfahrungen gemeinsamen Lebens und Lernens in der Schule müssen eröffnet werden. Wir haben sie alle nötig. Der wechselseitigen Entfremdung behinderter und nichtbehinderter Menschen muß entgegengewirkt werden. Daß Integrationsklassen hierzu in hohem Maße beitragen können, hat sich im Hamburger Schulversuch gezeigt. Selbst über einen schwer und mehrfach behinderten Jungen, ich nenne ihn hier mal Klaus, der häufig unberechenbare Aggressionen gegenüber Sachen, aber auch Kindern und Erwachsenen zeigt, sagen die Pädagogen trotz der schweren Belastungen nach einer Weile des Sich-kennen-lernens: "Es ist schwer mit ihm, aber wir geben unseren Klaus nicht mehr her." Sie drücken damit zugleich die Meinung der Schüler, die zuhause von niemandem so viel wie von Klaus erzählen, und der Eltern ihrer Klasse aus. Wie hier haben sich in allen Integrationsklassen Kinder und Erwachsene auf menschliche Beziehungen eingelassen, die niemand mehr missen möchte und zu denen die jeweils Betroffenen in dieser Form sonst kaum eine Chance gehabt hätten.

Daß die gemeinsame Erziehung in der Grundschule von Eltern behinderter und nichtbehinderter Kinder durchgehend als positiv eingeschätzt wird, zeigen nicht nur die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung, sondern auch die ständig steigenden Zahlen der Eltern, die für ihr Kind die Aufnahme in eine Integrationsklasse wünschen. Das gilt auch für die Eltern nichtbehinderter Kinder, deren anfängliche Skepsis an allen Schulen mit Integrationsklassen immer größerer Zustimmung gewichen ist.

Der freie Entschluß aller Beteiligten zum Miteinander ist m.E. auch die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß sich gemeinsames Leben und Lernen in der Schule gedeihlich entwickelt und auf der Basis wechselseitiger Anteilnahme unersetzliche Lernchancen für behinderte und nichtbehinderte Kinder eröffnet werden können. Ich will hier nur von wenigen Erlebnissen in Integrationsklassen erzählen, die mich nachhaltig beeindruckt haben.

In eine Integrationsklasse 1 ist Christa (Name geändert) aufgenommen worden, ein sog. geistig behindertes Mädchen mit autistischen Zügen. Christa scheint nicht zu verstehen, was man ihr sagt, und kann selbst nicht sprechen. Sie nimmt von sich aus keinen Kontakt zu anderen auf und bedarf fast ständig einer Einzelbetreuung. In gemeinsame Aktivitäten kann sie nur kurzzeitig einbezogen werden. Wenn sich alle anderen Kinder in einen Kreis setzen, um ein Lied zu singen, setzt Christa sich mit in den Kreis, von der Erzieherin und einem anderen Kind an der Hand gefaßt. Sie verhält sich dann auch kürzere oder längere Zeit ruhig. Im Sportunterricht macht Christa teilweise mit. Laufen alle Kinder über eine Schwebebank, läuft sie mit. Es fällt ihr aber schwer, neue Bewegungsformen zu erfassen und nachzuvollziehen.

In Klasse 3 begegne ich Christa wieder und erhalte Kenntnis von dieser Begebenheit: Werner (Name geändert), ein "wilder", verhaltensschwieriger Schüler, fehlt. Christa fragt:"Wo ist Werner?" Mit der Antwort:"Werner ist krank, er kommt heute nicht", gibt sie sich zufrieden. Ein paar Tage später erscheint Werner mit Gipsbein wieder in der Klasse. Christa geht auf ihn zu und fragt: "Wo warst Du Werner? Was hast Du?" Werner: "Ich hab' mein Bein gebrochen." Christa: "Ist das schlimm? Tut das weh?" Werner: "Nee, da kann ich sogar mit Fußballspielen." Christa legt ihm die Hand auf die Schulter (Werner läßt sich das gefallen!) und sagt: "Das ist ja gut. Schön, daß du wieder da bist."

Christa kann in Klasse 3 weder lesen noch schreiben oder rechnen, sie kann auch verhältnismäßig einfache Spielregeln nicht erfassen, so daß es die Mitschüler schwer haben, sie in ihre Spiele einzubeziehen. Dennoch hat sich ein Miteinander entwikelt. Christa hat es gelernt, Kontakt zu ihren Mitschülern aufzunehmen und ihre Wünsche zu artikulieren. Die Mitschüler akzeptieren sie.

In eine andere Klasse ist Günther (Name geändert), ein sog. verhaltensgestörter Schüler aufgenommen worden. Er fällt mir sofort auf, weil er sich während einer ganzen Sportstunde in der Pausenhalle nicht in das gemeinsame Spielen eingebeziehen läßt, an dem alle anderen Kinder begeistert teilnehemen. Er turnt auf der Fensterbank herum, beschmiert die Fensterscheiben, wirft Blumentöpfe um, bringt die Schuhe seiner Mitschüler durcheinander und ist werder durch die Mitschüler noch durch die Pädagoginnen der Klasse, den Schulleiter und den Oberschulrat dazu zu bewegen, mitzuspielen.

In der nächsten Stunde gibt es Mathematikunterricht. Gespannt, was Günter nun anstellen wird, setze ich mich neben ihn. Und richtig, er legt los: Zerreißt langsam sein Rechenheft, verschmiert Seiten mit Tinte ausseinem Patronenfüller, leckt die Tinte ab, zerbröselt langsam sein Radiergummi, ärgert und stört andere Kinder, ist in ständiger unruhiger Aktivität und paßt überhaupt nicht auf. Plötzlich aber wird er neben mir ganz ruhig, blickt an die Tafel, tickt mich an und sagt: "Du, paß auf, jetzt gibt's Schwierigkeiten." Tatsächlich.

An der Tafel soll Katrin (Name geändert), ein Mädchen mit Down-Syndrom, logische Blöcke einander zuordnen: Kreis zu Kreis, Dreieck zu Dreieck usw. Es gelingt ihr erst, als die Lehrerin sie die Form intensiv mit den Fingern hat fühlen lassen. Sobald Karin die Aufgabe gelöst hat, wird Günter wieder unruhig und geht wie vorher seinen fragwürdigen Aktivitäten nach. Doch plötzlich wird er wieder still, tickt mich an und sagt: "Du, paß auf, jetzt gibt's noch mehr Schwierigkeiten." Er hat recht. Sabine (Name geändert), auch ein Mädchen mit Down-Syndrom, schafft es nicht, die Aufgabe zu lösen. Die Lehrerin versucht es wieder mit ihrer "Fühlmethode", vergeblich. Sabine greift in den Beutel, guckt schnell und ordnet dann Kreis zu Dreieck, Dreieck zu Quadrat usw.

Die Lehrerin ist ratlos und läßt sie resignierend gewähren. Da erhebt sich plötzlich Günter von seinem Platz, tippt sich mit seinem Zeigefinger an die eigene Stirn und ruft der Lehrerin erregt zu: "Du merkst ja gar nicht, was sie will! Sie macht nicht nach der Form, sie macht nach der Farbe!" Und in der Tat, Sabine ordnete rot zu rot, gelb zu gelb usw. Günter hatte das Geschehen so konzentriert und mit innerer Anteilnahme verfolgt, daß er eher als alle anderen die Situation erfaßt hatte. Diese und andere Erfahrungen in der Integrationsklasse stärken Günters Selbstwertgefühl und tragen dazu bei, daß seine Verhaltensschwierigkeiten, allerdings nur langsam und immer wieder durch Rückfälle unterbrochen, allmählich geringer werden. In Klasse 3 dürfen die Kinder sich nach einer Stunde über verschiedene Nußarten Nüsse knacken. Günter geht mit einem Beutel voller Nüsse zu Sabine und fragt sie:

"Du, wollen wir knacken und sofort essen, oder erst einen Haufen knacken und dann essen?" Sabine entscheidet sich für den Haufen. So verfahren sie. Sabine gelingt es nur, wenige Nüsse zu knacken und einen heilen Kern zum Vorschein zu bringen. Trotzdem sorgt Günter dafür, daß sie am Schluß einen mindestens ebenso großen Teil von dem gemeinsamen Häuflein erhält, wie er selbst. Dann schmausen sie....

Ich habe von diesen Erlebnissen erzählt, weil ich immer wieder erfahre, viele Eltern und auch Pädagogen können sich einfach nicht vorstellen, daß sich beim gemeinsamen Leben behinderter und nichtbehinderter Kinder in der Schule auch wirklich Herzerfreuliches ereignet. Häufig überwiegen die Befürchtungen, es müsse zu unverantwortbaren oder gar unerträglichen wechselseitigen Belastungen kommen. Nun soll mit diesen Beispielen keineswegs der Eindruck hervorgerufen werden, als gäbe es in den Integrationsklassen so etwas wie eine Idylle sozialen Miteinanders. Es soll lediglich deutlich werden, daß bei integrativer Erziehung Lernsituationen mit Vorteilen für behinderte und nichtbehinderte Kinder entstehen, die in gleichem Maße weder in allgemeinen Grundschulklassen noch in Sonderschulen gegeben sind.

Die Herausforderung zum Lernen wird in Integrationsklassen für alle Beteiligten immer dann am größten, wenn zunächst unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten bewältigt werden müssen. Es bedarf wirklich besonderer Kreativität und eines guten Einfühlungsvermögens nichtbehinderter Kinder, um mit Christa, die Spielregeln nicht begreift oder sich nicht an sie halten will, so zu spielen, daß alle ihre Freude daran haben. Es gibt dabei auch Krach, Streit und Unmut. Erstaunlich ist es aber immer wieder, wie Kinder durch das Verändern von Spielregeln und -inhalten, Arbeitsformen und -vorhaben Brücken zueinander schlagen, so daß ihnen plötzlich gemeinsames Spielen und Arbeiten auf neu entdeckter Basis gelingt.

Häufig ist zu beobachten, daß sich behinderte Kinder, angespornt durch ihre Mitschüler, Ziele setzen, mit denen sie sich selbst überfordern.

Marcus (Name geändert), ein sog. geistigbehinderter Junge, hat im Laufe der Klasse 1 mit den anderen Kindern lesen und schreiben gelernt. Zu Beginn der Klasse 2 lernen seine Mitschüler nun die lateinische Ausgangsschrift. Dazu ist Marcus wegen nicht hinreichend entwickelter feinmotorischer Fähigkeiten nicht in der Lage. Er will, kann aber nicht wie die anderen und hadert mit sich und der Welt. Marcus ist auch nicht dadurch zu trösten, daß seine Lehrer ihm immer wieder sagen, er brauche das jetzt nicht zu lernen, sie freuten sich über seine Druckschrift. Marcus Kummer bereitet allen Sorge. Bewahrheitet sich nun die Befürchtung vieler Sonderpädagogen, daß die behinderten Kinder entmutigt werden und das Lernen resigniert aufgeben, wenn sie immer deutlicher merken, daß sie dem Lerntempo der anderen Kinder nicht gewachsen sind? Daß es nicht so sein muß, lernen wir mit Marcus.

Zunächst wird deutlich, daß die Hauptursache von Marcus Kummer die Erwartungshaltung seiner Mutter ist. Obwohl sie meint, es Marcus nicht spüren zu lassen, hofft sie insgeheim, daß er die Lernziele der Grundschule doch wenigstens so im großen und ganzen erreicht. Sie "fördert" ihn daher, wann immer sie kann. In einer solchen "Fördersituation" fragt Marcus sie einmal ganz unvermittelt: "Willst Du mich totmachen?" Mit dieser Frage hat er den Nagel auf den Kopf getroffen. Nach mehreren Gesprächen gelingt es der Mutter schließlich, ihren Jungen in seiner besonderen Eigenart mehr und mehr wirklich anzunehmen und seine Lebensbedürfnisse nicht nur notgedrungen, sondern mit ehrlicher Freude zu respektieren.

Im gleichen Maße, wie sich Marcus von seiner Mutter, seinen Lehrern und Mitschülern angenommen fühlt, schwindet sein Kummer. Er lernt es, seine Schwächen zu erkennen, anzunehmen und mit ihnen zu leben. Das geht bei ihm und vielen anderen behinderten Kindern nicht mal eben schnell und leicht so nebenbei, sondern ist immer erneut ein "harter", zeitweise schmerzlicher Lernprozeß. Gerade der aber bringt die Kinder in ihrer Entwicklung häufig entscheidend voran. Deshalb müssen wir durch ein verständnisvolles Miteinander gewährleisten, daß die behinderten Kinder die "Härten meistern lernen", statt danach zu trachten, sie ihnen ganz zu "ersparen". Wir entmündigten sie dann doch von vornherein, weil wir ihnen Lernmöglichkeiten vorenthielten. Denn wie soll ein behindertes Kind sich und seine Schwierigkeiten seinen Möglichkeiten entsprechend erkennen, annehmen und mit ihnen leben lernen, wenn es eben diese Akzeptanz nicht von nichtbehinderten Kindern und Erwachsenen aus seinem unmittelbaren natürlichen Lebensumfeld erfährt?

Den Pädagogen in Integrationsklassen erscheint es beachtlich, wie die behinderten Kinder eigene Mißerfolge verkraften, Enttäuschungen überwinden und mit verringertem Anspruch an sich selbst wieder aktiv werden. Den Grund für derartige Erfolge sehen die Pädagogen in der Atmosphäre des gegenseitigen Angenommenseins. Kein Kind braucht zu befürchten, aufgrund bestimmter Leistungsschwächen menschlich weniger akzeptiert oder gar aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Die nichtbehinderten Kinder erfahren dabei geradezu exemplarisch, daß Leistungsfähigkeit nicht der Gradmesser für menschliche Zuwendung sein kann. Negative Erscheinungen sozialen Verhaltens, wie Freundschaftsbildungen ausschließlich zwischen sog. "guten" Schülern und gar keine Freundschaften oder so etwas wie Schutz- und Trutzbündnisse zwischen sog. "schlechten" Schülern, können in Integrationsklassen eher als in allgemeinen Grundschulklassen überwunden werden.

Die Qualität der allgemeinen Schule wird nicht nur, vielleicht nicht einmal vorrangig, durch die Qualität ihrer Lehrer bestimmt, sondern in hohem Maße auch durch die Lebendigkeit ihrer Schüler mit ihren vielfältigen individuellen Interessen und Fähigkeiten. Die wechselseitige Stimulation "gleichaltriger Miterzieher" auch für behinderte Kinder kann man nicht erzwingen. Sie sollte in ihrer Bedeutung aber nicht unterschätzt und mehr als bisher ermöglicht werden.

Stimulation zur Entwicklung eigener Fähigkeiten vorrangig oder gar nahezu ausschließlich über die Lehrerin oder den Lehrer ist eine fragwürdige Verarmung, so lebendig und fähig die Pädagogin oder der Pädagoge auch immer sein mag.

Voraussetzung dafür, daß gemeinsames Leben und Lernen gelingt, ist aber nicht nur die Zustimmung aller Beteiligten, sondern auch die Fähigkeit der allgemeinen Schule, sich zu verändern. Integration behinderter Kinder ist vor allem eine Herausforderung an die allgemeine Schule.

Grundsatz 5

5. Das Selbstverständnis der Grundschule muß sich wandeln. Es müssen neue Formen der Unterrichtsgestaltung entwickelt werden, die mehr Gewicht auf Gemeinsamkeit beim Lernen legen, Leben und Lernen enger miteinander verbinden und verstärkt binnendifferenzierende Maßnahmen, handlungsorientiertes Lernen sowie freies und projektorientiertes Arbeiten verwirklichen. Die pädagogische Arbeit muß daher koordiniert und durch eine unterrichtsbegleitende dezentrale Lehrerfortbildung unterstützt werden.

Von den behinderten und nichtbehinderten Kindern in Integrationsklassen habe ich gelernt, daß meine ursprüngliche Skepsis dem Schulversuch gegenüber zu einem erheblichen Teil durch einen beschränkten Integrationsbegriff bedingt war. Ich glaubte nämlich, daß Integration nur dann sinnvoll sei, wenn es gelänge, mit behinderten und nichtbehinderten Kindern geplant und zielgerichtet gemeinsame Unterrichtsaktivitäten mit wechselseitigem Nutzen für alle durchzuführen. Von einer derartig einseitigen Vorstellung von integrativer Unterrichtsgestaltung scheint mir auch Prof. Feuser nicht ganz frei zu sein, wenn er fordert, es müsse dafür Sorge getragen werden, daß alle Kinder, zwar sehr wohl mit unterschiedlicher Aufgabenstellung, aber doch immer gemeinsam, am gleichen Gegenstand (z.B. "Müll") tätig seien. Die Verwirklichung einer derartigen Konzeption integrativer Unterrichtsgestaltung schien mir einerseits eine grenzenlose Überforderung unserer Lehrer zu sein und andererseits den sich, insbesondere bei größerer Lernprogression in den Klassen 3 und 4, immer stärker auseinanderentwickelnden Interessen und Fähigkeiten der Kinder nicht angemessen. Daher meine Skepsis.

Inzwischen weiß ich, daß behinderte und nichtbehinderte Kinder am ehesten dann die ihren Möglichkeiten entsprechenden Lern- und Entwicklungschancen erhalten können, wenn es gelingt, eine Unterrichtsgestaltung zu verwirklichen, die Kindern in ausgewogenem Verhältnis Gelegenheit zu individuellem und gemeinsamen Tun in Form freier und gelenkter Aktivitäten gibt und ihnen dabei jeweils hinreichend Zeit und Raum zu wechselseitiger Begegnung gewährt.

Integrative Unterrichtspraxis bedarf sowohl einer Differenzierung nach Methoden und Medien als auch nach Inhalten, damit sie den unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten der Kinder gerecht werden kann. Es ist in vielen Fällen weder wünschenswert noch sinnvoll, daß alle Kinder am gleichen Gegenstand arbeiten. Auch wenn sie in einem Klassenraum zeitgleich ganz unterschiedlichen Aktivitäten nachgehen, kommt es zu einer Fülle wechselseitiger Begegnungen und Anregungen.

Zu den Zielsetzungen des Hamburger Schulversuchs gehört es, herauszufinden, wie Phasen individuellen und gemeinsamen Lernens in der Grundschule zu gestalten sind und wie sich ihr Verhältnis zueinander entwickelt. Wir haben erfahren, daß die Individualität der behinderten Kinder hier kaum Verallgemeinerungen zuläßt und daß schulische Integration noch keineswegs einfach als gescheitert gewertet werden darf, wenn gemeinsame Aktivitäten an gleichen Lerninhalten nur selten oder gar nicht verwirklicht werden können. Die Pädagogen/innen in Integrationsklassen sind darum bemüht, gemeinsames Lernen, wo immer es ermöglicht werden kann, auch zu verwirklichen. Aber jede verordnete Gemeinsamkeit führt auch hier eher zu Krampf und gegenseitiger Ablehnung als zur Gestaltung einer Lebens- und Lernumwelt, in der sich alle miteinander wohlfühlen und ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert werden können.

Unterrichtsgestaltung nach den dargestellten Prinzipien der Differenzierung und flexiblen Lernorganisation hat bewirkt, daß der Leistungsstand der Kinder in den Hamburger Integrationsklassen keineswegs niedriger ist als in vergleichbaren Grund- bzw. Sonderschulklassen. Diese Einschätzung der im Versuch tätigen Pädagogen/innen ist durch Untersuchungen der wissenschaftlichen Begleitung bestätigt worden.

Zur Wandlung des Selbstverständnisses einer Grundschule, die integrative Erziehung zu ihrer Aufgabe macht, gehört es auch, das System der normorientierten Leistungsbewertung durch Notenstufen zu überwinden. Es steht in krassem Widerspruch zu den tragenden pädagogischen Prinzipien integrativer Arbeit in der Grundschule. Hier geht es nicht um "gerechte" Bewertungen im Leistungsvergleich, sondern um eine jedem einzelnen Kind gerecht werdende Beurteilung seines Lernverhaltens und seiner Arbeitsergebnisse. PESTALOZZI hat 1790 formuliert: "Ich vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, sondern nur jedes Kind mit ihm selbst."

Seit einer 1985 erfolgten Novellierung des Schulgesetzes können in Hamburger Grundschulen auch in den Klassen 3 und 4 Berichtszeugnisse erteilt werden, wenn die Eltern der jeweiligen Klasse mit einfacher Mehrheit so entscheiden. Damit ist die notenfreie Grundschule möglich geworden, denn in den Klassen 1 und 2 werden ohnehin seit vielen Jahren Berichtszeugnisse erteilt. Mit 2 Ausnahmen haben sich in Hamburg bisher alle Integrationsklassen für Berichtszeugnisse entschieden. Für die behinderten Kinder ist nach den für die Integrationsklassen festgelegten Rahmenbedingungen die Leistungsbewertung in Berichtsform obligatorisch.

Derart tiefgreifende und weitreichende Veränderungen in der Grundschulpädagogik, wie sie für die Integration behinderter Kinder notwendig sind, können auf Dauer nur erfolgreich gestaltet werden, wenn die pädagogische Arbeit koordiniert wird und die in den Klassen tätigen Pädagogen sowohl an einer vorbereitenden als auch einer unterrichtsbegleitenden Fortbildung teilnehmen. In klassenstufenbezogen organisierten Seminaren müssen Erzieher/innen, Grund- und Sonderschullehrer/innen Gelegenheit zur Vorbereitung auf ihre Arbeit, zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch und zum Miteinander-Lernen erhalten. Wir haben in Hamburg mit einer entsprechenden Fortbildungsarbeit begonnen, sind aber wegen begrenzter personeller Ressourcen nicht so weit, wie es wünschenswert wäre.

Grundsatz 6

6. Für die Integrationklassen sollte eine personelle Versorgung gewährleistet sein, die ein Zwei-Pädagogen-System ermöglicht. Hinreichende grund- und sonderpädagogische Kompetenz sollte gesichert sein. Darüber hinaus sollte den Grundschulen mit Integrationsklassen wie den Sonderschulen ein situationsbezogener flexibler Einsatz ihres pädagogischen Personals ermöglicht werden.

Für eine integrative Unterrichtspraxis mit ihrem hohen Differenzierungsgrad hat sich ein Zwei-Pädagogen-System als sehr günstig erwiesen. Individuelle Betreuung von Kindern, Formen der Gruppenarbeit und des partnerschaftlichen Lernens lassen sich dann wesentlich besser verwirklichen. In Hamburg hat sich die Zusammenarbeit von Grundschullehrern/innen und Erziehern/innen gut bewährt. Sie sind i.d.R. immer zu zweit in der Klasse. Hinzu kommt stundenweise (2,5 Wochenstunden pro behindertes Kind) ein/e Sonderpädagoge/in, der/die für die sachgerechte schulische Betreuung der behinderten Kinder verantwortlich ist. Zu seinen/ihren Aufgaben gehört es vor allem, Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen zu beraten, in der Klasse mitzuarbeiten und ggf. behinderte Kinder auch zeitweise einzeln zu fördern.

Insbesondere weil Pädagogen im allgemeinen nicht darauf vorbereitet sind, kann ihre Zusammenarbeit im Team zu großen Schwierigkeiten führen. Probleme entstehen vor allem dann,

  • wenn ein/e Grundschullehrer/in seit 25 Jahren genau weiß, wie in einer Grundschulklasse gearbeitet werden muß, und zu wichtigen Veränderungen nicht bereit oder fähig ist,

  • wenn ein/e Sonderschullehrer/in aufgrund langjähriger Sonderschulerfahrungen genau weiß, wie sonderpädagogische Förderung durchgeführt werden muß, und nicht bereit oder in der Lage ist, die veränderte Situation bei integrativer Erziehung angemessen wahrzunehmen und zu berücksichtigen,

  • wenn ein/e Erzieher/in die Schule vor allem als Institution der Repression sieht, die mit allen Mitteln umfunktioniert werden muß.

Wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Pädagogen/innen ist m.E. eine liebevolle Offenheit miteinander von Anfang an und die Bereitschaft, frei von Schuldzuweisungen und Schuldgefühlen in wechselseitiger Toleranz die erforderlichen Akzentsetzungen und Veränderungen in Unterricht und Erziehung gemeinsam vorzunehmen. Am schwierigsten ist dabei die Rolle der Sonderpädagogen/innen, weil sie nicht immer anwesend sein können. Außerdem neigen Grundschullehrer/innen und Erzieher/innen dazu, von ihrer Fachkompetenz zu viel zu erwarten und zu hohe Ansprüche an sie zu stellen.

Viele in den Integrationsklassen tätigen Pädagogen/innen wünschen sich eine Supervision. Wir können sie bisher leider nur in Ausnahmefällen ermöglichen. Es ist bisher noch nicht zufriedenstellend gelungen, ernste Spannungen zu vermeiden, die durch mangelhafte Teamfähigkeit meist einzelner Beteiligter entstehen. Aber überall, wo sich die Zusammenarbeit, wie in der großen Mehrzahl aller Teams, gedeihlich entwikelt, fühlen die Pädagogen/innen sich durch das gemeinsame Tragen von Verantwortung entlastet und nutzen die Chancen, die durch das breitere Spektrum von Fähigkeiten mehrer Erwachsener für die Gestaltung von Unterricht und Erziehung gegeben sind.

Grundsatz 7

7. Das Bemühen um Integration kann nicht auf eine Klasse oder einen Zug einer Grundschule begrenzt werden. In allen Klassen einer Grundschule mit Integrationsklassen müssen Kinder mit Beeinträchtigungen in ihrer geistigen, seelischen oder körperlichen Entwicklung eine angemessene sonderpädagogische Betreuung erhalten.

Eltern, deren Kinder an einer Schule mit Integrationsklassen die normalen Grundschulklassen besuchen, zeigen kein Verständnis dafür, daß Schüler, bei denen im Laufe der Grundschulzeit z.B. Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen erkannt werden, ihre Schullaufbahn an einer Sonderschule fortsetzen sollen. Sie fordern auch für diese Kinder eine angemessene sonderpädagogische Betreuung in der Grundschule und empfinden das Fehlen einer solchen Betreuung als Ungleichbehandlung und grobe Ungerechtigkeit gegenüber Kindern in den Integrationsklassen. Auf lange Sicht muß es daher darum gehen, nicht nur Grundschulen mit einem Integrationszug der Klassen 1-4 einzurichten, sondern sie zu integrierenden Grundschulen fortzuentwikeln. Meine Zielvorstellung: An eine zwei- bis vierzügige Grundschule mit einem voll ausgebauten Integrationszug müßten etwa zwei Sonderpädagogen/innen mit voller Stundenzahl und vier Erzieher/innen mit je 30 Wochenstunden abgeordnet werden. Durch eine Verknüpfung des Schulversuchs mit der Maßnahme "Sonderpädagoge an Grundschulen" ist diese Zielvorstellung an sieben der 11 Grundschulen mit Integrationsklassen zumindest teilweise bereits erfüllt.

Die Möglichkeit zur Aufnahme behinderter Kinder in die allgemeine Schule und die Bereitwilligkeit der Lehrer, sich dieser Aufgabe zu stellen, sind in starkem Maße abhängig von der personellen Ausstattung der Schule. Da der Bedarf sonderpädagogischer Betreuung einerseits abhängig ist von der Zusammensetzung der Klasse und andererseits von den sich im Laufe der Schuljahre wandelnden Bedingungen für das gemeinsame Leben und Lernen der Kinder, erscheint es nach den Erfahrungen in Sonderschulen und Integrationsklassen vor allem geboten, Schulen, die sich um die Förderung behinderter Kinder bemühen, in verstärktem Maße einen flexiblen Einsatz ihres Personals zu ermöglichen. Jede organisatorische starre Zuordnung von einzelnen Pädagogenstunden muß vermieden werden.

Über den Einsatz der Sonderpädagogen/innen und Erzieher/innen müssen die Schulen in eigener Verantwortlichkeit selbst entscheiden können. Denn vor Ort weiß man am besten, wie die vorhandenen Kräfte am sinnvollsten eingesetzt werden können. Sonderpädagogen/innen und Erzieher/innen müssen nicht nur in den Integrationsklassen, sondern auch in den anderen Grundschulklassen in dem Maße tätig werden dürfen, wie es die Situation erfordert.

Grundsatz 8

8. Um ihre sonderpädagogischen Aufgaben in den integrativen und allgemeinen Grundschulklassen angemessen wahrnehmen zu können, müssen Sonderschullehrer/innen mit ihrer vollen Stundenzahl an die Grundschule abgeordnet werden; nur so können sie als Personen in das Kollegium und mit ihrem Aufgabenfeld in die Arbeit der Grundschule integriert werden. Darüber hinaus muß eine Vielfalt schulischer Maßnahmen (z.B. mobile Beratungs- und Einsatzdienste, flexible Möglichkeiten zur Reduzierung bzw. Verstärkung des Einsatzes personeller und materieller Ressourcen) entwickelt werden, die der Vielschichtigkeit der Aufgaben schulischer Integration angemessen ist.

Hier gibt es in Hamburg noch viel zu tun. Eine pädagogisch angemessene Förderung der behinderten Kinder in der allgemeinen Schule muß wie in der Sonderschule je nach Behinderungsart und -grad in sehr unterschiedlicher Weise erfolgen. Daran können neben Sonderschullehrern auch Grund-, Haupt- und Realschullehrer sowie Erzieher bzw. Therapeuten in sehr wechselndedn Anteilen mitwirken. So können nicht nur die "gleichaltrigen Miterzieher", sondern auch Grund-, Haupt- und Realschullehrer verstärkt in die Arbeit mit behinderten Kindern einbezogen werden.

Sonderpädagogen dürfen aber nicht nur zur Beratung ihrer Kollegen (womöglich noch an verschiedenen Schulen) und zu ambulanter Einzeltherapie eingesetzt werden. Sie brauchen weiterhin ein Kollegium, in dem sie sich heimisch fühlen können, und vielen von ihnen muß auch Gelegenheit zu kontinuierlichem Unterricht mit einer Lerngruppe gegeben werden, weil sie auf diese Weise ihre eigentlichen pädagogischen Fähigkeiten so entfalten können, daß sie für andere Kollegen erfahrbar und hilfreich werden.

Grundsatz 9

9. Integration in der Grundschule sollte zunächst als alternatives Angebot zur Betreuung behinderter Kinder in Sonderschulen und nichtbehinderter Kinder in allgemeinen Grundschulen entwickelt werden.

Die Parole kann und darf nicht lauten: "Schafft die Sonderschulen ab!", sondern muß heißen: "Macht die Sonderschulen durch entsprechende Veränderungen der allgemeinen Schulen, soweit irgend möglich, überflüssig!" Dazu ist immer wieder, beharrlich und unermüdlich die Diskussion um die Sache notwendig, es bedarf weiterer verläßlicher Erfahrungen und zusätzlicher personeller und materieller Ressourcen. Vermieden werden sollte in jedem Falle eine Konfrontation auf politischer Ebene und "das Sortieren von Argumenten nach Parteifarben" (Prof. Joist GROLLE auf dem Bundeselterntreffen für Integration in Hamburg 1987).

Grundsatz 10

10. Eine Konzeption zur Integration Behinderter in der Grundschule sollte in gemeinsamer Verantwortung und kollegialer Zusammenarbeit der auf den verschiedenen Ebenen zuständigen Grund-und Sonderschulpädagogen entwickelt werden.

Nach meiner Einschätzung wird es in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sein, daß Schulverwaltungen Kinder mit Beeinträchtigungen in ihrer geistigen, seelischen und körperlichen Entwicklung gegen den Willen der Eltern zum Besuch von Sonderschulen zwingen. Die allgemeinen Schulen sollten die Ungeduld vieler Eltern nicht weiter provozieren, sondern die Zeit nutzen, und die nötigen Erfahrungen sammeln, damit sie gerüstet sind für die neue Aufgabe. Bewegung ist hier europaweit zu beobachten. In England gibt es z.B. einen bemerkenswerten Begriffswandel: Kinder mit Behinderungen heißen dort nicht mehr "handicaped children", sondern "children with special needs", also Kinder, die spezieller, gezielter Hilfen bedürfen. Sie ihnen zukommen zu lassen, müssen allgemeine Schulen mehr als bisher fähig werden. Das gilt auch für weiterführende Schulen. Deren Tore darf man nicht einfach geschlossen halten. Aber es muß den Schulen überlassen bleiben, welche Formen sie entwickeln. Ich halte in der Sekundarstufe sowohl integrierte und teilintegrierte als auch gesonderte Förderung für möglich und notwendig. Die Fortsetzung der Integration sollte man sich in den weiterführenden Schulen nicht ausschließlich in Integrationsklassen vorstellen. Auch wenn es "nur" gelingt, Gruppen behinderter Kinder dort "einzusiedeln", könnte der Entfremdung behinderter und nichtbehinderter Menschen nach meiner Überzeugung erfolgreicher als bisher entgegengewirkt werden.

Allen, die Angst vor entsprechenden Veränderungen haben, sei abschließend gesagt: Die Integration von Kindern "with special needs" eröffnet Chancen für alle Beteiligten,

  • Chancen für Kinder und Eltern, neue Erfahrungen miteinander zu machen.

  • Chancen für die allgemeine Schule, eine pädagogische Arbeit zu verstärken, die, wie es der ehemalige Hamburger Schulsenator Prof. J. Grolle einmal formuliert hat, dem "Menschen nicht die Würde seiner Individualität" nimmt, sondern jedes Kind seinen Möglichkeiten entsprechend fördert. Das ist für alle Kinder in der Schule notwendig!

  • Chancen für die Schulverwaltung, kreative Flexibilität zu entwickeln, d.h.: bei der Verteilung von Ressourcen nicht jedem das Gleiche zuzuteilen, sondern Organisationsformen zu verwirklichen, die es den mit den Kindern lebenden und arbeitenden Pädagogen ermöglichen, in eigener Verantwortung "jedem Kind das Seine" (Senator Prof. J. GROLLE auf dem Bundeselterntreffen für Integration, Hamburg 1987) zukommen zu lassen.

Quelle:

Holger Müller: Integration aus der Sicht der Schulbehörde

In: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 25-48

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.08.2006

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