Die Beschulung hörgeschädigter Kinder in der Nordwestschweiz

Autor:in - René J. Müller
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: (Der Beitrag wurde erstmalig veröffentlicht in "Hörgeschädigte Kinder", Hamburg. 1. Teil in Heft 1994/4, 2. Teil in Heft 1995/1.)
Copyright: © René J. Müller 1995

Einleitung

(Überschrift von Bidok)

Als ich Mitte September 1994 von Prof. Dr. Klaus-B. Günther angefragt wurde, ob ich bereit sei, einen Beitrag zum Thema Integration zu verfassen, zögerte ich vorerst. Sollte ich mich auf dieses Thema überhaupt einlassen? Dazu ist doch schon so viel gesagt und geschrieben worden! Nur allzuviel wird polemisiert und ideologisiert, und da möchte ich nicht mitmachen. Dazu noch dieses überstrapazierte Schlagwort Integration! Was man unter diesem Namen alles versteht?! Ich weiß nicht! Ich spreche lieber von gemeinsamem Unterricht, von gemeinsamem Leben und Erleben. Integration hat oftmals den Beigeschmack von einem Prozeß, bei dem es nur darauf ankommt, geeignete Reaktionsbedingungen bereitzustellen und anschließend sicherzustellen, daß die Reaktion auch gezielt abläuft. Damit erlangt der Machbarkeitsgedanke ein zu großes Gewicht. Diese Aspekte sind für eine erfolgreiche gemeinsame Erziehung und Beschulung zwar auch wichtig, aber für die Qualität des Erfolgs sind die Details die entscheidenden Komponenten: Die Lehrerin, der Lehrer, die Therapeutin, das Vertrauen in die Fähigkeiten des behinderten Mädchens oder des behinderten Jungens, das Vermögen des Beraters, der Beraterin, den Eltern Zuversicht und Vertrauen bezüglich des Entwicklungspotentials ihres Kindes zu vermitteln. Soll ich mich dazu wirklich äußern? Dazu ist das Thema integrative Beschulung für einzelne Leute geradezu ein Wort, das angeblich Brechreiz auslösen soll, ein Reizwort also. Ich möchte jedoch niemanden dazu reizen, sich übergeben zu müssen. Es gibt Personen, die noch immer bei der Frage verharren, ob eine gemeinsame Beschulung hörender und hörgeschädigter Kinder überhaupt möglich sei. Genausogut könnte man sich fragen. ob es wohl möglich sei, daß ein Gewitter losbricht, wenn an einem heißen Sommertag gewaltige Cumuluswolken übers Land ziehen! Für mich sind das alles überhaupt keine echten Fragen.

Wenn man die Bildungsmöglichkeiten für hörgeschädigte Mädchen und Jungen in den deutschsprachigen Ländern betrachtet, fällt auf, daß eine riesige Heterogenität besteht. Da gibt es ganze Landstriche, in denen selbst mittelgradig schwerhörige Kinder noch in Sonderschulen unterrichtet werden, und da gibt es Gegenden, in denen selbst resthörige und gehörlose Kinder in Regelschulen sind. Was gibt es dazu schon zu sagen? Etwa, daß das eine ungerechte Situation sei? Ungerechtigkeiten gibt es aber in allen Bildungssystemen.

Dennoch möchte ich dem Wunsch nachkommen und vorerst einige der Prinzipien aufzeigen, wie sie für uns bei der gemeinsamen Beschulung hörgeschädigter und normal hörender Kinder in der Nordwestschweiz Gültigkeit haben. In einem zweiten Teil soll anhand einer konkreten Situation aufgezeigt werden, wie der Gemeinsame Unterricht praktiziert wird. Betroffene Eltern äußern sich dazu aus ihrer individuellen Sicht. Abschließend stellen eine Regelschullehrerin und ein Hörgeschädigtenlehrer stichwortartig dar, wie sie den gemeinsamen Unterricht ihrer hörgeschädigten Kinder erleben und welche Auswirkungen dies auf ihren Unterricht hat.

1. Konzept und Theoretische Grundlagen

Während in einigen Gegenden noch darüber diskutiert wird, ob Gebärdensprache, Bilingualismus, alte orale Methode oder moderne hörgerichtete Sprach- und Sprecherziehung der richtige Weg bei der Beschulung hörgeschädigter Mädchen und Jungen sei, ist dies in der Nordwestschweiz - und auch in weiten Teilen der übrigen deutschsprachigen Schweiz - keine Diskussion. Seit den sechziger Jahren hat der prozentuale Anteil hörgeschädigter Mädchen und Jungen in Regelschulen kontinuierlich zugenommen. So werden heute in der deutschsprachigen Schweiz zwischen 80 und 90 Prozent aller hörgeschädigten Kinder mit einem Hörverlust bis zu 90 dB auf dem besseren Ohr in Regelschulen unterrichtet (Müller 1994 S. 33 ff.). Bei vielen dieser Kinder wäre es gewiß falsch von Integration zu sprechen; daß sie in Regelklassen sind, ist eine Selbstverständlichkeit. Zunehmend werden angehende Lehrerinnen und Lehrer bereits in ihrer Ausbildung auf das Vorhandensein von hörgeschädigten Kindern in Regelklassen vorbereitet. Die schulische Leistungsfähigkeit hörgeschädigter Mädchen und Jungen hat sich als absolut vergleichbar mit jenen ihrer normal hörenden Mitschüler und Mitschülerinnen erwiesen (Müller 1994 S. 110). Auch ihre psychosoziale Befindlichkeit ist vergleichbar mit jener normal hörender Kinder und Jugendlicher (Elmiger 1992, S. 106, Müller 1994, S. 167 ff.)

In der Nordwestschweiz ist die Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen zusammen mit der Wielandschule Arlesheim (GSR) für die hörgeschädigtenspezifische Beschulung bzw. Unterstützung zuständig. Obwohl wir über eine Sonderschule für Hörgeschädigte verfügen, entspricht die Bezeichnung unserer Einrichtung nicht der realen Situation. Viel mehr stellen wir ein überregionales Förder- und Therapiezentrum für hör- und sprachgeschädigte Kinder und Jugendliche dar. Bisher haben wir allerdings noch keinen geeigneten Namen gefunden, der alle Aspekte kurz und bündig beinhalten würde.

Das Einzugsgebiet umfaßt eine Bevölkerung von etwa einer halben Million. In der Sonderschule werden derzeit zwischen 25 und 30 Kinder unterrichtet. Bei jedem Kind wird immer wieder sorgfältig abgeklärt, ob eine Umplazierung in die Regelschule am Wohnort möglich ist. Einige dieser Kinder werden daher teilintegrativ unterrichtet. Das heißt, daß sie einzelne Halbtage regelmäßig in ihrer künftigen Klasse am Wohnort besuchen. Durch eine frühe Erfassung und intensive hörgerichtete Frühförderung (ein- bis mehrmals pro Woche) durch die Audiopädagoginnen treten die meisten Kinder jedoch nie in den Kindergarten der Gehörlosenschule oder in die Sonderschule ein. Diese Kinder werden in Regelkindergärten und Regelklassen von der GSR aus durch 'Wanderlehrerinnen' und 'Wanderlehrer' ambulant unterstützt. Die Arbeit der WanderlehrerInnen wird jeweils auf die individuelle Situation angepaßt: Von einer informellen Beratungstätigkeit bis hin zum Teamteaching ist alles möglich.

Das Ausmaß der sonderpädagogischen Förderung richtet sich nach den individuellen Erfordernissen. Schwerpunkte liegen in den Bereichen Sprache, Kommunikationsfähigkeit, Lesen und Schreiben auf der Basis einer natürlichen Hörgerichtetheit. Daß dies eine höchstmögliche Ausnützung des Restgehörs verlangt, ist klar. Neun der betreuten Kinder haben ein Cochlear Implant (CI). Zurzeit sind bei uns sechs WanderlehrerInnen angestellt.

Unser Ziel ist, daß jedes hörgeschädigte Kind, ungeachtet seines Hörverlustes und seiner allenfalls zusätzlichen Schädigungen zusammen mit normal hörenden Kindern seine Schulzeit verbringen kann. In der Regel soll das Kind dabei durch einen natürlichen hörgerichteten Spracherwerb beschult werden. Vergleichbar ist unser Konzept in vielen Teilen mit jenem von Leicestershire, England (Harrison 1992).

Gibt es Grenzen beim gemeinsamen Lernen?

Auch wir sehen uns jedoch (noch) mit dem Faktum konfrontiert, daß es hörgeschädigte Mädchen und Jungen gibt, bei denen innerhalb der traditionellen Gehörlosenschule keine oder keine genügende Lautsprache erlernt wurde. Ob dies bei einer konsequenten gemeinsamen Beschulung schon im Vorschulbereich hätte erreicht werden können, ist aufgrund meiner Erfahrungen wahrscheinlich, jedoch nicht nachprüfbar. Bei den betroffenen Kindern ist diese Frage nicht nur hypothetisch sondern auch irrelevant, da sie sich heute ja in eben jener Situation befinden, daß sie keine oder nur eine sehr eingeschränkte Lautsprachkompetenz besitzen. Daß bei solchen Kindern die Frage der Gebärdensprache ernsthaft in Betracht gezogen werden muß, versteht sich von selbst. Uns geht es denn auch um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit verschiedenen weltanschaulichen Theorien und Meinungen. Wir sind jedoch der Meinung, daß sich solche verschiedenen Ansätze nicht grundsätzlich ausschließen, sondern entsprechend den individuell vorhandenen Möglichkeiten bei Kind und Umfeld (seinem Ökosystem) auszuwählen und einzusetzen sind.

Aus den obigen Gedanken wird klar, daß aus meiner Sicht keine grundsätzlichen Grenzen für den gemeinsamen Unterricht und die gemeinsame Erziehung von (hör)behinderten und nicht (hör)behinderten Mädchen und Jungen vorhanden sind. Integration ist ein Menschenrecht und als solches unteilbar (Muth 1990; Schöler 1990). Jutta Schöler formulierte einmal folgenden Gedanken:

"Wenn es Grenzen gibt, dann sind dies unsere Grenzen. Es sind Grenzen der Erwachsenen, die Grenzen der gesellschaftlichen Bedingungen. Es sind unsere Grenzen, wenn wir es nicht schaffen, uns das gemeinsame Leben und Lernen mit einem schwer behinderten Kind vorzustellen, wenn wir die notwendigen organisatorischen Bedingungen nicht herstellen können." (Schöler 1992, S. 81)

Genau dieses Herstellen notwendiger organisatorischer Bedingungen ist es, das vielen Fachleuten und PolitikerInnen Mühe bereitet. Oftmals ist es nicht so, daß diese Leute grundsätzlich dagegen wären, notwendige Veränderungen zu veranlassen, sondern es fehlt ihnen einfach das notwendige Basiswissen, um ihr Vorstellungsvermögen damit zu aktivieren. Sie kennen eben nur jenes System, in dem sie selbst aufgewachsen sind, und ein neues System ist ein unbekanntes, fremdes, möglicherweise gefahrenbeladenes und daher vorsichtshalber abzulehnendes. Die meisten Menschen haben Angst davor, etwas zu unterstützen, von dem sie nicht viel wissen. Deshalb ist es von ausschlaggebender Wichtigkeit, daß von allen, die von der Richtigkeit der Integration überzeugt sind, Öffentlichkeitsarbeit geleistet wird. Solange in den Medien nur jene Fälle breitgeschlagen werden, in denen die Integration angeblich versagte, wird sich auch die gesellschaftliche Meinung gegenüber behinderten Kindern in Regeleinrichtungen kaum ändern. Im Bereich der hörgeschädigten Kinder weiß ich, daß die meisten Lehrerinnen und Lehrer hervorragende Arbeit leisten, aber diese wird von der Öffentlichkeit im allgemeinen nicht wahrgenommen. Dennoch bin ich optimistisch, denn die beste Öffentlichkeitsarbeit geschieht längerfristig durch die integrierten Kinder selbst sowie ihre Mitschüler und Mitschülerinnen, denn sie erleben täglich, daß die gemeinsame Beschulung nicht nur möglich, sondern auch bereichernd ist. Sie berichten zu Hause von ihrem Schulalltag, und sie werden selbst Eltern werden und sich daran erinnern, daß sie in ihrer Klasse ebenfalls behinderte Kinder hatten. Es sind aber auch die Lehrerinnen und Lehrer, die an dieser Öffentlichkeitsarbeit einen großen Anteil haben: Sie berichten im Lehrerzimmer von ihren Erfolgen und Schwierigkeiten mit den behinderten Kindern, und das regt zur Auseinandersetzung und zum Dialog an.

Daher steht für mich ohne Zweifel fest, daß auch gehörlose Kinder das Recht haben, ihre Erziehung und Beschulung gemeinsam mit normalhörenden Kindern zu erleben. Einige wesentliche Prinzipien des gemeinsamen Lernens und Lebens müssen dabei jedoch eingehalten werden.

  • Behinderte dürfen behindert sein und es auch bleiben. Das beinhaltet auch, daß Behinderte ein Anrecht darauf haben, Unterrichtsmittel oder Kommunikationsmittel einzusetzen, die ihrer Behinderung gerecht werden. Im Falle von gehörlosen Kindern, die trotz eines Erziehungsmodells, das auf einem natürlichen hörgerichteten Spracherwerb basiert, keine Ansätze von Lautsprache zeigen, kann dies auch den Miteinbezug von Gebärden bedeuten.

  • Behinderte sind eine Bereicherung für die anderen Kinder in der Klasse und für alle LehrerInnen der Schule.

  • Auch die Nichtbehinderten - Kinder und Erwachsene - müssen etwas Neuartiges lernen, was sie bei aussondernder Erziehung in der Regel nicht lernen können.

  • Behinderte lernen nicht nur von den anderen - den nicht behinderten - Kindern, sondern auch das Umgekehrte gilt.

  • Dank behinderten Kindern in der Regelklasse, werden Lehrkräfte dazu motiviert, ihren Unterricht besser auf die Bedürfnisse der Kinder (nicht nur der behinderten!) auszurichten.

  • Das Prinzip der Freiwilligkeit muß überwunden werden. Gemeinsames Lernen und gemeinsames Leben ist ein Grundrecht und eine Selbstverständlichkeit. Weder bei fremdsprachigen Kindern, noch bei Asylantenkindern werden die Lehrkräfte oder die Eltern der anderen Kinder gefragt, ob sie damit einverstanden sind, daß diese Kinder zusammen mit ihren Kindern unterrichtet werden oder nicht. (In der Schweiz wurde im September 1994 vom Volk ein Gesetz (Anti-Rassismus-Gesetz) verabschiedet, daß die Diskriminierung von Menschen ganz klar verurteilt!)

2. Gemeinsames Lernen' dargestellt am Beispiel zweier hörgeschädigter Kinder mit Zusatzbehinderungen in einer Kleinklasse

Das folgende Beispiel ist eine Illustration für die konkrete Umsetzung des beschriebenen theoretischen Konzeptes von gemeinsamem Lernen und gemeinsamem Leben.

2.1 Ausgangslage aus Sicht der Gehörlosenschule

Zwei Monate bevor ich die Stelle als Direktor der GSR antrat, schilderte mir mein Vorgänger folgende Situation: In einer Klasse der Gehörlosenschule seien zwei hochgradig hörgeschädigte mehrfachbehinderte Mädchen, die in dieser Klasse jedoch je länger je weniger tragbar seien. Sie seien völlig überfordert und die Lehrkraft hätte doch schließlich im Interesse der anderen, weniger stark behinderten Kinder, die Pflicht, das Lehrziel der Regelklasse zu erreichen. Er denke genauso wie die betroffene Lehrkraft, daß nun der Moment gekommen sei, in dem die beiden Mädchen nur noch in einer Sonderschule für geistig behinderte hörgeschädigte Kinder und Jugendliche untergebracht werden könnten. Damit wäre allerdings eine Internatsplazierung verbunden und gegen eine solche würden sich die Eltern mit Händen und Füßen wehren.

"Wie würdest du nun in dieser Situation handeln?" wollte er von mir wissen. Mein Vorschlag war sehr einfach: "Wir müssen eine geeignete Klasse aus dem Regelschulbereich finden, in die beide Mädchen umplaziert werden können." Dieser Vorschlag stieß allerdings nicht auf Verständnis. Wie konnte ich nur eine solche Idee äußern, da eine Integration doch ohnehin nur bei den bestgeförderten Kindern ins Auge gefaßt werden könne?! Zudem sei eine solche Variante ohnehin viel zu teuer und damit gerade noch einmal unrealistisch. Ich wies allerdings darauf hin, daß meine Erfahrungen zeigten, daß gerade die schwächsten Kinder eine möglichst starke Umgebung - in unserem Falle also eine Regelklasse - bräuchten, damit sie trotz ihrer Probleme optimal gefördert werden könnten, daß sie unter solchen Umständen sich dann jedoch besser entwickeln als in der Absonderung der Sonderschule. Zudem rechnete ich vor, daß eine Sonderbeschulung immer die kostenintensivere Variante darstellt.

Als ich im August meine Stelle antrat, fand ich folgende Ausgangslage vor: Die beiden Mädchen waren nach wie vor in unserer Schule eingeschrieben. Unterrichtet wurden sie jedoch nicht mehr in der früheren Gehörlosenklasse. Dafür beschäftigte sich mit ihnen in einer kleinen Dachkammer ein engagierter Hörgeschädigtenlehrer. Das war allerdings nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Vor Ort bestätigte sich, was ich vermutet hatte: Der Lehrer gab sich jede nur denkbare Mühe, doch die beiden Mädchen machten keine Fortschritte und zeigten sich auch nicht sehr motiviert. Von Lautsprache konnte keine Rede sein und dies, obwohl sich der Lehrer auch in dieser Hinsicht bemühte. Das, was die Kinder vom jeweils anderen Mädchen hörten bzw. von dessen Lippen ablesen konnte, war so rudimentär, daß eine gegenseitige Stimulierung ausgeschlossen war. Nur, was sollte ich tun? Ich war neu in Basel und kannte die örtlichen Schulverhältnisse noch nicht. Ich wußte nur, daß in der Schweiz jeder Kanton sein eigenes Schulsystem und damit seine eigenen Verfahrensabläufe hat.

Zuerst wollte ich wissen, wie die Leiterin der Gehörlosenschule und der zugeteilte Hörgeschädigtenpädagoge die bestehende Situation beurteilten. Beide waren nicht glücklich und waren ebenfalls der Ansicht, daß eine Änderung angezeigt sei. Nur, welche Änderung sollte das sein? Der Lehrer zeigte großes Interesse an der Idee, zusammen mit einer anderen Klasse aus dem Regelschulbereich zu arbeiten. Doch wo sollte eine solche Klasse bzw. deren Lehrerin oder Lehrer gefunden werden? Schließlich stießen wir beim Rektorat der Basler Kleinklassen auf offene Ohren. Nur wußten wir natürlich auch aus eigener praktischer Unterrichtstätigkeit im Team-Teaching, daß der Erfolg eines solchen Projektes ganz wesentlich von den Qualitäten der betroffenen Personen und deren Bereitschaft, miteinander vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, abhing.

In der Zwischenzeit gibt es zu diesem Thema ja auch schon Literatur z. B. (Bews 1992). Nachdem die Rektorin der Kleinklassen meinen Hörgeschädigtenlehrer beim Unterrichten mit den beiden Mädchen erlebt hatte, war sie es, die sich ihre eigenen Lehrkräfte durch den Kopf gehen ließ und schließlich der Meinung war, sie hätte die zu ihm passende Lehrerin gefunden. Soweit so gut. In der Zwischenzeit waren drei Wochen verstrichen. Wie sollte es weitergehen? Wir kamen uns fast so vor wie das Heiratsvermittler wohl tun, wenn sie zwei passende Personen zusammenführen als wir die Kleinklassenlehrerin und den Hörgeschädigtenlehrer zu einem gemeinsamen Mittagessen in einem gemütlichen Restaurant einluden. Würde die verbal geäußerte Bereitschaft zur Zusammenarbeit in einem für Außenstehende und Fachleute gewagten Projekt auch noch bestehen, wenn sich die beiden Lehrkräfte persönlich gegenübersaßen? Dieses Risiko mußten wir auf uns nehmen. Aber unsere Bedenken erwiesen sich glücklicherweise nach wenigen Minuten als unbegründet. Schnell waren die beiden in tiefe Gespräche vertieft.

Bevor wir auseinander gingen, legten wir das weitere Vorgehen fest:

  • Gegenseitiger Besuch in der Klasse

  • Orientierung der Eltern der beiden hörgeschädigten Mädchen, falls von Lehrerin und Lehrer nichts Grundlegendes gegen die Integrationsklasse sprach.

  • Start des Projektes in der nächsten Woche.

  • Die Eltern der anderen Schülerinnen und Schüler sollten nicht um ihr Einverständnis gefragt werden, sondern lediglich über die neue Tatsache orientiert werden.

Seither ist ein Jahr vorbei. Alle beteiligten äußern sich immer nur positiv. Ob die Klasse im zweiten Jahr weitergeführt werden sollte oder nicht, war nie eine wirkliche Frage. Die Fortschritte sind so unübersehbar, daß sie auch von den Skeptikern nicht geleugnet werden können. Dieses Modell kommt dem Wunsch jener Gehörlosen entgegen, die der Ansicht sind, eine Identität als gehörlose Person könne nur im engen Zusammensein mit anderen Gehörlosen erlangt werden. Zudem kann es durch das stark vernetzte Zusammenleben mit hörenden Kindern wesentlich dazu beitragen, bestehende Vorurteile gegenüber gehörlosen Menschen abzubauen. Die Vorteile einer Klasse mit zwei hörgeschädigten Kindern beschrieb Klaus-B. Günther folgendermaßen:

"Was das Konzept für die Bildung und Erziehung gehörloser Kinder ... so attraktiv macht, ist, daß es in natürlicher Weise eine ungleich intensivere und variationsreichere lautsprachliche Umgebung für die gehörlosen Schüler schafft, als es in der Gehörlosenschule möglich ist, und damit auch die Realität der Lebensbewältigung in der hörenden Umwelt im Kleinen gleichsam simuliert, zugleich aber auch die Möglichkeit bietet, mit Gleichbehinderten in eigener Weise zu kommunizieren." (GüNTHER 1991, S. 7)

Ich wünsche mir für viele andere hörgeschädigte - insbesondere auch für solche, die als mehrfachbehindert bezeichnet werden - Kinder, daß sich auch andere Sonderschulen und Regelschulen in konstruktiver Weise zusammenfinden werden. Hoffnungsvolle Ansätze dazu sind seit langem vorhanden, so beispielsweise in Frankenthal (Salz 1992). Erfreulich ist auch, daß sich Ausbildungsstätten für Hörgeschädigtenfachleute vermehrt neue Konzepten für die Ausbildung hörgeschädigter Mädchen und Jungen in ihre Informations- und Lehrangebote aufnehmen. (Leonhardt 1994).

Im Hinblick auf diesen Beitrag in hk bat ich die beiden Elternpaare um eine kurze Beschreibung der Situation aus ihrer Sicht. Beide sind dieser Anfrage gerne nachgekommen und haben ihre Gedanken im folgenden festgehalten:

2.2 Die Integration eines hör- und mehrfachbehinderten Mädchens in eine Kleinklasse aus der Sicht der Eltern

Familie Wenger

Elternabend Ende 1992 in der Gehörlosenschule Riehen bei Basel: Was ein normaler Routineabend werden sollte, bestätigte uns, was wir aufgrund kleiner Bemerkungen schon lange ahnten: Janine, unsere hörgeschädigte Tochter, paßte nicht in diese Schule! Achselzuckend wurden wir von der Schulleitung gefragt: "Was wollen Sie mit Ihrer Tochter machen?" Nach Momenten der Ratlosigkeit beiderseits wurden uns diverse Schulen aufgezählt, unter anderem ein Internat für geistig behinderte hörgeschädigte Kinder. Eine andere Möglichkeit schien es für unsere Tochter damals nicht zu geben.

So fuhren wir in diese spezielle Sonderschule, um einen direkten Einblick zu erhalten. Nach der Besichtigung des Internates konnten wir uns jedoch noch weniger mit dem Gedanken, Janine von zu Hause wegzugeben, anfreunden und suchten krampfhaft weiter nach einer Schule in unserer Region, blieben jedoch ohne Erfolg. Wir waren eigentlich nach wie vor der Meinung, daß die Gehörlosenschule auch bei einer anderen Lösung mithelfen müßte. Deshalb ließen wir uns nicht abschütteln. Schließlich wurde innerhalb der Sprachheilabteilung der GSR ein Dachzimmer zur Verfügung gestellt. Dort sollte Janine zusammen mit Chantal, einem ebenfalls hörgeschädigten Mädchen, ab Sommer 1993 bis auf weiteres von einer eigenen Lehrkraft unterrichtet werden. Auf diesen Zeitpunkt sollte dann ein neuer Direktor die Gesamtleitung der GSR übernehmen; der sich vielleicht nach einer anderen Lösung umschauen würde, hieß es. Das konnte jedoch alles bedeuten, so beispielsweise auch die Auflösung dieser Kleinstklasse.

Nachdem der neue Direktor in seinem war, geschah dies dann auch. Jedoch nicht so, wie wir befürchtet hatten, daß die beiden Kinder doch in die Schule für mehrfachbehinderte Hörgeschädigte mit interner Unterbringung übertreten mußten, sondern bereits nach kurzer Zeit konnten die beiden Mädchen gemeinsam in eine Kleinklasse in Basel eintreten. In dieser Klasse sind acht gut hörende Kinder, die alle in ihrem Lerntempo ein wenig eingeschränkt sind. Seitdem haben wir nur Gutes zu berichten. Janine hat in diesem Jahr sehr viele Fortschritte gemacht. Zur Zeit sind wir Eltern am Erlernen der Gebärdensprache, die uns die Verständigung mit Janine erleichtert. Auch die anderen Kinder in der Klasse verwenden mit Janine einzelne Gebärden. Dadurch können alle besser auf Janines Wünsche und Vorstellungen eingehen. Was die Lautsprache anbetrifft, so hat Janine noch nie so große Fortschritte gemacht wie unter den jetzigen Umständen. Sie ist durch die gut hörenden und sprechenden Kinder dazu auch ständig motiviert. So beginnt sie nun zu lesen und zu schreiben, und spricht schon einzelne Wörter. Unsere Tochter ist glücklich und freut sich jeden Tag, daß sie zur Schule gehen kann.

Dem Vater, der jährlich für die Skiausrüstung besorgt ist, fiel der Unterschied von einem Jahr zum nächsten besonders auf. Noch letztes Jahr war Janine während der Anpassung und des Auswählens häufig desinteressiert und passiv. Dieses Mal probierte sie selbst die Schuhe an, die ihr gefielen und wünschte gezielt eine andere Farbe. So auch bei den Skiern und den Stöcken, wo Janine mit Begeisterung die Farben und die Marke aussuchte. Sie hat auch gelernt, sich gegen Dinge zu wehren, die sie nicht will und ist jetzt fähig, für eine Sache zu kämpfen, die sie will.

Wenn wir nochmals vor die Entscheidung gestellt wären, ob wir Janine in die Kleinklasse schicken möchten, würden wir wieder genau gleich handeln.

Familie Knaus

Vorgeschichte

Die Geburt unserer Zwillinge erfolgte notfallmäßig in der 27. Schwangerschaftswoche. Das eine Mädchen verstarb nach der Geburt, das andere hatte ein Gewicht von 950 g und verbrachte einige Monate bei guter Betreuung auf diversen Stationen des Basler Kinderspitals.

Erst relativ spät, das heißt im Alter von etwa zwei Jahren, wurde bei unserer Tochter Chantal (Jahrgang 1984) 'Gehörlosigkeit' festgestellt. Basierend auf dieser Erkenntnis erfolgte die Frühbetreuung durch die Audiopädagogische Abteilung der Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen (GSR) sowie anschließend die Aufnahme in den Kindergarten für Hörgeschädigte der besagten Schule. Durch die unqualifizierte Aussage einer sogenannten Fachkraft wurde Chantal als geistig behindert bezeichnet und damit in der Folge abgestempelt. Die Aussage 'gesitig behindert' konnten wir so nicht einfach hinnehmen. Auf unsere Initiative hin - und teilweise auch auf unsere Kosten - erfolgten diesbezüglich unzählige Abklärungen im In- und Ausland. Das Kinderzentrum in München, wo Chantal ganzheitlich untersucht wurde, konnte keine geistige Behinderung feststellen.

Nach und nach bekamen wir jedoch das Gefühl, daß Chantal in der GSR vernachläßigt wurde. Sie lernte nicht entsprechend ihres Alters sprechen, lesen oder schreiben. Wir beschlossen deshalb, die Schulung selber in die Hand zu nehmen. Meine Frau ließ sich in Meggen über eine längere Zeitspanne durch Frau Schmid-Giovannini gründlich und erfolgreich in die Schulung von Chantal (an Chantal selbst) einführen. Bald lernte Chantal unter der Führung meiner Frau recht gut und verständlich lesen und auch etwas schreiben. Viel Zeit, Liebe und Geduld wurden dabei investiert. Von unterstützenden Maßnahmen seitens der Schule konnte damals nicht die Rede sein; die Schule nahm ihre Aufgabe einfach nicht wahr.

Trotz der guten Erfolge blieb Aussage 'geistige Behinderung' an Chantal kleben, wie ein alter Kaugummi. Dennoch konnte Chantal entsprechend ihrem Alter in die erste Klasse der GSR eintreten. Sie war dort diejenige, die am besten lesen konnte. Da diese Schule jedoch einem gewissen Leistungsdruck in allen Fächern unterworfen ist, dem unsere Tochter nicht zu folgen vermochte, wurden wir vermehrt angehalten, uns selbst nach einer anderen Schule umzusehen. Es zeigte sich aber bald, daß es keine vertretbare Alternative gab, da keine der anderen Schulen qualifizierte Lehrkräfte hatte, um Chantal, der eine gewisse Intelligenz nicht abzusprechen ist, im Hör- und Sprachbereich kompetent zu fördern und zu unterrichten.

Durch die 'Mehrfachbehinderung' unserer Tochter, die in keine der bestehenden 'Schubladen' zu passen scheint, verloren wir nebst den endlosen Kämpfen mit den zuständigen Behörden und dem physischen und seelischen Streß das Verständnis mancher Eltern, deren Kinder 'nur gehörlos' waren und die keine mehrfachbehinderten Kinder in der Gehörlosenklasse dulden wollten. Auch dadurch wurden wir als Einzelkämpfer zusehends mehr in eine Randposition abgedrängt. Als Notbehelf auf Zeit kreierte die GSR eine Sonderklasse unter der Leitung eines qualifizierten, verständnisvollen und kreativen Lehrers. Diese Klasse bestand jedoch lediglich aus Chantal und noch einem zweiten, ebenfalls 'mehrfachbehinderten' gehörlosen Mädchen, das ebenfalls große Lernschwierigkeiten hatte. Der Unterricht fand jedoch in aller Abgeschiedenheit statt, woraus sich eine Fixation der Mädchen auf sich selbst sowie eine Kontaktarmut zu anderen Kindern entwickelte. Umgang und Verständigung der Mädchen unter sich waren hauptsächlich auf Gestik und Mimik beschränkt, obwohl der Lehrer selbst Deutsch sprach.

Diesen Notstand erkannte der in der Zwischenzeit neu ernannte Direktor der GSR sofort: Aufgrund seiner persönlichen Überzeugung, die auf seinen vielen guten Erfahrungen mit der Integration von hörgeschädigten Kindern in Regelschulen der Region Zürich basierten und dank seines Verhandlungsgeschicks mit dem Rektorat der Kleinklassen von Basel-Stadt gelang es ihm, unserer Tochter - zusammen mit dem anderen hörgeschädigten Mädchen - in eine Kleinklasse einzugliedern.

Verhaltensmuster von Chantal vor der Integration in die Kleinklasse

Da, wie oben erwähnt, die Schulung in aller Abgeschiedenheit erfolgte, fand eine gewisse Verarmung an sozialen Kontakten statt, die sich auch im privaten Bereich negativ auf den Umgang mit anderen Kindern (z. B. beim Spielen) auswirkte. Aggressivität, Trotzreaktionen und Verständnisprobleme zeichneten sich in vermehrtem Maße auch zu Hause ab. Die Verständigung beruhte damals größtenteils auf Mimik und Gestik. Die Lautsprache war praktisch inexistent. Chantal hatte während dieser Zeit von der Situation in der Kleinstklasse nicht wesentlich profitieren können. Da die beiden hörgeschädigten Mädchen weder gleichen Alters waren, noch den gleichen Wissensstand hatten, mußten sie individuell geschult werden, d.h. dem Lehrer stand weniger Zeit pro Kind für diese Aufgabe zur Verfügung.

Verhaltensmuster von Chantal nach der Integration in die Kleinklasse

Obwohl eine gewisse Schwellenangst oder eventuell sogar Vorurteile vorhanden waren, hat uns die spontane, praktisch selbstverständliche Einstellung von Regelschullehrerinnen und -lehrern sowie die offene Haltung der Eltern der Mitschüler und Mitschülerinnen bezüglich der Aufnahme von Chantal in die Regelschule bzw. die Kleinklasse überrascht und zugleich gefreut. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß gerade dies eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Integration ist. Das Fundament war geschaffen.

Der Gedankenaustausch zwischen allen Beteiligten ist im weiteren sehr wichtig, hilft er doch, Mißverständnisse, Unkenntnisse und Verhaltensweisen zu erklären und zu beseitigen. Nach einer Eingewöhnungszeit konnten wir sehr positive Verhaltensänderungen bei Chantal feststellen. Die Gestik und Mimik wichen größtenteils der sprachlichen Verständigung in der Kommunikation, wenn auch verständlicherweise noch etwas dürftig. Das Mitteilungsbedürfnis war sehr groß, die Aggressivität stark vermindert. Das Bedürfnis, mit den anderen Kindern zu lernen und zu spielen, war nicht zu übersehen. Selbst Ausdrücke in Schweizerdeutsch waren immer öfter zu hören.

Chantal geht gern in die Schule, ist ein freudiges Kind und strahlt viel Wärme aus. Dies ist sicherlich mitunter auch auf die 'Nestwärme' innerhalb der Klasse sowie ihrer Akzeptanz im ganzen Schulhaus zurückzuführen. Durch die vielen Eindrücke, Neuheiten und diversen Kontakte wird nun versucht, angeregt durch die Schule, beim Zubereiten und Kochen von Gemüse mitzuhelfen, diverse Sachen selbständig zu erledigen, ohne jemanden um Hilfe zu bitten. Dieser Drang zur Selbständigkeit wird von uns stark gefördert, sind es letztlich doch gerade solche Aktivitäten, die zur Verbesserung der Lebensqualität unserer Tochter beitragen.

Im weiteren haben wir festgestellt, daß sie sich des öfteren mit Dingen viel länger und intensiver beschäftigt als zuvor. Sie zeichnet, malt, spielt und verweilt länger mit ihrer Puppe als früher und hat eine spezielle Begabung für Game Boy und Computerspiele entwickelt. Uns scheint es wichtig, daß auf das Kind mit seinen Problemen eingegangen wird und wenn immer nötig, mehrere Lösungswege aufgezeigt werden. So ist es möglich, daß das Kind entsprechend seinen Fähigkeiten und seines Lerntempos lernen kann. Oft lernen die Kinder nicht von uns, sondern wir Eltern (und auch die Lehrer) von den Kindern. Mögen die Lernerfolge uns noch so klein erscheinen, es sind doch Schritte, die zum Gelingen einer Weiterentwicklung beitragen. Neben den vielen erfreulichen Aspekten, die diese Integration im schulischen Bereich gebracht hat, unternehmen Lehrerin und Lehrer stets auch Anstrengungen, Janine auch im sozialen und privaten Bereich zu unterstützen.

Schlußbemerkungen

Die Integration von Chantal in die Kleinklasse ist bis heute in allen Belangen erfolgreich verlaufen und bei weitem das Erfreulichste, was wir in den vergangenen Jahren erleben durften. Wir sind sehr froh und dankbar dafür. Die Lebensqualität konnte merklich verbessert werden. Die Klasse ist mehr als nur Schule, sie ist eine Familie. Praktisch in allen Schulfächern konnten meßbare Fortschritte erzielt werden. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Behinderungen von Chantal kommt die erschwerende Tatsache dazu, daß wir mit unserer Tochter Schriftdeutsch und nicht in der bei uns üblichen Umgangssprache Schweizerdeutsch sprechen. Wo nur Schweizerdeutsch gesprochen wird, kann dies natürlich zu Verständigungsproblemen führen. Ferner spricht Chantal - obwohl gute Ansatzpunkte vorhanden sind - noch nicht immer sehr deutlich und erst in kurzen Sätzen. Wir werden uns deshalb bemühen, sie bezüglich Satzbildung fortlaufend zu schulen. Vielleicht könnte man ihr als unterstützende Maßnahme durch vermehrte Einzeltherapie (vor, während oder nach der offiziellen Schulzeit) diesbezüglich noch mehr helfen.

Abschließend möchten wir die Gelegenheit benutzen, allen Personen und Behörden, welche tatkräftig am Gelingen dieser Integration beteiligt waren, unseren herzlichsten Dank auszusprechen. Im weiteren danken wir allen Lehrkräften, die gewissenhaft, mit viel Geduld und Verständnis, Kreativität und Freude Chantal zur Zeit unterrichten und hoffentlich noch lange unterrichten werden.

2.3 Die Integration eines hör- und mehrfachbehinderten Mädchens in eine Kleinklasse aus der Sicht der im Team-Teaching unterrichtenden Lehrkräfte

Im folgenden werden jeweils die verschiedenen Positionen, wie sie für uns als Lehrerin und als Lehrer aktuell waren, einander gegenübergestellt.

Ausgangssituation für die Kleinklasse von Elsy Weller

Ausgangssituation für Gehörlosen-Kleinstklasse von Jan Flendrie

Anfrage des Konrektors, ob ich mir vorstellen könnte, ein gehörloses und ein stark hörgeschädigtes Kind, beide im schulbildungsfähigen Bereich jedoch mit Zusatzbehinderungen, in meiner Kleinklasse aufzunehmen. Der für die beiden Mädchen zuständige Hörgeschädigtenlehrer käme auch mit.

Für zwei Mädchen zeigte sich im Sommer 1993, daß die Gehörlosenschule Riehen (GSR) nicht der richtige Schulungsort war.

Im September machte mir die Schulleitung der GSR das Angebot, mich mit den beiden Schülerinnen in eine Kleinklasse zu integrieren, um so eine Integrationsklasse zu bilden.

Entscheidungsfindung

Unser Ja zu obiger Vorstellung bewirkte ein Zusammentreffen der beiden Schulleitungen mit uns Jan Flendrie (Hörgeschädigtenlehrer) und Elsy Weller (Kleinklassenlehrerin). Nach einem Besuch der Eltern und Kinder in der Klasse beschlossen wir, umgehend nach den Herbstferien zu starten. Hauptbedingung war, daß wir uns beide als gleichberechtigte Lehrpersonen sahen, Elsy mit der Erfahrung der lernbehinderten Kinder der Kleinklasse, Jan mit der Erfahrung als Gehörlosenlehrer. Beide können vieles voneinander lernen.

Schulunterricht aus der Sicht der hörenden Kinder

Schulunterricht aus der Sicht der hörbehinderten Kinder

Hörende Kinder haben keine Probleme, gehörlose Kinder anzusprechen, sei es mit Worten, Gestik oder Mimik. Sie insistieren so lange, bis klar ist, worum es geht. Die Akzeptanz für diese spezielle Behinderung ist wesentlich größer als beispielsweise für psychische oder sehr verhaltensauffällige Behinderungen. Hingegen ist der vergrößerte Klassenbestand eine Schwierigkeit für die meist konzentrationsschwachen Kleinklassenkinder. Der Leselernprozeß vollzieht sich fast nur im individuellen Prozeß zwischen Lehrerin und Kind. Wenn wir aber davon ausgehen, daß acht Kinder eine Lehrerin hatten und nun zehn Kinder zwei Lehrpersonen beanspruchen können, so liegt auch hier der Gewinn klar auf der Hand. Daß es sich in unserem Fall um Mann und Frau handelt, ist für die bis anhin fast nur durch Frauen unterrichteten und therapierten Kinder ein großer Gewinn.

In der Zweiergruppe waren die beiden Mädchen sehr stark auf sich fixiert. In der größeren Klasse gibt es viele Beobachtungsmöglichkeiten. Die Kinder lösen sich von ihrer Fixation und nehmen viel wacher am Unterricht mit den Hörenden teil. Es gibt Auseinandersetzungen und 'Wiedergutmachen'. Es wird zusammen gespielt und gearbeitet. Erklärungen werden häufiger abgegeben, es entwickelt sich ein normales Verhalten und ein normales Schulleben.

Und der Fachunterricht?

Schon während der ersten Schulwoche entschlossen sich die Rhythmiklehrerin und die Handarbeitslehrerin, bei der Integration mitzumachen. Zu zweit eine zwar größere Gruppe zu unterrichten, ist eine neue Herausforderung und ermöglicht viele neue Erfahrungen. Ob Fach- oder Klassenunterricht, im pädagogischen Bereich und in der Klassenführung sind wir Einzelkämpferinnen und -kämpfer. Nun können wir life erleben, wie Kolleginnen und Kollegen in den einzelnen Situationen reagieren. Ferner kann eigenes Verhalten direkt und nicht nur im Erzählen einer vergangenen Situation reflektiert werden.

Integration im Schulhaus

Integration im Schulhaus

Unsere Kleinklassenkinder nehmen seit Jahren am konfessionellen Unterricht der Regelschule teil. Zur Zeit besucht ein 5. Kläßler, der im Sommer den Sprung an die Orientierungsstufe der Kleinklasse[a] wagt, wöchentlich zwei Lektionen in einer 3. Klasse und eine Lektion in einer 4. Klasse, um sich an eine größere Klassengemeinschaft zu gewöhnen. Den ganztägigen Ausflug machten wir mit einer dritten Klaße.

Der Kinderverkehrsgarten wird ebenfalls mit einer Regelklasse besucht. Das Kollegium der Polizisten kennt unsere Kleinklassenkinder.

Auf dem Pausenhof, wo man sich zum Spielen und Herumrennen, aber auch zum Beobachten trifft, haben sich die Mädchen immer besser zurechtgefunden. Zu dritt machten wir in vielen Klassen Besuche, um die Regelschülerinnen und -schüler und die LehrerInnen über die Hörbehinderung aufzuklären und sie mit den Hörapparaten vertraut zu machen. Dabei sind gute Gespräche entstanden. Echo eines Lehrers: Durch das Kennenlernen der Hör- und Sprachprobleme dieser Kinder werden wir vehement dazu angeregt, uns besser um unsere Sprache zu kümmern. Gebärdensprache und Zeichen der Lautsprache (PMS, phonembestimmtes Manualsystem) wurden von uns vordemonstriert und nachher von den hörenden Kindern eifrig nachgeahmt. Die Erfahrung bis jetzt zeigt ein gesundes Interesse füreinander, da kann man gut weitermachen.

[a] usführliche Informationen über die Kleinklassen von Basel-Stadt können angefordert werden bei: Rektorat der Kleinklassen Basel-Stadt, Schweiz.

Daß immer wieder Kolleginnen und Kollegen aus dem Schulhaus zu uns kommen mit den Worten: "Ich beneide Euch eigentlich, wie Ihr nun unterrichten könnt!" ist Aussage genug und braucht keinen weiteren Kommentar.

Und die Eltern der hörenden Mitschülerinnen?

An einem Elternabend kurz nach den Herbstferien hat die Schulleitung teilgenommen und den Eltern das Anliegen erklärt. Die Reaktion der Eltern war sehr positiv, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Freude und Dankbarkeit der Eltern der hörbehinderten Kinder so deutlich zum Ausdruck kamen. Auch die Eltern der Kleinklassenkinder kennen die Sorgen und Ängste um die optimale Schulung ihrer Kinder. Wir sitzen eigentlich alle im gleichen Boot und das verbindet.

Schlussbemerkung

Wir freuen uns, daß wir nach einjähriger Erfahrung immer noch voll überzeugt sind, den richtigen Entscheid getroffen zu haben. Natürlich braucht das gemeinsame Planen und Verarbeiten mehr Zeit, als wenn man allein mit sich selbst Entscheide fällen kann. Da aber auch während der Lektionen eine große Flexibilität verlangt wird, braucht es auch gegenseitiges Verständnis, wenn plötzlich die Lektion anders verläuft, als man es ursprünglich geplant hat. Gegenseitige spontane Hilfe hat auch immer wieder lustige Seiten, wenn einer dem andern im täglichen Kampf um etwas Ordnung den Leim, den der andere bereitgestellt hat, wieder versorgt, Take it easy und keep smiling machen den Team-Teaching Alltag zum fröhlichen Erlebnis.

Elsy Weller (Regelklassenlehrerin) & Jan Flendrie (Hörgeschädigtenlehrer)

3. Schlußbemerkung

Das hier dargestellte Beispiel des gemeinsamen Lernens und Lebens in einer Kleinklasse zeigt, daß dies selbst bei sogenannt mehrfachbehinderten hochgradig hörgeschädigten Kindern möglich ist. Auf die vielen hörgeschädigten Mädchen und Jungen, deren Hörverlust unter 100 dB liegt und die keine zusätzlichen Behinderungen aufweisen, bin ich absichtlich nicht eingegangen. Für sie ist der Besuch einer Regelklasse in den meisten Fällen eine Selbstverständlichkeit. Damit soll jedoch nicht ihr persönlicher Einsatz und die unermüdliche Unterstützung durch ihre Bezugspersonen wie Eltern, LehrerInnen und WanderlehrerInnen geschmälert werden.

Interessierten Personen steht unsere Institution gerne offen, um einen konstruktiven Gedankenaustausch aufzunehmen.

4. Literatur

Bews, S. (1992). Integrativer Unterricht in der Praxis. 1992,

Elmiger, P. (1992). Soziale Situation von integriert geschulten Schwerhörigen in Regelschulen (Diplomarbeit an der Universität Freiburg). Freiburg (Schweiz), unveröffentlicht.

Günther, K.-B. (1991). Überlegungen zur Beschulung gehörloser und an Taubheit grenzend schwerhöriger Kinder. Unveröffentlichtes Manuskript für einen Vortrag für Eltern der Sondertagesstätte für gehörlose Kinder in Hamburg. Hamburg, unveröffentlicht.

Harrison, D. R. (1992). Die Förderung schulischer und persönlicher Entwicklung hörgeschädigter Kinder in einer integrativen Einrichtung. Begabungsentfaltung gehörloser Schüler durch gemeinsames Lernen mit Nichtbehinderten. Vaduz, Stiftung zur Förderung körperbehinderter Hochbegabter u. Kröhnert Otto. 86-103.

Leonhardt, A. (1994). "Studienstätte München." Hörgeschädigtenpädagogik 48(5): 332-333.

Müller, R. J. (1994). Ich höre ... nicht alles! Hörgeschädigte Mädchen und Jungen in Regelschulen. Heidelberg, Edition Schindele.

Muth, J. (1990). Nichtaussonderung als gesellschaftspolitischer Auftrag. Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam. Handbuch der Integrationspädagogik. Weinheim, 11-18.

Salz, W. (1992). Ambulante sonderpädagogische Förderung hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher in Rheinhessen-Pfalz. Begabungsentfaltung gehörloser Schüler durch gemeinsames Lernen mit Nichtbehinderten. Vaduz, 356-379.

Schöler, J. (1990). Herausforderung: Kleine bunte Wedel. Pädagogik und Therapie ohne Aussonderung. Innsbruck.

Schöler, J. (1992). Grenzenlose Integration. Behinderte Kinder und Jugendliche in der Schule. Bad Heilbronn, Verlag Julius Klinkhardt. 81-92.

Quelle:

René J. Müller: Die Beschulung hörgeschädigter Kinder in der Nordwestschweiz

Erschienen in: "Hörgeschädigte Kinder", Hamburg. 1. Teil in Heft 1994/4, 2. Teil in Heft 1995/1.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.11.2005

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