"Classroom Practice"- Literaturanalyse 2000 Österreich


1. Kurzbericht

Die Literaturanalyse versucht einen Einblick in die aktuelle Situation in Österreichs Volksschulklassen zu geben, in denen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden.

Der detaillierte Bericht stellt zunächst die Rahmenbedingungen auf dem Hintergrund der zeitlichen Entwicklung dar (vom Schulversuch zur Umsetzung der gesetzlichen Grundlagen 1984-2000) um anschließend auf die speziellen Aspekte des integrativen Unterrichts und seine Bedingungen einzugehen. Im Anschluss daran werden die Unterstützung von Kindern mit diversen Behinderungen und die notwendigen Maßnahmen anhand aktueller Arbeiten vorgestellt. Zuletzt soll gezeigt werden, dass die Volksschule in Österreich durch andere Innovationen in Bewegung geraten ist und sich deren didaktisch methodischen Grundlagen nicht wesentlich von den Erfordernissen der integrativen Pädagogik unterscheidet.

Das Brennglas sollte jedoch darauf gelegt werden, was die Lehrer konkret tun, wenn sie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit anderen Kindern unterrichten. Deshalb wird vorweg eine kurze Zusammenfassung darüber angeboten:

Da sich die meisten (umfassenderen) empirischen Arbeiten der letzten 10 Jahre mit den Rahmenbedingungen zur Integration befassen, kann man sich zur Analyse des Unterrichts nur auf einige wenige empirische Studien beziehen, die mehrere Schulen näher unter die Lupe nahmen. Alle anderen Darstellungen sind Fallstudien, Tagebuchberichte und subjektive Beschreibungen von Lehrern, die konkrete Erfahrungen mit dem integrativen Unterricht vermitteln.

"Good - Practice" Modelle und die Studien zeigen ein recht einheitliches Bild. Auf der Grundlage alternativer Lernformen (Montessori, Freinet, Jena Plan, etc.) wird für alle Schüler vermehrt projektorientierter und offener Unterricht angeboten.

Neben dem individualisierten Förderangebot für spezifische Behinderungen versucht man, für jedes Kind Bildungsangebote zu vermitteln, die es aufgrund seiner Entwicklung und seiner Interessen annehmen und ausbauen kann. Dazu gehört natürlich auch die Förderung hochbegabter Kinder, der Fokus auf das soziale Miteinander und das kooperative Lernen in der Klasse.

Diese Ziele werden häufig durch speziell geplante Einheiten für die Bewältigung von Konflikten, durch den Einsatz von speziellem Material, durch therapeutische Angebote (Lernen mit allen Sinnen, bewegungsorientierter Unterricht, etc...) und durch computerunterstützten Unterricht erreicht.

Voraussetzung für das Gelingen dieses Unterrichts ist die Einstellung des Lehrers zum Menschenbild (SPECHT, MADER...)[1] im Allgemeinen (wie im Kapitel : "Individuelle Förderungen von Kindern mit Behinderungen" ausgeführt wird) und die Arbeit im Team. (SCHEIDBACH/ DÜR u.a.)

Das Lehrerteam ermöglicht die intensive Auseinandersetzung mit den sozialen und kognitiven Prozessen, erfordert jedoch auch viel Zeit und Engagement der Beteiligten. Regelmäßige Teambesprechungen und gemeinsame Unterrichtsplanungen scheinen essentiell für die erfolgreiche Integration, wie die klare Arbeitsaufteilung im Team. (BURMANN/MOSER)

Die Studie von WETZEL u.a. zeigt deutlich, dass Lehrerinnen, die nur vereinzelt Kinder integrieren und keinen Teampartner zur Verfügung haben, weniger alternative Lernformen anbieten und damit häufiger überfordert sind, als Lehrer in Integrationsklassen.

Problemzonen werden vor allem in den fehlenden Rahmenbedingungen erkannt. Viele Probleme wären zu bewältigen, wenn die Lehrer in ihrer Arbeit mehr Unterstützung hätten, z.B. mehr Stunden für den Einsatz eines zweiten Lehrers zur Verfügung stünden (Einzelintegration). Besonders wenn die Teampartner miteinander nicht zurecht kommen, wird Supervision als hilfreich und notwendig erachtet. (BEWS)

Die richtige Mischung zwischen individueller Förderung, um den Bedürfnissen der behinderten Kinder gerecht zu werden, und der gemeinsamen Förderung aller Kinder ist ebenso Thema vieler Beiträge. Das Lernen "am gemeinsamen Gegenstand" (FEUSER) wird als erstrebenswertes Ziel genannt, das nicht immer leicht zu erreichen ist.

Die meisten Schwierigkeiten bereiten Lehrern die Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Diese Kinder brauchen häufig einen sehr eng gesteckten Arbeitsrahmen, der in der Integrationsklasse zugunsten vermehrter Individualität und Kreativität aufgelöst wurde. Selbsttätigkeit, kooperatives Lernen, projektorientiertes Lernen stellt diese Kinder oft vor unlösbare Aufgaben, die sie nur bewältigen können, wenn die Lehrer Kraft ihrer Persönlichkeit und im Team, oft mit Hilfe von professioneller Unterstützung von Außen, den notwendigen Rahmen und die Struktur bieten können. (LUGHOFER, BURMANN/MOSER, TSCHÖTSCHEL-GÄNGER)

Durch die Unterstützung von Experten und mit einem fundierten sonderpädagogischen Know How scheint die Integration von Kindern mit anderen Behinderungen weniger problematisch zu sein. Die Integrationsklasse wird dafür immer wieder als das beste aller Modelle beschrieben. (SPECHT, BURMANN/MOSER, THOMANN...)

Sollten Sie aufgrund der kurzen Darstellung an detaillierteren Informationen interessiert sein, möchte ich Sie einladen, den folgenden Bericht zu lesen:



[1] Zur leichteren Orientierung wurden die Literaturangaben von österreichischen Studien in der Literaturliste mit 20% grau hinterlegt, Fallstudien mit 5% nur leicht grau. Erfahrungsberichte und Stellungnahmen wurden wie die ausländischer Autoren, weiß belassen.

2. Einführung

"Auf die Kräfte der Ausgrenzung trifft die integrationspädagogische Bewegung. Als pädagogische Idee zielt Integration nicht nur auf organisatorische Maßnahmen ab, sondern es geht um die Vision einer humanen Schule, die für alle Kinder integrationsfähig ist und die Gleichwertigkeit und Würde jedes Kindes bei unterschiedlichster Leistungsfähigkeit Realität werden lässt" (FRAGNER 1999)[2]

In Österreich ging diese Vision von einer starken Elternbewegung aus und wurde nach einer Zeit der Schulversuche 1993 in das Regelsystem übernommen. Seitdem gibt es ein Gesetz, das die Wahlfreiheit der Eltern zwischen der Beschulung ihrer Kinder in der Sonderschule oder in der Volksschule bzw. der Sekundarstufe I ermöglicht.[3]

Was ist nach 7 Jahren aus der Vision geworden, die FRAGNER so eindringlich zeichnet, welche Themen beschäftigen die Pädagogen? Das Projekt: "Classroom Practice" soll dort ansetzen, wo Integration gelebt wird, soll Antwort geben auf die Fragen, wie die integrativen Maßnahmen in den Volksschulen umgesetzt werden und was Lehrer konkret tun, um Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu integrieren. Einerseits sollen Beispiele gegeben werden, wie es gut funktionieren kann, aber auch der Status Quo soll mit Hilfe von aktuellen Studien dargestellt werden.



[2] FRAGNER J.: Eine Schule inmitten von Ausgrenzung, in : Behinderte, 1999/1

[3] § 8 a (3) Schulpflichtgesetz: Wünschen die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten die Aufnahme des Kindes in eine Volksschule und bestehen keine entsprechenden Fördermöglichkeiten an einer Volksschule, welche das Kind bei einem ihm zumutbaren Schulweg erreichen kann, so hat der Bezirksschulinspektor unter Bedachtnahme der Gegebenheiten im Rahmen seiner Zuständigkeiten Maßnahmen zur Ermöglichung des Volksschulbesuches zu ergreifen und - im Falle der Zuständigkeit anderer Stellen- bei diesen die Durchführung entsprechender Maßnahmen zu beantragen.

3. Vorgangsweise

Eine Gruppe von sonderpädagogischen Experten in Österreich stellte vorwiegend aktuelle Literatur zusammen, die sich mit dieser Thematik beschäftigt. Einige aufgelistete Publikationen wurden jedoch vor 1995 geschrieben (1981-1994), und enthalten Erfahrungen und Ergebnisse aus der Zeit der Schulversuche zur Integration von behinderten und nicht behinderten Kindern in der Volksschule.

Unsere Absicht ist es, ein sehr umfassendes Bild der Situation zu geben, weshalb die Arbeitsgruppe alle möglichen Publikationen in Betracht zog. Wir erheben jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Hausarbeiten von Studenten der Pädagogischen Akademien wurden ebenso berücksichtigt, wie Artikel in österreichischen Fachzeitschriften, Diplom- und Doktorarbeiten an Universitäten und Publikationen des BMBWK (ehemals BMUK). Begriffe wie : Schulische Integration, Grundschule, Team-Teaching, Analyse, Kooperation, Lehrer, Sonderpädagoge, Evaluation, Studie, Behinderung, Differenzierung, Unterrichtsplanung, Computer udgl. wurden als Codewörter für die Suche nach relevanten Arbeiten verwendet.

Bei der Literatursuche war es offensichtlich, dass österreichische Experten nicht so publikationsfreudig sind wie ihre deutschen Kollegen bzw. die Anzahl der Publikationen limitiert ist, die sich empirisch mit diesem Thema befasst. Deshalb wurde teilweise auf Publikationen deutscher Autoren zurückgegriffen, sofern sich deren Erkenntnisse nicht wesentlich von der österreichischen Situation unterscheiden.

Auf der Suche nach relevanten Arbeiten zu den Spezialthemen (integrativer Unterricht von Kindern mit Sehbehinderungen, Hörbehinderungen, Down Syndrom etc..) stellte sich in Gesprächen mit Experten heraus, dass etliche unveröffentlichte Berichte existieren, die als Seminararbeiten geschrieben wurden und/oder regional zur Lehrerfortbildung verwendet werden. Bedauerlicher Weise hat man auf diese Arbeiten nur durch persönlichen Kontakt mit den Autoren Zugriff. Da ich als Begleiterin der Schulversuche im Bundesland Salzburg tätig bin und diese "Szene" kenne, finden Sie in diesem Bericht etliche Arbeiten von Salzburger Lehrern.

Ein weiterer Aspekt, warum Ende der 90er Jahre nicht so viele Bücher zum Thema "Classroom Practice" publiziert wurden ist die Tatsache, dass die Integration in der Volksschule nicht mehr die Brisanz besitzt, die sie noch vor einigen Jahren hatte. Andere Herausforderungen stehen nun im Mittelpunkt des Interesses für Lehrer, Eltern und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, wie z.B. die Integration auf der Sekundarstufe I oder der Übergang zwischen Schule und Beruf, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Die Autoren der einzelnen Publikationen bearbeiteten das Thema auf sehr vielfältige Weise:

Gesellschaftspolitische Aspekte für die Umsetzung von Integration und die Auswirkungen von schulischer Integration auf die Gesellschaft, theoretische Abhandlungen über die allgemeinen Rahmenbedingungen zur Integration von behinderten und beeinträchtigten Kindern, wissenschaftliche Studien über die Zufriedenheit der Lehrkräfte oder der Effizienz des Unterrichts sowie die praktische Auseinandersetzung mit der Arbeit in den Klassen, werden angeboten.

Die zuletzt genannten Publikationen legen den Schwerpunkt meist auf die Bewältigung einer spezifischen Situation in einer Klasse, wie die Integration von Kindern mit Sinnesbehinderungen, Down Syndrom, Verhaltensauffälligkeiten oder autistischen Störungen, spastischen Lähmungen oder cerebralen Beeinträchtigungen. Obwohl die meisten dieser Arbeiten keinen empirischen Ansatz aufweisen, geben sie einen Einblick in die Art des Unterrichts und wie Lehrer aus ihrer Sicht mit den Anforderungen der Integration zurecht kommen.

Alternative Formen des Unterrichts (Freinet, Montessori, Jena Plan, Leontjew, Freire, etc.) sind häufig die Basis für das integrative Konzept des gemeinsamen Unterrichtes. Die traditionelle Unterrichtsorganisation (getrennte Jahrgangsklassen, 50-Minuten Stunden, Sitzenbleiben, Ziffernbeurteilung etc.) ist bei der Durchführung dieser Konzepte oftmals hinderlich und wird von den Reformwilligen hinterfragt bzw. nicht mehr angewendet.

Durch diese Erfahrungen ist die österreichische Volksschule in Bewegung gekommen, wie im letzten Kapitel mit der "innovativen Eingangsphase" dargestellt werden soll.

4. Gesetzliche Rahmenbedingungen für die Arbeit in den Klassen

Seit 1993 haben die Bezirksschulräte die Aufgabe, die entsprechenden Rahmenbedingungen für die Beschulung der Kinder bereit zu stellen. Je nach Schüleranzahl oder regionalen Gegebenheit können folgende Organisationsformen angeboten werden:

1.- Integrationsklassen

In Integrationsklassen sind durchschnittlich vier bis sechs Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und 17 bis 20 nicht behinderte Kinder (dies hängt von der Art und vom Grad der Behinderung und der lokalen Situation ab). Der Klassenlehrer wird während der gesamten Unterrichtszeit von einem zweiten Lehrer unterstützt, bzw. arbeiten die beiden Lehrer im Team. Die Zusammensetzung der Klasse wird vom Bezirksschulinspektor in Kooperation mit dem Direktor des Sonderpädagogischen Zentrums und dem Volksschuldirektor geplant und entschieden.

2.- Stützlehrerklassen

In diesen Klassen befinden sich ein bis maximal drei Kinder mit SPF so dass eine zweiter Lehrer nicht während der gesamten Unterrichtszeit anwesend ist. Jeder Schüler wird nur einige Stunden pro Woche zusätzlich betreut. Das Ausmaß der Unterstützung ist wiederum abhängig von der Anzahl der behinderten Schüler in der Klasse, der Art ihrer Behinderung und der lokalen Situation. In Stützlehrerklassen hängt der Erfolg der Integration vorwiegend vom Geschick des Klassenlehrers ab. Entscheiden ist, ob die Stützlehrerstunden ausreichen, um den Bedürfnissen des Kindes entsprechen zu können.

3.- Kooperationsklassen

Kooperationsklassen sind Sonderschulklassen und Volksschulklassen, die gemeinsamen Unterricht (im größtmöglichen Ausmaß) durchführen. Häufig beschränkt sich die Kooperation jedoch auf gemeinsame Projekte, z.B. in den musisch-kreativen Fächern oder gemeinsamen Schulveranstaltungen.

Noch bevor das Gesetz zur Integration in der Volksschule 1993 erlassen wurde, wurden fast 10 Jahre Schulversuche durchgeführt, um die verschiedensten Modelle zu erproben. Ziel dieser Projekte war es, Erfahrungen zu sammeln, um die Integration behinderter Kinder in der Volksschule gesetzlich verankern zu können.

5. Ergebnisse der Schulversuche

SPECHT[4] arbeitete 1993 eine Studie aus, deren Fragestellungen sich mit den Rahmenbedingungen der Integration in der Grundschule auseinandersetzte: Österreichweit wurden Lehrer befragt, wie viele und welche Kinder sie in den Klassen unterrichten und ob sie mit den gegeben Rahmenbedingungen zufrieden sind. Die Ergebnisse zeigten aus folgenden Gründen eine eindeutige Bevorzugung der Integrationsklassen:

Nach Aussagen der Lehrer könne man in dieser Organisationsform am besten die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen, die sozialen Kontakte zwischen den Kindern fördern und die Arbeit im Team sei am Einfachsten.

Es wurden jedoch auch negative Aspekte aufgezeigt, z.B. Widerstände von Seiten der Lehrer oder Eltern, weil diese Form der Beschulung die meisten strukturellen Umstellungen erfordert. Unterricht in heterogenen Klassen verlangt differenzierten Unterricht, die Arbeit im Team und freiere Organisation der Unterrichtsstruktur, die sehr stark von den traditionellen Unterrichtsformen abweicht.

Positives Feedback gab es auch für die Stützlehrerklassen in denen Kinder mit leichteren Lernbehinderungen integriert wurden.

Sehr kritisch äußerten sich die Lehrer über die kooperativen Klassen, weil man den Bedürfnissen der Kinder sehr schwer gerecht werden kann und das Leitmotiv, die soziale Integration nicht realisiert werden kann.

MADER (1999)[5] interviewte einige Kinder und Eltern der ersten Integrationsklasse Österreichs (Burgenland, Oberwart) 15 Jahre nach ihrer Entstehung und befragte sie, woran sie sich aus ihrer Volksschulzeit noch erinnern können und welche Auswirkungen die Erfahrungen in ihrem jetzigen Leben zeigen:

"Die Volksschulzeit war eine der glücklichsten Zeiten meiner Kindheit. Wenn ich zurückdenke, wird mir noch immer warm ums Herz. Wir waren damals alle wie Geschwister, das war auch das Schöne. Wir haben von Anfang an mitbekommen, dass Menschen verschieden sind. Jeder hat so seine Stärken und Schwächen...wenn man das schon in der Volksschulzeit erfahren hat, bleibt das ein ganzes Leben",

sagte einer der interviewten Jugendlichen und veranschaulicht damit das Prinzip der sozialen Integration, das für die Vorreiter und Befürworter der integrativen Bewegung in Österreich vorrangigen Stellenwert hatte und immer noch hat. Bei den Kindern gelten die Lehrerinnen "als Lehrerinnen fürs Leben", da sie sie ermutigten, ihren individuellen Ausdruck zu fördern und ihre Kreativität zu finden.

Trotz der schlechten organisatorischen Voraussetzungen (keine Sicherheit für die Fortführung des Schulversuchs, Widerstände von Seiten der Gemeinde, mangelndes Raumangebot...) profitierten die Jugendlichen nach ihren Aussagen von der Art des Unterrichts und von der Einstellung der Lehrerinnen gegenüber Behinderungen.

Dieselbe Entwicklung zeichnet THOMANN[6] (1995) in ihrem Resümee über die Begleitung von Schulversuchsklassen in der Steiermark.

"Behinderte Kinder (auch geistig schwer behinderte) und nicht behinderte Kinder sind sehr gut imstande miteinander ohne Vorurteile aufzuwachsen. Viele Kinder erreichen eine beachtliche soziale Reife im Umgang mit körperbehinderten, sinnesbehinderten, aber auch mit psychisch gestörten und geistig behinderten Mitschülern."

Die Rückmeldung einer schriftlichen Befragung von Abgängern der ersten steirischen Integrationsklasse ist ebenso positiv wie im Burgenland. Alle Jugendlichen sind der Meinung, dass es richtig war, den Schulversuch ins Regelschulwesen aufzunehmen.

Ein Standardwerk der österreichischen Integrationsliteratur ist das Buch: "Integrativer Unterricht in der Praxis"[7] und gibt Einblick in die persönlichen Erfahrungen der Autorin (BEWS 1992) mit der Arbeit in einer Integrationsklasse zur Schulversuchszeit. Die Analyse findet so detailliert und selbstkritisch auf der Basis der Aktionsforschung statt, dass man dieses Werk immer noch jedem Integrationslehrer empfehlen kann.

Obwohl die Integration in der Volksschule den Kinderschuhen mittlerweile entwachsen ist, sind viele der beschriebenen Probleme und Lösungsansätze nach wie vor aktuell und machen vor allem Mut, sich auf die Integrationsarbeit einzulassen. Auf Grund der Vielfalt der Themen möchte ich einige Erkenntnisse in den entsprechenden Kapiteln einbauen.



[4] SPECHT W.: Evaluation der Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder, Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Lehrerinnen und Lehrern im Schulversuch, BMUK, Graz 1993

[5] MADER M.: Portraits, in: Miteinander, 1999/2

[6] THOMANN H.: Acht Jahre Schulversuch "Integration von behinderten und lernschwachen Kindern" an der Volksschule Kalsdorf, Resümee nach der Überleitung ins Regelschulwesen mit der 15. SCHOG Novelle, in: Erziehung und Unterricht 1995/1, 31-33

[7] BEWS S.: Integrativer Unterricht in der Praxis, Erfahrungen, Probleme, Analysen, Innsbruck 1992

6. Sonderpädagogische Zentren

Gleichzeitig mit der Novelle zur Integration behinderter Kinder wurde die Installation Sonderpädagogischer Zentren verankert mit dem Ziel, die Integration in allgemeinen Schulen zu unterstützen.[8]

Nach HOVORKA[9] ist die Zusammenarbeit mit den Regelschulen des Einzugbereiches die Hauptaufgabe des Sonderpädagogischen Zentrums, obwohl es nicht leicht ist, diese Aufgabe in der Praxis umzusetzen:

"Weil die meisten Zentren aus Sonderschulen hervorgehen, wirkt sich die traditionelle Separation und Autonomie der Sonderschulen sehr kooperationshemmend aus. Ich kenne bisher aus der Literatur kein einziges Förderzentrum in Deutschland, dem es gelungen wäre, mit allen Regelschulen seiner Region eine gute Zusammenarbeit aufzubauen. Stets sind einige Regelschullehrer intensive Kooperationspartner, während andere in Zurückhaltung verharren. Die Gründe dafür sind vielfältig und historisch gewachsen." (S.117)

Zum Zeitpunkt des Forschungsprojektes HOVORKAs (1993-1994) machten viele Sonderschulen in Österreich die ersten Schritte, vorhandene Konzepte und tradierte Kooperation in Form von Sonderpädagogischen Zentren umzusetzen. Nach Aussagen von 27 Kollegen aus Sonderschulen aus allen Bundesländern wurden die wichtigsten Aufgaben folgendermaßen beschrieben:

"Fachliche Betreuung, fachliches Begleitangebot zur Qualitätsoptimierung, fachspezifische Hilfestellung bei der Unterrichtstätigkeit und beim Erstellen von Materialien, methodisch-didaktische Planungsarbeit für die individuelle Unterrichtsarbeit, Vernetzung und Ausweitung der Lernangebote und Lernformen, Materialienpool und Fachbibliothek." (HOVORKA, S192)

Neben einem eigenen Fortbildungsangebot wünschten sich die Kollegen auch ein Zentrum als Anlaufstelle und "Heimat" für die mobilen Sonderpädagogen sowie ein Zentrum als regionale Koordinationsstelle aller sonderpädagogischer Fördermaßnahmen. Auf die Probleme, die von den Kollegen bei der Umsetzung in die Praxis vermutet wurden, möchte ich nicht eingehen, weil das den Rahmen (in Bezug auf das Hauptthema: Praxis in den Volksschulen) sprengen würde.

In Kärnten wurden 1995 SPZ Leiter und Lehrer befragt, wie die Sonderpädagogischen Zentren ihren Auftrag zur Unterstützung der Integration in der Praxis umsetzen. HOVORKAS vielzitierte Gemeinwesenarbeit können die Zentren meistens nicht leisten, weil sich die Tätigkeit der SPZ Leiter vorwiegend auf die Unterstützung der Bezirksschulinspektoren durch die Gutachtenerstellung beschränkt. Die Autorengruppe geht sogar soweit, aus den Rückmeldungen folgende Schlussfolgerungen zu ziehen:

"Die durchgeführten ExpertInneninterviews bestätigen die Befürchtung, dass die Erwartung an SPZs, einen integrationspädagogischen Beitrag zur Neuorientierung der sonderpädagogischen Förderung in Österreich zu leisten, unter den derzeit bestehenden Rahmenbedingungen , nicht erfüllt werden können. Wie die SPZ LeiterInnen angeben, fehlen organisatorische, personelle sowie materielle Ressourcen, um den gestellten Ansprüchen gerecht zu werden."[10]

Drei Jahre nach der Gesetzeswerdung versuchten HAUER u. MOSER[11] (1996) in einer vom BMUKA in Auftrag gegebener Erhebung zu erfahren, wie den Zentren die Synthese aus Vorstellungen, Wünschen, Praxisanforderungen und Gesetz gelungen war. Landesschulinspektoren wurden nach der Entwicklung der SPZ in den Bundesländern gefragt und es wurden Gespräche mit Experten vor Ort geführt:

Durch die sehr offene gesetzliche Formulierung bleibt den Zentren sehr viel Handlungsspielraum, ihren Auftrag zu erfüllen. Aufgrund verschiedenster regionaler und personeller Bedingungen entwickelten sich sonderpädagogische Zentren in den letzten Jahren sehr unterschiedlich und nehmen verschiedene Schwerpunkte in ihrer Arbeit wahr. So pessimistisch wie HOVORKA (1994) eingangs im Kapitel die Erfahrungen deutscher Förderzentren beschreibt, würde ich die Situation aufgrund der Rückmeldungen nicht beurteilen. Nach SPIESSBERGER[12] (1999), einem SPZ - Leiter in Oberösterreich, entwickelten sich die Sonderpädagogischen Zentren zu Drehscheiben aller sonderpädagogischer Maßnahmen und würden somit den Vorstellungen der Pionierzeit entsprechen.

Er versteht darunter die vielfältigen Aufgaben von der Beratung der Eltern über die Gutachtenerstellung, die Begleitung der integrativen Standorte und die Zusammenarbeit mit regionalen Institutionen. In den meisten Bezirken sind die Leiter Sonderpädagogischer Zentren in die Aufteilung der finanziellen und personellen Ressourcen für die Integration von Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aktiv mit eingebunden und entscheiden sehr häufig in einem Expertenteam (Bezirksschulinspektor, Therapeut, Psychologe, Eltern, Fachlehrer, etc...) welche Art der Unterstützung für das jeweilige Kind die günstigste ist. Damit sorgen sie im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel[13] für eine kindgerechte Gestaltung schulischer Lebens- und Lernbedingungen an integrativen Standorten.

Eine bundesländübergreifende Arbeitsgruppe diskutiert zur Zeit (seit Herbst 1999) die Weiterentwicklung der Sonderpädagogischen Zentren und die einzufordernden gesetzlichen Veränderungen.

Letztendlich gibt es jedoch keine aktuelle Studie, die die Auswirkungen und Leistungen der Arbeit Sonderpädagogischer Zentren flächendeckend aufzeigen würde.

Nach KRETSCHMANN[14] (1991) braucht es neben zumutbaren Klassenfrequenzen, ausreichender Personalkapazität und ausreichender Ausstattung der Schule mit Lernmitteln und Materialien (um das sich in Österreich auch die Leiter Sonderpädagogischer Zentren kümmern) ebenso eine kindgerechte methodische Gestaltung der Lernangebote einschließlich Individualisierung und Binnendifferenzierung und vieles mehr, damit sich Kinder angenommen fühlen und Erfolgserlebnisse verspüren. Für diese Bedingungen sorgen (fallweise mit Unterstützung der SPZ) die Volks- und Sonderschullehrer, die die Kinder in den Klassen unterrichten.



[8] SCHOG § 27 a (1) : Sonderpädagogische Zentren sind Sonderschulen, die die Aufgabe haben, durch Bereitstellung und Koordination sonderpädagogischer Maßnahmen in anderen Schularten dazu beizutragen, dass Kinder mit SPF in bestmöglicher Weise auch in allgemeinen Schulen Unterrichtet werden können.

[9] HOVORKA H.: Sonderpädagogische Zentren als Kooperationsbeispiele netzwerkorientierter Gemeinwesenarbeit, Klagenfurt/Wien 1994

[10] HOVORKA H., SIGOT M., ZÖHRER D.: Qualifizierung für Integration, Endbericht zum Forschungsprojekt, Klagenfurt 1995

[11] HAUER K., MOSER I.: Parlamentsbericht, Situation der Sonderpädagogischen Zentren, Salzburg und Schärding 1996

[12] SPIESSBERGER F.: Sonderpädagogische Zentren in Oberösterreich, in: Integration in der Praxis 1999/12, S 3 u.4

[13] Neben den finanziellen Mitteln die die Gemeinden für die Ausstattung der Klassen und Schulen zur Verfügung stellen, finanziert der Bund für ein Kind mit Förderbedarf durchschnittlich 4 Stunden pro Woche einen zusätzlich Lehrer, bzw. sind ca. 5 Kinder mit SPF ausreichend, um den Einsatz eines zweiten Lehrers in der Klasse zu gewährleisten. Diese Zahlen variieren jedoch von Bundesland zu Bundesland, bzw. sind stark von der Art der Behinderung des jeweiligen Kindes abhängig.

[14] KRETSCHMANN R.: Förderdiagnostik - eine Analyse aus systemischer und entwicklungsökologischer Sicht. Bremen 1991, unveröffentlichtes Paper.

7. Integrative Pädagogik

Erfolgreiche Integration fordert eine entsprechende Pädagogik, darüber sind sich auch die österreichischen Experten während und nach der Schulversuchszeit einig. (FRAGNER 1999, GSTETTNER[15] 1999, RUTTE[16] 1995, SPECHT 1993, THOMANN 1995, BEWS 1992...) Wie soll integrative Pädagogik aussehen und was zeichnet ihre Qualität im Sinne von Nichtaussonderung aus ?

Erfolgreiche Pädagogik für alle Kinder unterscheidet sich kaum von integrativer, wie aus einem Artikel von WETZEL[17] u.a. (1999) hervorgeht. Eine didaktische Umorientierung von traditionellem Frontal- und Fächerunterricht zu Projektunterricht, Individualisierung, Förderorientierung, Lernen am gemeinsamen Gegenstand (WOCKEN[18] 1998) und offenem und selbstgesteuertem Lernen (FEUSER[19] 1997, EBERWEIN[20] 1998) sind demnach die Grundlage für die gute Praxis, auch für den allgemeinen Unterricht. (vgl. KRETSCHMANN[21] 1991)

Die Autoren versuchten in ihrer Studie Ansätze bei den einzelnen Variablen von Unterrichtsqualität zu finden. Es wurden nach der "Classroom Environment Study" (ANDERSON et al 1989) und der "Scholastik-Studie" v. WEINERT 1997,[22] die Bereiche: Klassenmanagement, problemlösender Unterricht, Klarheit des Unterrichts, Zeitnutzung, individuelle fachliche Unterstützung, Variabilität und soziales Klima als wesentliche Aspekte für die Qualität von Integrationsklassen herausgefiltert und als Beobachtungsgrundlage für eine Untersuchung an Volksschulkindern in Salzburg und Oberösterreich verwendet.

Nach sechs Jahren Integration in der Volksschule seit der Gesetzeswerdung (Zeitpunkt der Salzburger Studie) können die untersuchten Schulen in Salzburg und Oberösterreich diesem Anspruch zu einem gewissen Teil gerecht werden. Im Vergleich zwischen "herkömmlichen Klassen" und Integrationsklassen unterscheiden sich Letztere durch eine höhere Individualisierung des Unterrichts. Zudem wurde festgestellt, dass in diesen Klassen weniger lehrerzentriert, weniger leistungsorientiert (bezogen auf das Klima) und mehr unterstützungsorientiert gearbeitet wird. Außerdem variieren die Unterrichtsmethoden in Integrationsklassen häufiger.

In "belasteten" Volksschulklassen (höherer Anteil an Verhaltensauffälligen, Lernschwachen oder Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache) war differenzierter Unterricht in den beobachteten Klassen nicht sehr häufig, besonders dann nicht, wenn die Kinder nur lernbeeinträchtigt oder von einer Behinderung bedroht sind. Gleichzeitig fand man jedoch auch heraus, dass alternativer Unterricht nicht unbedingt immer der bessere ist. Sind die Grundschullehrer für diese Techniken nicht entsprechend ausgebildet oder haben damit zu wenig Erfahrung, ist der herkömmliche Unterricht für lernschwache Kinder haltgebender und effektiver im Sinne von "Nichtaussonderung". Je klarer die Pädagogen den Ordnungsrahmen vorgeben, umso häufiger konnte ein sonderpädagogischer Förderbedarf für die erwähnte "Risikogruppe" vermieden werden. Allerdings muss man klar darauf hinweisen, dass Volksschullehrer nach wie vor mit bis zu 30 Kindern alleine in der Klasse stehen und im Gegensatz zu Integrationsklassen die Notwendigkeit zu einem offeneren Unterricht nicht in dem Maße gegeben ist, bzw. die Überforderung der Lehrer offensichtlich wird.

Scheinbar funktioniert Integration mit neuen Lehrmethoden besser, oder umgekehrt gesehen, die Arbeit im Team und die Kinder mit Förderbedarf fordern individualisierten, projektorientierten Unterricht ein, ansonsten würde es nicht funktionieren.

Mit Hilfe des SACERS Instruments (School-Age Care Environment Rating Scale), wurden von Beobachtern Einschätzungen bezüglich Peer Aktivitäten, Förderorientierung und Kommunikation zischen Lehrern und Schülern vorgenommen. Die Ergebnisse sprechen für die individuelle Förderung von Risikokindern und für eine vermehrte Zusammenarbeit aller Beteiligten im Klassenzimmer.

Zu ähnlichen Erkenntnissen über den Vorteil von mehr Interaktion, kommt eine Lehramtsstudentin, die im Rahmen ihrer Abschlussarbeit den Unterricht einer Integrationsklasse eingehender studierte: (HUTTER[23] 1996)

In der beobachteten Klasse fanden mehrmals jährlich Elternstammtische statt, um die Kooperation zwischen den Schulpartnern zu fördern. Den Kindern wurden vielfältige Materialien für Einzel- Paar- und Gruppenunterricht angeboten und zum Abbau von Spannungen gestalttherapeutischen Übungen eingesetzt. Die Differenzierung der Lerninhalte erfolgte auf der curricularen, didaktischen, methodisch-therapeutischen, unterrichtsorganisatorischen und der schulorganisatorischen Ebene.

Die Studentin beschrieb die Interaktion der Schüler sehr positiv:

"Die behinderten und leistungsschwächeren Kinder wurden von den nichtbehinderten Mitschülern vollkommen akzeptiert und zwar nicht nur klassenintern, sondern wie zu beobachten war, auch schulintern. Von den Lehrerinnen wurde von vornherein darauf Wert gelegt, dass die Andersartigkeit von jedem einzelnen Schüler akzeptiert und toleriert wird...es existieren sogar Anträge von Eltern nichtbehinderter Kinder, die die Parallelklassen besuchen, für eine Aufnahme ihrer Kinder in die Integrationsklasse. " (HUTTER, S. 47)

Die Integration in Vorarlberg wurde von den Studenten der Universität Innsbruck an 29 Standorten (Integrationsklassen und Stützklassen),näher untersucht. (DÜR, SCHEIDBACH 1995)[24]. Nach ihren Erkenntnissen unterrichteten die Lehrer weder in Integrationsklassen, noch in Stützklassen ausschließlich im Frontalunterricht. Freie Arbeitsphasen und der Morgenkreis nahmen einen hohen Stellenwert in der integrativen Pädagogik ein, Projektunterricht war bei den Vorarlberger Lehrern 1995 noch nicht so üblich. Wie eingangs erwähnt, ist die alternative Pädagogik (in diesem Fall Montessori und Freinet) Teil oder Basis des Unterrichts für fast die Hälfte aller Befragten.

7.1 Teamarbeit

Besondere Aufmerksamkeit widmen Schulforscher im deutschen Sprachraum (FEUSER 1998, FRAGNER 1999, KRAWITZ, THEIS-SCHOLZ & THÜMMEL[25] 1995, RUTTE 1995...) der Kooperation von Grund- und Sonderschullehrern im integrativen Unterricht.

SCHÖLER[26] (1999) zeigt auf, dass Kinder mit Förderbedarf vor allem auch einen höheren Bedarf an persönlicher Zuwendung und individuellere Unterrichtsmaßnahmen brauchen. Dies sei am günstigsten "...in Formen des offenen Unterrichts mit zwei Pädagogen, die ständig in der Klasse sind, zu leisten."

Ihrer Erfahrung nach bedeutet es für die Kollegen eine Entlastung, wenn sie sich die Aufgaben aufteilen, gemeinsam Lernmaterialien erstellen oder auch während des Unterrichts in die Beobachterposition gehen können.

RUTTE (1995) spricht sich als Schulversuchsbegleiter klar für die gerechte Aufteilung der Lehrerkompetenzen in Integrationsklassen aus. Da man in Österreich sehr häufig davon ausgeht, dass der Sonderschullehrer für die Gruppe der Behinderten und der Fachlehrer für die Nichtbehinderten verantwortlich ist, schadet seiner Beobachtung nach diese Aufteilung der Integration im Klassenraum. THOMANN (1995) unterstützt diese Einschätzung, indem sie für die Integrationsklassen zumindest für die Hälfte der Unterrichtszeit einen zweiten Lehrer fordert, der ebenso für alle Kinder zuständig sein soll. Sie weist im Besonderen darauf hin, dass die Kompetenzaufteilung im Team klar geregelt sein soll.

In Vorarlberg unterrichteten 1995 (DÜR, SCHEIDBACH) fast alle Integrationslehrer im Team, wobei sich ca. ein Drittel dafür aussprach, die Verantwortung auf alle Kinder aufzuteilen. In den restlichen Klassen war die Betreuung des zusätzlich eingesetzten Lehrers vorwiegend auf die Unterstützung der Kinder mit SPF beschränkt, wobei ca. die Hälfte aller Lehrer die Standorte nur wenige Stunden pro Woche betreuen. Im Stützunterricht ist nach meinen Erfahrungen als Schulversuchsbegleiterin die Kompetenzaufteilung strikter geregelt, indem die Sonderschullehrer vorwiegend für die Förderung der Kinder mit Förderbedarf zuständig sind.

KRAWITZ u.a. (1995) analysierten Schulversuche in Deutschland und der Schweiz und kamen zu dem Ergebnis, dass die Bewältigung ungeklärter Aufgabenverteilung und Konflikte auf der Kommunikationsebene zwischen den Teampartnern auf dem Hintergrund unterschiedlicher traditioneller Rollenerwartungen höchste Anforderungen an die Kollegen stellen.

Wie RUTTE bereits andeutete, ist in Österreich die Rollenaufteilung nicht gesetzlich geregelt. Je nach Situation, (Fähigkeiten der Lehrer, Schweregrad der Behinderung des Kindes, Raumangebot, Anzahl der Stunden in denen ein zweiter Lehrer für die Betreuung des Kindes mit Förderbedarf eingesetzt ist...) können sich die beteiligten Lehrer die Aufgaben aufteilen, im Klassenverband miteinander arbeiten oder die Kinder in getrennten Räumen unterrichten. Welche Form die Pädagogen wählen, hängt sehr stark von ihrer Einstellung zur Integration, bzw. ihrer Werthaltung und von der gegenseitigen Sympathie ab.

DÜR u. SCHEIDBACH (1995) stellten fest, dass sich ca. die Hälfte der Befragten sehr positiv zum Team-Teaching äußerten. Folgende Aspekte wurden von den Kollegen günstig beurteilt:

"Zu zweit in der Klasse, bessere Übersicht der Freiarbeit, Entlastung des einzelnen Lehrers, kein Kind wird übersehen, niemand kommt zu kurz. Zwei Sichtweisen von allem!

Gemeinsame Verantwortung, Möglichkeiten der Reflexion, unterschiedliche Sichtweisen bereichern, Zusammenarbeit ist positiv und lebendig.

"Ich könnte mir kaum vorstellen in einer gewöhnlichen Klasse zu unterrichten, man gewöhnt sich an die Arbeit im Team.(...) Zu zweit ist es viel interessanter, da ergänzt man einander und erfährt oft Dinge und Begebenheiten, Episoden, die alleine untergegangen oder übersehen würden." (DÜR, SCHEIDBACH 1995, S 14)

35 Salzburger Lehrer, die vorwiegend als Stützlehrer arbeiteten, setzten sich im Rahmen einer Fragebogenerhebung mit dieser Thematik auseinander und bestätigen die wesentlichen Kriterien für gelungene Teamarbeit: (BURMANN, MOSER[27] 1998)

Neben dem persönlichem Einsatz wurden Offenheit, Toleranz, Kritikfähigkeit, Flexibilität und persönliche Einstellung genannt. Eine Kollegin betonte besonders das "Gleichgewicht halten bezüglich der Positionen innerhalb der Klasse", so wie es nach LUGSTEIN[28] (1997) in jedem Team um Macht, Kompetenz, Anerkennung, Nähe und Distanz geht, und um das Gleichgewicht dieser Aspekte, ohne die eine Beziehung nicht funktionieren kann.

Nach anfänglicher Unsicherheit in der Zusammenarbeit, kamen einige Lehrer auch zu der Erkenntnis, dass man sich die Energie einteilen muss, dass man loslassen soll und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die des Teampartners haben darf. Ebenso wurde der persönliche Profit von der Zusammenarbeit betont, weil sich die Kollegen durch den Austausch von Ideen immer wieder neu anregen konnten und dazulernten.

Die meisten Lehrer erklärten, dass die Teamarbeit sehr zeitaufwändig ist, allerdings durch eine höhere Berufszufriedenheit belohnt wird, denn für zwei Drittel aller Befragten machte die Zusammenarbeit im Team Spaß, funktionierte gut und der erhöhte Einsatz wurde von Schülern und Eltern gewürdigt.

Dieses Ergebnis einer kleinen Umfrage (bezogen auf die Anzahl der befragten Lehrer) unterstreicht die Ergebnisse der Schulversuchsstudie Spechts, indem er 1993, S 39, folgendes Resümee zog:

"Ein weiterer wichtiger Punkt weist auf die sehr günstige Rezeption des Schulversuchs durch Lehrer hin, nämlich das hohe Ausmaß an Zufriedenheit und Bereicherung durch die hier institutionalisierte Möglichkeit einer engeren pädagogischen Zusammenarbeit mit Kollegen. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Misslingen einer solchen Kooperation die deutlich wichtigste Ursache ist, wenn bei Versuchslehrern in Einzelfällen Frustration und Resignation eintreten. Diese Fälle kommen aber recht selten vor."

Eine andere Expertengruppe[29] beklagt in ihrem Arbeitspapier die fehlenden zeitlichen Rahmenbedingungen für die Teamarbeit. Verpflichtende Teambesprechungen sind vom Gesetzgeber nicht gefordert, deshalb ist vor allem der Stützlehrer vom "guten Willen" des Klassenlehrers abhängig. Verweigert dieser die Zusammenarbeit oder stellt keine Besprechungszeiten zur Verfügung, lässt sich die Grundvoraussetzung für Zusammenarbeit, nämlich die gemeinsame Planung und Absprache, nicht einfordern. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass der Stützlehrer die Kinder mit SPF zur Förderung aus der Klasse nehmen muss, um wenigsten in dieser Form unterstützend arbeiten zu können.

Diese Situation ergibt sich häufiger in Stützlehrerklassen als in Integrationsklassen, wenn Volksschullehrer Integrationskinder nicht freiwillig unterrichten und zur Zusammenarbeit durch den gesetzlichen Auftrag oder den gesellschaftlichen Druck gezwungen werden.

Es wird in der Literatur auch der umgekehrte Fall dokumentiert: Sonderschullehrer glauben, dem behinderten Kind besser durch individuelle Förderung außerhalb der Klasse gerecht werden zu können und die Separierung durch den kognitiven Erfolg des Kindes rechtfertigen zu können. (BEWS 1992)

7.2 Die Aufgaben der Sonderpädagogen

RUTTE (1995) spricht in seinem Aufsatz die Zuständigkeit der Lehrer in der Klasse an:

"Die Fachlehrerin ist die Spezialistin für die Differenzierung, weil sie die Kern- und Erweiterungsbereiche ihres Faches am besten kennt. Die Sonderschullehrerin kennt dazu kindzentrierte Methoden und Arbeitsmaterialien, weiß um Behinderungen und Lernschwächen. Man tauscht sich in der gemeinsamen Vorbereitung aus und lernt in der gemeinsamen Arbeit voneinander."

Tatsächlich ist die Aufgabe des Sonderschullehrers sehr von den traditionellen Rollenbildern geprägt. Manche Fachlehrer erwarten vom Sonderschulkollegen wahre Wunder durch den Einsatz der Sonderpädagogik, andere wertschätzen die spezielle Förderung nicht sehr hoch, indem der Spezialist in der Klasse eine untergeordnete Stützfunktion spielen muss. Erst die Annäherung beider Extreme führt zu einer befriedigenden Rollenaufteilung, in der Kompetenztransfer und die gegenseitige Achtung voreinander sich entscheidend auf den Unterricht und die Zufriedenheit mit der Integration auswirken. Obwohl die Teamkollegen die Aufteilung im Prinzip selbst gestalten können, erachten erfahrene Integrationspädagogen jene Aufgaben als sinnvoll, die in der Grafik dargestellt werden. (vgl. SCHÖLER 1999, ZIELKE[30] 1988)

Die spezielle Differenzierung der Lernangebote für die Kinder mit SPF, das Erstellen von Förderplänen, die Besprechung mit Betroffenen (Eltern, Angehörigen...) und die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, die die Entwicklung der Kinder unterstützen können, sind die wesentlichen Aufgaben, wie aus Lehrerrückmeldungen hervorgeht. Aus den aktuellen Programmen der Pädagogischen Institute ist ersichtlich, dass das Erstellen von Förderplänen und die individuelle Förderung von Kindern mit SPF neben dem Erwerb von neuen Unterrichtstechniken vorrangige Themen der Integrationslehrerfortbildung sind

7.3 Die individuelle Förderung von Kindern mit Behinderungen im integrativen Setting

Die bereits erwähnte Salzburger Expertengruppe (1995) weist im Besonderen darauf hin, dass die Aufgabe des Integrationslehrers nicht nur darin bestehen kann, die Defizite des Kindes aufzuheben, sonder vielmehr "die nötige Akzeptanz für das abweichende Verhalten des Kindes zu vermitteln und möglichst optimale Lernbedingungen für das Kind mit SPF in der Regelschule zu schaffen."

Damit unterstreichen die Kollegen den Ansatz namhafter Integrationsforscher und der Integrationsbewegung in Österreich.

BINTINGER[31] (1999) zeichnete das Menschenbild, das der integrativen Bewegung zugrunde liegt mit folgenden Worten:

"Aus einem integralen Blickwinkel ist jeder Mensch ein "Integrum", eine integrierte Einheit vom Biologischem, Psychischem und Sozialem", wie Pestalozzi es ausdrückt, also eine Einheit von Kopf, Hand und Herz. Jeder Mensch hat folglich ein unteilbares Anrecht darauf, als gleichwertig und gleichberechtigt respektiert zu werden...ungeachtet der ihm möglichen oder nicht möglichen Leistungen."

Im Zeitalter der Produktivität, der Medien und der Globalisierung ist diese Art von Denken eine klare Abkehr von dem Bild des Menschen, den man nur an seinen Leistungen und an seiner Produktivität messen kann und aufgrund zu geringer Leistungskapazität aussondert, abschiebt und wegrationalisiert. Zwischen diesen beiden Ansichten existieren viele Facetten, die auf den Umgang mit Kindern und die Zusammenarbeit mit Kollegen entscheidenden Einfluss haben.

BEWS (1992) berichtet, welche Zerrissenheit und Zweifel sie während der Schuleingangsphase plagten, weil gerade diese Haltung den Kindern gegenüber mit der Teampartnerin nicht geklärt war. Legte sie als Volksschullehrerin eher Wert auf das soziale Miteinander, stand für die Sonderschullehrerin die individuelle Förderung der Kulturtechniken im Vordergrund. Diese Spannungen führten letztendlich sogar zu einer "Trennung" , die beide Lehrerinnen nur schwer verarbeiten konnten.

Dieses Beispiel macht deutlich, wie schwierig es sein kann, einerseits die soziale Integration zu leben und andererseits die individuelle Förderung nicht zu vernachlässigen. Werden diese beiden Bereiche in der Verantwortung personell klar getrennt, entsteht bald der Eindruck, dass der Sonderschullehrer nur für die Sonderschüler und der Volksschullehrer nur für Volksschüler zuständig ist, besonders dann, wenn sich die Schülergruppen auch noch räumlich voneinander entfernen.

Lehrer, die in Fachzeitschriften publizieren, setzen sich sehr häufig mit diesen Situationen in ihren Klassen auseinander und stellen mögliche Handlungsansätze dar, um die Integration und die individuelle Entwicklung der Kinder zu fördern.

Die Aktionsforschung ist dabei die am meisten angewandte Methode, also z.B. Tagebücher, Fallberichte und oder Resümees von Lehrerarbeitsgemeinschaften. In den folgenden Kapiteln soll dargestellt werden, wie die Lehrer mit den Kindern verschiedenster Behinderungen umgehen und welche Rahmenbedingungen dafür notwendig sind.

7.3.1 Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten

Eine große Herausforderung stellt die Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten für alle Lehrer dar, oder wie es GRABBE[32] (1989) treffend beschreibt:

"Kinder mit ausgeprägt destruktivem Verhalten kosten uns viel Kraft und Zeit. ...es handelt sich um Kinder , die das pädagogische Handwerkszeug des Lehrers dezidiert auf die Probe stellen, ihn zu bewusster gezielter Anwendung seiner professionellen Kompetenz herausfordern und in oft geradezu penetranter Weise die Lehrerpersönlichkeit auf Stabilität und Glaubwürdigkeit testen." (S54)

Soziale Verwahrlosung im Elternhaus, Fernbleiben des Kindes vom Unterricht, Aggressivität im Unterricht und in den Pausen, Übergriffe auf andere Kinder auf dem Weg in - und von der Schule und minimaler Lernerfolg trotz Intelligenz ist die Realität, mit der sich viele Lehrer konfrontiert sehen.

In Österreich unterstützen Beratungslehrer Kinder, Eltern und Lehrer, ohne die verhaltensauffälligen Schüler zu klassifizieren, bzw. einen sonderpädagogischen Förderbedarf auszusprechen. (vgl: STADLER, WAGNER[33] u.a. 1997) Erst wenn die Schwierigkeiten so massiv sind, dass die Förderung von mobilen Lehrern nicht mehr ausreicht, werden von der Behörde andere Maßnahmen für diese Schüler gesetzt. Der sonderpädagogische Förderbedarf ist die Voraussetzung für den Unterricht in einem integrativen Modell oder in der Sonderschule.

Trotz verschiedenster Maßnahmen ist der Erfolg nicht immer gewährleistet, weil diese Kinder enorm viel Aufmerksamkeit brauchen und die Lehrer fast täglich an die Grenzen der Belastbarkeit bringen.

SCHÖLER (1999, S 232 ff) stellt sich die Frage, was die Arbeit mit diesen Kindern so extrem schwierig macht und bietet ein Erklärungsmodell an, das auch die Situation in österreichischen Schulen verdeutlicht:

  • "Bei Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten fällt es schwer, besonders positive Fähigkeiten zu erkennen, auf denen aufgebaut werden kann, um ein stabileres Selbstbild zu entwickeln.

  • Die unangemessenen Verhaltensformen sind für die anderen Kinder so störend, dass es oft nicht gelingt, Verständnis und Geduld für das verhaltensgestörte Kind aufzubringen.

  • Die Fortschritte sind meistens so gering, dass Lehrerinnen und Lehrer leicht ungeduldig werden, und den Eindruck gewinnen, dass sich nichts ändert.

  • Mit den Eltern dieser Kinder kann selten oder nur unter großem Aufwand zusammengearbeitet werden.

  • Andererseits kann bei den Eltern der anderen Kinder auch nur sehr schwer Verständnis geweckt und erhalten werden, wenn deren Kinder über Wutausbrüche oder gestohlene Gegenstände berichten."

Die Pinzgauer Lehrer (BURMANN, MOSER 1998) kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen und machten sich im Rahmen der bereits erwähnten Studie Gedanken über die günstigeren Rahmenbedingungen zur Förderung der Zielgruppe.

Sie bezeichneten das Modell "Stützlehrerunterricht" als wenig geeignet für die Unterstützung dieser Kinder. Die Betreuung in Kleingruppen und in Integrationsklassen wäre ihrer Ansicht nach wesentlich vorteilhafter.

Diese Aussagen decken sich nur zum Teil mit den Erkenntnissen LUGHOFERs[34] (1996).

Mit Hilfe der Instrumente HAEBERLINs[35] (1989) und mit Soziogrammen versuchte sie herauszufinden, ob sich Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten (zu 75% männliche Schüler) in oberösterreichischen Klassen integriert fühlen. Zusätzlich befragte sie Lehrer in verschiedenen Organisationsformen (Sonderschule, Integrationsklasse, Stützlehrerklasse) wie sie die Integration dieser Kinder einschätzen.

Ganz eindeutig geht aus der Auswertung der Situation von 22 verhaltensauffällige Schülern hervor, dass diese dann schlechtere Bedingungen vorfinden, wenn sie mit anderen behinderten Kindern in einer Klasse betreut werden. Kinder mit Down Syndrom oder anderen Behinderungen sind wesentlich beliebter bei den Klassenkollegen und außerdem führe die Anhäufung von verschiedensten Problemen in einer Klasse zu einer Überforderung der Lehrkräfte. Lughofer fordert Konsequenzen aus dieser Erkenntnis, indem bei der Zusammenstellung der Klassen auf diese Problematik Rücksicht genommen werden sollte.

Stützlehrerklassen zeigen in dieser Studie ein relativ gutes Ergebnis im Bereich der sozialen Integration. Die Autorin vermutet einen engen Zusammenhang zwischen dem Grad der Behinderung und der Einschulung in ein gewisses Modell oder mit anderen Worten, Kinder die leichtere Verhaltensauffälligkeiten zeigen, werden eher im Stützlehrerunterricht betreut. Diese Aussagen seien jedoch durch weitere Studien zu überprüfen.

Die Sonderschule schneidet bei der Bewertung der Integration dieser Zielgruppe am schlechtesten ab, da sich die befragten Schüler in dieser Betreuungsform am wenigsten integriert fühlten.

Die Vielfalt an Schülerbegabungen und Verhaltensmustern in Integrationsklassen lässt erahnen, dass man vermehrt Konflikte zu lösen hat und die Konfliktfähigkeit und die Kommunikationsbereitschaft trainiert werden muss. Das trifft im Besonderen dann zu, wenn Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in der Klasse sind. Diese Tatsache verspüren Lehrer in ihrer Arbeit täglich und illustrieren es mit folgenden Aussagen: (BURMANN & MOSER 1998)

"Manuels Aggressivität wurde sehr bald für alle zum Problem. Immer wenn nicht gerade er im Mittelpunkt stand, versuchte er durch Belästigungen der Mitschüler Aufmerksamkeit zu erregen. Durch seine überdurchschnittliche Körperkraft und seine manchmal unkoordinierte Bewegungen kam es dabei des öfteren zu auch zu blauen Flecken bei den Mitschülern"

Auf diese Störungen muss man reagieren und den Schülern Möglichkeiten anbieten, damit fertig zu werden, im besten Fall zu kreativen Lösungen zu kommen.

"Treten Spannungen oder Probleme unter den Schülern auf, werden sie oft gemeinsam besprochen. Dazu dient unser Morgenkreis auf einem großen Teppich. Er wird zwei bis drei Mal pro Woche auf Wunsch eines Schülers einberufen. Am Dienstag Nachmittag haben sich zwei Unterrichtsstunden bewährt, in denen spielerisch in Kombination mit Zeichnen oder Musik soziales Lernen geübt wird",

schreibt ein Lehrerteam über die Bewältigung der Schwierigkeiten.

Ein anderes Lehrerteam berichtete über die Chancen und Möglichkeiten der Bewältigung dieser Probleme im Team, indem gemeinsam versucht wird, Lösungsmöglichkeiten zu finden.

WIENECKE-KRANZ[36] (1997) und ihre Teamkollegin stellten sich angesichts der Schwierigkeiten mit einem Kind ihrer Integrationsklasse intensive Fragen über die Situation des Kindes zu Hause und in der Schule. Sie versuchten durch konsequente Beobachtung einzelne Störfaktoren zu analysieren, um diese durch verschiedenste Interventionen zu beheben. So fiel es dem Kind schwer, frontale Unterrichtseinheiten in einer Gruppe von Mitschülern ohne Störungen auszuhalten oder auch freie Spielphasen ohne Aggressionen anderen gegenüber durchzuhalten. Für beide Unterrichtssequenzen fanden die Lehrerinnen Lösungen, um das verhaltensauffällige Kind zu unterstützen, bzw. auch den anderen Kindern die Chance zum Gruppengespräch zu geben, indem sie den Buben in Spielphasen regelmäßig zur Seite standen oder aus dem Unterricht herausnahmen, wenn es notwendig erschien. Insgesamt führte das

"...Zusammentragen unserer persönlich geprägten Wahrnehmungen und der unterschiedlichen Erfahrungen...immer wieder zu neuen Versuchen den Unterricht umzugestalten, um auch diesen Kindern gerecht zu werden."

Aus diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig die Diagnose für den Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern ist. LEDL[37] (1997) arbeitete diesbezüglich einen Diagnosebogen aus, der die Suche nach lösungsorientierten Ansätzen erleichtert.

Nach TSCHÖTSCHEL-GÄNGER[38] (1997) soll die Auseinandersetzung mit dem verhaltensauffälligen Kind auch dessen Umwelt (Eltern, Großeltern, Freunde, Lehrer, Schule,..) und die Lehrerpersönlichkeit mit einschließen. Anhand von Fallbeispielen aus ihrer Praxis und einem modifiziertem Modell von COHN[39] (1975) stellt sie dar, wie komplex die Interventionen für emotional beeinträchtigte Kinder sein können und die verschiedensten Ressourcen genützt werden sollen, um die Situation zu entschärfen.

Durch die steigende Anzahl von Kindern mit Auffälligkeiten wurden in einigen Bundesländern regelmäßig tagende, interdisziplinäre Beratungsteams eingerichtet, um die Lehrkräfte und Betroffenen in der Lösungsfindung zu unterstützen.

Zusätzlich bieten die Pädagogischen Institute laufend Fortbildungen zu diesem Themenkomplex in unterschiedlicher Intensität an. Einzelne Informationsnachmittage finden ebenso statt, wie länger dauernde Lehrgänge oder Supervisionsgruppen, die vorwiegend nach dem Unterricht und an Wochenenden von den Lehrern besucht werden.

7.3.2 Integration von Kindern mit Sinnesbehinderungen

Seit Mitte der 80iger Jahre wurde die Integration von Kindern mit Sinnesbehinderungen in allen Bundesländern vorangetrieben und Lehrer ausgebildet, die im mobilen Dienst die Standorte, deren Lehrer, Eltern und Schüler unterstützen. Da es anfänglich noch kaum Integrationsklassen gab, wurden die Schüler vorwiegend im Stützlehrerunterricht betreut. Experten von regionalen oder überregionalen Sonderpädagogischen Zentren beraten die Klassenlehrer zusätzlich, damit die individuelle Förderung und die Ausstattung mit den notwendigen Behelfen gewährleistet ist. Mittlerweile gibt es auch einige Integrationsklassen, in denen Sinnesbehinderte mit anderen Kindern gemeinsam von zwei Lehrerinnen unterrichtet werden (z.B. in Form der "umgekehrten Integration" an Sonderschulen).

7.3.2.1 Integration von Kindern mit Sehschädigungen

Sehbehinderte Schüler bekommen adäquate Sehhilfen (Brille, Lupe, Vergrößerungsgeräte für Arbeitsblätter und Bücher, sowie einen Computerarbeitsplatz, wenn sie die Arbeit mit der Tastatur und die Braille Schrift erlernen. Schulbücher werden in Braille zur Verfügung gestellt, bzw. immer häufiger auf CD Rom gespeichert. Für einen Schulanfänger sehen die Anforderungen an blindenspezifische Hilfsmittel nach einer Broschüre des BMUK[40] (S 29), die von österreichischen Sehgeschädigtenpädagogen verfasst wurde, folgendermaßen aus:

  • "2 Blindenschreibmaschinen (je ein Perkins-Brailler für die Schule und zu Hause) Leseaufsatz für Perkins-Brailler, Punktschriftpapier)

  • Mappen für Punktschrifttexte und tastbare Zeichnungen

  • eventuell Schreibtafel mit Griffel und Stichel

  • rutschfeste Unterlage und Unterlage zur Lärmdämmung des Braillers

  • Maßband, Zollstock, Magnettafel, Magnetmaterial,

  • Materialien zur blindengrechten Adaptierung von Unterrichtsmitteln wir Konturenpaste, DC-fix Folie, Klebeetiketten, Fadenmaterial Dymo Prägezange, stabiler 4er Locher etc...

  • adaptierte Würfel und Spiele

  • Materialien zum Bauen und Konstruieren (z.B. Duplo oder Lego etc..)

  • Schalenwaage, Akustikball, Langstock usw."

Wie man sich aufgrund der Menge an Materialien und technischen Hilfsmitteln vorstellen kann, beansprucht ein sehgeschädigter Schüler mehr Platz als seine sehenden Kollegen in der Klasse. Gleichzeitig soll man darauf achten, dass das Kind durch die technische Unterstützung nicht völlig isoliert im Klassenraum sitzt, denn die Betreuung zielt nicht nur auf die technische Ausstattung, wie FLEMMICH[41] (1994) darstellt:

"Zu den Aufgaben eines Sehbehinderten- und Blindenlehrers gehört es nicht nur, das Kind in seinen schulischen Leistungen zu fördern und den technischen Ablauf des Unterrichtsgeschehens zu ermöglichen, sondern auch den Schüler in seiner gesamten Personalisation und Sozialisation zu unterstützen. Daher kann der schulische Erfolg alleine nicht als Gradmesser für eine Integration eines Kindes herangezogen werden. Das Arbeitfeld der integrativ tätigen SehgeschädigtenpädagogInnen geht über den Bereich der Schule hinaus."

Die mobilen Lehrer übernehmen in ihrer Arbeit verstärkt beratende und koordinierende Funktionen, wie aus der Umfrage (FLEMMICH 1994) hervorgeht.

Der Unterricht wird die meiste Zeit vom Klassenlehrer mit Hilfe des Sehgeschädigtenlehrers gestaltet, da die Unterstützung nur einige Stunden pro Woche verfügbar ist. Wenn blinde oder sehbehinderte Kinder in Integrationsklassen integriert sind, wird zusätzlich die Beratung des Fachexperten in Anspruch genommen.

Wie in einigen "Fallgeschichten" der Broschüre (BMUK) zu lesen ist, nimmt man auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder Rücksicht, indem neben der Schulung sehbehindertenspezifischer Techniken auch die nicht beeinträchtigten Sinne besonders aktiviert werden. Insgesamt ist die Art der Unterstützung jedoch von der Schwere der Behinderung und von der Persönlichkeit des Behinderten abhängig. Individuelle Förderpläne und die enge Zusammenarbeit mit Eltern und beteiligten Lehrern sind gute Voraussetzungen für die erfolgreiche Integration.

In den letzten Jahren gewann der Bereich "Orientierung und Mobilität" und "Lebenspraktische Fertigkeiten" immer mehr an Bedeutung, weshalb die Kinder in den Schulen von speziell ausgebildeten Lehrern trainiert werden.

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich den ersten vollblinden Integrationsschüler Österreichs zu Wort kommen lassen, dessen Stützlehrer in der Abschlussarbeit für die Ausbildung zum Lehrer für Sehbehinderte und Blinde, die Integration als gelungen betrachtet:

" Ich nahm ganz normal am Unterricht teil und war ein verhältnismäßig guter Schüler. Mit der Mathematik hatte ich - wie auch heute noch- leider meine Probleme, was wohl nicht nur auf die technischen Schwierigkeiten zurückzuführen ist. Ich kann nichts machen, aber das Fach interessiert mich einfach nicht. ...Meine Lehrer, oder eigentlich meine Lehrerinnen, denn in der VS Fürstenbrunn unterrichteten nur Frauen, behandelten mich genauso wie meine Mitschüler. Die Buchstaben lernte ich in der Brailleschrift parallel mit den Kollegen. Ab der zweiten Klasse verwendete ich den Computer."

7.3.2.2 Integration von Kindern mit Hörschädigungen

HEGER, VELISSARIS u. LESIGANG[42] (1998) stellen in ihren Artikeln die Arbeit mit hörgeschädigten Kindern in einer Integrationsklasse aus verschiedenen Blickwinkeln dar. Die Mutter berichtet über die erfreulichen Fortschritte ihrer hörbehinderten Tochter, die Lehrer gehen detailliert auf das Gesamtkonzept des Unterrichts ein. Im Vordergrund steht dabei weniger das Defizit der nicht hörenden Schüler, als die Fähigkeiten, die beide Schülergruppen (Hörgeschädigte und Hörende) in dieser Gemeinschaft entwickeln.

Technische Voraussetzungen, wie ein Mikrofon oder die Unterstützung durch eine besonders sorgfältige Gesprächskultur fließen in die allgemeinen Rahmenbedingungen ein. Der Jena-Plan ist das Grundkonzept, mit dem in der Klasse mit offenen Lernformen und projektorientiert im Team gearbeitet wird.

"Neben dem hohen Stellenwert des sozialen Lernens findet die Gestaltung des Unterrichts für Kinder von Kindern statt. ...Die dazu erforderliche schülerzentrierte Einstellung von Lehrerinnen äußert sich in einem grundlegendem Vertrauen in die konstruktiven Kräfte und das natürliche Wachstumspotential jeder Person. Dieses Vertrauen können wir jedoch nicht mit Worten vermitteln, sondern in erster Linie durch unser tägliches Handeln. Teamarbeit und Kreativität der Lehrerinnen ist gefragt und gefordert und es muss ein breit gefächertes Angebot zur Verfügung stehen." (HEGER 1998)

Letztendlich führt dieser Einsatz zur Zufriedenheit aller. Die Artikulationsfähigkeit der hörgeschädigten Kinder verbesserte sich nach Aussagen der Sonderpädagogen und Logopäden wesentlich. Trotz aller Ängste vor der Einschulung ist die Mutter jetzt sehr zuversichtlich mit der Entwicklung ihres hörbehinderten Kindes. Besonders betont sie die Wichtigkeit der Zusammenarbeit zwischen den Lehrer und den Eltern.

Am Landesinstitut für Hörbehinderte in Salzburg gibt es seit zwanzig Jahren Erfahrungen zur integrativen Betreuung von Kindern mit Hörschädigungen. Zunächst wurden für Vorschulschulkinder therapeutischen Maßnahmen gesetzt, um deren spätere schulische Integration am Wohnort zu ermöglichen und seit ca. zehn Jahren ist die mobile Stützung von hörbehinderten Schülern durch ausgebildete Pädagogen ein zentraler Bestandteil des Angebotes am LIH.

Die "jüngsten Kinder" des innovativen Institutes sind die integrativen Klassen mit dem Titel "Umgekehrte Integration". Nach der Installation des erfolgreichen integrativen Kindergartens werden seit vier Jahren im Rahmen eines Schulversuchs Kinder mit- und ohne Hörbehinderungen gemeinsam unterrichtet.

Aus der Projektbeschreibung kann man entnehmen, auf welcher hypothetischen Grundlage der Schulversuch entwickelt wurde: (FRAUNDORFER 1998)[43]

"Vorteile für die hörbehinderten Kinder

  • Sie haben ein lautsprachliches Umfeld. Schwerhörige Kinder können ihre Lautsprache dadurch stetig verbessern. Durch das tägliche gemeinsame Leben und Lernen akzeptieren auch gehörlose Kinder die Notwendigkeit des Erwerbs der Lautsprache schneller und leichter.

  • Sie haben zusätzlich ein gebärdensprachliches Umfeld. Dadurch kann ein Kommunikationsnotstand bzw. eine Kommunikationslosigkeit vermeiden werden.

  • Durch die größere Gruppe können sie mehr soziale Erfahrungen machen. Freundschaften bleiben nicht mehr alleine auf ebenfalls hörbehinderte Kinder beschränkt. Durch die räumliche Nähe können auch Kontakte im Freizeitbereich stattfinden. Andere, neue Wege der Problemlösung können erprobt werden.

  • Durch das Vorbild der hörenden Mitschüler werden die hörgeschädigten Kinder zu höheren sprachlichen Leistungen angespornt.

  • In diesen Schuljahren werden die hörbehinderten Kinder bereits auf das spätere gemeinsame Leben mit hörenden Erwachsenen vorbereitet.

Vorteile für die hörenden Kinder

  • Unterricht in einer kleineren Gruppe. Eventuell vorhandene Schwächen können schneller und effizienter aufgefangen, besondere Stärken gefördert werden.

  • Kennenlernen des gemeinsamen Lebens mit Menschen mit einer Behinderung.

  • Erlernen der Gebärdensprache im "Vorbeigehen"[44]. Diese Kinder haben später, abgesehen von der Kommunikationsbasis mit Hörgeschädigten international, auch die Möglichkeit zum beruflichen Einsatz (z.B. als Dolmetsch, als Lehrer, als.. mit Gebärdenkenntnis)

  • Möglichkeit der Teilnahme an außerschulischen und therapeutischen Abgeboten (Z.B. ORFF - Gruppen, Musik - und Bewegungstherapie,...)"

Mittlerweile gibt es die ersten Rückmeldungen von Eltern und Lehrerinnen, ob bzw. in welchem Ausmaß diese Vorstellungen verwirklicht werden konnten. Die Befragung von Eltern über die Zufriedenheit der Integration in der zweiten und vierten Klasse (N= 22) ergeben ein sehr erfreuliches Feedback für die Lehrerinnen, die im Team unterrichten. Im Detail wurde nach der Schulfreude der Kinder, der Zufriedenheit mit der individuellen Förderung, der Zusammenarbeit der Eltern und Lehrer und dem Ordnungsrahmen gefragt. In beiden Klassen erreicht die Gesamtzufriedenheit ca. 85% (Eltern die zufrieden und sehr zufrieden sind) Immerhin ist ein weiterer Teil der Eltern (8%) neutral dazu eingestellt. (MOSER[45] 2000)

An einem Elternabend wurde herausgearbeitet, welche Aspekte für die Eltern entscheidend zur Zufriedenheit beitragen, bzw. Anlass zur Sorge sind. Dabei stellte sich heraus, dass besonders der soziale Bereich und die speziellen Fördermöglichkeiten in der kleinen Klasse durch den Unterricht im Team sehr positiv erlebt werden. Die Eltern behinderter Kinder betonten die Freude mit den zusätzlichen Förderangeboten für ihre Kinder. Heilpädagogisches Voltigieren, Sprachunterricht und therapeutische Übungen beeinflussten die Kinder offensichtlich in ihrer Entwicklung und in der Artikulation positiv. Dass in der Klasse selbständig gearbeitet wird, ist den Müttern und Vätern zwar bewusst, Auswirkungen auf die Arbeit zu Hause können sie noch nicht entdecken. Eine Mutter nahm an, dass es vielleicht mit dem Alter bzw. dem Entwicklungsstand zusammenhänge oder auch mit dem Charakter der Kinder, die von sich aus selbst- oder unselbständiger wären.

Die Volksschüler zeigen nach Aussagen der Eltern ein überaus positives soziales Verhalten gegenüber behinderten oder benachteiligten Menschen, das sich auch über die Schule hinaus auf Kontakte zu anderen auswirkt. Die geringe Klassengröße würde nach Auskunft eines Vaters den Zusammenhalt in der Gruppe noch stärken, weil das Auseinanderfallen in noch kleinere Gruppen gar nicht mehr möglich wäre.

An drei Standorten im Pinzgau wurden Schüler mit Hörbehinderungen integriert, die zum Großteil nach dem Lehrplan der Volksschule geführt und von Experten zusätzlich unterstützt wurden. Aufgrund einer Befragung (BURMANN & MOSER ) äußerten sich die Volksschullehrer sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit aller Beteiligten und erlebten die Integration von hörbehinderten Kindern größtenteils als Bereicherung.

Allerdings wurde auf die Notwendigkeit umfangreicher Rahmenbedingungen Wert gelegt.

Angeführt wurden die Zusammenarbeit mit den Eltern für die wöchentlichen Absprachen oder zur Herstellung geeigneter Materialien (z.B. vermehrtes Bildmaterial), Teambesprechungen, Unterstützung von Seiten des Sonderpädagogischen Zentrums für Sinnesbehinderte, schallgedämpfte Räume, methodische Maßnahmen im Unterricht zum besseren Verständnis für das hörbehinderte Kind, Hilfestellungen im Bereich der Kommunikation wie zum Beispiel der Aufbau einer Gebärdensprache, der Einsatz von technischen Hilfsmitteln (Funkanlage) oder der verstärkte Einsatz von optischen Lehrmitteln.

Das Pädagogische Institut bietet den Lehrern die Möglichkeit, an Seminaren zur Vermittlung der Gebärdensprache teilzunehmen. Dieses Angebot wird auch von den Volksschullehrern sehr intensiv genutzt.

7.3.3 Integration von Kindern mit Down-Syndrom

"Vor allem die Auffassung über die Entwicklungsfähigkeit von Kindern mit Down Syndrom zeigt eine weite Streuung: Wie überholt noch heute Auffassungen zur geistigen Behinderung sind, soll im folgenden exemplarisch am Down Syndrom aufgezeigt werden. Kinder mit DS werden oft von vornherein für geistig behindert erklärt (RETT 1983), obwohl schon BACH (1979) eindringlich vor einer solchen Gleichsetzung gewarnt hat. Allerdings ist auch festzustellen, dass sich zwar in Bezug auf die Diagnose 'Trisomie 21' die Fachleute immer schnell einigen, aber zunehmend unsicherer werden, wenn es darum geht , Aussagen darüber zu machen, was Kinder mit DS lernen (Dittmann 1982) Viele können außerhalb von Institutionen leben, die meisten sind nur mäßig retardiert und einige wenige erreichen nahezu normale Intelligenzniveaus. (MAIKOWSKY / PODLESCH 1988, S. 264)", BEWS (1992 S.99)

Dieser Aussage wäre eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Aufgrund der vorliegenden Arbeiten möchte ich noch verdeutlichen, wie verschieden der Unterricht und die Maßnahmen für diese Kinder sein können.

In der VS Bersbuch wurde ein behindertes Kind (Maria) im Stützlehrermodell unterrichtet. Diese Form der Betreuung stellte die Lehrerinnen vor eine besondere Herausforderung, weil das Mädchen sehr verhaltensauffällig war. Sie biss die anderen Kinder, schlug um sich und war schnell wütend, wenn ihr etwas nicht gelingen wollte. Durch die Sprachbehinderung war sie für manche Kinder schwer verständlich, was zusätzlich zu Kommunikationsschwierigkeiten führte.

Mit Hilfe der Sprachtherapie konnte die Sprachfähigkeit des Kindes verbessert werden und in Folge verbesserte sich auch die Verständigung.

"Das erste Jahr war also mehr ein Abtasten der Situation, ein Herausfinden, wieweit man gehen durfte, inwieweit Maria auch gefordert werden konnte, ohne sie in ihre aggressive Haltung zurückzudrängen. Bis in die vierte Klasse galt es für die beiden Lehrer, in jeder Stunde die Prioritäten neu zu setzen, von Situation zu Situation neu abzuwägen..." PFANNER[46] (1996, S.91)

Die Lehrerinnen widmeten der sozialen Integration des Kindes besonders viel Aufmerksamkeit, indem Konflikte von Seiten der Lehrerinnen und der Mitschüler angesprochen wurden. Im Laufe der Zeit lernten die Nichtbehinderten sich besser abzugrenzen, aber auch Eigenheiten zu tolerieren. Manchmal gelang es sogar eher den Kindern, das Mädchen wieder zur Mitarbeit zu bewegen, als den Lehrerinnen.

In der jahrgangsübergreifenden Klasse wurde im Abteilungsunterricht gearbeitet, das bedeutete, dass auch ältere Kinder jüngeren Hilfestellung geben mussten, bzw. auch das Mädchen mit Down Syndrom die Unterstützung von anderen Kindern bekam.

Ein großes Problem stellte die geringe Stundenanzahl dar, in der die Stützlehrerin in der Klasse eingesetzt wurde. Maria beanspruchte die Stützlehrerin sehr für sich und konnte sich schwer damit abfinden, dass "ihre" Lehrerin auch für andere Kinder da sein wollte.

Dieses Problem wurde gelöst, indem die Sonderschullehrerin vermehrt gemeinsam mit der Klassenlehrerin alle Kinder unterrichtete. Die Arbeit im Team förderte zudem die Autorität der Sonderschullehrerin vor den nicht behinderten Kindern.

Das Mädchen in BEWS' Klasse, Katharina, war sehr still und zurückhaltend, interessierte sich jedoch für alles, was um sie herum vorging und sie schloss auch schnell Freundschaften. Ihre sozialen Fähigkeiten werden von der Autorin als hervorstechend beschrieben.

Ebenso wie für das Mädchen in der VS Bersbuch war die Sprachanbahnung ein zentraler Teil der individuellen Förderung, die anfänglich außerhalb der Klasse mit einer Sprachheillehrerin trainiert wurde.

Später gelang es den Lehrerinnen immer mehr durch innere Differenzierung die Sprachförderung im Klassenverband einzubinden und damit den Bedürfnissen des Mädchens entgegenzukommen, mit den anderen Kindern "am gemeinsamen Gegenstand" (FEUSER 1987) lernen zu können. Wie LUGHOFER (1996) in ihrer Studie feststellt, sind Kinder mit Down Syndrom oft der "Liebling" der Volksschulkinder. Auch Katharina wurde besonders viel Aufmerksamkeit und Geduld geschenkt, wenn sie sich nicht gut artikulieren konnte. Im Gegensatz zu Maria hatte Kathi genügend Frustrationstoleranz, ihre sprachlichen Defizite durch Fantasie und Ausdauer zu kompensieren.

In einem Beitrag von Absolventinnen der Integrationslehrerausbildung am PI Klagenfurt FRANZ u. HUNKA [47] (1998) wird der Leselernprozess eines Buben (Peter) mit Down Syndrom beschrieben. Nach den Prinzipien Montessoris und nach einem Leselernkonzept von Iris MANN[48] lernten die Schüler der Integrationsklasse das Lesen durch die Einbindung aller Sinne, auch des Bewegungssinnes. Die einzelnen Buchstaben wurden mit Bewegungen verankert. Für Peter bestand die Motivation des Lesenlernens vor allem durch das gemeinsame Tun mit seinen Mitschülern. Am Ende der zweiten Klasse beherrschte er alle Buchstaben.

Viele Kinder mit Down Syndrom haben eine verzögerte Sprachentwicklung und eine eingeschränkte Artikulationsfähigkeit. Sie kommen vielfach mit einem Herzfehler auf die Welt und neigen zu Übergewicht. Ihre sozialen Fähigkeiten und die Offenheit mit der sie auf andere zugehen ist oft herzerwärmend, aber ......

diese Beschreibungen treffen eben nicht auf alle Kinder mit dieser Behinderung zu, wie die beiden Beispiele aus Vorarlberg und Wien zeigten.

7.3.4 Integration von Kindern mit Autismus

Die Integration von Kindern mit Autismus wurde in Wien besonders gefördert, indem verschiedenste Institutionen in die Vorbereitung und Begleitung eingebunden waren. 1994 begann auf Initiative des zuständigen Landeschulinspektors in Zusammenarbeit mit der Klinik, der Autistenhilfe, der Lehrer und Eltern das Projekt "Schulische Integration für Kinder mit autistischer Wahrnehmung."

Durch die intensive Vorbereitung der Lehrer und Eltern auf die Integration der Kinder mit autistischer Wahrnehmung konnten rechtzeitig Lehrerteams gebildet, die Fortbildung gesichert und die wissenschaftliche Begleitung organisiert werden. 1997/98 gab es 10 Integrationsklassen, deren Lehrer mit Unterstützung der Integrationsbeartungsstelle eine Plattform zum gegenseitigen Austausch bildeten.

Für die Zusammensetzung der Klassen wurden Experten Sonderpädagogischer Zentren, der Autistenhilfe und der Integrationsberatungsstelle eingebunden.

Die Begleitstudie der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie versuchte folgende Fragen zu beantworten:

  1. "Ist der integrative Unterricht mit autistisch behinderten Kindern möglich?

  2. Wie verliefen die individuellen Entwicklungen der autistisch behinderten Kinder?

  3. Unterschieden sich die pädagogischen Konzepte /Realitäten in den Schulklassen?" BERGER/MUTSCHLECHNER[49] (1998)

ad 1: Im Laufe des Schuljahres traten keine Krisen auf, die eine klinische Intervention erforderlich gemacht hätten. Alle Schüler verblieben mit unterschiedlichen Unterstützungsmaßnahmen in ihren Klassen.

ad 2: Alle Kinder veränderten sich in den Bereichen : Selbststeuerung, soziale Kommunikation, Stereotypien und autoaggressive Tendenzen deutlich positiv, im kognitivem Bereich in geringerem Maße.

ad 3: Die Realisierbarkeit der Integration steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Schweregrad der Behinderung.

Der Autor würdigt vor allem das Engagement der Lehrer, die diese Integration erst möglich gemacht haben.

Der Bericht der Autistenhilfe geht vorwiegend auf die Rahmenbedingungen und die positiven Aspekte der Integration für autistische Kinder ein. Da diese Kinder gerne nachahmen, ist die integrative Beschulung vorwiegend wegen der "natürlichen" Verhaltenspalette und der Vorbildwirkung nicht behinderter Kinder günstiger als in der Sonderschule . Unverzichtbar ist die Freiwilligkeit der Lehrer, und die bedachte Zusammensetzung der Klasse. Kinder mit autistischen Wahrnehmungsstörungen brauchen sehr viel an Einzelzuwendung, die vor allem in der Anfangsphase möglich sein muss, bis das Kind die ersten Unsicherheiten überwunden hat und sich auch mit Lerninhalten beschäftigen kann, wenn der Lehrer nicht in unmittelbarer Nähe ist. Der Verein bietet Unterstützung in Form von stundenweiser Begleitung durch Praktikanten oder durch Fallsupervision, die die Lehrer in Anspruch nehmen können. Vgl: MLZCOCH[50] 1998.

Die umfangreiche und frühzeitige Vorbereitung erachten die Lehrer sehr wichtig. Besonders die Fortbildung und Fachbegleitung durch FEUSER vermittelte ihnen das Rüstzeug für die integrative Betreuung, die durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Klinik, der Autistenhilfe, der Integrationsberatungsstelle u.a. noch verstärkt wurde.

In der Klasse selbst arbeiteten sie häufig mit offenen Lernformen und versuchten alle Kinder durch innere Differenzierung im Unterricht speziell zu fördern.

"Offenes Lernen und Stationenbetrieb sind in unserer Unterrichtsplanung ein absolutes Muss. Dadurch schafften wir uns auch Freiräume für die Arbeit speziell mit unserem autistischen Kind." ETTINGSHAUSEN/ GRUBICH[51] 1998.

Letztendlich kommt in diesem Artikel auch noch die Mutter zu Wort, die mit der Entwicklung ihrer Tochter und der sozialen Einbettung in eine Volksschulklasse sehr glücklich ist. Die Kommunikationsbereitschaft, die motorischen Fähigkeiten, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die Akzeptanz von Regeln verbesserten sich im Laufe des ersten Schuljahres; eine Entwicklung, zu der man allen Beteiligten nur gratulieren kann!



[15] GSTETNER P.: Integration und interkulturelles Lernen in einer Schule ohne Grenzen, in: Behinderte, 1999/1, S.43-57

[16] RUTTE V.: Schulische Integration in Österreich, ein Situationsbericht anlässlich des 11.Österreichischen Integrationssymposiums in Innsbruck, in: Betrifft Integration 1996/3, S.136-139

[17] WETZEL G., MOSER M., BREJCHA H., RIEDLER H., WEISS S.: Kinder mit Auffälligkeiten - Studie zu Rahmenbedingungen und Praxis des Unterrichts in Volksschulklassen, in: Erziehung und Unterricht 1999/10, S. 672-685

[18] WOCKENH.: Gemeinsame Lernsituationen. Eine Skizze der Theorie des gemeinsamen Unterrichts, in: HILDESCHMIDT, A.& SCHNELL, I.(Hrg.), Integrationspädagogik - Auf dem Weg zu einer Schule für alle, Weinheim 1998: Juventa, S. 37-53.

[19] FEUSER G.: Aspekte einer integrativen Didaktik unter Berücksichtigung tätigkeitstheoretischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse, in: EBERWEIN, H. (Hrg.): Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam, Weinheim 1997, Beltz, S. 215-226.

[20] EBERWEIN, H.: Integrationspädagogik als Element einer allgemeinen Pädagogik und Lehrerausbildung, in: HILDESCHMIDT, A. & SCHNELL, I. (Hrg.): Integrationspädagogik - Auf dem Weg zu einer Schule für alle, Weinheim1998, Juventa, S. 345-362.

[21]

[22] WEINERT F.: Entwicklung im Grundschulalter, Weinheim 1997

[23] HUTTER S.: Gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern, Erfahrungen in der 1a Klasse der VS Tosters, Hausarbeit an der Pädagogischen Akademie Feldkirch 1996

[24] DÜR A., SCHEIDBACH B.: Ohne "Wenn und Aber", Schulische Integration in Vorarlberg, Diplomarbeit an der Universität Innsbruck, Innsbruck 1995

[25] KRAWITZ R., THEIS-SCHOLZ M., THÜMMEL I.: Kooperation von Grund- und Sonderschullehrern in integrativem Unterricht, in: Sonderpädagogik 1995/2, S.102-107

[26] SCHÖLER J.: Integrative Schule- Integrativer Unterricht, Ratgeber für Eltern und Lehrer, Berlin 1999, S. 69 ff

[27] BURMANN K., MOSER I.: Integration im Pinzgau, Ergebnisse einer Befragung zur Integration in den Volks- und Hauptschulen, Tischvorlage für die Lehrerfortbildung, Salzburg 1998

[28] LUGSTEIN J.: Teamteaching in Integrationsklassen, in: Integrativer Unterricht, Broschüre des BMUKA, Wien/Klagenfurt 1997

[29] Arbeitspapier zur Situation der Integrationslehrer im Bezirk Salzburg-Umgebung, unveröffentlichtes Manuskript, Salzburg 1995

[30] ZIELKE : Die Aufgaben des Sonderpädagogen, in: EBERWEIN H. (Hrsg).:Behinderte und nichtbehinderte lernen gemeinsam. Handbuch der Integrationspädagogik, Weinheim 1988

[31] BINTINGER B.: Integration und Inklusion als Herausforderung an Gesellschaft und Schule , in: Behinderung, Integration in der Schule , Wien 1999, S. 43-57

[32] GRABBE B.: Unterricht mit verhaltensauffälligen Kindern in: Grundschule 1998/11

[33] STADLER H., WAGNER W., TURRINI G., PIZZATO D., LINDNER PLACH M., NOWAK R., MATT A., MIRZINGER CH., PIRCHNER E., SCHILLINGS CH.: Verhaltensauffälligkeiten- integrative Beratungs- und Betreuungsformen in Österreich, in: Integration in der Praxis, 1997/10

[34] LUGHOFER TH.: Soziale und emotionale Integration von verhaltensauffälligen Kindern, Diplomarbeit an der UNI Salzburg 1996

[35] HAEBERLIN U., BLESS G., MOSER U., & KLAGHOFER R.: Integration in die Schulklasse, Fragebogen zur Erfassung von Dimensionen der Integration von Schülern, FDI 4-6, Bern 1989

[36] WIENECKE-KRANTZ J.: Tägliche Wutausbrüche, Schreien, Schlagen, Umsichwerfen - Wir waren innerlich fast nur mehr mit Dirk befasst, in: Integration in der Praxis 1997/1, S.3-7

[37] LEDL V.: Diagnostik bei Verhaltensstörungen, in: Integration in der Praxis 1997/1

[38] TSCHÖTSCHEL- GÄNGER CH.: Möglichkeiten und Grenzen der Integration verhaltensauffälliger Kinder- ein Modell für Diagnose und Intervention, in: Integration in der Praxis 1997/1, S.17-24

[39] COHN R.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion, Stuttgart 1975

[40] BMUKA: Sonderpädagogischer Förderbedarf bei Kindern mit Sehschädigung , Das blinde Kind, Zentrum für Schulentwicklung, Klagenfurt 1998

[41] FLEMMICH M.: Arbeitsbedingungen integrativ tätiger Sehgeschädigtenpädagogen in Österreich, unveröffentlichtes Manuskript, Salzburg 1994

[42] HEGER I., VELISSARIS u. LESIGANG, G.: Erfolgreiche arbeit in der Integrationsklasse mit hörgeschädigten und hörenden SchülerInnen, in: Heilpädagogik, 1998/3

[43] Fraundorfer St.: Umgekehrte Integration, Integrative Volksschule am Landesinstitut für Hörbehinderte, Salzburg 1998

[44] Wenn man weiß, wie schwierig es für die Erwachsenen ist, Gebärde zu erlernen, und umgekehrt, wie leicht Kinder eine Sprache lernen, dann werden die Möglichkeiten die in diesem Angebot stecken, offenbar.

[45] MOSER I.: Umgekehrte Integration am Landesinstitut für Hörbehinderte Salzburg, in: Der Spitzer 2000 & unveröffentlichter Evaluationsbericht, Salzburg 2000

[46] PFANNER S.: Gemeinsamer Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern in einer wenig gegliederten Grundschule - Erfahrungen in der Volksschule Bersbuch, Hausarbeit an der Pädagogischen Akademie, Feldkirch 1996

[47] FRANZ U., HUNKA H.: Peter und die Buchstaben in: Integration in der Praxis, 1998/9, S.19 ff.

[48] MANN I.: Lernen können ja alle Leute. Lesen -Rechnen- Schreiben nach der Tätigkeitstheorie, Weinheim/Basel 1995

[49] BERGER E.; MUTSCHLECHNER R.: Kinder mit autistischer Wahrnehmung und deren integrative Betreuung in Wien, in: Integration in der Praxis, 1998/9, S.33f

[50] MLZCOCH T.: Kinder mit autistischer Wahrnehmung und deren integrative Betreuung in Wien, in: Integration in der Praxis, 1998/9, S.35

[51] ETTINGSHAUSEN I., GRUBICH R.: Kinder mit autistischer Wahrnehmung und deren integrative Betreuung in Wien, in: Integration in der Praxis, 1998/9, S.36f

8. Die selektionsfreie Schuleingangsphase

Eine Änderung im Bereich der Schuleingangsphase wurde in den letzten Jahren in den österreichischen Volksschulen in Form von Schulversuchen erprobt und mittlerweile als Option in das Regelschulwesen übernommen. Nach wie vor haben die Volksschulen in der Grundstufe I (Vorschulstufe, 1. und 2. Schulstufe) die Möglichkeit Vorschulklassen zu bilden oder die "selektionsfreie Schuleingangsphase" zu wählen.

Was hat die selektionsfreie Schuleingangsphase mit Integration von behinderten Kindern zu tun, wird sich der Leser zum Abschluss des Berichtes vielleicht fragen. Die Intention dahinter ist es aufzuzeigen, dass die österreichische Volksschule in Bewegung geraten ist und immer häufiger Lösungswege zu einer Nichtaussonderung von Kindern, die nicht "der Norm" entsprechen, sucht.

Interessant ist, wie die Kollegen in den Volksschulen diese Aufgabe meistern werden und ob sich dieser Weg von einer integrativen Pädagogik unterscheidet?

Das Ziel dieser Schulversuche war es, allen Kindern einen Unterricht zu bieten der: "...die individuellen Bedürfnisse der Schüler berücksichtigt und ein angenehmes Lernklima schafft wenn die Möglichkeit gegeben ist, die Entscheidung ob ein Kind für die Grundstufe I, zwei oder drei Jahre benötigen darf, bis ins zweite Semester des zweiten Schuljahres zu verlegen, wenn teilweise ein Zweilehrersystem vorhanden ist, wenn durch verbale Beurteilung auf Notendruck verzichtet wird, ..." Heschl 1997[52]

Man geht dabei von der Tatsache aus, dass die Schuleinsteiger mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten eingeschult werden. Bis jetzt mussten sich die Schüler sehr schnell an ein einheitliches Lerntempo anpassen, um den Anforderungen gerecht werden zu können, nicht in die Vorschule "zurückgestuft" zu werden, oder um nicht schon am Ende des ersten Jahres als Schulversager zu gelten.

Dieser Ansatz ist den integrativen Konzepten sehr ähnlich, da die Kinder nach ihren individuellen Bedürfnissen teilweise im Lehrerteam gefördert und gefordert werden sollen und es geht dabei vorwiegend darum, durch didaktische Differenzierung und diagnostisches Vorgehen im Sinne einer Prozessdiagnostik Versagen vorzubeugen oder zu vermeiden. Und gerade in diesem Detail werden die Schwierigkeiten offensichtlich:

Nach einer Untersuchung von Wetzel u.a. (1999) beherrschen in Salzburg und Oberösterreich nur ein kleinerer Teil der Lehrer den Einsatz von alternativeren Lernformen in der Volksschule. Die Effektivität des Unterrichts scheint nicht gewährleistet zu sein, wenn die Struktur der angebotenen Methodik unzureichend ist und wie Heschl ausführt:

"Offener Unterricht bedeutet also nicht, dass Kinder 'nur spielen' oder nur 'machen dürfen was sie wollen', sondern dass sie selbst entscheiden, wie sie ihre Lernvorgänge organisieren und durchführen wollen , immer natürlich gesehen in Verbindung mit den notwendigen organisatorischen Maßnahmen des Lehrers, der diese Art des Unterrichts gut vorbereiten muss, um die Kinder mit vielen differenzierten Lernangeboten zu versorgen, um die schwachen , wie auch die leistungsstarken Schüler gezielt zu fördern, um nicht den Überblick zu verlieren und um Unter- oder Überforderung zu vermeiden. Und diese Art von Unterricht erfordert natürlich regeln, die unumstößlich sind und an die sich jeder zu halten hat. " HESCHL (1997)

Ebenso wichtig sind die Rahmenbedingungen die eine Volksschule bieten kann, um eine alternative Form der Eingangsstufe installieren zu können:

In hochorganisierten Schulen kommt es in zu einem "Herausreißen aus den Klassenverband und zu einem Wechsel der Bezugspersonen", wenn ein Kind ein drittes Jahr zum Beenden der Grundstufe I benötigt, während Kinder mit SPF die Klassenstufen kontinuierlich durchlaufen dürfen.

In der Volksschule Wörterberg im Burgenland fand ab dem Schuljahr 1995/96 ein Schulversuch zur selektionsfreien Eingangsphase mit sehr zufriedenstellenden Rahmenbedingungen statt:

Die zweiklassig geführte Schule stellte die wesentlichen Voraussetzungen schon vor dem Schulversuch her, indem freie Arbeit und offene Unterrichtsformen respektive ein größtmögliches Differenzieren für alle Schüler in Form von handelndem , entdeckendem und sozialem Lernen angeboten wurde.

Im Schulversuch kam es zur Auflösung der Jahrgangsklassen und somit zu heterogenen Lerngruppen, die bis zur vierten Schulstufe fächerübergreifend geführt wurden. Die erste und vierte Klasse unterrichtete teilweise nur eine Lehrerin, um die Einstiegs- und die Übertrittsphase in andere Schulen zu entschärfen. Damit erreichte man unter anderem, dass Kinder, die ein drittes Jahr für die Grundstufe I benötigten, nicht in eine fremde Umgebung kamen.

Wie in Integrationsklassen räumte man im Schulversuch der Elternmitarbeit, der alternativen Leistungsbeurteilung und der flexiblen Lehrplangestaltung einen hohen Stellenwert ein. Vgl: KAHR/KAHR [53] (1997)

Würde das Konzept der Volksschule Wörterberg generell in die Regelschule Einzug halten, wären für die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ebenso gute Voraussetzungen geschaffen, wie der Leiter der Evangelischen Volksschule (Integration mit Montessori) in Salzburg die jahrgangsübergreifenden Konzepte als ideal für die integrative Arbeit bezeichnet.

Diese Organisationsform ist nicht ganz neu, sie wurde schon von Montessori, Parkhurst und Peterson Anfang dieses Jahrhunderts idealisiert. HOCHREITER[54] (1995) beschrieb folgende Vorteile:

  • "Die älteren Kinder der Gruppe helfen den jüngeren Kindern

  • Jüngere Kinder erleben, sehen und lernen von den Aktivitäten der älteren.

  • Gute Schüler helfen leistungsschwächeren Kindern.

  • Schulanfänger 'wachsen' in eine bestehende Gruppe hinein.

  • Kinder haben die Chance, in einer sozialen Gruppe im Laufe der Jahre sowohl die jüngeren als auch die ältesten zu sein..." , und viele weitere positive Aspekte.

Leider gibt es zu diesen Hypothesen in den letzten Jahren keine uns bekannte empirische Arbeit, die diese untermauern oder widerlegen könnte. Die Beobachtungen Heschls könnten diesbezüglich hilfreich sein.

Quelle:

Irene Moser: "Classroom Practice"- Literaturanalyse 2000 Österreich

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.05.2011



[52] HESCHL R.: Selektionsfreie Schuleingangsphase - Chance oder Belastung für die Grundschule, in: Erziehung und Unterricht 1997/5/6, S.574-582

[53] KAHR A., KAHR D.: Schuleingangsbereich nach §131c SchOG, in: Erziehung und Unterricht 1997/5/6, S. 584ff

[54] HOCHREITHER W.: Die altersgemischte Klasse in der Integration, in: Integration in der Praxis 1995/6, S.3-5

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