Konstruktion und Kritik

Sonderpädagogik als Disziplin

Autor:in - Vera Moser
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen als Moser, Vera: Konstruktion und Kritik. Sonderpädagogik als Disziplin. Opladen: Leske + Budrich, 2003. ISBN 3-8100-3794-X
Copyright: © Vera Moser 2003

1.Einleitung

Die vorliegende Arbeit knüpft an die gegenwärtige erziehungswissenschaftliche Debatte um Struktur und 'Idendität' pädagogischer Disziplinen an.

Ein solcher Diskurs ist innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion notwendig geworden angesichts der beobachtbaren (vor allem räumlichen) Entgrenzung des Pädagogischen allgemein, sowie einer eher konjunkturellen Selbstvergewisserung des Faches selbst. Zum einen wird also diskutiert, was das Wesen des Pädagogischen ausmacht, wenn beispielsweise klassische pädagogische Lernorte wie Schule, Hochschule, Kindergarten und Einrichtungen der Erwachsenenbildung um selbstorganisiertes und lebenslanges Lernen im Bereich alter und neuer Medien ergänzt werden. Diese Fragen bestimmen dabei freilich auch den pädagogischen Fachdiskurs, in der Bestimmung dessen, was Erziehung und das Erziehungssystem leisten soll. Zum anderen - und möglicherweise damit verbunden - findet seit einigen Jahren eine neue erziehungswissenschaftliche Kanonisierung statt, die sich inzwischen in der vermehrten Edition einschlägiger Kompendien niederschlägt.

Darüber hinaus hat die Rezeption der Systemtheorie innerhalb der Erziehungswissenschaften neue Fragen aufgeworfen hinsichtlich der Selbstbeschreibung (Semantik) des Systems und seiner Funktionslogik - auch in Bezug auf die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme. In diesem Zusammenhang haben sozialwissenschaftliche Forschungsbezüge die Erziehungswissenschaften um eine Beobachtung zweiter Ordnung erweitert, die das System selbst mit Blick auf seine Selbstthematisierung und seine möglichen Interdependenzen mit anderen Systemen untersuchen.

Innerhalb der sonderpädagogischen Disziplin hat sich der Selbstvergewisserungsdiskurs entlang einer extensiven Paradigmendebatte ausgebildet: Hier wird der Frage nachgegangen, ob die Sonderpädagogik als zentrale Kategorie den Behinderungsbegriff benötigt, ob dieser eine vor allem defizitäre Perspektive auf die so etikettierten Schüller und Schülerinnen nach sich zieht oder ob dieser - und mithin Sonderpädagogik als Disziplin und Profession insgesamt - gar gänzlich verzichtbar sei. Die Kritik an Sonderpädagogik als Disziplin und Profession wurde insbesondere von den Klienten vorgetragen, die auf die möglichen stigmatisierenden und exkludierenden Folgen besonderer Förderung aufmerksam machen.[1] Eine Kritik, die innerhalb der sonderpädagogischen Fachdiskussion durchaus beispielsweise mit den Konzepten von 'Selbstbestimmung' oder 'Empowerment' aufgenommen wurde.

Die in dieser Arbeit angeregte Selbstbeobachtung der sonderpädagogischen Disziplin ist daher von zwei Seiten inspiriert: einerseits aus der Perspektive einer Rekonstruktion der Disziplin, die nach den eigenen Konstitutionslogiken fragt und dabei zentral den Behinderungsbegriff problematisiert, andererseits aber auch aus Sicht der Praxis, die vor allem das Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik thematisiert, denn die Beobachtung integrativer Schulpraxis hat Fragen nach sonderpädagogischer Professionalität und disziplinärer Identität - wenn auch noch nicht prinzipiell systematisch - aufgeworfen.

Zur Klärung dieses Zusammenhangs ist jedoch nicht allein die Rekonstruktion der Disziplin von Bedeutung, sondern diese ist zu kontrastieren mit professionsbezogenen Überlegungen, die allerdings innerhalb des Disziplingebäudes erst einmal sorgfältig auszudifferenzieren sind. Der Blick auf die Disziplin erhält also seine Position aus drei Perspektiven: der einer erziehungswissenschaftlichen Selbstbeobachtung, einer systemsoziologischen sowie einer professionstheoretischen.

Vor dem skizzierten Hintergrund also auf neue Art die Frage nach einer ‚Selbstaufklärung' der Sonderpädagogik, und zwar hinsichtlich ihrer Selbstbeschreibung und damit ihrer Platzierung als erziehungswissenschaftlicher Teildisziplin, sowie ihres Anschlusses an die funktionale Ausrichtung des Erziehungssystems, also dessen Relevanz im Kontext anderer gesellschaftlicher Teilsysteme. Mit dieser Perspektive verknüpft sich ein Blick auf die Theoriearchitektonik mit einer sozialwissenschaftlichen Beobachtung der gesellschaftlichen Funktion des Erziehungssystems - und hier seines Teilsystems Sonderpädagogik. Postuliert ist damit eine Differenz Selbstbeschreibungen auf der Theorie- und beobachtbaren Wirkungsweisen auf der Systemebene.

Ein solcher disziplinrekonstruktiver Zugang fehlt bislang; sonderpädagogische Theoriebildung ist teilweise stark praxisbezogen generiert - gegenwärtige Standortbestimmungen beschreiben die disziplinäre Krise (die als Paradigmenwechsel gekennzeichnet wird) allein aus der veränderten Praxis infolge integrativer Beschulung, mit dem Effekt, dass theoriebildende Konstitutionen (wie der Behinderungsbegriff, Theorem der besonderen Erziehungsbedürfnisse infolge gescheiterter Normalerziehung, die These der pädagogischen Rehabilitation durch Sonderinstitutionen u.ä.) gewissermaßen als empirisch widerlegt erscheinen. Demgegenüber können jedoch Praxisbeschreibungen oder -ableitungen nicht per se neue disziplinäre Fundierungen hervorbringen. Solche Aussagen lassen sich nur aus einer reflexiven Rekonstruktion von selbstbeschriebenen Aufgaben, gesellschaftlicher Funktion und allgemeinen Reflexionsstrukturen des Erziehungssystems gewinnen.

Bislang wurde der Untersuchungsgegenstand 'disziplinäre Selbstreflexion' unter dem Stichwort 'Paradigmendebatte'‚ innerhalb der eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung bearbeitet, ohne jedoch in der Tat unterschiedliche Paradigmen präzise herausarbeiten zu können[2] - vornehmlich wurde der Behinderungsbegriff unter dieser Perspektive diskutiert (vgl. z.B. Bleidicks erneute Zuordnung zu individualtheoretischen, interaktionalen und gesellschaftstheoretischen Behinderungsbegriffen[3] oder Eberwein, der das ‚sonderpädagogische Paradigma‚ im defektologischen Behinderungsbegriff[4] zu finden meint), ohne dass hiermit hinlänglich bereits von einem Paradigma oder gar von einem Paradigmenwechsel zu divers.[5]

Darin zeigt sich allerdings ein Problem der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftshistoriographie insgesamt, die entlang des Paradigmenproblems nicht recht vorangeschritten ist und darüber hinaus inzwischen auch als methodologisch zweifelhaft eingeschätzt wird, weil der Paradigmenbegriff selbst, wie auch die Bestimmung eines Paradigmenwechsels zu unpräzise ist, um gar Umwälzungen im Sinne ‚wissenschaftlicher Revolutionen‚ bestimmen zu können.[6]

Insofern erscheint eine erkenntnistheoretische Betrachtung der sonderpädagogischen Disziplin entlang der Paradigmenfolge nicht ausreichend ertragreich.

Der hier vorgeschlagene Zugang soll sich demgegenüber an einer systemtheoretischen Perspektive auf Erziehungswissenschaft Disziplin innerhalb des Erziehungssystems orientieren - ohne sich zwangsläufig auf eine Paradigmenfolge einzustellen. Diese Sichtweise hat den Vorteil. die Semantik der Disziplin zunächst von ,außen beobachten zu können, und zwar hinsichtlich ihrer historischen Entwicklung selbst (entlang den von Luhmann und Schorr vorgeschlagenen Kontingenzformeln 'Perfektibilität', 'Bildung', 'Lernfähigkeit'), deren - im Falle des Erziehungssystems - problematischen Verhältnis zur Leistung des Systems andere gesellschaftliche Teilsysteme (Selektion aus Sicht der frühen Systemtheorie), wie in Bezugnahme auf die vom System selbst kommunizierte Funktion (Erzeugung von Bildung).

Damit ergibt sich nicht mehr eine Beobachtung pädagogischer Theorien. die ihre Logik nur immanent zu klären hätte und diese entlang von Praxisfeldern verifizieren könnte, sondern pädagogische Theorien erscheinen hier zunächst ,einmal als spezifische Formen gesellschaftlicher Kommunikation, die einem historischen Wandel unterliegen: "Pädagogische Theorien haben aus der Sicht der Systemtheorie ihr ausschließliches Bezugsfeld im pädagogischen Objektbereich, auf den sie sich beziehen. Sie stellen Versuche dar, als pädagogisch gewertete Erscheinungen und Ereignisse in verallgemeinerter Form zu beschreiben, um damit einen ‚Begriff des Pädagogischen' im Unterschied zu anderen Erscheinungen in der Gesellschaft zu gewinnen. Diese Beschreibungen wandeln sich im Verlauf der Geschichte".[7] Der von Backes-Haase vorgeschlagenen Konfrontation pädagogischer Theorien mit einer umfassenden Gesellschaftsanalyse, die auch den Blick für Verursachungsfaktoren und Kontinuitäten/Diskontinuitäten freilegt, kann innerhalb einer Arbeit allerdings nicht vollumfänglich nachgekommen werden. Die hier vorliegende Untersuchung beschränkt daher ihren Blick auf eine systemtheoretisch inspirierte Gesellschaftsanalyse, die das Erziehungssystem in den Kontext gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse stellt und von hier aus Leistungen auch für andere gesellschaftliche Teilsysteme als signifikant ansieht. Ob dabei die vom frühen Luhmann beschriebene Leistung der ‚Selektion' als noch zwangsläufig aktuell eingeschätzt wird, ist für die Bestimmung von Sonderpädagogik als erziehungswissenschaftlichem Subsystem nicht unerheblich und am Ende im Vorschlag einer ‚Neukonstitution' diskutiert (wohingegen in der Tat der Schwerpunkt der neueren Systemtheorie den Leistungsaspekt gesellschaftlicher Teilsysteme für vernachlässigbar hält, ohne aber den Code des Erziehungssystems 'besser/schlechter' prinzipiell zu revidieren.[8] )

Darüber hinaus soll innerhalb der Semantik der Disziplin selbst nach deren Konstruktionslogiken gesucht und diese in Bezug zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft gestellt werden, wobei das besondere Augenmerk auf der anthropologischen Grundausrichtung von Sonderpädagogik als Disziplin liegt - und zwar auch entlang des Behinderungsbegriffes und seiner Vorläufer. Hier kann insbesondere noch einmal auf die Beobachtung von Luhmann/Schorr rekurriert werden, die in der anthropologischen Ausrichtung von Pädagogik ein spezifisches Erbe der europäischen Aufklärung sehen, nämlich Tradierung einer zwangsläufigen Steigerung von Humanität und Perfektibilität des einzelnen wie der Gesellschaft durch Erziehung.

Gegenüber dieser traditionsreichen Begründung von Pädagogik aus dem Bedarf des einzelnen heraus, die für die Sonderpädagogik bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden kann, soll innerhalb der vorliegenden Arbeit schließlich eine aufgabenbezogene Fassung von Sonderpädagogik versucht werden. Diese Ausrichtung entspricht der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um Bearbeitung des von Luhmann/Schorr beschriebenen 'Technologiedefizits von Erziehung', also dem Versuch, Handlungstheorie innerhalb der kommunikationstheoretisch ausgerichteten Systemtheorie zurückzubinden.[9]

Hierzu wird einerseits auf der Ebene der Semantik noch einmal begründet auf den Bildungsbegriff (gegenüber dem Lernbegriff) Bezug genommen, sowie andererseits im Sinne strukturtheoretischer Überlegungen die Seite der gesellschaftlichen Leistung strukturellen Bestimmungen sonderpädagogischen professionellen Handelns zu verknüpfen gesucht. In beiderlei Hinsicht wird das innerhalb der Sozialen Arbeit in jüngerer Zeit diskutierte Problem von Inklusion/Exklusion der gesellschaftlichen Teilsysteme mit in den Blick genommen.

Mit dieser Analyseebene entkäme man der von Luhmann/Schorr angemahnten Problemlage, Pädagogik nicht nur entlang selbst kommunizierter Erwartungen und Aufgaben zu interpretieren. Dagegen sollte die Seite des Systemeffekts - hier der Erzeugung von Differenz durch Selektion - in die Selbstreflexion mit aufgenommen werden. Mittels einer solchen Perspektive ließe sich die sonderpädagogische Disziplinkonstruktion aus ihrer dominanten Bezugnahme auf anthropologische Bestimmungen herauslösen.

Zugleich wäre mit dem hier entwickelten Vorschlag einer Neukonstitution Sonderpädagogik zentral als Teil des Erziehungssystems bestimmt - eine sowohl historisch wie auch gegenwärtig nicht durchgehend zwangsläufige Verortung. Diese Positionierung hängt mit der vorgeschlagenen Aufgabenbestimmung entlang von Exklusionsproblematiken gesellschaftlicher Teilsysteme zusammen, deren Bearbeitung innerhalb des Erziehungssystems hier der Sonderpädagogik anheimgestellt wird. Darüber hinaus auch wieder eine normative Perspektive pädagogischen Handelns gewinnen, für die in der systemtheoretischen Kritik wenig Platz gelassen wurde. An dieser Stelle erweist sich nämlich die Begrenztheit allein systemtheoretischer Analysen des Pädagogischen, denn die normative Grundlage pädagogischen Handelns ist ihr Signum, das zwar beobachtet und relativiert, aber aus Binnensicht der Pädagogik nicht aufgehoben werden kann. Insofern erschließt sich auch der Titel der Arbeit "Konstruktion und Kritik" der zwei verschiedene Theorietraditionen miteinander verknüpft: Eine sozialkonstruktivistische Perspektive und eine der Tradition Erziehungswissenschaften normative Sichtweise auf disziplinäre Begründungen und institutionelle Wirkungen. Jedoch, so der Vorschlag dieser Arbeit, kommt die eine ohne die andere Perspektive nicht aus, denn und 'Konstruktion' und 'Kritik' bedingen sich je gegenseitig gewissermaßen endlos.

Zum Stand der Forschung ist festzuhalten, dass die bisher vorliegenden sonderpädagogischen Disziplinrekonstruktionen eine tendenziell berufsständisch argumentierende Perspektive verfolgen, die beispielsweise von dem Postulat des 'Zusammenbrechens von Erziehungsfeldern' als disziplinäre und professionelle Begründungsfigur ausgehen (Möckel 1988).[10] In diesem Sinne wären auch Disziplinkonstruktionen entlang von Gründervaterfiguren (Pestalozzi, Wichern, Georgens/Deinhardt, Strümpell, Trüper etc.) einzuordnen - dies betrifft auch die klassischen Disziplinhistoriographien, die vorwiegend fachrichtungsbezogen verfasst sind (vgl. Solarova 1983). Demgegenüber liegen sozialwissenschaftlich orientierte Studien zur historischen Hervorbringung des ‚Tatbestandes Behinderung‚ (Jantzell 1982, 1992) vor, die allerdings keine primär erkenntnistheoretische - und damit eng disziplinbezogene - Rekonstruktion beinhalten. Schließlich gibt es seit etwa dreißig Jahren professionsbezogene Forschungen (Ellger-Rüttgardt 1980, 1988 Myschker 1969, Stadler 1976), in welchen zwar eine Differenz von Profession und Disziplin, vor allem unter Aspekt berufsständischer Interessen, herausgearbeitet wird, ohne jedoch Bezüge zur Disziplinstruktur darzulegen.

Eine vornehmlich erkenntnistheoretische sonderpädagogische Disziplinbeschreibung liegt mit der Dissertation von Markus Müller "Denkansätze in der Heilpädagogik (1991) vor. Diese stellt ein Modell einer metatheoretischen Betrachtung unter dem Fokus einer Ethik dar, die die unterschiedlichen Theorieströmungen der Disziplin einen soll. Damit verbleibt diese Untersuchung allerdings auf der Ebene einer disziplinären Selbstthematisierung."

Der in dieser Arbeit nun eingeschlagene methodische Zugang, der erkenntnis-, professions- und systemtheoretische Perspektiven miteinander verschränkt, hat den Vorzug, die für die Pädagogik typische Theorieentwicklung als hervorgegangen aus Praxisbeschreibungen und mit ihrem Bezug zu einer daran generierten Theorieentwicklung aufzeigen zu können, und zwar im Kontext gesellschaftlicher Differenzierungen. Es wird hier der These gefolgt, dass Behinderung und ihre Vorläuferkategorien Sinne einer funktionalen (und nicht traditionalen) Kategorie (Lindmeier) eine Klientel und zugleich einen disziplinären Zweig (Heilpädagogik) einten. Dieses verlief im Dienste sozialadministrativer wie gleichzeitig wissenschaftlicher Entdifferenzierungsprozesse und konturiert weitgehend den disziplinären Diskurs, wie ein kurzer historischer Abriss erläutern kann:

Mit Blick auf die institutionelle Entwicklung lässt sich feststellen, dass etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein rapide expandierendes Anstaltswesen (für Epileptische, 'Taubstumme'‚ 'Idioten', 'Blinde', 'Verwahrloste' ab 1900 auch für 'Krüppel') zu beobachten ist, welches in den gesellschaftlichen Transformationsprozess Industriegesellschaft einzuordnen ist und Ende des 19. Jahrhunderts in die beginnende Ausformung des Sozialstaates integriert wurde (zunächst durch Kopplung an die Armengesetzgebung). Erziehungswissenschaftlich relevant wurden diese neuen professionellen Felder anfangs noch nicht, da es sich hier - bedingt durch die bis 1900 fast ausschließlich konfessionellen Trägerschaften - um pflegerisch-caritatives Personal handelte. Die Entwicklung des Berufsbildes der Erzieherin, angestoßen durch die Fröbel-Seminare generierte erst ein pädagogisches Interesse auch im Bereich der Anstaltsfürsorge. Die so entwickelte außerschulische Sonderpädagogik steht allerdings bis heute einem professionsbezogen eher ungeklärten Verhältnis zur Sozialpädagogik.

Demgegenüber wurde das sonderpädagogische Berufsfeld vor allem durch die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Hilfsschulpädagogik bestimmt - Sonderpädagogik ist damit deutlich von Seiten der Lehrerprofession beeinflusst, wobei die Notwendigkeit einer sonderpädagogischen Profession mittels der Herausstellung einer Besonderheit (Abnormität) der Klientel begründet wurde. Die Ausformung der 'Hilfsschule' wurde vor allem seitens der 'Taubstummen'- und 'Idiotenerzieher/-lehrer' angestoßen, welche schließlich einen Bedarf an theoretischer Fundierung dieses neuen Lehramtes anmeldeten.

Für die Theorie- und Professionsentwicklung war die Etablierung der Fürsorgeerziehung. ab etwa 1900 außerdem von großem Einfluss. Dieses zunehmend auch rechtlich abgesteckte Feld wurde zunächst gleichermaßen von Seiten der Hilfsschulpädagogik wie von der sich entwickelnden Sozialpädagogik besetzt und in unspezifischer Weise noch etwa 1930 im Diskurs der ‚Heilpädagogik' subsumiert.

Innerhalb der Theoriebildung wurde zwischen 1900 und 1930 ein erstes heilpädagogisches - auf die Klientel bezogenes disziplinäres Konstrukt entwickelt: die Kategorie der 'Seelenschwäche', welche als Vorläufer des Behinderungsbegriffes 1972 systematisch in die Sonderpädagogik eingeführt wird) zu gelten hat.

Bezogen auf die pädagogische Handlungsstruktur bestimmte sich Heilpädagogik zunächst von der Klientel aus, und zwar, abgeleitet von den Kategorien 'Schwachsinn', 'Seelenschwäche', 'Behinderung' und dem Fokus auf sittliche Erziehung. Der Erziehungsaspekt wird vorwiegend -auch in den Theorieentwürfen nach 1945 - innerhalb der Dimension der Zwei-Personen-Beziehung (PädagogIn-KlientIn) organisiert im Konzept der Dialogischen Heilpädagogik (vgl. Moor, Kobi, Haeberlin).

Die Kategorie ‚Bildung' findet trotz der deutlichen Bezogenheit auf Hilfs-/Sonderschule - nur einen marginalen Stellenwert und wird erst von Bleidick (1972) in die Sonderpädagogik eingeführt, ohne dass allerdings bis heute von einer dezidierten sonderpädagogischen Bildungstheorie gesprochen werden kann. solchen Entwurf haben eher integrationspädagogische Theorieentwürfe (vgl. v.a. Prengel und Feuser) zur Aufgabe gemacht. Der Bildungsbegriff innerhalb der klassischen sonderpädagogischen Theoriebildung wird hingegen weitgehend ersetzt durch die Kategorien, 'Erziehung', 'Förderung', 'Therapie' mit dem möglichen Effekt, Sonderpädagogik auch außerhalb des Erziehungssystems zu platzieren.

Das für die Beobachtung der Disziplin in dieser Arbeit herangezogene Material entstammt in erster Linie der Allgemeinen Sonderpädagogik und zwar ab Mitte des 19. Jahrhunderts, denn erst seit dieser Zeit kann geschlossenen pädagogischen Theoriegebäuden gesprochen werden. Dennoch ist der Hauptgegenstand der Arbeit die aktuelle Konstitution der Disziplin, so dass hier auch gegenwärtige integrationspädagogische Konzepte berücksichtigt werden. Auf Teilgebiete der spezifischen Fachrichtungen, wird nur in Ausnahmefällen Bezug genommen. Um Sonderpädagogik als Bestandteil des Erziehungssystems diskutieren zu können, werden darüber hinaus aktuelle allgemeinpädagogische wie sozialpädagogische Theorie- und Professionsbestimmungen herangezogen.

Insgesamt lässt sich für die Theoriebildung festhalten, dass Sonderpädagogik vorwiegend praxisnah orientiert ist, denn auch der Theoriebezug auf den Behinderungsbegriff hat hier keinen, 'Verwissenschaftlichungsschub' leisten können (vgl. auch Lindmeier).

Sonderpädagogische disziplinäre Begründungsstrategien lassen sich vorab in zwei Richtungen verorten, a) anthropologische und b) berufsethische - wobei ersterer Begründung zwei Probleme anhalten. Das der anthropologischen Konstitution von Pädagogik überhaupt und das der Entwicklung einer Sonder-Anthropologie im speziellen. Dieser Zusammenhang wird in Kapitel 2 dieser Arbeit untersucht. Auch der Fokus auf eine konstitutive ethische Positionierung von Sonderpädagogik (vgl. Kapitel 3) ist insofern problematisch, als sie berufsethische und normative Ethiken undifferenziert miteinander verschränkt und zudem das Problem der Stellvertreterschaft unzureichend expliziert bleibt. Weiterhin scheinen auch handlungsbezogene Bestimmungsversuche von Sonderpädagogik weniger professionstheoretische als vielmehr erneut anthropologische Argumentationsfiguren zu bemühen. Dies soll am Beispiel des Dialogischen als sonderpädagogischem Handlungsmodell in Kapitel 4 dieser Arbeit dargelegt werden.

Die weitere semantische Tradition der Sonderpädagogik, nämlich den Erziehungsbegriff dem Bildungsbegriff vorzuziehen, hat wiederum entscheidende Folgen die Platzierung von Sonderpädagogik als erziehungswissenschaftlicher Teildisziplin wie in Kapitel 5 gezeigt werden kann.

Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion einer primär geisteswissenschaftlich orientierten Semantik der Disziplin wird im 6. Kapitel ein Neukonstitutionsversuch unternommen: Von Seiten einer Funktionsbestimmung aus sozialwissenschaftlicher, sowie entlang der Entwicklung eines Bildungsbegriffes aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wird eine handlungstheoretische Begründung von Sonderpädagogik versucht, die einerseits für die Professionsforschung instruktiv sein kann, andererseits eine 'explizit' erziehungswissenschaftliche Platzierung von Sonderpädagogik über den Anschluss an die Semantik 'Bildung' vornimmt. Die Orientierung wird dabei das Problem von Inklusion und in den Blick nehmen, der bildungstheoretische Entwurf wird vor allem durch einen weitgehenden Verzicht auf anthropologische Prämissen gekennzeichnet sein, der aber dadurch das Feld der Ethik wieder neu öffnet.

Die auf diese Weise vorgenommene sonderpädagogische Verortung wäre damit durch einen sozialwissenschaftlichen, und nicht primär über einen semantisch innerhalb der Disziplin ermittelten Problemzuschnitt charakterisiert.

Wie weit eine solche ‚soziologische Aufklärung' der Sonderpädagogik trägt, die die Tradition der anthropologischen Konstitution zumindest erweitern soll, wird zu zeigen sein.



[1] Vgl. hierzu z.B. Michael Wunder/Udo Sierck (Hrsg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Wiederstand, Berlin 1982 und Christian Mürner/Susanne Schriber (Hrsg.): Selbstkritik der Sonderpädagogik? Stellvertretung und Selbstbestimmung, Luzer 1993

[2] Clemens Hillenbrand kritisiert die sonderpädagogisch Paradigmendebatte zu Recht: "Mit dem Begriff Paradigmenwechsel ist keinesfalls die Ebene einer Begriffsdiskussion gemeint, er thematisiert nicht die Arbeitsteilung und Differenzierung einzelner Zweige einer wissenschaftlichen Disziplin, er beansprucht nicht eine aktuelle wissenschaftliche Diskussion zu bestimmen und auch nicht die Ebene zu thematisieren." Ders.: Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik? Eine wissenschaftstheoretische Kritik, in: ZfH 50(1999)5, S. 245

[3] Vgl. Ulrich Bleidick: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 25ff.

[4] Hans Eberwein: Zur Kritik des sonderpädagogischen Paradigmas und des Behindertenbegriffes, in: ZfH 46(1995)10, S. 469

[5] Vgl. hierzu auch Georg Feuser: Zum Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik - eine Paradigmendiskussion? ln: Friedrich Albrecht/Andreas Hinz/Vera Moser (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen, Neuwied/Kriftel/Berlin 2000, S. 20-44

[6] Vgl. Alfons Backes-Haase: Historiographie pädagogischer Theorien. Zwischen historischsystematischer Methode und Systemtheorie, Weinheim 1996, S. 57; auch Monika Vernooij schlägt für die Sonderpädagogik vor, auf den Paradigmenbegriff zu verzichten, vgl. dies.: Gedanken zum Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik, in: VHN 69(2000)3, S. 249-253

[7] Backes-Haase, 1996, S. 109

[8] Vgl. Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt 2002

[9] Vgl. hierzu auch Benjamin Künzli: Soziologische Aufklärung der Erziehungswissenschaften? Würzburg 1995, S. 133

[10] "Wir hatten gesehen, daß jede sonderpädagogische Fachrichtung mit der Suche und Entwicklung von neuen Wegen, von Auswegen aus Sackgassen, angefangen hat. Dies ist auch der täglich neue Ursprung der Heilpädagogik. Immer, wenn ein aktueller Erziehungsprozess an sein vorzeitiges, unerwünschtes Ende kommt, wenn er als Zusammenbruch oder als Katastrophe erfahren wird, müssen neue Wege gesucht werden." Andreas Möckel: Geschichte der Heilpädagogik, Stuttgart 1988, S. 245

2. Der Behinderungsbegriff in der Sonderpädagogik

Die Untersuchung des Behinderungsbegriffes der Sonderpädagogik rückt das Problem unweigerlich in den Kontext der Anthropologie, denn Behinderung wird in seiner pädagogischen Wendung (explizit bei Bleidick) als gewissermaßen anthropologische Ausgangslage der Teildisziplin gesehen. Damit kommt ihr der Stellenwert, zentraler Bestandteil der argumentativen Fundierung von Sonderpädagogik als Disziplin zu sein, unmittelbar zu.

Dieser Zusammenhang verweist zurück auf die Debatte um das Konzept der anthropologischen Grundlegung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin. Bekanntermaßen Heinrich Roths historisch letzter Versuch, Erziehungswissenschaft vor dem Hintergrund anthropologischer Aussagen zu einen, inzwischen als problematisch einzuschätzen, denn sozialwissenschaftlich-analytische und -empirische Forschungen sind nicht zwangsläufig kongruent erziehungsphilosophischen Bestimmungsversuchen. Roths Versuch Konsequenz einer individuellen anthropologischen Ausstattung von Bildsamkeit und Selbstbestimmung zu konzipieren, unterschlägt den gesellschaftlichen Bedarf an Enkulturation, Vereinheitlichung und Differenzierung durch das Erziehungssystem. Auf die Sonderpädagogik gewendet wäre damit beispielsweise zu bedenken, dass geisteswissenschaftlich positionierte Selbstbeschreibungen der Disziplin (etwa über die Konstrukte des Heilens oder des Dialogischen, die an ein pädagogisches Verständnis von Behinderung anschließen) sich nicht mit dem Befund vertragen, Sonderpädagogik als Teil des Erziehungssystems beteilige sich an systemimmanenter Selektion durch die Produktion von Differenz (hier durch Konstruktion einer pädagogischen Behinderung). Dieser Problematik wird nun der soziologischen Systemtheorie dahingehend Rechnung getragen, dass eine differente Betrachtung von Wissenschafts- und Erziehungssystem eingefordert wird mit Hilfe einer Konfrontation von pädagogischer Selbstbeschreibung und soziologischer Fremdbeobachtung.

Die Verknüpfung beider Seiten, nämlich die Semantik einerseits mit dem Systemeffekt andererseits innerhalb eines Theoriekonzepts, ist das Kernproblem erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung spätestens seit dem Erscheinen von Luhmanns "Reflexionsproblemen im Erziehungssystem" und wird, wie noch zu zeigen sein wird, innerhalb der Sonderpädagogik mit einer Option bearbeitet.

Für den Untersuchungsgegenstand der disziplinären Semantik, die im folgenden zunächst entlang des Behinderungsbegriffes rekonstruiert wird, werden die Klassiker der Sonderpädagogik, die sich historisch wie gegenwärtig um die Bestimmung von Sonderpädagogik als Disziplin bemüht haben, herangezogen.[11] Vorab wird hierzu das systemtheoretische Verständnis einer Semantik des Erziehungssystems und ihrer Ausrichtung geklärt um dann im besonderen ihre sonderpädagogische Spielart entlang des Behinderungsbegriffes zu explizieren.

2.1 Die Semantik der Disziplin

Zur Ausgangslage: Sonderpädagogik als Disziplin scheint vor allem durch den Behinderungsbegriff - inklusive seiner Vorläufer - konturiert und vollzieht damit ihre Gegenstandskonstitution bzw. Objekttheorie über die Zuschneidung der Klientel, für die sie sich zuständig erklärt. Behinderung im Horizont vorwiegend anthropologisch und ethisch konnotierter Fassungen - als Transformation einer sozialrechtlichen in eine pädagogische Kategorie - liefert erst die Grundlage für die Ableitung spezifischer methodischer und didaktischer Konzeption.[12] Aus dieser Perspektive fungiert der Behinderungsbegriff - um es mit Luhmann zu formulieren - als Sematik des Subsystems Sonderpädagogik im Sinne seiner kommunikativen Selbstbeschreibung.

Die Funktion systemischer Semantiken skizzieren Ehrenspeck und Rustemeyer wie folgt:

"Wissenschaftliche Disziplinen bilden im Zuge ihrer Ausdifferenzierung und Professionalisierung semantische Traditionen aus, die ihre selektiven Beobachtungen und Beschreibungen fixieren, der weiteren Kommunikation zur Verfügung stellen und kontingenten Sinn in bestimmten transformieren, um auf diese Weise Objektpermanenz zu erzeugen."[13]

Wenn davon auszugehen ist, dass der Bildungsbegriff die Semantik samten Erziehungssystems bestimmt,[14] ließe sich die These dass der Behinderungsbegriff in der Sonderpädagogik daran angeschlossen die Zuschneidung der Teildisziplin vornimmt. Insofern könnte die semantische Funktion, die der Behinderungsbegriff für die Sonderpädagogik übernimmt, auch im Sinne des Kuhnschen Paradigmakonzepts verstanden werden, und zwar als disziplinäre Zuschneidung eines Objektbereichs der Theorie und hierzu geeigneter wissenschaftlicher Erklärungsmuster[15] (wenngleich Luhmann auf diesen Begriff aufgrund seiner Unschärfe verzichten möchte [16]), denn als Paradigmenproblem wird der Behinderungsbegriff, wie bereits skizziert, in der aktuellen disziplinären Diskussion gehandelt.[17]

Innerhalb dieser Debatte wird inzwischen nicht nur kritisch die grundsätzliche Aussagekraft des Behinderungsbegriffes für pädagogische Handlungsentwürfe bestritten (so z.B. Speck: "Mit der Ausweitung des Ansatzes sonderpädagogischer Maßnahmen in den allgemeinen Schulbereich hinein nicht die hier gemeinten Schüler pauschal als Behinderte zu bezeichnen"[18]), sondern auch auf die immanente sonderanthropologische Konnotation aufmerksam gemacht (Behinderung als besondere Variante des Menschseins), wenn eine allgemein anthropologische Aussage einschränkend eine bestimmte Gruppe formuliert wird.

Andererseits wird weiterhin versucht, wie Jakobs zu Recht beobachtet, die nach wie vor beklagte " (meta)theoretische Orientierungslosigkeit" erneut mit anthropologischen Argumentationen zu beantworten, etwa in der Reinstallation eines vermeintlich verbindlichen 'richtigen' Menschenbildes (Anthropologie im Konnex mit Ethik), um das selbst diagnostizierte Konstitutionsdilemma der Disziplin zu überwinden.[19] So etwa auch jüngst in einer Publikation Manfred Gerspachs:

"In dem Moment, da die Heilpädagogik im Zuge der Integrationsdebatte beginnt. ihrer Identität zu versichern, die nicht in der Separierung von jeglicher anderen Pädagogik liegt, sieht sie sich mit der erkenntnistheoretischen Notwendigkeit konfrontiert, sich selbst eine stimmige anthropologische Begründung zu liefern. "[20]

Dieses Dilemma legt zwei Punkte frei: Auf der einen Seite scheint der Behinderungsbegriff als Semantik eines Teils des Erziehungssystems zu fungieren mit dem Effekt, den Kuhn Paradigmen zuschreibt, nämlich disziplinäre Identität zu erzeugen. Dies wäre eine Problembeschreibung auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Auf der anderen Seite wird der Behinderungsbegriff aufgrund wissenschaftlicher und ethischer Überlegungen problematisiert; hier handelt es sich um die Stringenz und Überzeugungskraft pädagogischer Aussagen, die oben als Semantik gekennzeichnet wurde und somit der Selbstbeschreibung der Disziplin zu verorten wäre.

Die Untersuchung des Behinderungsbegriffes für die Konstitution der Disziplin Sonderpädagogik hat damit beide Ebenen zu berücksichtigen, nämlich die Entwicklung der Semantik der Disziplin mit Blick auf ihre Kontingenz - und gleichzeitig die Frage zu stellen, ob Sonderpädagogik unter Verzicht auf die paradigmatische Orientierung auf Behinderung ausreichende Differenzsetzungen zu anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen markieren kann, wenn sich der Behinderungsbegriff aus pädagogischer Binnensicht problematisch erweist.

Unter Bezugnahme auf die bereits angedeuteten Problemstellungen erhebt sich für eine Rekonstruktion der Disziplin Sonderpädagogik damit die Frage nach dem Stellenwert einer anthropologisch konnotierten Konstitutionsfigur 'Behinderung' und der hiermit verbundenen gesellschaftlich funktionalen Problemdefinition und -bearbeitung. Geleitet ist diese Untersuchung von der These, dass Sonderpädagogik als Disziplin von einem Objektfeld bestimmt ist, welches mit spezieller sonderpädagogischer Einzelfanintervention vor dem Hintergrund eines postulierten erschwerten Erziehungsprozesses durch individuelle Behinderung zu umreißen ist. Innerhalb dieser Konstruktion scheint Behinderung als semantischer Kernbestand der unabdingbar in ein anthropologisches Feld gerückt.

Anlässlich der skizzierten Krisenlage, in der sich die sonderpädagogische Theoriedebatte befindet, welche zugleich mit einer lang anhaltenden Paradigmendiskussion verbunden ist, werden - dem Vorschlag Luhmanns folgend - die Konstituentien der Disziplin einer ‚soziologischen Aufklärung' unterzogen, um dem der zirkulären Selbstbeobachtung (Selbstreferentialität) zu entgehen,. auf den Standort einer Außenperspektive (Beobachtung zweiter Ordnung) verzichtet. Luhmann und Schorr bescheinigen dem Erziehungssystem und seiner Theoriebildung vor allem hinsichtlich ihrer Subjektorientierung eine zirkuläre Perspektive, da diese - in der Tradition der europäischen Aufklärung - als unhintergehbarer Fokus beibehalten werde, ohne zugleich der gesellschaftlichen Funktion des Erziehungssystems ausreichend Rechnung zu tragen. Ein demgegenüber positionierter soziologischer Reflexionsbegriff soll einen solcherart gelagerten subjektbezogenen Reflexionsbegriff vermeiden, der letztendlich insofern dem Programm der Aufklärung verhaftet bleibt, als er unterstellt, "daß mit Hilfe von Reflexion die wahren Interessen der Subjekte besser werden können".[21] Dennoch, so wäre zu vermuten, kommt Pädagogik ohne ein normatives Konzept, welches implizit anthropologische und explizit ethische Dimensionen enthält, nicht aus.

Damit ist also nicht gesagt, dass eine pädagogische Subjektperspektive obsolet geworden wäre, es geht lediglich den Blick der Beobachtung der Disziplin zu erweitern, um die Konstituentien der Disziplin freizulegen - und zwar einerseits hinsichtlich ihrer Funktion Zuge der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, sowie andererseits hinsichtlich ihrer semantischen Ausformulierung als Wissenschaftsdisziplin.

Bislang, so Luhmann und Schorr, gäbe es keine pädagogische Theorie, "die es versucht hätte, vom Standpunkt des Erziehungssystems aus die Systemreferenzen für Funktion (Gesellschaft), Leistung (andere Funktionssysteme) und Reflexion (Selbstbezug) als Einheit darzustellen."[22] Das von Luhmann diesbezüglich formulierte Interesse ist die Analyse der Einheit, die erst die Systembildung gewährleistet und sie von der Umwelt unterscheidet. Die Einheit des Erziehungssystems meint dabei die Einheit von selbstthematisierender Semantik ('Erzeugung von Bildung'), Funktion und Leistung ('Selektion'). "Mit einer Thematisierung der Einheit des Systems entsteht ein Bezugsrahmen, in dem Kommunikation auf Gründe. bezogen und damit sachlich, und generalisiert werden kann".[23] Und in der Tat ist die Herstellung einer Systemeinheit innerhalb der Semantik noch zu beobachtendes Problem.

Für Bildung des Erziehungssystems in seiner gesellschaftlichen Funktion hat Luhmann in seinen früheren Schriften die Leistung der Sektion herausgearbeitet,[24] die jedoch innerhalb dieser Arbeit nicht etwa empirisch weiter verifiziert werden soll. Vielmehr wird es im folgenden um den Aspekt der sonderpädagogischen Semantik als Teil des Erziehungssystems gehen, wobei jedoch die Problematik ihres Bezuges zur gesellschaftlichen Funktion des Systems jeweils herzustellen ist. (Den Aspekt der Leistung und der Funktion, dass heißt die Interdependenz gesellschaftlicher Teilsysteme, die jüngere Systemtheorie nach ihrer Aufnahme des biologischen Autoposiesiskonzepts nicht weiter verfolgt. Dennoch der "Systemeffekt, der auf dem Code besser/schlechter basiert in PISA-Studie empirisch neu belegt wurde, als ein zentrales Problem auch innerhalb der Sonderpädagogik beschrieben werden; nicht zuletzt hat sich die Kritik auf gleichzeitige Phänomen von Förderung und Aussonderung auf diesen Selektionseffekt bezogen. Auch Luhmanns letzte Schrift, die sich mit dem Erziehungssystem beschäftigt, beschreibt diese Problemlage als den Bedarf der Gesellschaft, "daß verschiedene Menschen verschieden erzogen werden und dies nicht durch Rückgriff auf Natur des Menschen begründet werden kann."[25])

Historisch markiert Luhmann für die Ausdifferzierung funktionaler Systeme innerhalb moderner Gesellschaften die Zeit der europäischen Aufklärung, deren Charakteristikum es ist, den gesellschaftlichen Transformationsprozess im philosophischen Diskurs der Anthropologie zu beschreiben, etwa in naturrechtlichen (jeder Einzelne ist von Geburt an gleich), eudämonistischen (der Mensch strebt nach individuellem Glück) oder pädagogischen (der Mensch strebt nach individueller Perfektibilisierung) Varianten. Damit, so Luhmann, sei das semantische Feld insbesondere auch der Pädagogik

"so anthropologisiert daß die Analyse nicht auf soziale Systemreferenzen gebracht werden kann, an denen allein man die sozialen Veränderungen hätte kontrollieren können. (...) Man geht nicht vom Sozialsystem der Erziehung, sondern vom zu erziehenden Menschen und expliziert Erziehungsziele am Menschen"[26]

Diese Semantik des Erziehungssystems bekommt deshalb den Funktionsaspekt (‚Selektion') nicht den Blick, weil sie der anthropologischen Perspektive, d.h. der Person, verhaftet bleibt und gerät dadurch in ein Bias, indem funktionale gesellschaftliche Aufgaben individuelle Bedürfnisse im Sinne eines anthropologisierten (Verwirklichung individueller Perfektibilität und Glückseligkeit) formuliert werden.

Die erziehungswissenschaftliche Problemstellung insofern "durchweg, ‚humanistisch' am Menschen formuliert worden, und dabei konnte die Differenz von bezwecktem Output und gesamtgesellschaftlicher Funktion sozusagen in der Zusammensetzung des gewünschten Menschen überspielen - etwa mit der Formel, es solle eigentlich der Mensch im Bürger sein, der glückselig bzw. vollkommen werden solle."[27]

Was nun die Ebene der Semantik betrifft, zeigen Luhmann und andere, dass der Bildungsbegriff als Kategorie geeignet war, das Dilemma von Funktion und Semantik im Sinne einer anthropologischen Formulierung in den Griff zu bekommen, ohne dabei auf den gesellschaftlichen Bedarf der Selektion zu verweisen also durch Verzicht auf die Explikation der Produktion einer Unterscheidung in 'gebildet/ungebildet' und auf deren Aufnahme in Eigenthematisierung. Das heißt, die Erzeugung von Unbildung wird nicht als Systemeffekt gekennzeichnet, sondern auf dem System vorgelagerte Umstände verschoben: beispielsweise auf häusliche Erziehung, auf die individuelle Entwicklung, auf die soziale und/oder nationale Herkunft und möglicherweise auch auf Geschlecht und Behinderung - systemtheoretisch gesprochen auf die Umwelt des Erziehungssystems.

Diese Problemlage ist eine Besonderheit des Erziehungssystems, da sie - im Gegensatz etwa zum Rechts-, Wirtschafts-, Wissenschafts- oder Gesundheitssystem - ihren Code ('gebildet/ungebildet' bzw. 'erzogen/unerzogen') nicht offen legt (und auch 'besser/schlechter' eher anthropologisch nutzt), weil dieser der erklärten Programmatik, Bildung widerspricht.

Während die anderen genannten Systeme auch in ihrer Selbstbeschreibung die Hervorbringung der Differenz etwa von Recht und Unrecht oder Gesundheit und Krankheit konstitutiv aufnehmen, vermag das Erziehungssystem die eigene selektive Produktion gebildet/ungebildet nicht als funktionale Immanenz anzuerkennen - so gerät auch für die Sonderpädagogik die eigene Produktion von Behinderung tendenziell aus dem Blick.

"Soweit das Erziehungssystem über ‚Bildung' seine Selbstreferenz formulierte, wich es vom allgemeinen Sprachgebrauch ab. Während man im täglichen Leben mit Hilfe der Unterscheidung von gebildet/ungebildet beobachtet und beschreibt, kann das Erziehungssystem nicht zugeben, daß es darauf ankommt, diese Differenz zu reproduzieren. So wird Wirken der Erziehung zwar von außen beschrieben (...), aber intern wird statt dessen Bildung als Zielformel oder als Kanon die Auswahl von Inhalten benutzt, also in einem Sinne, der die Differenz zu sich nur als private Negation, als Mißerfolg, als nicht genug geführte Annäherung eine Idee mitführt."[28]

Die Semantik der Disziplin ist, so Luhmanns These, durch den Bildungsbegriff bestimmt,[29] der, wie angedeutet, den Vorzug hat, ein soziales Phänomen (eine bestimmte Kommunikationsweise) zu individualisieren. Der Bildungsbegriff, der bereits im aufklärungsphilosophischen Konstrukt der Perfektibilität angedacht war. hat allerdings erst dann Konjunktur aufgenommen, als das Erziehungssystem von zufälligen pädagogischen Reflexionen Abstand nahm zugunsten eines im 19. Jahrhundert beginnenden institutionalisierten Diskurses mit eigener einheitsstiftender Kontingenzformel:

"Semantisch ging (...) der Bildungsbegriff erst allmählich vor dem Erziehungsbegriff in Führung, um aber schließlich, in Verbindung mit 'Kultur', 'Geist' oder 'Humanität' sowie mit spezifischen Individualitäts- und Entwicklungsvorstellungen den Bedeutungsgehalt von 'Aufklärung', 'Erziehung' und 'Fortschritt' noch zu überholen."[30]

Damit wird, so auch die These Luhmanns, das Programm der Humanität im Vollzug des Perfektibilitätsgedankens der europäischen Aufklärung fortgeschrieben, welches die Notwendigkeit von Pädagogik aus der Unvollkommenheit des Menschen begründete (innerhalb dieser Semantik wurde vom anthropologischen Bedürfnis nach Erziehung zur Perfektibilisierung des einzelnen und - daraus folgend - der Gesellschaft als Signum der Aufklärungspädagogik zugunsten Bildung/Bildsamkeit als Signum der disziplinären und institutionellen Bezüge des Erziehungssystems im 19. Jahrhundert umgestellt). Zugleich bot der Bildungsbegriff den Vorteil, die selektive Funktion des Erziehungssystems als gerecht erscheinen zu lassen, indem der Bildungsdiskurs an das Postulat der Gleichheit (Gleichheit des Unterrichts. Gleichheit des Schulanfangs etc.) gekoppelt war.[31]

Die anthropologische (also an Personen adressierte) Semantik des Bildungsbegriffes wurde durch die Herbartsche Formel der Bildsamkeit wirksam gestützt. Bei Herbart hieß es:

"Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings. Anmerkung: Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weitem Umfang. Er erstreckt sich sogar die Elemente der Materie. Erfahrungsmässig lässt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehen."[32]

Unter dem Gesichtspunkt der Einheit des Systems ist der Begriff der Bildsamkeit die geeignete Referenz auf Seiten der Adressaten zur Realisierung des Programms 'Bildung' und dessen methodischer Umsetzung. Von hier aus lösen anthropologische Fundierungen der Erziehung durch ihren unmittelbaren Bezug auf die humane Disposition ‚Bildsamkeit' zugleich auch Probleme ihrer pädagogischen Realisation und schließen vermeintlich die Kluft zwischen Theorie und Praxis; antworten also auf das vielzitierte 'Technologiedefizit' der Pädagogik. Bildung erscheint also als unmittelbar einsichtiger sozialer Anschluss an die individuelle Disposition der 'Bildsamkeit'.

Der Behinderungsbegriff und seine Vorläufer schließen hier nahtlos an: Sozial (re)produzierte Differenzen werden - jetzt im Umkehrschluss - im Sinne einer anthropologischen Wende zu je individuellen, anthropologischen Einschränkungen der Bildsamkeit - wie weiter unten bei Bleidick deutlich nachzuzeichnen ist. Bezogen auf die Analogie Bildung/Behinderung ließe sich hier weiterhin schlussfolgern, dass Behinderung (mit ihrem schulischen Bezug auf Lernen und Verhalten) im Kontext von Unbildung - also im Spanungsfeld der Selektion zwischen Bildung und Unbildung - anzusiedeln wäre und eine anthropologische Konturierung durch das Postulat der eingeschränkten Bildsamkeit (die zugleich den Anfang spezieller Erziehung impliziert) erhält.

Aus der Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung handelt es sich bei diesen anthropologischen Aussagen und ihren methodischen Ableitungen um Kausalattribuierungen, die die Komplexität des Systems nicht angemessen beschreiben. Und wenngleich ein derzeit allgemeiner Abgesang an eine Fundierung der Erziehungswissenschaft mittels anthropologischer Argumentationen im Anschluss an den Bildungsbegriff zu konstatieren ist, so z.B. Michael Winkler, der feststellt, "daß die Pädagogik die Anthropologie längst hinter sich gelassen hat, daß sie sich aber andererseits weiter mit ihr herumplagen muß. Sie befindet sich also in der etwas unglücklichen Lage desjenigen, der nach dem Tod eines oder einer nahen Verwandten einen Haushalt auflösen muß",[33] ist die vorwiegend personal adressierte Semantik von Pädagogik unumgänglich. Diese schließt jedoch, wie gezeigt, den funktionalen Effekt des Systems nicht ein.

Kontextualisiert man den disziplinären Diskurs mit einer professionstheoretischen Rekonstruktion, zeigen sich deutliche Parallelen: Auch hier ist die Definition des zur Bearbeitung anstehenden Problems einer spezifischen Klientel orientiert, denn zur Typisierung eines Berufes als Profession gehört in humanistischer Tradition die explizite Orientierung an Problemen des Menschen und, daran angeschlossen. die jeweils eigenständige Problemdefinition, -regulation und -kontrolle, die zugleich einen besonderen Klientenzuschnitt hervorbringt.

Die klassischen Professionen bezogen sich dabei in Sonderheit auf das "Verhältnis zu Gott (Theologie), zu anderen Menschen (Recht) und zu sich selbst (Medizin)".[34] Mit einer Individuum orientierten Problemzuschneidung geht damit die Universalisierung eines abstrakten Klientenstatus einher, z.B. als Gläubige, als Kranke, als Schüler, als Kläger oder Beklagte. Übergehend von hier eher rollenförmig beschriebenen gesellschaftlichen Differenzierung zur systembezogenen Differenzierung markiert Luhmann diesen sich vollziehenden Bereitstellung von gesellschaftlicher Inklusion:

"Nicht jeder kann Arzt werden, aber jeder Patient; nicht jeder Lehrer, aber jeder Schüler. Eben deshalb nicht schon die Ausdifferenzierung von Leistungsrollen, sondern erst die Differenzierung der Gesamtbevölkerung nach Maßgabe funktionsspezifischer Komplementärrollen derjenige Vorgang, der die Schichtungsordnung zerbricht und es ausschließt, daß jeder einem nur Teilsystem der Gesellschaft zugeordnet wird. "[35]

Von dieser Ebene der Systemdifferenzierung betrachtet gibt es damit einen Hinweis auf die historisch geronnene der Semantik des Systems. Im Behinderungsbegriff (und seinen Vorläufern) lässt sich, wie angedeutet, diese personale Zuschneidung auf funktionaler und semantischer Ebene nachzeichnen.

Die Konstitution der Klientel 'Behinderte' vollzieht sich historisch verschiedenen Systembildung: Innerhalb des Gesundheit-, des Rechts- und des Erziehungssystems, da Behinderung in den semantischen Feldern von Krankheit, Müdigkeit und Bildsamkeit entfaltet wird. Kategorie 'Behinderung' ist somit historisch auf der Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme nicht allein aus der Binnendifferenzierung der SchülerInnenschaft erklärbar - obgleich der Ausformung der Hilfsschule für die Herausbildung der sonderpädagogischen Disziplin und Profession außerordentliche Bedeutung zukommt. Sie entstammt gleichermaßen dem Gesundheitssektor (in der Konstruktion der Psychopathenlehre, derer sich die Heilpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bediente) und dem Sozialsektor (Behinderung im Kontext von Körperbehinderung im Bundessozialhilfegesetz von 1961) und löst damit traditionelle caritative und armenrechtliche Bezüge ab. 'Behinderung' firmiert damit keineswegs als eine konkret interaktionistische, personale sondern, wie Lindmeier in Anschluss an Kobi herausstellt, als funktionale Kategorie im Kontext systembezogener Ausdifferenzierungsprozesse.[36] Im Kern mutet diese Operationalisierung verwaltungstechnisch an:

"Die 'Verankerung' des Defizits am Individuum wird von Verwaltungsvorschriften gefordert, denn es gibt keine Leistungszusage, wenn der Mangel über die Person des Antragstellers einer Leistung hinausgeht (z.B. wenn das familiäre Umfeld insgesamt eine Unterstützung bekommen müßte). Behinderung wird durch den Prozeß der Verrechtlichung zu einem 'sozialmedizinischen' Problem am Individuum, für das die medizinischen Experten als Diagnostiker zuständig sind. Durch die Verrechtlichung des Phänomens Behinderung wird ein äußerst komplexer sozialer Vorgang zu einem individuellen Defizit-Merkmal, da die gesellschaftlichen Anforderungen in individuelle Beeinträchtigungen übersetzt werden müssen. Diese Prozedur der Verrechtlichung, also die Reduzierung eines komplexen Phänomens in juristische Handhabbarkeit, konstituiert den institutionellen Blick, d.h. die typische abstrahierende Sichtweise auf den institutionellen 'Fall'."[37]

Analog dazu kann auch der pädagogische Behinderungsbegriff verstanden werden, welcher Differenzen im Lernen oder Verhalten als individuelles Defizit, z.B. im Sinne eingeschränkter Bildsamkeit - oder historisch früher als Seelenschwäche - anthropologisch markiert. (Dieses Problem, nämlich die Kopplung von Leistungen an institutionell individualisierte Merkmale, hat die integrationspädagogische Literatur auch unter dem Stichwort 'Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma' beschrieben.)

Vorläufer einer systemfunktionalen Semantik stellen die Zuschneidungen der heilpädagogischen Praxisfelder des 18. und 19. Jahrhunderts (privat-caritative, wie auch staatliche Idioten-, Krüppel-, Blinden- und Taubstummenanstalten) dar, indem sie auf quasi vor-moderne phänomenologische Kategorienbildungen bezogen die an unmittelbare Anschauung geknüpft waren. Erst die institutionelle Zuweisung zur Gruppe der HilfsschülerInnen vollzog historisch den Umbruch zur systembezogenen, funktionalen Kategorie (vom Standpunkt des Erziehungssystems gesehen), obgleich der hier operationalisierte Begriff des 'Schwachsinns' (als ein Bestandteil der Kategorie Behinderung) quasi an der Schnittstelle von unmittelbarer sinnlicher Erfahrungsorientierung und Systembezug stand. Damit wird die Schulpädagogik insbesondere für die Entwicklung des Erziehungssystems relevant.[38]

Vor diesem historischen Hintergrund der Systemdifferenzierungen und der hiermit verbundenen Professionsentwicklung ist die Herausbildung einer abstrakten Kategorie 'Behinderung' sowohl im Sinne der Institutionellen Systemlogik dazu korrespondierend innerhalb der Semantik der Disziplin zu beobachten. Auf der Ebene der Institutionenbildungen entwickeln sich phänomenologisch orientierte Klientelzuschneidungen. Auf der Ebene der Disziplinbildung zu anthropologischen Kategorien. Am Bildungsbegriff sich dieser Vollzug paradigmatisch aufzeigen, an welchen dann die sonderpädagogische Semantik um den Behinderungsbegriff anschließt (bei Bleidick, wie bereits angedeutet, am deutlichsten in der Formel 'Störung der Bildsamkeit').

Diese Entwicklung funktioneller Ausdifferenzierung und die sie begleitende Semantik, die im wesentlichen im Kontext der Theoriebildung an den aufklärungsphilosophischen anthropologischen Diskurs anknüpft, birgt - zusammengefasst - das Problem, systembezogene Differenzierungen als Persönlichkeitsmerkmale umzuformen, um diese dann pädagogischer Praxis zugänglich machen zu können - im Fall von Behinderung also, diese auf der Subjektseite dauerhaft im Sinne eines anthropologischen Merkmales anzulagern. Funktionale Differenzierungen verweisen damit auch immer auf einen Inklusions- und Exklusionskontext:

"Um mit Erziehung auf Desintegration oder Anomie antworten zu können, wird von der Pädagogik weiter die subjektive Seite der Desintegrationsursachen beleuchtet und nicht die objektive Seite der strukturellen Inklusionsverweigerung: nur wenn die Ursache für Nicht-Inklusion oder Exklusion den einzelnen Individuen zugerechnet werden, kann man sie mit Gründen einer pädagogischen Behandlung unterziehen."[39]

Dieser Zusammenhang schlägt sich auch in der sonderpädagogischen Theoriebildung im Behinderungsbegriff nieder, welcher zugleich in der Anknüpfung, an die traditionelle phänomenologische Semantik ein anthropologisches Merkmal unterstellt und den funktionalen Aspekt des Systems auf diese Weise als naturhaft kommuniziert. Dies soll im folgenden anhand der Rekonstruktion historischer und aktueller Theoriebildung genauer ausgeführt werden.

2.2 Historische Entwicklungen

Die Durchsetzungsfähigkeit und Signifikanz des Behinderungsbegriffes für die Sonderpädagogik lässt vermuten, dass bereits vorgängige Begriffe in ähnlicher Weise den Versuch unternahmen, die heilpädagogische Klientel zusammenzuführen und damit historisch einen Objektbezug vorlegten: Sonderpädagogik als Einzelfallhilfe am durch Behinderung charakterisierten Individuum, welches wiederum erschwerte Erziehungsprozesse erwarten lasse.

Historisch notwendig wurde die Ausarbeitung eines sonderpädagogischen Paradigmas, als ein Zusammenschluss der caritativ-privaten und staatlichen Anstalten für Taubstumme, Blinde, Epileptiker, Idioten und Krüppel innerhalb der großen Wohlfahrtsverbände einerseits und Hilfsschülerinnen andererseits auf institutioneller Ebene erfolgte - begleitet von einem professionsbezogenen und Formierungsprozess als Beginn der Systembildung. Diese Entwicklungen sind zunächst grob in die Dynamik der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme in der Moderne einzuordnen und schlugen sich u.a. in gesetzlichen Verordnungen wie beispielsweise dem Armen-, Fürsorge- und Reichsjugendwohlfahrtsgesetz nieder.

Pädagogische Professionen übernehmen innerhalb dieser Entwicklung Aufgaben zur Bearbeitung und Regulierung sozialer Probleme mit dem besonderen Merkmal, "daß sie personale Dienstleistungen erbringen, also und mit Personen arbeiten, um durch Prozesse der Beratung, Erziehung, Bildung, Therapie und Pflege deren gesundheitlichen, psychosozialen, bildungsbezogenen usw. Status zu verändern."[40] Dem Status einer Profession sind dabei zentral zwei Charakteristiken zuzurechnen: a) (mit Einschränkungen) autonome "Kontrollrechte der Bearbeitung zentraler Probleme der Lebenspraxis" sowie b) "Entfaltung einer spezifischen Binnenlogik professionalisierten Handelns."[41]

Aus strukturtheoretischer Perspektive stellt sich die Entwicklung der Professionen wie folgt dar:

"Bestimmte menschliche Probleme, wozu insbesondere Formen und Inhalte des menschlichen Lebens gehören, können nicht sich selbst überlassen werden, weil sonst existenzielle Gefährdungen für das Individuum bzw. Gesellschaft Diese Probleme sind von einer Art, sie nicht einfach im Alltag zu bearbeiten sind, oder aber ihnen durch eine klar definierte vertraglich festzugelende Dienstleistung abgeholfen werden könnte.

Es handelt sich also bei Problemen vielmehr um etwas. das potentiell (...) zu erheblichen Gefährdungen führen kann. Es wird daher ein allgemeines Interesse an Abhilfe unterstellt. Die Abhilfe kann man als Voraussetzung für das Funktionieren individueller und gesellschaftlicher Lebenspraxis verstehen."[42]

Für die Ausdifferenzierung der pädagogischen Professionen ist im Sinne der Problemdefinition von besonderer Bedeutung, dass die zu lösenden sozialen Probleme als pädagogisch bearbeitbar erscheinen müssen. Diese Perspektive ist, so Merten/Olk, für die sozial- und sonderpädagogischen Beschreibungen an die Ausformung des Sozialstaates gekoppelt. "Die Etablierung des Sozialstaates gestattet es nunmehr tendenziell, den Blick von der ausschließlichen Fixierung auf materielle Problemlagen zu lösen und auf den Bereich der psychosozialen Verelendung zu erweitern."[43]

Für die Sonderpädagogik gilt weiterhin, dass dieser Prozess der Etablierung, d.h. Professionalisierung, sich historisch an der Schnittstelle von Schul- und Sozialpädagogik vollzieht, wobei der Bereich des Anstaltswesens durch den Zusammenschluss der Wohlfahrtsverbände unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips dem Pflegesektor wurde und bis zum Drittel des 20. Jahrhunderts aus dem pädagogischen Blick verschwand. Dennoch beharrte die professionstheoretische Ausarbeitung der Disziplin auf schulischen wie außerschulischen (in Konkurrenz mit der Sozialpädagogik) Arbeitsfeldern, so dass hier die zentrale Problematik entstand, eine institutionenübergreifende semantische Konturierung, wie sie für den Prozess der Professionalisierung durchaus erforderlich ist, vorzunehmen (wenngleich auf institutioneller Ebene zunächst lediglich die Durchsetzung der Hilfsschule erfolgreich war[44]). Vor diesem Hintergrund erschließt sich a) die dominante Orientierung an einer gemeinsamen Klientel sowie b) die Konzentration auf den Erziehungsbegriff (der Bildungsbegriff spielt innerhalb der Disziplin bis in die Gegenwart hinein keine zentrale Rolle[45]) gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner schulischer und außerschulischer Praxis.

Die historische Konturierung der Klientel lässt sich in der Theorieentwicklung wie folgt rekonstruieren:

Das die Ausformung der Disziplin bedeutende Werk Georgens und Deinhardts "Die Heilpädagogik, mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten"[46] verwendet in der Bestimmung der Klientel bereits eine übergeordnete Kategorie: den Begriff der 'Entartung'. Auch der Terminus 'Heilpädagogik' zeigt an,. dass die Zuschneidung auf lediglich eine Behinderungsform zu überschreiten versucht wird, wenngleich der theoretische Ausgangspunkt in diesem Fall die Idiotie war.

'Entartung' bezeichnet dabei das Zusammenspiel von sozialen Faktoren und deren Auswirkungen auf die Konstitution, das Temperament, die Sinne, den Charakter sowie die geistigen und moralischen Anlagen.[47] Aus der medizinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive der Autoren erscheint die hier vorgenommene Definition von 'Entartung' als Krankheit,[48] wobei Krankheiten in drei Dimensionen geordnet werden: physische, moralische und geistige. Während der Arzt für erstere zuständig sei, beziehe sich der Heilpädagoge auf die moralischen und geistigen, sein Arbeitsfeld bedinge sich durch den "Mangel der rechten Übung, (...) eingewurzelten Verwöhnungen und (...) der Disharmonie der Denk- und Sprechtätigkeit."[49]

Weiterhin werden die Methoden der Disziplin allgemein pädagogische ausgewiesen, die lediglich aufgrund der Spezifität der Klientel Modifikationen erfahren: "() weder die Erziehungsaufgabe noch die Erziehungsmittel [können, V.M.] wesentlich andere sein (...) wie bei gesunden Kindern, und (...) daher [muss, V.M.] die Darstellung dieser Aufgabe und (...) an sich eine allgemein-pädagogische, wenn auch durch weg und unmittelbar auf die besonderen Bedürfnisse und Zustände der Idioten bezogen sein."[50]

Verzichtet wird bei der Klientelbestimmung auf eine Grenzziehung zwischen Normalität und Entartung:

"Die historische Erfahrung., welche uns zeigt, wozu sich der Mensch unter bestimmten Verhältnissen entwickelt hat, also bedigungsweise entwickeln kann, reicht für die Gewissheit der menschlichen Bestimmung - folglich für die bewusste und wissenschaftliche Pädagogik, wie sie die Gegenwart anders als die Vergangenheit fordert - nicht aus oder mittelst der historischen Erfahrung die Grenzen des Normalen und Abnormen wie die des Nothwendigen und Willkürlichen - denn die Willkür eignet dem Menschen, weil ihm die Selbstbestimmung eignet - mit irgend welcher Sicherheit nicht ziehen lassen."[51]

Aus einer anderen theoretischen Perspektive wurde Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls die Bestimmung der heilpädagogischen Klientel versucht: aus der Tradition der Verwahrlostenfürsorge, die bis zu dieser Zeit vor allem protestantisch-pietistisch geprägt war, und somit das Phänomen ‚Verwahrlosung' an moralische Implikationen band. Die modernere Fassung des Verwahrlosungsbegriffes im Sinne einer flexibleren Kategorie, die das Spanungsfeld von sozialer Lage und subjektiver Bearbeitung erfasst, wird durch die Sozialpädagogik im Sinne Nohls in den 1920er Jahren geprägt, wohingegen die Sonderpädagogik weiterhin eher an einer dominant anthropologischen Argumentation festhält. Die zeitgenössische Heilpädagogik verblieb hier einem tendenziell medizinischen Modell verhaftet, welches dauerhafte Bedürftigkeit auf Seiten der Klientel unterstellte gegenüber dem flexibleren passageren Interventionsmodell der Sozialpädagogik, welches statt dauerhafter Hilfe eher Hilfe zur Selbsthilfe anbieten wollte.[52]

Der Fokus auf Moral wurde auch in der Entwicklung einer pädagogischen Perspektive beibehalten - aus der Abkehr vom christlichen Glauben (so noch die Argumentation Wicherns: "Die Ursache des Verfalls liegt tiefer; der Ueberdruß, an Gottes Wort hat Reich und Arm erfüllt, der Glaube war gewichen, und der Uebermuth des menschlichen Herzens meinte (...) seiner nicht mehr zu bedürfen."[53]) wird der weltlich-sittliche Verfall.

Die pädagogische Bearbeitung ähnelt der theologischen: sie zielt auf das Innere und die Selbstdisziplinierung. Wichern, als paradigmatischer Vertreter der pädagogischen Operationalisierung von 'Verwahrlosung' im 19. Jahrhundert, ging es in seiner pädagogischen Konzeptionalisierung, so Anhorn,

"auf der Grundlage einer relativ eindimensionalen und zutiefst pessimistischen. in den Begriffen der Erbsünde und Gnade zentrierten Anthropologie (...) darum. den Eigen-Willen - die ‚verderbte Natur', den ‚alten Adam' - in den Kindern und Jugendlichen zu brechen und sie im Rahmen des Rauhen Hauses einer umfassenden 'Reorganisation' ihrer Verhaltensdispositionen und Wertorientierungen zu unterwerfen -mit Ziel, den einzelnen Zögling schließlich darin zu führen, daß 'er das Geschäft des Erziehers sich selbst übernehmen kann und will'. Anders ausgedrückt bedeutete diese Zielsetzung nichts anderes, als daß die stets legitimationsbedürftige und widerstands-anfällige heteronome (Fremd-) Disziplinierung sukzessive in eine autonome und reflexiv gesteuerte (Selbst-)Disziplinierung überführt werden sollte."[54]

Damit erhält die Konstruktion des moralischen Subjekts Einzug in die heilpädagogische Argumentation, die sich auch in den weiteren Ausarbeitungen zum Phänomen der ‚Verwahrlosung' des ausgehenden 19. Jahrhunderts wiederfinden lässt. In der Entwicklung der Psychiatrischen Medizin beispielsweise findet das Syndrom des 'moralischen Schwachsinns' in der Krankheitslehre Platz (so Kraepelin und Bleuer), und gibt von hier aus wieder eine Folie ab für die heilpädagogischen Konzepte der Kinderfehlerlehre Strümpell, Trüper).

Da sich der Diskurs um die sogenannte 'moral insanity' zugleich mit der Degenerationslehre kreuzte, findet sich auch diese Variante in der heilpädagogischen Kategorienbildung, so z.B. als 'Psychopathische Minderwertigkeit' (Koch, Strümpell, Trüger). Von hier aus entwickelte sich ein Strang der Heilpädagogik in Richtung einer pädagogischen Pathologie, wobei jedoch nunmehr von Strümpell die anthropologische Dimension der 'Bildsamkeit' herangezogen wird in der Parallelisierung von 'geistiger Gesundheit' und 'Bildsamkeit'[55] (eine Kategorie, die der Herbartschen pädagogischen Systematik entnommen, und bei Bleidick wieder aufgenommen wird). Mit dieser Strategie - der Bezugnahme auf Bildsamkeit - ließ sich der Krankheitsbegriff als auch sozial bedingt entfalten, um pädagogische Maßnahmen überhaupt begründen zu können:

"Das Strümpell ungünstige Milieueinflüsse als Ursachen psychopathische Zustände benennt scheint bei der ausdrücklichen Beschränkung des Psychopathiebegriffs auf Phänomene hirnorganischer Störungen zunächst erstaunlich, wird aber verständlich, wenn man berücksichtigt, daß Strümpell in seinen anthropologischen Vorstellungen von einer prinzipiellen Wechselwirkung zwischen der immateriell-seelischen Sphäre und der materiell-körperlichen Ebene ausgeht. Eben deshalb kann seiner Ansicht nach das Gehirn auch ‚von der Seite des Seelenlebens leiden', kann 'das psychisch Anormale die Ursache des somatisch Pathologischen' sein."[56]

Diese hier entfaltete Sicht auf Abweichung als vornehmlich moralische Problematik des einzelnen Subjekts findet sich schließlich in den heilpädagogischen Lehrwerken des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zentral wieder und repliziert sich sowohl der Zuschneidung der Klientel als auch in der Bestimmung des Erziehungsbegriffes als Hauptdimension heilpädagogischen Handelns (in Abgrenzung zu Pflege [als zugehörig dem Gesundheitssektor] auf der einen und Bildung [als ausschließlich zugehörig der Schulpädagogik] auf der anderen Seite). Pädagogischer Fokus auf Seiten der Person wird dabei das individuelle Wollen. Durch diese Wendung wird der potentielle erzieherische Einfluss möglich, denn schließlich muss neben eine anthropologische Konstante eine Variable treten, um Pädagogik überhaupt wirksam erscheinen zu lassen.

Theodor Heller versucht in seinem Kompendium "Grundriß der Heilpädagogik" von 1904 die Klientel, u.a. durch das Fürsorgegesetz im BGB 1900 gewonnen wurde, der Heilpädagogik zuzuschlagen:

"Man hat offenbar der Abfassung des Gesetzes nicht daran gedacht, daß geistige Minderwertigkeit Ursache der Verwahrlosung sein könnte. So ist die Bestimmung, daß Fürsorgeerziehung einzutreten habe ‚wegen Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der Schule zur Verhütung sittlichen Verderbens der Minderjährigen', nicht in dem Sinne interpretiert worden, daß diese Unzulänglichkeit gegeben sein könne, wenn bei den betreffenden Jugendlichen psychopathische Zustände vorliegen; es ist auch den in den Ausführungsbestimmungen immer nur von höheren, gleichsam augenfälligen Mängeln die Rede, während die sittlich gefährdeten psychopatischen Konstitutionen gänzlich außer Betracht bleiben. (...) An der Schwelle der Fürsorgeerziehung wird jene Sonderung die in der Schule begonnen wird, zum Segen der Allgemeinheit weiter besorgt werden können: Hier ließe sich durch den Nachweis krankhafter Veranlagung der Rest der psychisch abnormen Jugendlichen, die mangels elterlicher Initiative für die öffentliche Fürsorge in Betracht kommen, einer zweckmäßigen Behandlung zuführen."[57]

Unter 'zweckmäßiger Behandlung' versteht Heller die Unterbringung in heilpädagogischen Anstalten, deren Instutionalisierung der Professionsentwicklung dienlich sei.

"Durch die Hilfsschulen haben zahlreiche Erziehungsanstalten für Schwachsinnige das eigentlich bildungsfähige Material eingebüßt. Die Versorgung von Idioten kann nicht als eine voll befriedigende Aufgabe betrachtet werden. Wenn nun die heilpädagogischen Anstalten einen Teil dieses Materials in Pflegeanstalten abgäben und sich in der gedachten Weise der Fürsorgeerziehung widmeten, so wäre die heilpädagogische Anstaltsarbeit wieder vor neue, dankbare Aufgaben gestellt, die Wert und Bedeutung der Heilpädagogik in ein glänzend klares Licht rücken würde."[58]

Der Einzug der Degenerationslehre in die Hellersche Argumentation drückt sich auch im Vorwort zur Auflage aus, in welchem Heilpädagogik in den Kontext ökonomischer Interessen gestellt wird.[59]

Die von Heller anvisierte Klientel sind neben den Schülern und Schülerinnen der Hilfsschule die sogenannten krankhaft veranlagten psychopathischen Kinder und Jugendlichen. Die von hier aus entwickelte Kategorie, die die unterschiedlichen Behinderungsformen zusammenführt, vollzieht sich nun unter Bezugnahme den Topos 'moralische Abweichung' - auch, wie angedeutet, mit Blick auf die Gruppe der Fürsorgezöglinge. Insofern erstrecke sich, so Heller, das Arbeitsgebiet der Heilpädagogik "auf alle jene im Kindesalter vorkommenden Abnormitäten, bei denen durch Herstellung günstiger Entwicklungsbedingungen, die jedem Fall angepaßt sein müssen, eine Regelung der gestörten psychischen Funktionen erwartet werden kann."[60] Denn: "Nicht bloß die Störungen der Intelligenz, sondern auch die des Gefühls- und Willenslebens erfordern heilpädagogische Einwirkungen."[61]

Die Betonung der Moralerziehung als Signum Heilpädagogik dekliniert Heller durch verschiedenen Behinderungsformen hindurch vor dem Hintergrund der impliziten Vorstellung eines "psychischen Apparates", der sich aus den Dimensionen Empfindung, Wollen und Verstandestätigkeit zusammensetze. Die aufgelisteten Abweichungen haben in Hellers Sicht ihrerseits Einfluss, auf den Bereich der Empfindung (Sinnesbehinderungen), des Verstandes (Schwachsinn, Idiotie, Sprachstörungen (letztere rechnet Heller dem infantilen Schwachsinn zu)) oder des Wollens ('Moralische Entartung').[62] Gemeinsam sei allen drei Gruppen, dass sie sekundär oder primär negative Auswirkungen auf das Wollen haben, so wird der heilpädagogische Handlungsmodus als ‚Willenserziehung' entwickelt.[63]

Eine solche Perspektive wird auch von Ernst von Düring (1925) verfolgt:

"Die Persönlichkeit ist eine Einheit, deren wichtigste Komponenten Intellekt, Gefühl und Wille im Zentrum der zusammengefaßt und vom Zentrum der Persönlichkeit bedingt sind. Bei den geistig Minderwertigen stets die Gesamtpersönlichkeit geschädigt (...) Das Wesentliche bei den Schwachsinnigen ist neben einer Verkümmerung der Intelligenz eines disharmonische Ausbildung der verschiedenen geistigen Fähigkeiten. Alle Schwachsinnigen sind Psychopathen, denn Psychopathen sind Menschen mit abnormem Seelenleben - und das Seelenleben des Schwachsinnigen ist abnorm."[64]

Die zentrale Explikation schließlich dieses Gedankens nimmt Heinrich Hanselmann (1930) vor, indem er eine 'Gesamtseelenschwäche' postuliert[65] und diese zum Zentrum seines Lehrwerkes erhebt.

Den Topos einer Klientelbestimmung im Kontext 'moralischer Schwäche' führt auch Linus Bopp in seiner "Allgemeinen Heilpädagogik" aus dem Jahre 1930 weiter aus. Zwar erweitert er den Begründungsrahmen der Disziplin um den Bereich der Theologie ("Heilen und Helfen ist etwas echt Christliches."[66],jedoch wird in der Verknüpfung mit der bereits von Heller und von Düring vorgelegten psychologischen Argumentation die 'moralische Schwäche' als 'Wertsinnesminderung' ausformuliert. So charakterisiert Bopp beispielsweise den 'schwachsinnigen Heilzögling' wie folgt:

"Während wir in der Normalentwicklung des Kindes eine starke von innen wirkende Kraft der Seele wahrnehmen konnten, zeigt sich nun beim schwachsinnigen Kinde eine große Schwäche des Geistes, von innen heraus seine Entfalten und seine Selbstdarstellung in Leib und Umwelt vorzunehmen. (...) Der Name Schwachsinn läßt natürlich zunächst an die geistige Schwäche denken. In der Tat aber besteht dieser geistige Defekt nicht isoliert. sondern er stellt nur ein Symptom der allgemeinen seelischen Schwäche und Mangelhaftigkeit dar."[67]

Auch für Blinde und Taubstumme wird vermerkt, dass zuallererst eine "gründliche ethisch-religiöse Durchbildung"[68] Aufgabe der Heilpädagogik sei. Gleichermaßen wird auch am Wichernschen Modell der 'inneren Verwahrlosung' bei Symptomen wie Arbeitsscheu, Alkoholismus und Kriminalität festhalten.[69]

'Wertsinnesminderung' und 'Seelenschwäche' sind damit die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dominanten Deutungsmuster der heilpädagogischen Klientel; so wird die Disziplin ausdrücklich nicht von Seiten der Methode bestimmt (bei Bopp heißt es bezüglich einer speziellen heilpädagogischen Methodenlehre explizit: "Da muß nun sofort die Erwartung, es könnte die Heilpädagogik ganz andere Erziehungsmittel und -methoden besitzen als die Normalpädagogik, enttäuscht werden."[70]), sondern von Seiten des Klientelzuschnitts im Sinne einer als besonders erziehungsbedürftig umrissenen Gruppe aufgrund einer durch äußere und innere Faktoren hervorgerufenen moralischen Schwäche. Damit zeichnet sich der sonderpädagogische Handlungsmodus als 'Willenserziehung'[71] aus.

Die wissenschaftliche Dignität der Disziplin wird in den genannten Kompendien über eine spezifische Kenntnis des ‚Heilzöglings' ausgewiesen, ohne methodische Zugänge weiter zu explizieren. Es handelt sich hier in erster Linie um programmatische Überlegungen, wie beispielsweise bei Bopp einleitend: " (...) ganz entscheidend ist die Kenntnis des Zöglings in der Heilpädagogik. Darum ist es gerechtfertigt, wenn wir hier als erste Aufgabengruppe an die Spitze stellen die Lehre vom der Heilpädagogik, die Lehre vom Heilzögling."[72] Ähnlich formuliert auch Ernst von Düring: "Die Heilpädagogik ist ein Teil der Erziehungslehre. Sie hat zum Gegenstande erstens die Erkenntnis derjenigen Abweichungen von der Norm der psychischen Persönlichkeit, durch welche die Erziehung der Kinder und Jugendlichen erschwert wird."[73] Die Gewinnung der 'Erkenntnisse über den Heilzögling' geschieht in den vorgestellten Lehrbüchern des frühen 20. Jahrhunderts in einem zweifachen Vorgehen: individuelle Beobachtung und Zuweisung zu einem zweifachen Vorgehen: individuelle Beobachtung und Zuweisung zu einem der Sonderpädagogik zugeordneten Krankheitsbild im Modell der Fallkonstruktion - ein Prinzip, das sich mit dem Lehrgebiet der sonderpädagogischen Diagnostik als Signum sonderpädagogischer Kompetenz historisch durchsetzt.

Die Einzelfallorientierung impliziert darüber hinaus ein klinisches Modell, wie es u.a. auch in dem Vorschlag zum Ausdruck kommt, Heilerziehungsanstalten in Beobachtungsanstalten umzuformen.[74] Die heilpädagogische Methode bestehe darin, sich auf den jeweiligen Einzelfall einzustellen[75], Bopp prägt hierfür den Begriff der 'Sonderartungsgemäßheit'[76] der Methode.

Das diagnostische Konzept wird im Sinne einer pädagogischen Interventionsstrategie ergänzt um das Prinzip des Verstehens - es deutete sich insbesondere bei Bopp an, der ‚kausal-erklärende' mit 'final-deutenden' Verfahren verknüpfen will.[77] Hiermit wird eine dynamische Beziehung zwischen Zögling und Erzieher konzipiert - und bleibt im Konzept des Dialogischen für die Sonderpädagogik bis in die Gegenwart hinein maßgebend. Zugleich wird der strenge Erziehungsgedanke, der das 'Wollen' in den Griff nehmen wollte, tendenziell abgelöst von dem 'weicheren' Modell des 'Verstehens'.

Auch der Hanselmann-Schüler Paul Moor knüpft 1965 an das hermeneutische Modell an mit seiner vielzitierten Formel: "Erst verstehen, dann erziehen", um von hier aus das Konzept 'innerer und äußerer Haltgebung' zu entfalten. Die Klientel wird für diesen Kontext als 'entwicklungsgehemmt' charakterisiert ("Heilpädagogik ist die Lehre von der Erziehung derjenigen Kinder, deren Entwicklung durch individuale oder soziale Faktoren dauernd gehemmt ist"[78]). Wenn die Klientel als 'haltschwach' gekennzeichnet wird, die Methode mittels eines verstehenden Zuganges Haltgebung darstellt und spezifische Institutionen als hierfür besonders geeignet konzipiert werden - die Diagnose der Person exakt mit der pädagogischen Intervention korrespondiert, ist die Einheit des Systems (in diesem Fall des Subsystems Sonderpädagogik kommuniziert, die auch auf den Hilfsschulunterricht angewendet wird: "Erst im Erzieherischen begegnen wir der wichtigsten Aufgabe des Hilfsschulunterrichtes, deren Lösung alles andere trägt. "[79]

Damit lässt sich festhalten, dass die historische Theorieentwicklung der Sonderpädagogik an einem Objektzuschnitt orientiert ist: der besonderen Erziehungsbedürftigkeit aufgrund moralischer Defizite ('Seelenschwäche') als Folge von Erscheinungen, die inzwischen unter dem Begriff 'Behinderung' firmieren. Sie operiert damit vorwiegend bezogen auf die einzelne Person (und nicht auf Gruppen) und weist die spezifischen Kenntnisse über mögliche Abweichungen psychischer, körperlicher und geistiger Art als medizinische wie als pädagogisch-hermeneutische aus als möglicher Anknüpfungspunkt professionseigener Handlungsstrategien. Damit ist sie mit ihrer Adressierung an die einzelne Person im Dienste des Verstehens als Verlängerung gesellschaftlicher Humanität in den einzelnen hinein geradezu prototypisch für das Erziehungssystem. Zugleich, so die skizzierte Luhmannsche Argumentation, blendet diese Betonung von Zuwendung und Menschwerdung den gesellschaftlich funktionalen Auftrag: die Selektion aus, d.h. in diesem Fall die Mithervorbringung von Behinderung bzw. Seelenschwäche oder Haltschwäche.

Behinderung tritt hier als dauerhafte (der Tradition nach moralische) Problemlage auf, etwa durch Bildung - nicht entkommen werden kann. Damit wird auf der Ebene der Semantik an den allgemein erziehungswissenschaftlichen Diskurs um Sittlichkeit und Erziehung angeschlossen, der später in der Fokussierung auf relevante Lernbeeinträchtigung (vgl. im folgenden Bleidick) die von Luhmann diagnostizierte semantische Umstellung von Bildung zu 'Lernfähigkeit' mit nachvollzieht, d.h. das Modell der statischen (moralischen) Differenz transformiert sich historisch in ein modifizierbares Lernproblem. Dieser Befund ist nachweisbar in den modernen sonderpädagogischen Theoriekonzepten, wie sie mit der Schrift Ulrich Bleidicks "Pädagogik der Behinderten" seit 1972 vorliegen.

2.3 Behinderung als Semantik des Teilsystems Sonderpädagogik

In der sonderpädagogischen Theoriebildung wurde der Behinderungsbegriff durch das Konzept Ulrich Bleidicks "Pädagogik der Behinderten"[80] zentral eingeführt. Bleidick schlägt als erster explizit vor, eine spezielle Pädagogik mittels der Klientelbestimmung ‚behindert' im Kontext eines erziehungswissenschaftlichen Theoriegebäudes zu entfalten. Seine Argumentation lautet: "Die theoretische Ableitung der Behinderungspädagogik nimmt (...) nicht mehr Ausgang vom medizinisch betrachteten Defekt, sondern von der Ausgabe der Erziehung her (...) Vom Begriff der Erziehung her (...) müssen alle Behinderungen aufgezählt werden, bei denen es zu einer Störung der Bildsamkeit kommt".[81] Vor diesem Hindergrund entwirft Bleidick die Formel 'Behinderung' als intervenierende Variable im Erziehungs- und Bildungsprozess'[82]. Rekurriert wird dabei auf die Dimension des Lernens, die damit das traditionelle Modell der ‚moralischen Abweichung' ablöst:

"Der Behinderte schlechthin ist 'lernbehindert' (...). Der Prozeß ungestörten Lernens ist angewiesen auf intaktes Sehvermögen, intakte Hörfähigkeit, normale sprachliche Funktion, ausreichende Intelligenz, körperliche Bewegtheit und soziale Adaption. Eine Störung einer dieser Funktionen beeinträchtigt den Lernprozeß, die Enkulturation. Sie macht Ersatzmaßnahmen notwendig, um eben diese Bedingungsfaktoren menschlicher Lerntätigkeit in ihren Ausfällen zu kompensieren."[83]

Diese von Bleidick vorgenommene pädagogische Wendung des Behinderungsbegriffes bleibt innerhalb der Sonderpädagogik eine durchgängige Argumentationsfigur; so heißt es beispielsweise bei Horst Suhrweier jüngst ganz analog: "Behinderungen zeichnen sich - in pädagogisch-psychologischer Sicht - durch eine Beeinträchtigung der Erzieh(Bild)barkeit aus, die aus dem interdependenten (...) Verhältnis zwischen allgemeinen Verhaltensbedingungen entstanden ist."[84]

Etwa gleichlautend auch die Formulierung Schmutzlers in dem von ihm herausgegebenen "Handbuch Heilpädagogisches Grundwissen": "Eine Behinderung wird eine pädagogische bzw. heilpädagogische Aufgabe dann, wenn die Erziehung mit ihren Maßnahmen behindert wird" (wobei auch hier vorwiegend personengebunden argumentiert wird.)[85]

Zur Stützung der Annahme eines Zusammenhangs von Behinderung und pädagogischen Ableitungen werden anthropologische Argumentationen herangezogen (ganz analog der Konstruktion 'Bildung-Bildsamkeit') - Bleidick konzipiert gar einen "Entwurf einer Anthropologie des Behinderten und seiner Erziehung"[86] mit der Leitthese: "Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, daß der behinderte Mensch eine Variation von Menschen darstellt, nicht von vornherein 'besonderes Menschsein'"[87]. Woraus pädagogisch zu folgern sei: "In der Dialektik von der eigenen Welt des Behinderten, die es zu respektieren gilt und seiner Zugehörigkeit zur Welt der Nichtbehinderten, auf die er letztlich zu erziehen ist, liegt das Grundverhältnis der Pädagogik der Behinderten."[88]

In einem Aufsatz von 1977 relativiert Bleidick jedoch wieder die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Fruchtbarmachung des Behinderungsbegriffes für die Sonderpädagogik vor dem Hintergrund pluraler Paradigmen, innerhalb derer die Kategorie 'Behinderung' entwickelt sei (individual-, interaktions-, system- und gesellschaftstheoretische) und delegiert die Verantwortung für das Problem an die Klientel: "Ich kenne keinen 'richtigen' Begriff von Behinderung, keine inhaltliche Legitimation, sondern die Entscheidung darüber, ob er sowohl für die Bedürfnisse der Behinderten und somit für die Theorie der Behindertenpädagogik vertretbar ist, richtet sich nach dem Anerkennungsverhalten der Betroffenen."[89] Der zunächst relativistischen Perspektive in der Anerkenntnis von Behinderung als systembezogener Kategorie wird implizit dadurch eine systemübergreifende allgemeine zugeordnet, wenn konstatiert wird, dass einerseits mit dem Behinderungsbegriff verknüpfte Annahmen u.U. 'unnütz für die Betroffenen' seien, gleichzeitig aber rekonstruktiv Behinderung als subjektives Persönlichkeitsmerkmal erhoben werden könne.[90] Auf diese Weise verbleibt der Behinderungsbegriff im Ansatz Bleidicks auf einer doppelten Ebene verortet, nämlich als systemübergreifende wie als systembezogene Realität: auf der Seite des Subjekts als empirisch feststellbare Größe mit der gewünschten Folge, auch für die Theorie eine empirisch abgesicherte Kategorie bereitstellen zu können (in diesem Sinne versteht sich auch die explizite Forderung Bleidicks, Behindertenpädagogik habe sich auf einen ‚Wirklichkeitsbereich' zu beziehen[91]). Damit, so lässt sich systemtheoretisch folgern, erfüllt die sonderpädagogische Konstruktion von Behinderung bezüglich ihrer Leistungserbringung[92] für andere Systeme die Zuschneidung von Behinderung als allgemeine soziale Realität im Sinne des von Luhmann konstatierten Selektionsauftrages. Zugleich schließt sie an interne Beobachtungsperspektiven des Erziehungssystems 'Lernen' und 'Verhalten' mit ihren Korrespondenzen 'Bildung' und 'Erziehung' an - beide Dimensionen sind, wie gezeigt, im pädagogischen Behinderungsbegriff enthalten.

Obzwar auch Bleidick die Möglichkeiten einer sonder-anthropologischen Fundierung der Disziplin kritisch zu bedenken gibt,[93] bleibt es bei einer vorwiegend antropologischen Begründung der Disziplin:

"Erziehung und Bildung sind, zu Ende gedacht, ein Anwendungsfeld der anthropologischen Einsicht in der Beschränkung des Menschlichen. So wie das Recht auf Leben und das Recht auf Bildung für alle Menschen gelten, so stellt sich Behinderung als pädagogisches Problem dar, wenn wir es mit eingeschränkten Möglichkeiten der Lernens und der sozialen Eingliederung zu tun haben. "[94]

Diesen durchgängigen Rekurs auf anthropologische Annahmen kritisiert Jörg Zirfas aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wie folgt:

"Die These Bleidicks, daß die Anthropologie für die Pädagogik eine ‚fundamentale Betrachtungsweise über Bedingungen und Möglichkeiten der Menschwerdung durch Erziehung' zu leisten imstande ist (...) beinhaltet natürlich stillschweigend mehrere Voraussetzungen. Sie glaubt, daß eine allgemeine Anthropologie überhaupt existiert (was sich durchaus bezweifeln läßt), von der aus sich dann eine spezielle unterscheiden läßt, - die zweitens - bruchlos kompatibel mit der Pädagogik ist (die Anthropologie könnte durchaus auch die Unverbesserlichkeit des Menschen zum Ausdruck bringen). Bleidick setzt - drittens - voraus, daß anthropologische Aussagen überhaupt fundamentale Aussagen für die Erziehungstheorie sind, und nicht lediglich notwendige oder gar nebensächliche und viertens, daß sich aus anthropologischen Einsichten eine pädagogische Handlungstheorie ableiten lässt. "[95]

Den letzten Kritikpunkt 'Zirfas' gibt allerdings an anderer Stelle Bleidick selbst zu bedenken:

"Wenn die in ihren Enstehungsbedingungen, im Zustandsbild und in den Auswirkungen relative und relationale Behinderung eines Menschen kein anthropologisches Wesensmerkmal ist, dann kann der Tatbestand der Behinderung im Konstitutionssystem der Behindertenpädagogik auch keine regulative Idee sein."[96]

Damit allerdings ist auf das zentrale Problem des sonderpädagogischen Konstitutivs 'Behinderung' verwiesen, indem die Einheit des Erziehungssystems hinsichtlich Funktion, Leistung und Reflexion[97] sich wieder als brüchig erweist und kommunikativ bearbeitet werden muss. Das heißt, dass die Produktion von Behinderung (oder gar 'Unbildung') als Systemeffekt im Kontext der eigenen Leistungsbestimmung, nämlich Erzeugung von Bildung und ihrer gesellschaftlichen Selektionsfunktion keine im Sinne eines humanistischen Selbstverständnisses eigene Perspektivität zulässt. Dies wird innerhalb der Sonderpädagogik zu einem besonders augenscheinlichen Problem, welches zuweilen indirekt als moralischer Konflikt der pädagogisch Handelnden oder der wissenschaftlichen AutorInnen ausgelegt, zentral aber im Bereich der sonderpädagogischen Ethik bearbeitet wird.

Überlegungen zur Überwindung des Dilemmas - die problematische anthropologische Konstitution der Klientel als Grundfigur der Disziplin - wurde durch semantische Konstrukte aus dem Bereich der pädagogischen Handlungsebene zu ersetzen versucht, wie beispielsweise 'besondere Erziehungserfordernisse' (Speck) oder 'sonderpädagogischer Förderbedarf' (Kultusministerkonferenz von 1994), jedoch ist diese Variante auch hier verknüpft mit einem besonderen Klientenzuschnitt und bleibt damit der dominanten Personenorientiertheit verhaftet.[98]

Eine Überschreitung dieser gelingt deshalb nicht, weil neue Konstitutionsversuche innerhalb von Modifikationen des Behinderungsbegriffes zirkulär auf der Ebene der Semantik verbleiben [99] - ein Dilemma, das zwar ein allgemeines pädagogischer Theoriebildung ist, aber innerhalb der Sonderpädagogik besonders deutlich zu Tage tritt. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Position Bachs verwiesen, der zwar zunächst auf dem Begriff der ‚Sonderpädagogik' gegenüber ‚Behindertenpädagogik' besteht, weil hiermit nicht von vornherein ein bestimmter Personenkreis festgeschrieben sei, zugleich aber die Disziplin definiert als "die Theorie und Praxis der gesamten erzieherischen Förderung von Menschen mit Beeinträchtigungen aller Altersstufen."[100]

Durch den Verweis auf die sozialpsychologische Produktion von Behinderung bzw. Beeinträchtigung welche eine 'individuale Position' markiere, verlagert Heinz Bach das Problem jenseits des Erziehungssystems, wodurch sich die systemimmanente Reflexion notwendig verkürzt:

"Sie [die Sonderpädagogik V.M.] beruht darauf, dass ein Verhalten oder ein Zustand eines Menschen angesichts gegebener Bedingungen von einem Wahrnehmenden als ‚nicht in Ordnung', d.h. als bestimmten Richtigkeitsvorstellungen oder Erwartungen nicht entsprechend, beurteilt und als der Verbesserung durch besondere Vorgehensweisen bedürftig angesehen wird."[101]

Gegenüber den bereits skizzierten, eher selbstreferentiellen Versuchen, die Semantik der Disziplin zu reflektieren, unternimmt Wolfang Jantzen die Anstrengung den gesellschaftlich funktionalen Effekt aufzuzeigen, jedoch strenggenommen weder spezifisch bezogen auf das Erziehungssystem noch auf dessen Semantik. In marxistischer Tradition stehend ist der grundlegende Fokus seiner Gesellschaftsanalyse die Ökonomie, die hier nicht lediglich als gesellschaftliches Teilsystem (wie bei Luhmann, auf andere Weise aber auch bei Habermas) verstanden 'Isolation' auf dieser Folie anhand der Kategorie Behinderung untersucht, und nicht entlang spezifisch funktionaler Teilsysteme, wie des Erziehungssystems. Insofern fokussiert Jantzen auch nicht die Leistungen der je einzelnen gesellschaftlichen Systeme, sondern formuliert gesamtgesellschaftliche Aufgaben zur Realisierung von Humanität, auch wenn sich an einigen Stellen spezifisch explizierte Aufgaben für das Erziehungssystems finden lassen, beispielsweise in der Skizzierung der Methode der Rehistorisierung:

"Die Anerkennung des einzelnen als je anderen Menschen und die Gewährleistung menschlicher Verhältnisse durch unsere Tätigkeit verlangt hier [in der Behindertenpädagogik, V.M.] einen gänzlich anderen Reflexionsprozeß, nicht in dem Sinne, daß es um gänzlich andere Dinge geht, sondern in dem Sinne, daß wir ohne eine enorme Tiefendimension unseres Wissens nicht zu einem rehistorisierenden Umgang mit Menschen in derartigen Lebenssituationen in der Lage sind. Rehistorisierung wird hier verstanden als Wiedergewinnung der Perspektive des anderen als historisch gewordenem Subjekt, freilich hier unter Bedingungen der extremen Isolation."[102]

Auch Georg Feuser ist in diesem Zusammenhang als weiterer Hauptvertreter einer materialistischen Behinderungspädagogik zu nennen, welcher die Zuschneidung und Organisationales Erziehungssystems von hier aus grundsätzlich in Frage stellt. Er fordert explizit die "Entinstitutionalisierung (...) des Erziehungs- und Schulwesens" zur Gewährleistung von Humanität im Sinne der Gewährung eines "kooperativ-kommunikativ-dialogischen Miteinanders", welches in der Verschränkung von Allgemeiner Pädagogik und entwicklungslogischer Didaktik" zu realisieren sei.[103] Die Mechanismen des Systems seien gewissermaßen pädagogisch umzukehren: Kooperation statt Selektion; innere statt äußere Differenzierung.[104]

Aus dieser Perspektive gesehen ist hier der Bezugspunkt von Behinderung nicht ein disziplinär anthropologischer, sondern steht im Kontext der Analyse gesellschaftlicher und institutioneller Prozesse[105], welche - gemäß der materialistischen Philosopie - als Kategorie der Isolation auch im Subjekt Niederschlag finden: "Die Ebenen des Biologischen, Psychischen und Sozialen dürfen nicht mehr als voneinander getrennte, als parallele Ereignisreihen behandelt werden. Im Mittelpunkt zu untersuchen. "[106] Als Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Objekt wird die Tätigkeit gesehen, vor dem Hintergrund der anthropologischen Annahme, dass sich die soziale Dimension des Menschen durch Tätigkeit realisierte.[107]

Mit diesem Ansatz überschreiten Feuser und Jantzen zwar einerseits bewusst die Systemdifferenzierungen, bringen aber für die Analyse der Semantik des Erziehungssystems die gewinnbringende Einsicht, dass eine rein personenbezogene Fokussierung der Theorie (wie sie in der traditionellen Konzeption des pädagogischen Behinderungsbegriffes vorliegt) nur eine begrenzte analytische Schärfe entwickeln kann. Vielmehr hat die von Jantzen angestoßene Perspektive auf die soziale Produktion von Behinderung, die bereits in seiner Studie zur "Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens" (1982) entwickelt war, eine zweite Beobachtungsdimension für die Sonderpädagogik eingeführt. Diese erweiterte Blickrichtung auf Behinderung in pädagogische Formeln zu gießen, versuchte auch der Deutsche Bildungsrat 1974 mit der Definition:

"Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt sind, daß ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen besonderer pädagogischer Förderung."[108]

Der von Jantzen vorgelegte Behinderungsbegriff ist insofern auch kein pädagogisch-anthropologischer, sondern ein vorwiegend biologisch und sozialwissenschaftlicher ('Isolation von der Aneignung des Erbes' auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene). Erziehungskonzept selbst basiert auf einem Tätigkeitstheorethischen Konzept und auf diese Weise verknüpft Jantzen in der Tat die Problem1age Semantik (Erzeugung Bildung und Erziehung im Subjekt/Erzielung von gesellschaftlicher Humanität) mit dem Systemeffekt und soziale Isolation), welcher kontradiktorisch zum selbst gesetzten Zieles pädagogischen Handelns erscheint.

2.4 Sozialisations- und handlungsorientierte Variationen der Semantik

Als Versuch, den skizzierten sonder-anthropologisch konnotierten disziplinären Behinderungsbegriff zu überwinden, liegen neben der Fassung Jantzens zwei weitere Konzeptionen vor, einerseits in einer sozialisationstheoretischen und andererseits in einer handlungsorientierten[109] Perspektive.

Die sozialisationstheoretische Position hat innerhalb der Erziehungswissenschaften der 1970er Jahre eine theoretische Dominanz erreicht. Sie fokussierte als Teilgebiet der Kritischen Erziehungswissenschaft die Interaktionsbeziehungen und operationalisierte mit rollentheoretischen Annahmen das Erziehungsziel 'Identitätsbildung' mit der Perspektive auf 'Autonomie'.

Im programmatischen Konzept 'Emanzipation durch Pädagogik' - welches eine Variation des Bildungsdiskurses darstellte - rückte der Aspekt der Identität und Identitätserziehung in den Blick, der innerhalb der Sonderpädagogik im Substrat einer 'beschädigten Identität' zeitweise Konjunktur erfuhr. Die sozialisationstheoretische Fassung von Identität innerhalb der Kritischen Erziehungswissenschaft schien zwar durch die Herausarbeitung soziologischer Erkenntnisse über den Sozialisationsprozess den Vorteil zu bieten, transzendentale Prinzipien der Persönlichkeitsentwicklung - so auch die der geisteswissenschaftlichen Tradition geschuldeten anthropologischen Orientierungen - zu überwinden,[110] vertrat aber andererseits ein neues Dogma in der Annahme, dass unter den Bedingungen der westlichen Industriegesellschaft notwendig deformierte Identitätsentwicklungen konstatieren seien, welche wiederum pädagogischer Intervention zu bearbeiten wären. Die hier postulierte Möglichkeit einer 'unverstellten', 'nicht-entfremdeten' Identität traf auch auf eine zentrale - wenngleich eher implizite - sonderpädagogische Position, die sich mit den Stichworten Ganzheitlichkeit, Aufhebung von Behinderung, Heilung etc. verbindet,[111] und begünstigte von hier aus die Dichotomie 'beschädigte' versus 'unbeschädigte' Identität. (Kritisch merkt Luhmann übrigens allgemein zum pädagogischen Identitätskonstrukt an: "Aber auch 'Identität' ist ein unzureichendes Konzept, denn identisch ist man sowieso und kann auch nicht noch identischer werden, man ohnehin ist. Der Begriff wird vorwiegend in der Sozialdimension aufgelöst und rekombiniert und enthält keinen Platz eine offene Zukunft."[112])

Die Einsicht allerdings in ein innerhalb des Sozialisationsansatzes vertretenes Verständnis eines 'übersozialisierten' Menschen[113], bedingt durch eine verkürzte Lesart der Interaktionstheorien Meads und Goffmans, führte schließlich auch zu einer prinzipiellen Revision der vorwiegend sozialisationstheoretisch ausgerichteten Erziehungswissenschaften der 1970er Jahre, die nunmehr einerseits eine Renaissance des Subjektbegriffes im Anschluss an postmoderne philosophische Strömungen erlebte, andererseits aber durch den Einfluss der Systemtheorie und des Konstruktivismus eine Phase der Erkenntniskritik einleitete.

Hingegen blieb die Perspektive der 'beschädigten Identität' als Argumentationsfigur innerhalb der Sonderpädagogik erhalten und wurde mit Hilfe des Goffmanschen Stigmamodells operationalisiert. Exemplarisch sei hierzu ein Aufsatz von Walter Thimm angeführt, in welchem als Ausgangsfrage formuliert wird, die methodologische Leitlinie der eigenen Bemühungen er derzeitigen Behindertenpädagogik, nämlich: Behinderte durch immer präzisere empirisch belegbare 'Merkmale' von Nichtbehinderten abzugrenzen, überhaupt die einzig mögliche Leitlinie ist, ob eine bessere methodologische Leitlinie zu finden ist."[114] Zur Überwindung der so konstatierten Deutung von Behinderung wird von Thimm vorgeschlagen, Behinderung als Stigma, also als "Produkt sozialer Zuschreibungen (...) und nicht als Anlaß soziale negative Zuschreibungen zu begreifen,[115] und als notwendige Forschungsfrage "Prozesse der Heranbildung 'beschädigter Identitäten'" aufgeworfen,[116] womit aber zugleich unterstellt ist, dass Stigmatisierungsprozesse behinderte Identitäten erzeugen.

Im wesentlichen zeigt sich, dass der sozialisationstheoretische Ansatz innerhalb der sonderpädagogischen Theoriebildung anthropologische gegen sozialdeterministische Argumentationslinien austauscht, indem er den Aspekt der Ich-Identität, der im ursprünglichen Ansatz Goffmans die Subjektseite betont, ausklammert, und somit ‚Behinderung' unter der Hand zu einer umfassenden Identitätskategorie erhebt (ohne an dieser Stelle den Ertrag sozialisationstheoretischer Erkenntnisse über den Zusammenhang von Behinderung und sozialer Lage schmälern zu wollen). So resümiert auch Cloerkes:

"Nach den ersten Arbeiten zur Stigmatisierung von Behinderten hat die Entwicklung des Ansatzes keine wesentlichen Fortschritte gemacht Die Annahme einer geradezu automatischen Identitätsstörung bzw. -umformung (Stigma-Identitäts-These) findet sich unverändert wieder (...), obgleich empirische Studien zum Problem durchaus widersprüchliche Ergebnisse erbrachten."[117]

Ebenso seien die pädagogischen Ableitungen von hier aus fraglich: "Die Vorschläge zur praktischen Umsetzung der Identitätserziehung sind ebenso vage wie die Präzisierung dessen, was Identität als Erziehungsziel eigentlich ist."[118]

Dennoch die Grundthese dieses Ansatzes noch in der aktuellen sonderpädagogischen Theoriebildung eine zentrale Rolle: So sieht beispielsweise auch Kobi Sonderpädagogik als befasst mit "unüblichen Weltbegegnungserfahrungen und -repräsentationsweisen"[119]. "Was nun heilpädagogisch interessiert, sind die sich in einem Behinderungszustand ausbreitenden 'Befindlichkeitsstörungen'; es interessiert nicht die Behinderung an sich, sondern das Leid und das Leiden der davon betroffenen Personen."[120] (Auch wenn Kobi eher existenzphilosophische als im engeren Sinne sozialisationstheoretische Konzepte favorisiert, ist die Identitätsschädigungsthese handlungs- und erkenntnisleitend.) In ähnlicher Weise heißt es bei Speck:

"In der Heilpädagogik geht es primär um die Aufgabe einer speziell nötig werdenden Hilfe zum Mensch-werden-können und damit um den Versuch einer Verganzheitlichung mit pädagogischen Mitteln angesichts drohender Destruierung durch partielles Nicht-können und Zerstückung der Lebenszusammenhänge, und damit um eine Daseinsgestaltung mit den Menschen durch Koexistenz (...). Innerhalb dieser Notwendigkeiten behält die Tatsache der Behinderung und der Behinderung der Erziehung ihre funktionelle Bedeutung: diese aber existiert nicht für sich sondern ist integriert in die Gesamtrelevanz der pädagogischen Lebenshilfe und gemeinsamen Daseinsgestaltung."[121]

Und auch Haeberlin bezieht sich auf die These der beschädigten Identität, wenn Sonderpädagogik definiert wird "als die erzieherische und therapeutische Hilfe für Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene) (...), welche als Folge einer Schädigung und/oder einer problematischen Sozial- und Beziehungssituation in der Entwicklung zur Selbstbestimmung und zur Gesellschaftsfähigkeit beeinträchtigt sind."[122] Ebenso lässt sich 1997 bei Mattner nachlesen, Heilpädagogik sei die "Wissenschaft vom beschädigten Menschen."[123]

Was hier erneut als Problem erscheint, ist das Unterfangen, soziale Exklussionsprozesse am Individuum pädagogisch (und therapeutisch) bearbeiten zu wollen, die unter dem sozialisationstheoretischen Paradigma als unmittelbare Einschreibungen in das Subjekt erscheinen. Der individualtheoretische Blick auf die sonderpädagogische Klientel bleibt somit auch in einem interaktionistisch modellierten Stigmakonzept erhalten. Wissenschaftstheoretisch handelt es sich hierbei allerdings um das Problem der 'Reifizierung'[124], d.h. die Problematik des Sozialisationsansatzes besteht u.a. darin, dass wissenschaftliche (wie auch alltagstheoretische) Kategoriensysteme als empirische Fakten vorausgesetzt werden, die ihrerseits qua Sozialisation in das Individuum hineingelangen und hier beispielsweise biographisch rekonstruktiv beforscht werden, was wiederum von hier aus die empirische Faktizität der Kategorien bestätigte - eine Problemlage, die sich bereits bei Bleidicks Fassung von Behinderung aufzuzeigen ließ. Der Behinderungsbegriff erfährt auch innerhalb der sonderpädagogischen interaktionistischen Diskussion eine doppelte Realität: als systemübergreifende (in der Überführung bestimmter individueller und kultureller Merkmale in das Syndrom 'Behinderung') sowie als funktionale (in der These der Identitätsbeschädigung durch Behinderung als Ausgangspunkt der Operationen des Subsystems).

Letztendlich erweisen sich die in den sozialisationstheoretischen Ansätzen hervorgebrachten Identitätskonzepte dann als anthropologisch enggeführte, wenn sie das Spannungsfeld zwischen sozialisatorischer Ein- oder Zuschreibung und der Aktivität des Meadschen ‚Ich' nicht ausreichend differenzieren. Im Falle von Behinderung konstruiert sich so eine soziale Position auf der Theorieebene zu einer umfassenden Identitätsschädigung eines einzelnen, welche wiederum als anthropologische Ausgangslage einer besonderen Pädagogik ausgelegt werden kann.

Handlungsbezogene Orientierungen innerhalb der sonderpädagogischen Theoriebildung, die gleichermaßen zum Ziel hatten, anthropologische Konstitutionen der Sonderpädagogik zu überwinden, argumentieren in Weiterentwicklung der Bleidickschen Fassung von 'Behinderung als intervenierender Variable im Erziehungs- und Bildungsprozess' auf der Ebene einer Handlungsspezifik. Als herausragender Vertreter dieser Position ist Otto Speck zu nennen, der als neuen 'heilpädagogischen Leitbegriff', 'spezifische Erziehungserfordernisse' vorschlägt. Dieser grenze sich von dem britischen 'Warnock-Report' 1978 vorgeschlagenen Begriff der 'special educational needs' insofern ab, als er sowohl 'subjektive Bedürfnisse' wie 'objektive Erfordernisse' einschließe: "Es sind pädagogisch nicht nur individuelle Bedürfnisse maßgebend", so Speck, "sondern auch - nicht zuletzt unter dem Aspekt der sozialen Aufeinander Bezogenheit - Erfordernisse von seiten allgemein anerkannter Normen gesundheitlicher, sozialer und kultureller Art. "[125] Das Bemühen innerhalb dieses Ansatzes, nicht ausschließlich die Klientelzuschneidung zum dominanten konstitutiven Bezugssystem zu erheben, anerkennt auch Rolf Göppel in seiner Rezension zu Specks "System Heilpädagogik":

"Vielleicht wird sein wichtigster Beitrag zur Heilpädagogik einmal darin gesehen werden, daß Speck als erster nicht den Status der Adressaten der Heilpädagogik zum Ausgangspunkt und zum Gliederungsprinzip seiner Darstellung gemacht hat, sondern die verschiedenen Probleme und Aspekte der heilpädagogischen Aufgabe."[126]

Auch wenn Speck im Anschluss an Göppels Rezension in der überarbeiteten Ausgabe den hier kritischen Begriff 'besondere Erziehungsbedürfnisse' in die zitierten 'besonderen Erziehungserfordernisse' änderte, bleibt das pädagogische Dilemma bestehen, schlussendlich gesellschaftliche Normalität (reguläre versus besondere Erziehungserfordernisse) im Individuum abzulagern und nun doch im eigentlichen Sinne anthropologische Bestimmungen geltend machen zu müssen, wenngleich betont wird, dass nicht lediglich das "einzelne behinderte Kind, sondern [auch, V.M.] die besondere Erziehungssituation"[127] im Konstrukt 'besondere Erziehungserfordernisse' zu berücksichtigen sei. Diese jedoch, das zeigte sich auch innerhalb der bisher diskutierten Ansätze, verhalten sich zueinander nicht trennscharf. Die hier vorfindliche Verknüpfung von anthropologischen Kategorien und handlungsbezogenen Ableitungen ist dem Versuch Specks geschuldet, gewissermaßen eine Metatheorie (die er in der Systemtheorie als Organisationstheorie zu finden glaubt) zu entwerfen, welche die je unterschiedlichen wissenschaftlichen Gegenstandsbezüge miteinander verknüpfen könne und auseinander deduzierbar mache.

In vergleichbarer Weise argumentiert auch Urs Haeberlin, der ebenfalls vorschlägt, den sonderpädagogischen Behinderungsbegriff abzuschaffen,[128] um Sonderpädagogik handlungsbezogen zu bestimmen: "Die gemeinsame Aufgabe heilpädagogischer Berufe besteht darin, durch spezialisiertes pädagogisches Handeln Menschen mit individuellen Erschwernissen den Weg zur optimalen Selbständigkeit und Lebensqualität zu ermöglichen."[129] Sonderpädagogik sei demnach "nichts anderes als Pädagogik unter erschwerten Bedingungen."[130]

Dieser noch unspezifischen Bestimmung der Teildisziplin Sonderpädagogik wird nun zur notwendigen Konturierung eine besondere Ethik zur Seite gestellt, um auf das beschriebene Dilemma von sozialer Exklusion und pädagogischer Theorie angemessen zu antworten.[131]"Heilpädagogen müssen Anwälte der Schwachen, Behinderten, und Benachteiligten und notwendigerweise nicht nur erzieherisch, unterrichtend und pflegerisch, sondern auch politisch tätig sein."[132] Auch wird Heilpädagogik als menschliche Grundhaltung eingefordert.[133] Damit aber liegt der Rekurs auf die Klientelzuschneidung in doppelter Hinsicht vor: Zunächst generalisiert die Anwaltschaft in Konkretion einer Berufsethik[134] einen Klientenstatus im Sinne eines Stellvertretungsmodells (sicherlich eher ein Spezialfall pädagogischen Handelns), der, in einem zweiten Schritt, mittels anthropologischer Deutungsmuster perpetuiert wird. Diese Konstruktion vollzieht sich vor dem Hintergrund einer anthropologischen Bestimmung von Erziehung im Allgemeinen und Sonderpädagogik im Besonderen: "Allgemein gesehen ist Erziehung zur Selbstbestimmung und Gesellschaftsfähigkeit. Diese Entwicklung des Menschen ist ohne Hilfe durch Erziehung nicht möglich. "[135]

Die Verknüpfung von anthropologischer Deutung und besonderer Ethik auf der Handlungsseite[136] zeichnet auch die Definition Kobis aus: "Behinderung im heilpädagogischen Sinne ist ein sozialpolitischer Begriff der Dienstbarkeit vis-à-vis sozialer Erwartungswidrigkeit."[137] Wenngleich hier Behinderung sozialisationstheoretisch gedeutet wird, so zeigt sich die implizite Reifizierung gesellschaftlicher Deutungsmuster als angelagert im Subjekt; insofern rechtfertigt sich die Interpretation in diesem Kontext als 'anthropologisch'.

Wie Hajo Jackobs herausstellt, sind insbesondere Speck und Haeberlin von einer notwendigen Verknüpfung normativer und wissenschaftlicher Aussagen innerhalb ihrer sonderpädagogischen Entwürfe überzeugt, so dass hier vor allem anthropologische und ethische Argumentationslinien zusammenfallen;[138] ein Konzept, das von Jackobs weiter verfolgt wird, indem er vorschlägt, anthropologische durch pädagogisch-ethische Fundierungen zu überwinden.

So gesehen erweisen sich auch die dargelegten handlungsorientierten Begründungsversuche der Sonderpädagogik in erster Linie als angewiesen auf anthropologische Deutungsmuster, wenn besondere Erziehung an besonderen Erziehungserschwernissen festgemacht wird, die schlussendlich doch auf Seiten der Klientel begründet liegen und eine besondere Berufsethik herausfordern. Dies bestätigt sich auch in der geisteswissenschaftlich-philosophischen Bezogenheit der dargelegten Argumentationslinien, die kaum Soziologische oder empirisch-pädagogische Wissensbestände in die eigene Theoriebildung einbeziehen und auf diese Weise den normativen Begründungsrahmen bereits enthalten, ohne ihn explizieren zu müssen. Die hiermit entwickelte These dauerhafter Erziehungsproblematiken, die durch Behinderung hervorgerufen seien, bleibt damit der Tendenz nach selbstreferentiell.

2.5 Folgeprobleme der Semantik 'Behinderung'

Die disziplinäre Rekonstruktion der Konstitutionsfigur 'Behinderung' und ihrer Vorläufer innerhalb der sonderpädagogischen Theoriebildung zeigte auf, dass die primäre Orientierung auf eine Zuschneidung der Klientel auf der Theorieebene anthropologischer Begründungsmuster vorraussetzt und damit die Problemlage perpetuiert, systemfunktionale Kategorien (Behinderung) der Disziplin als personenbezogene Merkmale für die pädagogische Praxis zu entwerfen, mit dem Ziel, soziale Exklusionen am Individuum bearbeiten zu können sowie der gleichzeitigen Herstellung einer Einheit des Systems.

Dieses Problem der Pädagogischen Anthropologie als Teildisziplin der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik deutete sich mit der sozialwissenschaftlichen Wende innerhalb der Erziehungswissenschaften bereits an: Philosophische Argumentationsfiguren verloren gegenüber empirischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen an Bedeutung, indem sich der Akzent der disziplinären Legitimation verschob von vorwiegend anthropologischen Argumentationen auf Seiten der Person hin zur Analyse der gesellschaftlichen Funktion des Erziehungssystems. Dennoch war die Einleitung der sogenannten ‚Realistischen Wende' noch von einer weiteren Explikation der Pädagogischen Anthropologie durch Heinrich Roth[139] geprägt, der eine Verknüpfung von hermeneutischen und empirischen Verfahren auf der Ebene der Methodologie anstrebe und diese vor dem Hintergrund einer Pädagogischen Anthropologie zu einen suchte. Auch dies ist als Anstrengung zu interpretieren, einem Auseinanderdriften von soziologischen Fremd- und pädagogischen Selbstbeschreibungen entgegenzuwirken, auch um das Problem der Normativität pädagogischen Handelns in anthropologischen und ethischen Konzepten weiter bearbeiten zu können.

Die hiermit verknüpfte pädagogische Selbstverpflichtung auf Erzielung fortschreitender Humanität birgt allerdings das Risiko des Rekurses auf eine "irgendwie geartete 'Natur' des Menschen (...) nach welchem historische, soziale und kulturell aufweisbare Differenzen als Modalitäten einer tieferliegenden absoluten Wesenheit aufzufassen sind"[140]. Denn hiermit verbindet sich die Anstrengung, eine mögliche Einheit auf der Subjektseite mit einer Einheit 'der Welt', in die zu erziehen sei, in Beziehung zu setzen. Unter dieser Perspektive entsteht das Motiv, durch anthropologische Aussagen 'Einheiten' für den Anfang der Erziehung herzustellen, von denen sich allerdings dann zwangsläufig Differenzen zeigen, die schließlich auch sonderanthropologische Aussagen erforderlich machen. Am semantischen Beispiel Bildung/Bildsamkeit und Behinderung/eingeschränkte Bildsamkeit konnte dies gezeigt werden.

Auch auf der Ebene der Organisation wird Einheit durch die Abstellung auf Homogenität erzeugt.[141] Da das Erziehungssystem über kein eigenes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (wie z.B. Geld im Wirtschaftssystem) verfügt, wird statt dessen - so Luhmann/Schorr - auf Organisation gesetzt, um die Autopoiesis des Systems selbst zu garantieren.[142] Organisation ihrerseits jedoch schafft erst die Möglichkeit zur Bereitstellung der Funktion: "Im Erziehungssystem entsteht ein universelles Selektionsbewußtsein dadurch, daß zur Sicherung der Inklusion der Gesamtbevölkerung Natur durch Organisation ersetzt wird. Im Unterschied zur Natur ist Organisation nahezu beliebig differenzierbar."[143] Damit ist gesaft, dass die Selektionsfunktion zwar an eine anthropologische Semantik anknüpft ('Natur') - wie etwa der Bildungsbegriff im Anschluss an die Kategorie der Bildsamkeit - auf der Ebene der Organisation aber erst Differenzierungen zulässt, beispielsweise durch die Ausformung differenzierter Schultypen, wie disziplinär auf der semantischen Ebene hinsichtlich der beschriebenen Sonderanthropologie.

So sieht auch Oelkers, dass mit Hilfe der Pädagogischen Anthropologie die doppelseitige Antwort auf die organisatorische wie die semantische Seite des Systems gegeben wird: Die Pädagogik benötigt auf der organisatorischen Seite eine Homogenisierung, wie sie etwa in der disziplinär-semantischen Konstruktion des Kindes vorliegt; jedoch ist von hier aus weder zwangsläufig die Idee einer einheitlichen Natur (oder einer einheitlichen Welt), noch eine grundsätzliche anthropologische Angewiesenheit auf Erziehung und Bildung zu postulieren. Ähnliches konstatiert auch Michael Winkler mit Blick auf die Sonderpädagogik; es "verknüpfen sich in der Anthropologie beschreibende, erklärende, spekulativ-theoretische und am Ende ethische Debatten; wer die Literatur zur Sonderpädagogik kennt, weiß um die verhängnisvollen Konsequenzen."[144]

Anthropologische Vorstellungen dienen insbesondere der Darstellung unsichtbarer, aber angenommener pädagogischer Prozesse, die, wie Oelkers zeigt, auf einer tradierten christlichen Vorstellung einer einheitlichen, jedoch bedrohten Seele basieren:

"Von Bergson bis Freud sind Dekompositionen der christlichen Seelenmetapher versucht worden, die für Verzeitlichung und Pluralisierung der Subjekttheorie stehen. (...) Sie sorgen, wie heute sichtbar wird, für heilsame Destruktionen der Erziehungstheorie, die erst allmählich begreift, wie wenig die klassischen Verbindungen von Moral, Entwicklung und Identität haltbar sind, die vor allem in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts begründet wurden."[145]

Die hier angesprochene Anlehnung an Erziehungsmetaphern des Einheitlichen ist, so Oelkers weiter, eine prinzipielle Bedingung die Konzeptionierung einer Pädagogik, welche sich Sittlichkeitserziehung im Dienste allgemeiner Humanisierung versteht - ein Topos, der in der historischen sonderpädagogischen Theoriebildung besonders deutlich ausgearbeitet war und sich in der Verknüpfung Abweichung/Gesamtseelenschwäche paradigmatisch niederschlug. Hier wurde Erziehungsbedürftigkeit im Einzelnen abgelagert und als anthropologisches Bedürfnis beschrieben (vgl. z.B. 'besondere Erziehungserfordenisse in Folge von Behinderung' bei Speck):

"Die Formierung durch Moral, also Erziehung in der klassischen Erwartung, setzt eine kanalisierbare Seele voraus, somit einen stabilen Adressaten, der sich nicht beständig verändert und unberechenbar ist. Stabil für eine bestimmte historische Dauer ist aber lediglich die Physik der Sitten,die gesellschaftliche Organisation der Moral (...), also Rituale, Kulte, Zeremonien der Sittlichkeit, nicht diese selbst, die es unabhängig von der ,moralischen Mechanik' gar nicht geben kann."[146]

Von hier aus erklärt sich das stabile Muster, das sich auch die Sonderpädagogik mit der Kategorie 'Behinderung' verschafft, indem sie moralische Abweichung in das Subjekt hineinverlagert und diese dort allerdings durch Bearbeitung zugleich als normative Größe konstituiert. Und dies ist das offensichtliche Dilemma des Erziehungssystems: nämlich die Verankerung gesellschaftlicher Normativität/Selektion innerhalb der Person, operationalisiert in der Verknüpfung von Außen und Innen von Einwirkung und Entfaltung, von Normativität und Subjektivität, von Theorie und Praxis, welches mit dem Konzept der Pädagogischen Anthropologie zu lösen gesucht wird. Oelkers schlägt insofern vor, die implizite pädagogische Grundidee, "Erziehung sei Einwirkung mit dauerhaften Verinnerlichungsfolgen"[147] aufzugeben, mit der Konsequenz, lineare Ursache-Wirkungs-Konstrukte zu verabschieden. Schlussendlich scheint also Anthropologie insgeheim das Problem der Normativität von Pädagogik unterlaufen zu wollen - produziert aber damit zugleich einen Zirkelschluss, denn es "findet sich in dem Versuch, Erziehung anthropologisch zu begründen, eine normative Zirkularität wieder, die das Sein vom Sollen sowie das Sollen. vom Sein zu bestimmen versucht."[148] Und eben dieser Effekt entsteht aufgrund der beschriebenen notwendigen Einheit des Systems.

Als historische Hypothek hatte bereits Luhmann den pädagogischen Rekurs auf Anthropologie gekennzeichnet. Die anthropologische Pädagogik war die Notwendigkeit einer Zeit, der Erziehung, zwar als moralische (mit Blick auf die Gesellschaft) Aufgabe - im aufklärungsphilosophischen Kontext der Perfektibilität - entworfen wurde, sich allerdings noch nicht auf gesicherte institutionalisierte Formen beziehen konnte (vgl. die Hauslehrermodelle und privaten Erziehungsanstalten des 18. Jahrhunderts, in deren Kontexten die pädagogischen Konzepte der Moderne ihren Ursprung haben).

Wenn jedoch die gesellschaftliche Angewiesenheit auf Erziehung und Pädagogisierung nicht nur auf der Ebene der Selbstbeschreibung, sondern auch in der Durchsetzung eines Erziehungssystems als gesellschaftlichem Teilsystem funktional zu analysieren ist, kann diese nicht mehr allein von Seiten personaler Erfordernisse, also anthropologischer Merkmale, legitimiert werden. In der Moderne erscheint das Verhältnis von Individuum. und Gesellschaft eher als soziales Kontingenzproblem, das nicht mit anthropologischen Bestimmungen zu lösen ist, wie Zirfas illustriert:

"Solange Kinder geboren werden, ist Erziehung mit offenen Problemstrukturen konfrontiert, die selbst bearbeiten müssen. Das aber ist einerseits eine empirische Frage, die den vorhandenen Bedingungen und Möglichkeiten der Erziehung gilt, andererseits eine ethische Aufgabe, in der wir uns letztendlich dessen vergewissern müssen, was wir als Würde des Menschen gelten lassen wollen. Vor allem aber: Auch dabei handelt es sich um keine anthropologische Frage."[149]

Anthropologie demgegenüber verdeckt eher den Blick auf die soziale Konstruktion des Subjekts, denn: "Wer von Menschenbildern ausgeht, fragt nicht zugleich nach der Natur des Menschen. Er behindert diese Frage, indem über die ‚Natur' immer schon entschieden ist."[150]

Ähnlich urteilt auch Adolph bezüglich der sonderpädagogischen Anthropologie:

"Allgemeine und übergreifende Bestimmungen, wie wir sie etwa. in den zum Begriffen der 'Entwicklungshemmung' (Moor) oder 'Wertsinneshemmung' (Bopp, Montalda, Spieler), in der Konstatierung eines 'chronischen Existenzkonfliktes' (Bärsch) oder im Aufweis seiner 'sozialen Insuffizienz' (Hengstenberg) vorfinden, bleiben ungenau und konstruieren eine vermeintlich allgemeine und verbindliche anthropologische die sich dem Bemühen um eine differenzierte Analyse eher als hinderlich erweist"[151]

Daher scheint eine anthropologische Fundierung der Disziplin, die an die Idee des Einheitlichen der Aufklärungspädagogik anschließt, prinzipiell problematisch, wie ebensolche Unternehmungen, von hier aus weitere Sonder-Anthropologien zu deduzieren, die schließlich soziale Exklusionsprozesse eher rekapitulieren. Allerdings ist das hier für die Sonderpädagogik explizierte Dilemma lediglich ein allgemeines pädagogischer Theoriebildung

Insofern kann aus der Analyse Luhmanns gefolgert werden, dass auf das Verhältnis von Selektion und Erziehung neu zu antworten sei. Es weder an der aufklärungstypischen Idee der individuellen und gesellschaftlichen Perfektion durch Erziehung festgehalten, noch weiterhin gewissermaßen naiv Selektion im Dienste der Person (etwa als Ansporn) propagiert werden:

"Diese Darstellung ist der vorherrschenden Auffassung gewichen, daß Selektion im Widerspruch stehe zu Erziehung und pädagogisch eigentlich nicht mehr verantworten sei. Da sie dennoch stattfindet und da das, sie nolens volens herbeiführt, nicht eliminiert werden kann, muß diese Auffassung in der Reflexion dazu führen, die Einheit des Systems als Widerspruch von Erziehung und Selektion zu begreifen,. und zwar als gesellschaftlich aufgezwungenen Widerspruch [vgl. hierzu auch die Argumentation der Kritischen Erziehungswissenschaft, V.M.]. Das aber heißt: dem Wiederspruch auch die Einheit des Systems, das beides tut, zu externalisieren. Auf eine dritte Möglichkeit schließlich haben unsere Analysen hingeführt: Einheit von Erziehung und Selektion zu betonen, soweit sie unter der Kontingenzformel und den Kriterien des Erziehungssystems selbst herstellbar ist. Selektion wird dann zugleich technisches Korrelat des Technologiedefizits: Soweit man die Wirkungen nicht sicher berechnen kann, weil man mit frei manipulierbaren Ursachen nicht sicher der Hand hat, muß nach der Erzeugung von Effekten seligeren. "[152]

In ähnlicher Weise resümiert Wenning, der den Effekt des Erziehungssystems ebenfalls mit

Selektion auf der Basis der Homogenitätskonstruktion beschreibt:

"Selbstverständlich sollten unnötige Diskriminierungen unterbleiben - da aber bestimmte Homogenisierungen und Heterogenisierungen unauflöslich und mit moderner Gesellschaft verbunden sind, lassen sie sich nicht völlig ausschalten.Was zu leisten ist hier die Aufgabe der Erziehungswissenschaft -, ist die Untersuchung der Diskriminierungen. Erst wenn die Verbindungen aufgedeckt sind, läßt sich entscheiden, welche gewünschten und akzeptablen Folgen bestimmte Maßnahmen haben und welche unerwünschten und nicht mehr hinzunehmenden Nebenwirkungen auftreten."[153]

Diesen Vorschlägen kann allerdings im Rahmen der hier bislang angestellten Untersuchung der semantischen Seite des Erziehungssystems noch nicht gefolgt werden. Sie können lediglich unter dem Aspekt der Handlung neu beleuchtet werden, welche innerhalb der sonderpädagogischen Disziplin bislang in den Kontext der Ethik und des Dialogischen gestellt ist Ob allerdings von hier aus handlungstheoretische Einsichten die Disziplin zu gewinnen sind, ist fraglich, denn diese sind, Künzli, eher aus dem Bereich soziologischer, wie beispielsweise strukturfunktionalistischer, Analysen zu gewinnen, um von hier aus zu einer erweiterten systemtheoretischen Betrachtung des Erziehungssystems zu gelangen:

"Der Anschluß einer externen Handlungstheorie Luhmanns Einsicht möglich, daß was ‚jeweils als Handlung zählt (...) Resultat von Festlegungen (ist)' (...) Da nun Handlungstheorien genau diese Festlegungen liefern können. beispielsweise eine pädagogische Handlungstheorie Kompatibilität. Die Bestimmung dessen, was als pädagogische Handlung gelten soll, so könne gefolgert werden, wäre dann Aufgabe eben dieser Handlungstheorie. Normative Postulate könnten also ebenso eingebracht werden, wie das bei Luhmann verlorengegangene Subjekt."[154]

Dieser Vorschlag soll am Ende dieser Untersuchung noch einmal aufgegriffen werden, um eine handlungstheoretische Positionierung von Sonderpädagogik als Disziplin und Profession auszuloten, und zwar im Lichte professions- und strukturtheoretischer Überlegungen.



[11] VertreterInnen der Integrationspädagogik werden deshalb an dieser Stelle nicht in die Untersuchung mit einbezogenen, weil sie einerseits den disziplinären Rahmen der Sonderpädagogik zu überschreiten versuchen, anderer seits dies nicht zwansläufig systematisch konturieren.

[12] In der Tat ist der Behinderungsbegriff innerhalb der sonderpädagogischen Theoriebildung gewissermaßen der Kern, von welchem methodische, institutionelle und didaktische Ableitungen erfolgen, die das sonderpädagogische Handeln überhaupt spezifizieren. Bereits die frühen Konstrukte, wie beispielsweise das der "Seelenschwäche" gaben vor, dass von hier Interventionen in Richtung 'Erziehung' zu erfolgen haben. Der Behinderungsbegriff in seiner Anbindung an die Kategorie 'Bildsamkeit' hat nunmehr auch die Dimension des Lernens erfasst.

[13] Yvonne Ehrenspeck/Dirk Rustemeyer: Bestimmt, unbestimmt, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hrsg.): Pädagogische Professionalität Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt 1996, S. 368

[14] Vgl. ebd.

[15] Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1996

[16] "Wir schließen nicht an die Versuche an, herauszubekommen, was Kuhn gemeint haben mag, als er den Begriff des Paradigmas einführte; sie gelten heute als hoffnungslos." Niklas Luhmann: Soziale Systeme Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1996, S. 18f. Zudem verführt Kuhnsche Paradigmentheorie zu dem Schluss, Paradigmen ließen sich durch eine einzelne Forschergruppen verschieben, während Luhmann Veränderungen nur aufgrund von gesellschaftlicher Disfunktionalität des Systems vorsieht.

[17] Vgl. hierzu u.a. Hans Eberwein: Zur Kritik des sonderpädagogischen Paradigmas und des Behinderungsbegriffes. von Sonder- und Integrationspädagogik, in: ZfH 46(1995)10, S. 468-476

[18] Otto Speck: Behinderung als bildungspolitische Herausforderung, in: Max Liedtke (Hrsg.): Behinderung als pädagogische und politische Herausforderung. Historische und systematische Aspekte, Bad Heilbrunn 1996, S. 253

[19] Vgl. Hajo Jackobs: Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenreflexion aus kritisch-theoretischer Sicht, Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 11 ff.; zu verweisen wäre hier explizit auf die Publikationen Haeberlins wie auf Hermann Siegenthaler: Menschenbild und Heilpädagogik. Beiträge zur Heilpädagogischen Anthropologie, Luzern 1993

[20] Manfred Gerspach: Die Entwicklung eines tiefenhermeneutischen Konzepts für die Heilpädagogik, in: Dieter Mattner/Manfred Gerspach: Heilpädagogische Anthropologie, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 120f.

[21] Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt 1988, S. 349

[22] Ebd., S. 42

[23] Ebd., S. 351

[24] "Das Erziehungssystem unterscheidet sich von anderen Funktionssystemen durch die Art, wie es die eigenen Programme zur Verteilung besserer und schlechterer Positionen einsetzt." Niklas Luhmann: Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem", in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Allgemeine Bildung. Analysen zu ihrer Wirklichkeit, Versuche über ihre Zukunft, Weinheim/München 1986, S. 161

[25] Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 17, Herv. i. O.

[26] Luhmann/Schorr 1988, S. 43

[27] Ebd., S. 354

[28] Ebd., S. 367

[29] Hierbei ist jedoch, dass Luhmann/Schorr den Bildungsbegriff lediglich für eine spezifische historische Epoche - nämlich der Ausformulierung des Erziehungssystems - geltend machen: der Bildungsbegriff löse den Begriff der humanen Perfektion der Aufklärung ab und werde derzeit durch den Begriff der Lernfähigkeit ersetzt, denn letzterer verzichte auf apriori-Entscheidungen, vgl. Luhmann/Schorr 1988, S. 84ff. "Für die Anthropologie der humanen Perfektion war die Schichtungsstruktur der Gesellschaft noch selbstverständlich gewesen; insofern hieß es: Perfektion nach Maßgabe des Standes. Das Bildungsideal interpretierte die Leitorientierung durch einen idealen Kulminationspunkt, der Unterschiede der Bildung und Unterschiede der Schichtung in den ‚gebildeten Ständen' konvergieren ließ. Die Formel Lernfähigkeit gehört dagegen in eine funktional differenzierte Gesellschaft, die ihrer eigenen Folgen ansichtig wird und es fast nur noch damit zu tun hat, die Folgeprobleme hochriskanter Strukturentscheidungen wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen." Ebd., S. 93

[30] Ehrenspeck/Rustemeyer 1996, S. 373

[31] Vgl. auch ebd., S. 386f.

[32] Johann Friedrich Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen, in: Sämtliche Werke, hrsg. von K. Kehrbach, Bd. 10, Langensalza 1902, S. 69

[33] Michael Winkler: Die Entdeckungsfunktion der Anthropologie für die Pädagogik, in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 70(1994), S. 147

[34] Arno Combe/Werner Helsper, Einleitung, in: Dies. 1996, S. 15

[35] Luhmann/Schorr 1988, S. 31

[36] Vgl. Christian Lindmeier: Behinderung - Phänomen oder Faktum? Bad Heilbrunn 1993, S. 31 und S. 40

[37] Karl Bald: Psychische Behinderung als pragmatisches Konstrukt. Eine explorative Inhaltsanalyse des Merkmalspektrums anhand psychiatrischer Gutachten, Diss. Berlin 1991, S. 18

[38] Auch Luhmann/Schorr konzedieren: "Die Pädagogik hat sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, den Grundlinien der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems folgend, darauf eingelassen, Schulpädagogik zu sein." Luhmann/Schorr 1988, S. 56

[39] Isabell Diehm/Frank-Olaf Radtke: Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 176

[40] Roland Merten/Thomas Olk: Sozialpädagogik als Profession. Historische Entwicklungen und künftige Perspektiven, in: Combe/Helsper 1996, S. 570

[41] Ebd., S. 577

[42] Bernhard Koring: Zur Professionalisierung der pädagogischen Tätigkeit. Beiträge aus erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Sicht, in: Combe/Helsper 1996, S. 333

[43] Merten/Olk 1996, S. 583

[44] Dass die Sonderpädagogik, z.B. in der Variante Hellers, auch für Fürsorgezöglinge sei, war gegenüber der erstarkenden Sozialpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht durchsetzungsfähig (vgl. hierzu auch Vera Moser: Disziplinäre Verortnungen. Zur historischen Ausdifferenzierung von Sonder- und Sozialpädagogik, in: Z.f.Päd. 46(2000)2, S. 175 - 192). Auch war die Akzenturierung der kirchlichen Anstaltsträger gerade gegenüber der Sozialarbeit keine genuin pädagogische, so dass die außerschulische Sonderpädagogik historisch erst über die Gebiete der Frühförderung, der pädagogischen Heimerziehung, der Elternberatung und allgemeiner pädagogischer Maßnahmen in den 1970er Jahr wieder an professionspolitischen Boden gewinnen konnte.

[45] Vgl. dazu auch Vera Moser: Sonderpädagogik zwischen Erziehung und Bildung, in: ZfH 48(1997)1, S. 4 - 8

[46] Jan Daniel Georgens/Heinrich Marianus Deinhardt: Die Heilpädagogik, mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten, 2 Bde., Leipzig 1861/63

[47] Vgl. auch Frank Selbmann: Jan Daniel Georgens - Leben und Werk, Gießen 1982, S. 237. Auch im Jahrbuch der Levana von 1858 wird betont: "Der Krankheitsgrund [ist, V.M.] stets ein socialer". Jan Daniel Georgens/Marie von Gayette/Heinrich Deinhardt: Jahrbuch der Levana für das Jahr 1858, Wien 1858, S. 9

[48] Selbmann sieht den Begriff der 'Entartung' im Werk Georgens' und Deinhardts als philosophisch-psychologisch und medizinisch bestimmt, vgl. ebd.

[49] Georgens/Deinhardt 1861, Bd. 1, S. 287

[50] Ebd., Bd. 2, S. 251, Herv. i. O., vgl. auch: "Denn wenn es irgend einen absonderlichen Zweck der pädagogischen Hülfe und Besserung, der nicht ein Moment der allgemeinen Erziehungsaufgabe wäre, nicht geben kann, und wenn es sich eben deshalb in den pädagogischen Hilfs- und Besserungsanstalten überall nur um eine Modification der allgemeinen Erziehung, durch welche ein solches Moment ungewöhnlich entfaltet und ausgeprägt wird, handeln soll, so ist klar, dass die Praxis dieser Anstalten im strengen Sinne specifische, der allgemeinen Schule fremde oder fremdbleibende Mittel nicht besitzen und anwenden darf, dass demnach, wenn sie dessenungeachtet der Notwendigkeit nachgebend oder durch die Erkenntnis des Nothwendigen bestimmt, solche Mittel herausbildet hierin des specifischen in ein allgemeines Erziehungsmittel gehoben werden muss." Dies., 1861, Bd. 1, S. 309, Herv. i. O.

[51] Ebd., Bd. 1, S. 8, Herv.i.O.

[52] Vgl. hierzu auch Moser 2000

[53] Johann Hinrich Wichern: Festbüchlein des Rauhen Hauses in Horn, Hamburg 1845, S. 3f.

[54] Roland Anhorn: Sozialstruktur und Disziplinarindividuum. Zu Johann Wicherns Fürsorge- und Erziehungskonzeption des Rauhen Hauses, Egelsbach/Köln/New York 1992, S. 118

[55] Vgl. hierzu Rolf Göppel: "Der Friedrich, der Friedrich ..." Das Bild des ‚schwierigen Kindes' in der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1989a, S. 125; Göppel merkt zugleich an, dass hiermit durch Strümpell bereits die spätere Bleidicksche Position vorgelegt wurde, nach der der Fehler/die Entartung/Abweichung/Behinderung aus pädagogischer Perspektive als 'Störung der Bildsamkeit' zu fassen sei (ebd.).

[56] Ebd., S. 135

[57] Theodor Heller: Grundriß der Heilpädagogik, Leipzig 1912, S. 643f.

[58] Ebd., S. 650f.

[59] "In einer Zeit ungeheuer wirtschaftlicher erscheinen die Elemente als drückende Last, ihre Versorgung beansprucht die unproduktive Verwendung eines nicht geringen Teils des Nationalvermögens. Der Gedanke, die Zahl leistungsfähigen, schädlichen lndividuen soweit als irgend möglich zu reduzieren, auch schwache Kräfte in den Dienst der sozialen Arbeit zu stellen, gewinnt immer mehr Anhänger. Die Mittel und Wege hierzu weist eine vernünftige Jugendpolitik." Ebd., S. IX

[60] Ebd., S. 3

[61] Ebd., S. 5

[62] Vgl. hierzu auch: Vera Moser: Die wissenschaftliche Grundlegung der Heilpädagogik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Heilpädagogische Forschung 24(1998)2, S. 75 - 83

[63] Vgl. Heller 1912, S. 269, 272, 276, 283, 289. Heller weist al1lerdings die Typologie 'moral insanity' zurück, weil von hier aus keine pädagogische Intervention möglich sei, und konzentriert sich auf das Phänomen der 'mangelnden Fähigkeit zur Apperzeption' (vgl. ebd., S. 59 und 267), welches nur unzureichende moralische Einsichten zur Folge habe.

[64] Ernst von Düring: Grundlagen und Grundsätze der Heilpädagogik, München/Leipzig 1925, S. 79

[65] "Geistesschwachheit [ist, V.M.] nicht nur Intelligenzschwäche, sondern Geistesschwäche, Gesamtseelenschwäche". Heinrich Hanselmann: Einführung in die Heilpädagogik. Zürich/Leizig 1930, S. 135, Herv. V.M. - vgl. auch 'Geistesschwachheit' ist nicht Schwäche des Denkens allein, sondern auch Schwäche des Fühlens und Wollens." Ebd., S. 151 f.; in den nachfolgenden, überarbeiteten Auflagen dieses Werkes tritt allerdings der Terminus der 'Entwicklungshemmung' an die Stelle der 'Gesamtseelenschwäche', vgl. auch Bleidick 1984, S. 135

[66] Linus Bopp: Allgemeine Heilpädagogik, Freiburg 1930, S. 1, Herv. i. O.

[67] Ebd., S. 73f.

[68] Vgl. ebd., S. 200 und 203

[69] Vgl. ebd., S. 211

[70] Ebd. S. 282

[71] So heißt es etwa bei von Düring: "Das Wesentliche ist, die Seele mit den richtigen Motiven zu erfüllen." 1925, S. 277 - auch ein eigenes Kapitel ist dem Thema ‚Willenserziehung' gewidmet, vgl. ebd. S. 273ff.

[72] Bopp 1930, S. 20, Herv. i. O.

[73] von Düring 1925, S. 23

[74] Vgl. Hanselmann 1930, S. 490f., von Düring 1925, S. 317

[75] "Eine der schwierigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben der Heilpädagogik besteht darin, ihre Methoden dem einzelnen Fall anzupassen." Heller 1912, S. 259

[76] Vgl. Bopp 1930, S. 296

[77] Vgl. ebd., S. 20

[78] Paul Moor: Heilpädagogik, Bern/Stuttgart 1965, S. 11

[79] Ebd., S. 187

[80] Ulrich Bleidick: Pädagogik der Behinderten, Berlin 1983

[81] Ebd., S. 86f.

[82] Ebd., S. 200ff.

[83] Ebd., S. 201; diese Stelle auch die Luhmannsche Annahme, dass der Begriff der Lernfähigkeit den der Bildung als Semantik des Erziehungssystems ablösen könnte.

[84] Horst Suhrweier: Geistige Behinderung, Psychologie, Pädagogik, Therapie, Neuwied/Berlin 1999, S. 24

[85] Hans-Joachim Schmutzler: Heilpädagogisches Grundwissen. Einführung in die Früherziehung behinderter und von Behinderung bedrohte Kinder, Freiburg/Basel/Wien 1994, S. 19

[86] Ab der vierten Auflage wird dieses Kapitel nur noch als ‚Exkurs' getitelt.

[87] Bleidick 1983, S. 470

[88] Ebd., S. 475. Diese Argumentation übernimmt Bleidick aus Vliegentharts 1968 vorgelegten Bestimmungen eines 'besonderen In-der-Welt-Seins' behinderter Menschen, vgl. auch Günther Adolph: Zur Sonderpädagogischen Anthropologie. Analyse und Kritik anthropologischer Fragestellungen in der Sonderpädagogik. Diss. Saarbrücken 1990, S. 38ff. und Jakobs 1997, S. 120ff.

[89] Ulrich Bleidick: Pädagogische Theorien der Behinderung und ihre Verknüpfung, in: ZfH 28(1977)4, S. 224; nahezu wortwörtlich wiederholt in: Ders.: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 87. In ähnlicher Weise argumentiert Bleidick auch in einem Aufsatz zu "Metatheoretischen Überlegungen zum Begriff der Behinderung", in: ZfH 27(1976)7, in welchem er ebenfalls konstatiert, dass sich die Tauglichkeit des Behinderungsbegriffes an den Folgen für die Betroffenen zeige: vgl. ebd., S. 413.

[90] Vgl. Bleidick 1977, S. 227

[91] "Die Wechselwirkung von Erziehungswirklichkeit und Erziehungswissenschaft besteht darin, daß die Wissenschaft von der Erziehung nur zum Teil, gleichsam in einem erhöhten Sinn, einen neuen Gegenstand hervorbringt." Bleidick 1983, S. 9

[92] Ein "Leistungsaustausch, wie er systemtheoretisch oft mit Input/Output-Modellen beschrieben wird, erfordert ein Eingehen auf Bedarfslagen, Normen und Gewohnheiten anderer Teilsysteme der Gesellschaft." Luhmann/Schorr 1988, S. 36

[93] Vgl. jüngst Bleidick 1999: "Eine besondere Anthropologie des behinderten Menschen sollte sowohl als praktische wie auch als wissenschaftliche Figur der Rechtfertigung keine Resonanz mehr haben dürfen". S. 58, vgl auch ebd., S. 99.

[94] Ebd., S. 7

[95] Jörg Zirfas: Die Normativität des Humanen, in: Hans Eberwein/Ada Sasse (Hrsg.): Behindert sein oder behindert werden? Interdisziplinäre Analysen zum Behinderungsbegriff, Neuwied/Kriftel/Berlin 1998, S. 103

[96] Bleidick 1999, S. 99

[97] Luhmann/Schorr definieren diese Aufgaben wie folgt: "Teilsysteme der Gesellschaft können einer der gesellschaftlichen Funktionen, etwa der Erziehung, den Primat geben und sich vornehmlich an ihr orientieren. Sie gewinnen daraus die Form, in der sie mit Bezug auf die Gesellschaft existieren und ansprechbar sind. Die Funktion wird dadurch zu ihrem 'Leitmotiv', zu einer Kontakte und Wachstumsprozesse 'katalysierenden' Problemstellung; aber das bedeutet nicht, daß sie je alleinige Seinsgrundlage oder ein Prinzip der Deduktion von Verhaltenvoraussagen oder -erklärungen sein könnte. Sie bleibt eine Form oder ein Aspekt von Umweltbeziehungen unter anderen. Neben der Funktionsorientierung gibt es immer auch Beziehungen zwischen den Teilsystemen der Gesellschaft, für die wir den Begriff Leistung reservieren. (...) Die dritte in differnzierten Systemen mögliche Systemreferenz ist die Beziehung auf sich selbst. Wir nennen sie (...) Reflexion. Dabei kann es sich angesichts der Komplexität realer Systeme nie um eine volle Vergegenwärtigung der Gesamtrealität aller Strukturen und Prozesse, die es auf sich selbst richtet; es kann seine eigene Identität intendieren, mit Namen oder Symbolen repräsentieren, in der Differenz zur Umwelt feststellen und alle Einzelheiten dem Mitgemeintensein überlassen." Luhmann/Schorr 1988, S. 36f., Herv.i.O.

[98] Deutlich zeigt sich der implizite Beibehalt der Kategorie Behinderung in diesem Zusammenhang z.B. bei Scharr: "Sonderpädagogische Förderung unterstützt und begleitet Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf insbesondere durch individuelle Hilfen. Sie trägt dazu bei, das Bedingungsgefüge der Behinderung auszumachen und die pädagogischen Notwendigkeiten hinsichtlich Erziehung und Unterricht zu verwirklichen". Elmar Schaar: Sonderpädagogische Förderung in: Liedtke 1996, S. 271

[99] So lautet auch die Einschätzung Adolphs: "Bei der Durchsicht sonderpädagogischer Literatur stößt man rasch auf eine eigenartige Diskrepanz zwischen einer Fülle anthropologisch relevanter Aussagen und Inhalte einerseits und einer Vernachlässigung der systematischen und methodisch geleiteten Auseinandersetzung mit der anthropologischen Problematik andererseits." Adolph 1990, S. 36f.

[100] Heinz Bach: Grundlagen der Sonderpädagogik. Bern/Stuttgart/Wien 1999, S. 4, Herv. V.M.

[101] Bach 1999, S. 11. An deren Stelle rutscht dann auch folgerichtig die Kategorie ‚Behinderung' wieder hinein, wenn Bach z.B. Sonder- von Sozialpädagogik abzugrenzen versucht: "Wegen der häufigen Folgen von Gefährdung in der Form von Störungen oder Behinderungen greift eine isolierte Sozialpädagogik i.e.S., die nicht zugleich individuale Beeinträchtigungen und entsprechende pädagogische Konsequenzen wahrzunehmen vermag, zu kurz. " Ebd., S. 61

[102] Wolfgang Jantzen: Bestandsaufnahmen und Perspektiven der Sonderpädagogik als Wissenschaft, in: ZfH 46(1995)8, S. 371

[103] Georg Feuser: Behinderte Kinder und Jugendliche: Zwischen Integration und Aussonderung, Darmstadt 1995, S. 7f.

[104] Vgl. ebd., S. 170

[105] "Behinderung kann nicht als naturwüchsiges Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten." Wolfgang Jantzen. Allgemeine Behindertenpädagogik, Bd. 1. Weinheim/Basel 1992, S. 18

[106] Ebd., S. 76

[107] Vgl. ebd., S. 109

[108] Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, in: ZfH, Beiheft 11/1974, S. 32

[109] Der Begriff 'handlungsorientiert' ist etwas unscharf, jedoch kann bezüglich der referierten Positionen nicht im engeren Sinne von einer 'handlungstheoretischen' Konzeption gesprochen werden.

[110] Vgl. hierzu Siebren Miedema/Willem L. und Wardekker: Pädagogik, Identität und gesellschaftlicher Wandel, in: Heinz Sünker/Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt 1999, S. 93

[111] Vgl. hierzu auch Vera Moser: Die Ordnung des Schicksals. Zur ideengeschichtlichen Tradition der Sonderpädagogik, Butzbach 1995, Kap. III

[112] Niklas Luhmann: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann (Hrsg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, Frankfurt 1997, S. 17

[113] Auch innerhalb der Sozialisationsforschung wurde Sozialisation begriffen als "Verinnerlichung der im sozialen System vorgegebenen und Normen" (...). Tatsächlich wird so jedoch der bei Durkheim angelegte und von Freud weiterentwickelte Gedanke einer innerpsychischen Dialektik von Individuellem und Geschäftlichem als Basis des Subjekt-Begriffes aufgegeben. Freuds Begriff des Ichs wird ebenfalls dem Über-Ich zugeschlagen. Was als Subjekt gedacht war, ist nun ganz im sozialen System gefangen." Dieter Geulen: Subjekt-Begriff und Sozialisationstheorie, in: Hans Rudolf Leu/Lothar Krappmann (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Verbundenheit. Bedingungen und Formen der Behauptung von Subjektivität, Frankfurt 1999, S. 36

[114] Walter Thimm: Behinderung als Stigma, Überlegungen zu einer Paradigma-Alternative, in: Sonderpädagogik 5(1975)4, S. 150

[115] Ebd., S. 152

[116] Ebd., S. 155

[117] Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung, Heidelberg 1997, S. 151

[118] Ebd., S. 159

[119] Emil E. Kobi: Grundfragen der Heilpädagogik. Eine Einführung in heilpädagogisches Denken, Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 28

[120] Ebd., S. 60

[121] Otto Speck: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung, München/Basel 1996a, S. 267

[122] Urs Haeberlin: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1996, S. 171

[123] Dieter Mattner: Wissenschaftstheoretische Grundlegung einer heilpädagogischen Anthropologie, in: Mattner/Gerspach 1997, S. 13

[124] Bezogen auf den Diskurs um geschlechtsspezifische Sozialisation schreibt Bettina Dausien: "Womöglich löst[e] die feministische Kritik an der wissenschaftlichen Konstruktion von Kategorien wie 'Männlichkeit - Weiblichkeit' oder 'Geschlechtsspezifik', die unhinterfragt alltagstheoretische Typisierungen wiederholen und reifizieren, eine Krise der gesamten Sozialisationsparadigmas aus, die zu einer Aufkündigung jenes Burgfriedens zwischen verschiedenen theoretischen Ansätzen führt[e]. Was für die Konstruktion der Kategorie 'Geschenk' gilt, läßt sich auch für andere Kategorien diskutieren (z.B. 'Persönlichkeit', 'Identität', 'Klasse') und legt in der Konsequenz den konstruktivistischen Charakter des gesamten Theoriemodells bloß." Bettina Dausien: 'Geschlechtsspezifische Sozialisation' - Konstruktiv(istische) Ideen zu Karriere und Kritik eines Konzepts, in: Bettina Dausien/Martina Hermann/Mechtild Oechsle/Christiane Schmerl/Marlene Stein-Hilbers (Hrsg.): Erkenntnisprojekt Geschlecht. Feministische Perspektiven verwandeln Wissenschaft, Opladen 1999, S. 223

[125] Speck 1996a, S. 269

[126] Rolf Göppel: Otto Speck: System Heilpädagogik. Rezension, in: Das Kind 6/1989b, S. 55; vgl. auch Lindmeier 1993, S. 18f.

[127] Speck 1996a, S. 271

[128] Vgl. Haeberlin 1996, S. 63 - jedoch wird an anderer Stelle wieder Behinderung als pädagogischer Begriff expliziert, vgl. Urs Haeberlin: Allgemeine Heilpädagogik, Bern/Stuttgart/Wien 1998, S. 30

[129] Haeberlin 1996, S. 348

[130] Haeberlin 1998, S. 17

[131] Die Problematik einer besonderen Berufsethik im sonderpädagogischen Konstitutiondiskurs wird in dieser Arbeit im folgenden Kapitel genauer diskutiert.

[132] Haeberlin 1996, S. 34

[133] Ebd., S. 35ff.

[134] Vgl. hierzu auch Hiltrud Loeken: Spannungsfelder sonderpädagogischer Professionalität - Anregungen für ein Professionskonzept, in: Friedrich Albrecht/Andreas Hinz/Vera Moser (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen. Neuwied/Kriftel/Berlin 2000, S. 199-210

[135] Haeberlin 1998, S. 30

[136] Vgl. hierzu auch Jackobs 1997, S. 126ff.

[137] Kobi 1993, S. 112, Herv. i. O.

[138] Vgl. Jackobs 1997, S. 146

[139] Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie, 2 Bde., Hannover/Darmstadt/Dortmund 1966

[140] Adolph 1990, S. 18

[141] Vgl. hierzu auch Norbert Wenning: Vereinheitlichung und Differenzierung. Zu den 'wirklichen' gesellschaftlichen Funktionen des Bildungswesens im Umgang mit Gleichheit und Verschiedenheit, Opladen 1999, der Überlegungen zu einer 'Pädagogik der Vielfalt' (Annedore Prengel 1993; Andreas Hinz 1993) bildungssoziologisch und systemtheoretisch weiterverfolgt.

[142] Vgl. auch Benjamin Künzli: Soziologische Aufklärung der Erziehungswissenschaften? Würzburg 1995, S. 64

[143] Luhmann/Schorr 1998, S. 258ff.

[144] Winkler 1994, S. 148

[145] Jürgen Oelkers: Ästhetische Moderne Erziehungstheorie: Heilsame Destruktion, in: Combe/Helpser 1996, S. 843

[146] Ebd., S. 852. Herv. i. O.

[147] Jürgen Oelkers: Jenseits von "Menschenbildern: Pädagogische Anthropologie", in: Anette M. Stroß/Felicitas Thiel (Hrsg,): Erziehungswissenschaft, Nachbardisziplinen und Öffentlichkeit, Weinheim 1998. S.170

[148] Jörg Zirfas: Die Lehre der Ethik. Zur moralischen Begründung Pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim 1999, S. 162

[149] Ebd., S. 160

[150] Oelkers 1998, S. 152

[151] Adolph 1990, S. 73

[152] Luhmann/Schorr 1988, S. 356, Herv. i. O.

[153] Wenning 1999, S. 366

[154] Künzli 1995, S. 133

3. Ethische Argumentationen

ethische Dimensionierung pädagogischen Handeins ist - auch historisch - der erziehungswissenschaftlichen Grundorientierungen; der Zusammenhang von Sittlichkeit und Erziehung gehörte bereits den Haupttopoi Aufklärungspädagogik in der um die Vorgängigkeit von Erziehung oder Sittlichkeit).

Hingegen ist in der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion der Zusammenhang von Ethik und Pädagogik nur noch ein mittelbarer: Ethik ist nunmehr lediglich ein Teilgebiet der Erziehungswissenschaften oder erscheint im Bereich der Professionsforschung präzisiert als eine spezifische Handlungsorientierung, ohne dass jedoch Erziehung, Bildung und Erziehungswissenschaft insgesamt als oder Ergebnis von Sittlichkeit zu sehen wären. Die ursprünglich zentrale Bedeutung der Ethik hinsichtlich ihrer Funktion zur Fundierung der Disziplin selbst damit zweifelhaft worden.

Andererseits wird Pädagogik der gesellschaftliche Zweck ethischer Orientierung zugeschrieben und mithin wird ihre dringende Zuständigkeit angesichts gesellschaftlicher Krisen angemahnt -beispielsweise auch innerhalb der Bezug auf die sogenannte 'Singer-Debane' im ausgehenden 20. Jahrhundert. Ethik diesem Falle so zu verstehen, dass sie Antworten auf gesellschaftliche Krisenphänomene gewissermaßen ad hoc zu erbringen hätte.

Trotz der Abkehr von, einer von Ethik als Fundierung der pädagogischen Disziplin (und Profession) - und damit der Einung von und - behält sie die Sonderpädagogik eine konstitutive Funktion. Der Analyse sonderpädagogischer Denkansätze von Markus der folgend, die Orientierung der Sonderpädagogik an ethischen Fragen ein besonderes Spezifikum dieser von hier aus ab, ethischen Fundierungen als "metaparadigmatisches Orientierungssystem" werden können, die je unterschiedlichen Fokussierungen sonderpädagogischer Theoriegebäude Übergreifend einen.[155] Demzufolge zielt der Vorschlag Müllers darauf ab, sonderpädagogische Theorieansätze unter dem Dach einer Metaethik zu d.h., die je ethischen Fundierungen in einer Metaethik aufgehen zu lassen.

Um die nach ethischen Grundlegung der Sonderpädagogik zu erörtern, wäre jedoch der von Ethik, Pädagogik und Erziehungswissenschaft systematisch zu klären.

Daran anschließend soll untersucht werden, inwiefern ethische Fundierungen nur Sonderpädagogik konstitutiv sind in welcher Weise diese abzukoppeln sind von den bereits diskutierten anthropologischen Ausrichtungen der Disziplin, denn bereits der Verknüpfung Behinderungsbegriff und Stellvertretungskonzept zeigte sich, dass hier notwendigerweise Ethik an anschließt und umgekehrt, d.h., dass sonderpädagogische der Regel aus anthropologischen Annahmen deduziert werden.

Hajo Jakobs hingegen meint wohl anspruchsvollsten Entwurf einer ethischen Fundierung der Sonderpädagogik durch eine Fokussierung auf Sozialität und Interdependenz dieser zwangsläufigen Verknüpfung entkommen zu können:

"In Anknüpfungen Horkheimers Kritik, daß philosophische Anthropologie zugleich zuviel verlange, sind in unseren bisherigen Erörterungen die physisch-spekulativen anthropologischen Vorstellungen wie der traditionelle Personenbegriff zunehmend zurückgetreten. Sie sind sozusagen unwichtig geworden im philosophischen und heilpädagogischen Diskurs der Gegenwart, den ganz Fragen sind. um eine gedanklich-begriffliche Wende von der Personalität zur Sozialität, Subjektivität zur praktischen Intersubjektivität die Implikationen hat."[156]

Sonderpädagogik, so Jakobs Vorschlag, solle die anthropologischen Orientierungen durch ethische ersetzen; damit wurde nicht mehr der Einzelne - im Sinne einer sonderpädagogischen Anthropologie -, sondern die Intersubjektivität zum Gegenstand pädagogischer Überlegungen (hiermit verknüpft übrigens auch die Problematik sonderpädagogischer Theorie, die vorwiegend das Subjekt fokussiert und nicht ,etwa. eine Gruppe).

Auch Oelkers die gegeben, ethische Universalisierungen zu entwickeln, nicht notwendig anthropologische voraussetzen, denn das Problem der anthropologischen Begründung von Erziehung bestünde schlichtweg eine biologische, kulturelle oder psychologische Notwendigkeit von Erziehung zu postulieren, die wiederum dazu den Erziehungszweck zu stabilisieren.[157]

In Bezug auf die Sonderpädagogik erhebt sich darüber hinaus die Frage, inwiefern das Konzept einer spezifisch sonderpädagogischen Ethik begründet wird, welches bislang zentrales der Teildisziplin Geltung besaß.

Systematisch erschließt sich das Problem der Ethik innerhalb der Erziehungswissenschaft von den folgenden vier Aspekten her:

Erstens die klassische Theorie unter gedachten einheitlichen normativen Konzept entworfen worden, in welchem und Erziehung, Subjekt und Gesellschaft, Theorie und Praxis widerspruchsfrei aufeinander bezogen erschienen. Diese Einheitsstiftung ist unter dem Aspekt einer differenzierten Wissenschaftsauffassung und der Herauslösung der Profession aus disziplinären Konstruktionen innerhalb der modernen Erziehungswissenschaft inzwischen problematisch. Somit kann auch Ethik mehr als Konzept die Verhältnisses zu überbrücken der Lage Für diesen Sachverhalt wäre die einheitsstiftende Funktion von Ethik für Erziehungssystem zu klären.

Zweitens die Abtrennung normativer Pädagogik und einer Professionsethik zu beachten, für - es ebenfalls aufgrund systematischer Überlegungen triftige Gründe gibt. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang, ob ethische Konzeptionen in Tat aktuell noch Einheit des Systems gehandelt werden, oder ob sie inzwischen in die Bereiche normativer Pädagogik einerseits und Professionsethik andererseits verwiesen sind.

Drittens ist die Überzeugungskraft einer einheitlichen Ethik nicht zuletzt auch innerhalb der postmodernen Debatten fragwürdig geworden. Von hier aus wäre zu prüfen, welche ethischen Grundüberlegungen als stringent für das System insgesamt oder für seine Teilgebiete in Anschlag gebracht werden.

Viertens schließlich wäre zu welcher Weise Pädagogik und Erziehungswissenschaft ihrem Selbstverständnis nach auf ethische Konzepte angewiesen sind, also auf einen ethisch-normativen Bezugsrahmen. Hier ebenso zu fragen, ob diese Rahmung in ein Handlungsmodell wäre, welches sowohl die funktional-gesellschaftliche Seite des Erziehungssystems als auch die Seite der pädagogischen Handlungsstruktur berücksichtigt und Feld der Professionsforschung neu zu bearbeiten wäre.

Damit ist zunächst ein Rahmen abgesteckt, in das Verhältnis von Ethik, Pädagogik und Erziehungswissenschaft zu diskutieren ist, um hin die sonderpädagogischen Ethikkonstruktionen, die - der These Müllers - in gleichem Umfang wie die anthropologischen Konzepte für die Disziplin konstitutiven Charakter annehmen, untersuchen zu können.

3.1 Ethik als einheitstiftende Figur

Historisch - so Lothar Wiggers - habe die ethische Fundierung der Disziplin allmählich an konstituierender Kraft verloren: Betonte noch Herbat der Philosophie für die kritisierte bereits Nohl l933 den Versuch, "Pädagogik einem ethischen System begründend abzuleiten."[158] Dennoch war die von Ethik und Pädagogik unvermeidlich: Für die Pädagogik galt Ethik Grundwissenschaft der Pädagogik sowie als angewandte Ethik.[159]

Auch sieht dem Bestreben, Ethik und Erziehungswissenschaft: einheitlich aufeinander abzubilden, einen Rekurs auf die klassische Pädagogik:

"Das Lebens- und Lernmodell der klassischen Pädagogik war die persönlich zurechenbare, nicht nachlassende und nur zum hin steigerbare Tugend, ein Ideal unentwegter Erfüllung der Pflicht aus Charakter. Dieses Ideal setzt einen moralischen Kosmos voraus, und Modell versteht sich dann sowohl unitär wie universell. Doch Moralität in modernen Lebenswelten hat offenbar verbindliches, heiliges Zentrum mehr, und allein dadurch scheinen moralische Konventionen Teil von beliebigen sozialen Systemen zu werden, die unter anderen immer auch anders aussehen können."[160]

Anders jedoch als die Geisteswissenschaftliche Pädagogik - die die historische Situiertheit von Erziehungswirklichkeit und Theoriebildung in den bekam und sich von daher nicht mehr transzendentale Begründungen von Erziehung und Bildung verlassen konnte - bezog sich die Erziehungswissenschaft nach ihrer sozialwissenschaftlichen Wende auf gesellschaftstheoretische Modelle, die und aus Perspektive analysierbar machte, statt sie allein aus anthropologischen Deduktionen oder Sittlichkeitskonstrukten abzuleiten. Von hieraus entwickelte sich die Frage, inwiefern Ethik überhaupt in der Lage eine einheitsstiftende Funktion das System abzugeben, oder ob nicht vielmehr Ethik ihrer spezifischen Begrenzung zu analysieren wäre hinsichtlich ihres Gegenstandsfeldes wie auch Begründungszusammenhänge.[161]

Diese Überlegung ist durch die systemtheoretische Einsicht abgestützt, dass gesellschaftlich funktionale Systeme gerade nicht durch Moral in die Gesellschaft eingebunden sind, sondern eben über spezifische Codierungen, die ihrerseits Funktionen signalisieren -also dezidiert abgekoppelt sind von einer allgemeinen Moral -, oder anders formuliert: "Erziehung ist nicht der besondere Fall des ethisch Allgemeinen".[162] Von daher ist die Annahme einer allgemeinen gesellschaftlichen Ethik, die die gesellschaftlichen Teilsysteme gemeinsam bindet, von der Erziehung lediglich ein besonderer Fall ist, der auf dieses Allgemeine wieder rückführbar wäre, mit der Problemlage funktional differenzierter Gesellschaften nicht mehr zu vereinbaren. Insofern ist auch Ethik als, einheitsstiftende, also vorgelagerte oder übergeordnete Idee des Erziehungssystems in Frage zu stellen.

Für die analytische Differenzierung von allgemeiner Ethik und dem Erziehungssystem spricht weiterhin, Luhmanns Überlegungen folgend, die Reflexion des Systems sonst nicht mehr möglich wäre: "Jeder binäre Code, auch der der Moral, führt bei einer Anwendung auf sich selbst zu Paradoxien. Man kann nicht entscheiden, ob die Unterscheidung von gut und schlecht ihrerseits, gut oder nicht vielmehr schlecht ist".[163]

Inzwischen, so Lothar Wiggers Beobachtung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin, würden pädagogisch-ethische Probleme eher als Spezialprobleme von Experten verhandelt, ohne für die Konstitution der Erziehungswissenschaft zentrale Bedeutung zu erlangen. "Ethik erscheint heute disziplinär als in Randthema."[164]

Dieser Einschätzung zufolge ist Ethik nicht mehr in der Lage, eine verbindende Klammer der Erziehungswissenschaften herzustellen, ebenso wenig, wie die Lücke zwischen Theorie und Praxis schließen kann, d.h., dass für den Bereich der Disziplinkonstitution, so Wigger, eher 'praktische Irrelevanz' von Ethik zu konstatieren sei. Auch bezogen auf den erziehungswissenschaftlichen Diskurs insgesamt kann Wigger innerhalb einer Untersuchung einschlägiger erziehungswissenschaftlicher Fachzeitschriften im Zeitraum 1987-1996 zeigen, dass lediglich 12% der Beiträge einem Bereich der Ethik als philosophischer Teildisziplin der Erziehungswissenschaften zuzurechnen sind.[165]

Stärker konturiert sind demgegenüber die ethischen Diskurse im Bereich der Profession, also beispielsweise bezogen auf Fragen der Stellvertretung und der Kontrolle, weil sie hier in Institutionalisierter Form vorfind- und analysierbar sind. Zugleich scheint das Problem der Normativität hier gelöst auf dem Wege der - je vorläufigen - Akzeptanz im entsprechenden Professionsfeld und bedarf von daher keines universellen oder paradigmatischen Einverständnisses.

Damit lässt sich zunächst die These ableiten, dass Ethik an zwei spezifischen Orten innerhalb der Erziehungswissenschaften anzusiedeln ist: Erstens als Teildisziplin, die sich auch reflexiv mit normativen Fragen der Pädagogik zu beschäftigen hat, aber damit keinen globalen Referenzrahmen für die gesamte Disziplin herstellen kann, sowie zweitens im Bereich der Profession im Kontext auch berufsethischer Problematiken. Beide Felder sind allerdings notwendig kongruent aufeinander bezogen.

3.2 Normative Pädagogik versus Professionsethik

Wenn eine wie oben angedeutete Systematik zwischen Professionsethik einerseits und normativer Grundlegung pädagogischen Handelns andererseits zu unterscheiden hätte, wären die Bezugsorte der jeweiligen Theoriebildung auszuloten. Eine gerade in der Sonderpädagogik besonders häufig zu beobachtende Verquickung beider Bezugssysteme führt jedoch zu Entwürfen sogenannter 'heilpädagogischer Tugendlehren', die sowohl als Berufsethos wie als Fundament einer Theorie daherkommen. Eine Differenz 'Ethikorte' jedoch erlaubt, wie Tenorth formuliert, "Handeln und Erkenntnis zu unterscheiden", um "das Fremde als Korrektiv der eigenen Praxis zu nutzen".[166] Auch hier ermöglicht erst die Bezugnahme auf ein spezifisches Referenzsystem (Profession/Wissenschaft) die Reflexion der jeweiligen ethischen Dimensionierung. Dieser Ausweis der unterschiedlichen Bezugssysteme ist auch in der von Peter Vogel vorgelegten Systematik der erziehungswissenschaftlichen Wissensformen enthalten, die er in a) Theoretische Erziehungswissenschaft, b) Empirisch-wissenschaftliche. Forschung, c) Allgemeine Pädagogik und d) Professionsethiken unterteilt.[167] Ethik Dimension pädagogischer Theoriebildung im Bereich der Allgemeinen Pädagogik angesiedelt sein mit der Funktion, "handlungsorientierende Maxime für die pädagogische Praxis"[168] zu erarbeiten. Demgegenüber verlagert Vogel den Bereich der Professionsethiken in das Aufgabengebiet der Berufsverbände und -organisationen Plädiert wird hier ,ebenfalls eine sorgfältige Trennschärfe, um die jeweiligen institutionell gebundenen Orte der Wissenserzeugung erkenn- und kontrollierbar zu machen, denn bekanntlich wird disziplinäres Wissen im Wissenschaftssystem hervorgebracht, wohingegen Professionswissen im Beruf, Referendariat oder innerhalb der Berufsverbände erzeugt, transportiert und verwaltet wird.[169] Dabei soll die Bedeutung einer Professionsethik allerdings nicht unterschlagen werden, denn, so Terhart:

"Die Verpflichtung ein Berufsethos kompensiert das Risiko, welches eine Gesellschaft dadurch eingeht, daß sie die Lösung gravierender oder doch zumindest als gravierend wahrgenommener sozialer und/oder individueller Probleme, eine bestimmte Berufsgruppe delegiert und dabei die Bildung ,eines Monopols toleriert. Für den einzelnen macht erst das Vertrauen die der Berufsethik die Asymmetrie der Beziehung Professioneller - Laie erträglich und sinnvoll."[170]

Auf diese Seiten der Berufsethik macht auch Koring aufmerksam:

"Indem die Profession sich auf ein Ethos verpflichtet und die Einhaltung dieses Ethos durch professionsinterne Kontrolle sichert, wird der Gesellschaft die Zusage gegeben, daß die Klienten nicht ausgenutzt oder in ihrer Autonomie verletzt werden. Damit verbindet die pädagogische Profession allerdings eine Forderung an die Gesellschaft: nämlich, daß ihr Autonomie bei der Berufsausübung zugesprochen werden soll."[171]

Das Problem der Sicherung des Klientenschutzes ist auch innerhalb der sonderpädagogischen Ethik ein vorrangiges und wird im Konzept der Stellvertretungsethik behandelt. Hier scheint - mit Blick auf die Gruppe schwerstbehinderter Klienten - überhaupt der Kern einer spezifischen sonderpädagogischen Ethikfundierung zu liegen, wie noch genauer zu zeigen sein wird.

Systematisch präziser lässt sich an dieser Stelle das Feld der Berufsethik nicht bestimmen, will man sich nicht der Gefahr der Gesinnungsbildung aussetzen.

Eine disziplinäre Verortung von Ethik wäre demgegenüber im Bereich der Allgemeinen Pädagogik im Sinne normativer Grundlegungen pädagogischen Handelns aufzusuchen.

Hierzu liegt als jüngeres historisches Beispiel das Konzept der Kritischen Erziehungswissenschaft vor. Dieses wurde als Replik auf die Phase der Empirischen Erziehungswissenschaften entworfen im Sinne einer Neuorientierung von Pädagogik auf ethischem Fundament - allerdings nicht als mögliches Teilgebiet, sondern als Kern des Geschäfts selbst.

Pädagogik hier in den Kontext eines 'geschichtsimmanenten Prinzips' (Miedema/Wardekker) gestellt, welches als notwendiger 'Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit' ' (Kant) gedacht war. Pädagogik avancierte in dieser Hinsicht zu einem Pol der 'Dialektik der Aufklärung', dem Pol der Humanisierung. So formulierte unter anderen Wagner: "Um die Spezifik pädagogischen Handelns, adäquat zu begreifen. ist die Genesis humanen zu Handelns zu beleuchten. Anzusetzen ist zum Verständnis humanen Handelns evolutionstheoretisch."[172] Pädagogische Ethik war in dieser Perspektive gewissermaßen historisch auffindbar im Kontext eines allgemeinen, fortschreitenden Humanisierungsprozesses qua Vernunft, bedurfte von daher keiner spezifisch disziplinären Begründung und wurde im Anschluss an das von Habermas postulierte 'emanzipatorische Erkenntnisinteresse', welches sowohl für die Theoriebildung als auch für praktisches pädagogisches Handeln Geltung besaß. Klafki betonte diesbezüglich: "Theorie und Praxis der Erziehung stehen sich primär nicht als zwei deutlich geschiedene Bereiche menschlicher Tätigkeit gegenüber (...), vielmehr, sind sie ursprünglich in charakteristischer Weise miteinander verschränkt."[173] Von hier aus sollte das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft als Aufgabe einer 'Erziehung zur Mündigkeit' bestimmt werden;[174] das Vermittlungsmedium zwischen Theorie und Praxis war die Empirie (vg1. das Konzept der Aktionsforschung).

Mit diesem Programm schloss die Kritische Erziehungswissenschaft an die Tradition der Aufklärung insofern an, hier ebenso Sittlichkeit (Mündigkeit/Emanzipation des Einzelnen und Realsierung einer 'universalen Kommunikationsgemeinschaft'[175]) und Erziehung ineinander werden. Eine Dialektik von Emanzipation und Sittlichkeit, von Aufklärung und Humanität, wurde nicht gesehen. So resümiert auch Krüger: "Der an Aufklärung und gesellschaftlichem Fortschritt orientierten Emanzipationspädagogik wurde zu Recht vorgehalten, daß sie es versäumt habe, danach zu fragen, was die Pädagogik selber zur Dialektik der Aufklärung mit beigetragen habe."[176]

Diese fehlende Differenz zwischen Konzeption einer Pädagogik und Beobachtung ihrer funktionalen gesellschaftlichen Implikationen ist konsequenterweise auch dem Bildungsbegriff der Kritischen Erziehungswissenschaft anzulasten, denn auch dieser verbindet Funktion (Aufklärung, Kritik) zugleich mit einem pädagogischen Ziel (Emanzipation). Methodisch formuliert hier Tenorth zu Recht Bedenken, "weil dem Grundbegriff der Bildung Die Einheit einer normativen und kritischen Funktion zugeschrieben, Letztlich also zu viel zugemutet wird."[177]

So gesehen verlängerte auch die Kritische Erziehungswissenschaft das Problem der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, indem sie nicht tatsächlich zwischen soziologischer Perspektive auf das Erziehungssystem und pädagogischer Konzeption ausreichend unterschied; dies zeigte ebenso im Verständnis einer 'authentischen Person', die zugleich Adressat und Ziel pädagogischer Einwirkung sein sollte.[178]

Ethische Systeme, so zeigt sich auch hier, können also nur dann an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie selbst in Reflexionsstrukturen eingebunden sind, also, nicht als transzendentale Prinzipien einer Disziplin und einer Praxis zugleich formuliert werden. Als möglichen Reflexionsrahmen schlagen Miedema/Wardekker beispielsweise vor, pädagogisch-ethische Entwürfe als politische zu begreifen, um zwar eine Weiterentwicklung der Kritischen Erziehungswissenschaft voranzutreiben, allerdings unter Verzicht auf universalistische Prämissen.[179]

Neben allgemeinen Vorschlag einer an Gesellschaft zu orientierenden Grundlegung einer pädagogischen Ethik liegen darüber hinaus Konkretisierungen mit Bezug auf das Handeln vor:

Jüngster Vertreter einer pädagogischen Ethik als Teilgebiet der Erziehungswissenschaft ist Hans Jürgen Gößling, der daran erinnert, dass pädagogisches Handeln immer auch auf Zukunft hin orientiert sei, so dass dieses eingebettet sein müsse in ein "formal-normatives, kritisch regulatives und legitimatorisches Wissen".[180] Eine rein reflexive Positionierung der Erziehungswissenschaft reiche dafür nicht aus. Diese könne lediglich den "pädagogischen Alltag kritisieren und Aspekte zerlegen, [vermag, V.M.] aber nichts Nennenswertes zu seiner Wiederherstellung und Reorganisation beizutragen."[181] Gößling versucht demgegenüber die ethische Verankerung von Pädagogik in ein Professionskonzept zu überführen und dieses mit 'pädagogischer Urteilskraft' als Entwurf einer speziell pädagogischen Handlungskompetenz. Diese sei in einer Verknüpfung von Können und Sollen insofern ethisch konnotiert - und übersteige damit ein rein professionsethisches Konzept - als sie auf Zukunft gerichtet und damit unter der Perspektive gesellschaftlicher Partizipation darauf orientiert sei, den Anderen anzuerkennen, und ihn "im Lichte anderer, besserer Möglichkeiten seiner selbst wahrzunehmen versucht, freilich solcher, die er, durch Bildungsangebot und Lernanstöße angeregt, sich selbst zu eigen machen muss."[182]

In ähnlicher Weise konzipiert Hans-Josef Wagner in einer jüngeren Schrift pädagogische Professionalität.[183] Auch hier wird die Komponente der Hermeneutik als Spezifik pädagogischer Professionalität stark gemacht, allerdings zielt Wagner stärker als Gößling auf die Struktur des Handelns, welches seine normative Orientierung dadurch erhält, dass es an die Vermittlung von subjektivem und objektivem Sinn geknüpft wird. Die ethische Orientierung erhält pädagogisches Handeln durch diese spezifische Vermittlungsaufgabe.

In beiden Vorschlägen scheint die Konzeption einer pädagogischen Ethik zudem dazu geeignet, Theorie und Praxis wieder stärker aufeinander zu beziehen, indem für die Gesellschaft funktionale Aspekte des Erziehungssystems (bei Gößling als Zielsetzung gesellschaftliche Partizipation, bei Wagner in Anlehnung an Oevermann die Ermöglichung autonomer Lebenspraxis) wie pädagogisch handlungsstrukturelle Momente (bei Gößling ,Pädagogische Urteilskraft', bei Wagner Vermittlung zwischen subjektivem und objektivem Sinn) miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Auch Jörg Zirfas ist aktuell damit befasst, den Zusammenhang Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Ethik neu zu bestimmen. Er jedoch betont, dass Ethik das Theorie-Praxis-Problem nicht zu lösen vermag,[184] obgleich von einer gemeinsamen, auf Normativität bezogenen Problemstellung ausgegangen werden müsse, die eine pädagogische Ethik mit Blick auf Praxis zu bearbeiten habe:

"Erziehungswissenschaft kann nur theorie- und normenanleitend zugleich betrieben werden; jeder Versuch. einer theoretischen Metaebene normenfrei zu argumentieren und damit eine Trennung zwischen auf der Handlungsebene sich zeigenden konkreten Werten von Handlungsorientierungen einerseits und einer rein formalen nicht zu konkreten Normen neigenden zweiten Reflexionsebene einzuführen, scheint insofern aussichtslos, als auch dieser Metaebene Präsenz ethischer Argumentationen inhärent ist."[185]

Zugleich weist Zirfas zu Recht darauf hin, dass diese Problemlage mit ethischen Konzeptionen zu bearbeiten sei, nicht mit vorderhand anthropologischen, denn eine anthropologische Aussage sei zugleich immer auch eine ethische, da sie jeweils zu begründen hätte, "warum sie ein bestimmtes Menschenbild als gut und welche Kriterien sie als relevant erachtet."[186] Pädagogik beziehe sich auf ethische Fassungen des Sozialen statt auf anthropologische des je einzelnen Individuums.

Zirfas eigene ethische Überlegungen laufen darauf hinaus, zunächst anzuerkennen, dass von einer fundamentalen Moral der Gesellschaft nicht mehr auszugehen sei, jedoch Pädagogik ohne 'regulative Prinzipien' nicht auskomme - diese seien einerseits in einer Theorie der Selbstachtung, andererseits in einer Theorie der Gerechtigkeit aufzusuchen.[187]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ethische Positionierungen von Pädagogik gegenwärtig als Problemfeld der Normativität pädagogischer Handlung verhandelt und zwar im engeren Zuschnitt professionstheoretischer Überlegungen. Damit wurde der historisch letzte Versuch, den die Kritische Erziehungswissenschaft vorgelegt nämlich Ethik als gemeinsames Fundament von Gesellschaftstheorie, Erziehungswissenschaft, pädagogischer Handlung und zu verankern, verabschiedet. Demgegenüber orientieren sich aktuelle ethische Rahmungen pädagogischer Handlung an der Verfasstheit des Sozialen als Anerkennungsverhältnis (Gößling), an der Vermittlung von subjektivem und objektivem Sinn (Wagner) bzw. an der Problematik von Selbstachtung und Gerechtigkeit (Zirfas). Der Reflexionshorizont bezieht sich damit auf pädagogisches Handeln als Vermittlungstätigkeit, welche ethisch gerahmt wird durch eine spezifische Idee des Sozialen (beschrieben als Anerkennungs-, Gerechtigkeits- und Selbstachtungsverhältnis). Insofern hat eine vorwiegend anthropologische Bezugnahme für den Entwurf einer Ethik pädagogischen Handelns als zu kleine Größe erwiesen.

Hinsichtlich sonderpädagogischer Ethikfundierungen wäre von hier aus zu klären, inwiefern das ethische Feld von Anerkennung, Gerechtigkeit und Selbstachtung noch weiter zu präzisieren, also eine hieran orientierte ethische Begründung sonderpädagogischen Handels möglich ist.

Ob eine dar gestalte ethische Fundierung pädagogischen Handelns im Allgemeinen darüber hinaus in der Lage ist, eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, sollen professionstheoretische Bestimmungen im folgenden prüfen.

3.3 Von der Professionsethik

Die Wagner vorgeschlagene Verbindung von Professions- und Handlungstheorie legte bereits der Ansatz der Praxeologischen Erziehungswissenschaft von Derbolav und Benner nahe.

1989 hat Bernhard Koring aus der Perspektive einer strukturtheoretischen Professionstheorie die Verknüpfung von Problembezug und Theorieentwicklung weiter präzisiert. Mit Blick auf die klassischen Professionen konstatiert Koring, dass diese ihren Autonomiestatus gerade nicht über die "abstrakte Steigerung von Wissenschaftlichkeit und durch die Vermehrung positiven Wissens entfalten. Vielmehr bei ihnen eine strenge Problem- und Klientenzentrierung, die eine strikte Selbstbegrenzung (von Reflexion, Forschung und praktischem Handeln) enthält."[188] Dadurch seien Steuerungspotentiale gegeben, ,,die eine sachlich enggeführte Selektivität gegenüber wissenschaftlichem Wissen begründen. Dies setzt voraus, dass im wissenschaftlichen Wissen selbst Kriterien für seine Anwendung (also für seinen 'Wert' bezogen auf ein Problem) nicht vorgefunden werden können."[189]

Insofern ließe sich argumentieren., ethische Orientierungen, bezogen auf pädagogische Fragen, nicht aus der Theorie allein zu entfalten sind, sondern auch aus der strukturellen Beschreibung der Praxis abzuleiten wären. Diese Praxis wäre als ein Handlungsmodell zu beschreiben, für welches gegenwärtig die Modi 'stellvertretende Deutung' (Oevermann) und 'Vermittlung' (Stichweh, Kade) favorisiert werden (etwa in Ablösung des 'Pädagogischen Bezugs' (Nohl) oder des in der Sonderpädagogik in Anlehnung an Buber präferierten Modells des Dialogischen).

Daraus ergeben sich ethische Problemstellungen in Dimensionen: a) bezüglich der Klienten im Modus der Stellvertretung und der Orientierung auf subjektive Sinndeutungen; b) hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionalität, hier der Bezug auf objektive Sinnstrukturen und habitualisierte Praxen; c) die pädagogisch Handelnden selbst hinsichtlich der Gewährleistung und Absicherung ihrer professionellen Kompetenz; sowie d) der Handlung mit Blick auf die Differenz von Absicht und Wirkung. Der noch im praxeologischen Entwurf von Derbolav enthaltene Bezug auf einen relevanten Bildungsgegenstand unter den Prämissen postmoderner Gegenwartsdiagnosen nicht mehr mit Sicherheit beschrieben werden.[190]

Korings Vorschlag zielt nun darauf ab, diese Analyse des Praxisverhältnisses mit einem theoretischen Entwurf pädagogischer Ethik (z.B. in Bezug auf Selbstachtung, Gerechtigkeit, Anerkennung, s.o.) zu verknüpfen als Grundlegung einer strukturtheoretischen Professionstheorie. "Ein Professionsbegriff", so Koring, "der in bezug auf Handlungsstruktur und soziale Funktion gebildet wäre, könnte (...) eine neue Perspektive auf die bisherige Theoriearbeit ermöglichen."[191]

Damit wird an sozialtheoretischen Deutungsmustern festgehalten und ein Programm verworfen, wie es beispielsweise Benner einforderte, indem er paradigmatisch "an einer Besonderheit der Erziehungstatsache und der sie konstituierenden pädagogischen Verantwortung gegenüber dem Werden des Menschen" im Sinne einer Pädagogik als ‚sittlicher Praxis' festhält.[192]

Möglicherweise wäre für die Sonderpädagogik Korings Überlegung insofern fruchtbar zu machen, als sonderpädagogisches Handeln ein spezifisches Praxisfeld stößt; sonderpädagogische Spezifik ergäbe von daher nicht aus den theoriegeleiteten ethischen Rahmengebungen oder anthropologischen Prämissen, sondern aus den besonderen Strukturmerkmalen des Praxisfeldes in den genannten vier Dimensionen (Klient, gesellschaftliche Funktionalität, pädagogisch Handelnde, pädagogische Handlung).

3.4 Normativität und Handlung in der Pädagogik

Noch einmal allgemein formuliert hat Ethik Aufgabe, pädagogisches Handeln zu begründen und zwar im Spannungsfeld einer Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. Damit wird Pädagogik nicht aus Ethik deduziert, sondern "verlangt eine Analyse der Modellannahmen, mit denen das Objekt oder der Referenzbereich 'Erziehung' gedacht wird."[193]

Diese Modellannahmen, so die professionstheoretisch inspirierte Diskussion, am Modus spezifischer Handlung orientiert sein.

Einen solchen theoretischen Ansatz entwickelte, wie dargelegt, Koring. Nach seiner Analyse habe gerade die sozialwissenschaftliche Wende der Erziehungswissenschaften dazu beigetragen, die Frage der Ethik von der traditionellen Anbindung an Habitus und Ethos innerhalb der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in ein Problem spezifischen sozialen Handelns zu transformieren.[194] Damit sei Normativität an eine sozialwissenschaftliche Analyse dieses besonderen Handlungstypus' gebunden und insofern in ein Professionskonzept zu integrieren. Die bislang hierzu vorliegenden Entwürfe wurden bereits weiter oben dargelegt; bezogen auf das Problem von Handlung und Normalität ist darüber hinaus folgendes festzuhalten:

Orientiert am Oevermannschen Ansatz bestimmt vor allem die Orientierung auf Autonomie der Lebenspraxis den normativen Rahmen; dem Vermittlungskonzept von Stichweh folgend tritt die Dimension des ,gelingenden Handelns' in den Blick (auf der Klientenseite zu ergänzen um die Seite der Aneignung[195]) - wobei, wie Kade zu Recht ausführt, die inhaltliche Bestimmung dessen, was vermittelt wird, allmählich beginnt, vom "pädagogischem System m den öffentlichen Raum zu wandern",[196] die Konkretion des Bildungsgegenstandes also Erziehungssystem nicht mehr spezifiziert.

Vor diesem Hintergrund ist pädagogisches Handeln durch einen spezifischen Handlungsmodus bestimmt, der - aus Binnensicht des Systems - auf das Ziel Klientenautonomie ausgerichtet ist. Die ethische Rahmung auf der Ebene der Selbstbeschreibung lautet also Erzielung von Klientenautonomie und ‚gelingendem Handeln' bezüglich Vermittlung und Aneignung. Diese wäre zu ergänzen um die funktionale Ebene, denn mit Luhmann lässt sich keine positiv bestimmbare Aufgabe des Systems - etwa Erziehung - für sich selbst definieren. Hier wäre die funktionale Leistung. die das System für die Gesellschaft, der es angehört, erbringt, mit in Anschlag zu bringen - im Falle des Erziehungssystems also Selektion.

Diese Systemleistung ethisch positiv zu besetzen, ist der Erziehungswissenschaft verunmöglicht; eine Tatsache, die insbesondere auch auf Dilemma der Sonderpädagogik (Förderung durch Verbesonderung) verweist Und eben dieses ethische Dilemma haben Luhmann/Schorr selbst ja auch zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Reflexion des Erziehungssystems gemacht und es erhält für die Sonderpädagogik besondere Bedeutung. Insofern wäre zu diskutieren, ob die Selektionsfunktion des Erziehungssystems (falls sie sich überhaupt noch als gesellschaftlich tauglich erweist) durch die Funktionsbeschreibung zu ergänzen/ersetzen ist. Dies soll im Neukonstitutionsvorschlag am Ende dieser Arbeit erprobt werden.

3.5 Ethik und Sonderpädagogik

Die sonderpädagogische Disziplin hat historisch eine starke ethische Akzentuierung vorgenommen, wobei durch die weitgehende Verschränkung ethischer und disziplinärer Argumente die Analyse der Konstitution der Disziplin auf der Basis ethischer Fundierungen erschwert ist. Daher wären professionsbezogene gegenüber disziplinären Begründungsmustern zunächst überhaupt erst einmal zu ermitteln.

Als ein Hauptproblem pädagogischer Ethik, welches sich auch in der sonderpädagogischen Debatte zentral niederschlägt, ist das Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und Stellvertretung zu nennen; so urteilt auch Hiltrud Loeken: "Das professionelle Selbstverständnis der Sonderpädagogik erscheint (...) zentriert auf die Perspektive der Anwaltschaft oder Stellvertretung ihrer Klientel und einer damit in Verbindung stehenden besonderen Ethik."[197] Damit ist die von Oevermann in Anschlag gebrachte Perspektive auf Klientenautonomie im (sonder-)pädagogischen Fall prekär, weil die unzureichende Klientenautonomie nicht zunächst handlungstheoretisch problematisiert und in ihrer Dauer bestimmt, sondern vorneweg mit berufsethischen Verpflichtungen bearbeitet und weniger als eigenes Professionsproblem gefasst wird - so beispielsweise Haeberlin: "Will die Heilpädagogik den permanenten Entsolidarisierungsprozessen wirkungsvoll begegnen, haben sich Heilpädagoginnen und Heilpädagogen auf ihre grundlegenden berufsethischen Prinzipien und Haltungen (...) zu besinnen."[198]

Das ethische Dilemma der Sonderpädagogik erweist sich gegenüber der allgemeinen Pädagogik als verschärft, weil hier die genannte unzureichende Klientenautonomie unter Umständen (vgl. Geistig- und Schwerbehindertenpädagogik) auf Dauer gestellt wird. Zieht man die Aufgabe des Erziehungssystems mit heran, so scheint es, als würde Sonderpädagogik hiermit einen Beitrag zur dauerhaften Sicherung des Status 'Behinderung' im Sinne einer Verhaltens- oder Lernproblematik leisten.

Das Ethikproblem der Sonderpädagogik ist strukturell an der Schnittstelle von Sozial- und Schulpädagogik anzusiedeln, denn der spezifische Klientenzuschnitt, welcher sowohl in schulischen als auch in außerschulischen Institutionen Relevanz entfaltet, bindet in differenzierungstheoretischer Perspektive zwei Problembeschreibungen innerhalb des Systems: die auf der Ebene der Wissenserzeugung ('Behinderung als pädagogische Aufgabe' - wie jüngst Bleidicks formulierte) und die auf der Ebene gesellschaftlicher Funktionalität des Systems (Herstellung und Sicherung von Normalivität durch die Bestimmung von Abweichung).

In diesen Kontext sieht auch Kornig die unterschiedlichen Theoriebildungsprozesse von Schul- und Sozialpädagogik gestellt:

"Faktisch hat der Lehrerberuf seine Professionalisierung primär über die Wissendimension betrieben. Die Sozialpädagogik tat dies (faktisch) primär über soziale Kontrolle und pädagogische Erzeugung von Normenkonformität ('Erziehung'). Diejenige Komponente am Vermittelnden, welche die Integrität der Personen betrifft, wurde als schlechtes Gewissen von Seiten der Reflexion kultiviert; die Spezifikation auf den pädagogischen Alltag hin ist jedoch nicht erfolgt. Die faktische Konzentration auf Wissens- und Normenvermittlung führte also genau von der vermittelnden Handlungsdimension weg, die als Sonderproblem der vermittelnden Professionen Autonomiebedarf begründen kann."[199]

Aus diesem Grund wäre für die Sonderpädagogik das Problem der Integrität der Klienten auf der Disziplinebene noch einmal besonders zu problematisieren, und nicht vorschnell den Bereich der Berufsethik zuzuweisen.

Inwiefern nun die Sonderpädagogik handlungsbezogene Normativität mit ethischer disziplinärer Fundierung identifiziert hat, soll im folgenden anhand aktuelle sonderpädagogischer disziplinärer Entwürfe sowie spezifisch ethischer Problemerörterungen gezeigt werden.

Als herausragender gegenwärtiger Protagonist einer ethischen Fundierung der Disziplin ist Urs Haeberlin zu nennen. Bereits im Vorwort des Werkes "Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft" wird die Verknüpfung von Disziplin und Profession hinsichtlich ethischer Überlegungen thematisiert: "(...) ich werde mich nicht davon abbringen lassen, daß Heilpädagogik als Praxis und als Wissenschaft parteinehmend und wertgeleitet ist bzw. sein muß."[200] Aufgrund eines geforderten konstitutiven Methodenpluralismus schließt Haeberlin, dass: "Wertgeleitete Heilpädagogik als Wissenschaftimmer praxisbezogen und nicht als reine Grundlagenwissenschaft betrieben werden kann und soll."[201] Obgleich dieser Schluss keineswegs zwangsläufig sich hier, dass Haeberlin Ethik als eine besondere Verantwortung des Wissenschaftlers wie des Praktikers positioniert die sich aus dem gleichen Kontext erschließt, nämlich der Verantwortung gegenüber den "Schwachen, Behinderten und Benachteiligten", für die der Heilpädagoge als Anwalt aufzutreten habe.[202]

Diese Option kennzeichnet durchweg die Grundausrichtung der sonderpädagogischen Ethikdebatte, wenn sonderpädagogisches Handeln als Antwort auf gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse interpretiert wird und in diesem Zusammenhang Stellvertretungsethiken positioniert werden.

Aus sozialtheoretischen Überlegungen einerseits (soziale Exklusion) und anthropologischen Annahmen andererseits (dauerhafte Bedürftigkeit) deduziert auch Haeberlin eine heilpädagogische Verantwortungsethik, die, wie gezeigt, Disziplin und Profession gleichermaßen konstituiert. Allerdings bleibt damit offen, ob gesellschaftstheoretische Analysen und anthropologische Überlegungen zwingend miteinander in Einklang zu bringen sind (also auch Behinderung zweifelsfrei immer dem sonderpädagogischen Handeln vorausgeht), und zweitens bleibt der Bezugsrahmen, der zu Verantwortung aufruft, unscharf, so dass Haeberlin sich schließlich ins Religiöse 'rettet', wenn der Schöpfungsglaube zur Begründung eines allgemeinen Rechts auf Erziehung und Bildung herangezogen wird.[203]

Dies führt auf der Handlungsebene zu einem Tugendkatalog: Der Erzieher, so Haeberlin, von der Idee der Nächstenliebe "überwältigt werden", um "jeden anderen zu lieben, wie ich selbst geliebt werden möchte. Dieser Wunsch kann dann der Entscheidung den Wert der Gleichheit den Sinn geben."[204] Das hier erwünschte einheitliche Sinnsystem stiftet damit die Relgion, welche Disziplin und Profession, Theorie und Praxis, Handlung und Ziel, Analyse und Kritik ineinander auflöst.

Auch Emil E. Kobi hat ein Konzept vorgelegt, in welchem Theorie und Praxis zwar als je unterschiedlich kontextualiert gesehen. werden, jedoch mit der Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz verschmelzen. So wird beispielsweise Erziehung auf der Disziplinebene in den Kontext "existentieller Schuld" gestellt[205] und Erziehung auf der Handlungsebene als "Haltung" (und ausdrücklich nicht als Tätigkeit) gekennzeichnet.[206]

Die ethische Haltung der Wissenschaft identifiziert Kobi insofern mit der des praktisch pädagogisch Handelnden, als für beide gelte, Subjektivität vor Verobjektivierungen zu schützen. Analytische Reflexionen heilpädagogischer Praxis werden als 'Verdinglichung' ausgewiesen, weil damit die Gefahr einhergehe "das Subjekt und damit auch sich selbst aufzugeben."[207] Allgemeine Pädagogik sei mit dem Problem behaftet,

"das sie es einerseits mit Subjekten, deren Beeziehungs- und Daseinsgestaltungsformen zu tun hat, die Idee der Wissenschaft (als Institut) und der Wissenschaftlichkeit (als Haltung) sich hingegen der Dreifaltigkeit von Objektivität - Neutralität - Generalität unterstellt, was zu Distanzierung und Versachlichung zwingt. So etwas wie eine ‚subjektive Wissenschaft' erscheint als Widerspruch in sich selbst. Für die Heilpädagogik verschärft sich diese Situation insofern, als die Sache der Behinderung in der Eigen- sowohl wie in der Fremdenperspektive zu dominieren und festzulegen tendiert. Die Apologie (Verteidigung) des Subjekts - des/der Behinderten gegen die Behinderung - in Praxis und Theorie ist daher durchgehender Auftrag einer personenorientierten Heilpädagogik".[208]

Kobi erhebt die Existenzphilosophie zur Basis einer ethis begründeten Heilpädagogik, die auch hier nicht zur Folie einer Differenzierung von Wissenschaft und Praxis als je unterschiedlichen Referenzsystemen herangezogen wird, weil beide Bereiche dem gleichem Ziel, der Subjektivierung behinderter Personen, unterstellt sind, welches Kobi auch als "existentielle Frage" bezeichnet.[209] Damit kann auch keine Trennschärfe zwischen institutionellen und privaten Erziehungsverhältnissen erreicht werden, und ein Bezugsrahmen zur Prüfung der sogenannten 'Subjektivierungsprozesse' in der Praxis wie zu deren Begründung in der Theorie fehlt.

Dennoch bleibt auch hier erkennbar, dass das heilpädagogische Ethikkonzept auf der sozialen Situation behinderter Menschen (Exklusion) gründet, welches außerhalb der eigenen Systemgrenzen verortet wird.

Auch Bleidick knüpft an Kobis Überlegungen der Verpflichtung auf 'Subjektivierung' an, wenn er fordert "Du sollst dir kein Bild vom Behinderten machen"[210]. Zugleich übernimmt er den von Kobi eingebrachten Vorschlag zur Verknüpfung von konstitutionellen Überlegungen zur Disziplin und Profession der Sonderpädagogik mit der Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz:

"Wir haben uns der anmaßenden Deutungen vom Sinn des Behindertseins zu enthalten, und wir können als Nichtbehinderte nicht verlangen, daß der Behinderte mit seinem Gebrechen fertig wird. Die Frage, was Behinderung bedeutet, ist selber fraglich. Wissenschaften liefern dazu einige Antwortstücke eines objektivierenden Zugriffs; aber gefordert ist die Hilfe der persönlichen Begegnung."[211]

Schlussendlich wird nach eher pathetisch anmutenden Exkursen ("Der Mensch, der unumschränkt Herr über Leben und Tod zu sein sich anmaßt, der kann keine Solidarität mit jenen mehr aufbringen, die unter der Endlichkeit des Daseins mehr als alle anderen Menschen leiden."[212]) der Horizont 'Sicherung der Menschenwürde' als sonderpädagogischer Bezugsrahmen entfaltet.[213] Dies ist verfassungsrechtliche Grundlegung eine sozial relevante Kategorie, die allerdings zur übergeordneten Bestimmung und Differenzierung einer spezifischen und Profession nicht hinreicht. Letzteres wird von Bleidick dadurch erreicht, dass Sonderpädagogik eine besondere Verantwortung für das Lebens- und Bildungsrecht behinderter Menschen zugeschrieben wird: "Die Verpflichtung zu Lebensrecht und Bildungsrecht stellt den Grundduktus der behindertenpädagogischen Ethik dar."[214] Und im Begriff der Menschenwürdevereinigen sich Lebensrecht und Bildungsrecht.[215] Hier wird eine pädagogische Wendung des Ethikproblems erreicht, indem Bleidick auf das Bildungsrecht Bezug nimmt, eine sich gegenseitig reflektierende Disziplin und Profession ist hiermit allerdings noch nicht erzielt.

Auch Otto Speck formuliert zunächst in offenkundigem Anschluss an Haeberlin:

"Alles heilpädagogische Handeln ist auch wertorientiertes Handeln (...). Wenn es Hilfe zur Verwirklichung gelingenden Lebens mit einer Behinderung sein will, muß es zum einen von der praktizierten Gültigkeit gemeinsamer Werte (Tugenden) getragen sein und zum anderen von Menschen, die Beruf auch als eine persönliche sittliche Verpflichtung (Verantwortung), nicht nur als funktionelles professionales Machen, auffassen."[216]

Als allgemein gesellschaftlicher Bezugshorizont der Wertorientierung wird von Speck die Menschenwürde angegeben,[217] wobei Ethik nicht nur in den Horizont individueller Haltung, sondern auch in ein Handlungsmodell eingebettet ist, welches möglicherweise eine zu entwickelnde Professionstheorie herangezogen werden könnte. Unter der Zielstellung 'Verwirklichung gelingenden Lebens' versteht Speck Integration:

"Heilpädagogik hat eine Ethik umzusetzen, die über rein biologische Befunde hinausreicht und den Menschen um des Menschlichen wegen in seiner Kontingenz und Unzulänglichkeit akzeptiert und sein Lebensrecht sichert, und sie hat die entsprechen den Organisationen zu schaffen, um Bildung und soziale Zugehörigkeit zu verwirklichen, wo diese auf definierte individuelle und soziale Hindernisse stoßen."[218]

Dass Speck hiermit eine gesinnungsehtische Position überschreitet, zeigt sich auch in der Diskussion des Problems von Stellvertretung und Selbstbestimmung. Ethik, von Speck als Verantwortungsethik gefasst, wird explizit angesiedelt im Kontext von Intersubjektivität. Das ethische Probleme entfaltet sich von daher nicht lediglich als Haltung des Pädagogen, sondern in der Berücksichtigung beider Pole von Autonomie und Begrenzung, wenngleich Speck keine weiteren professionstheoretischen Überlegungen anschließt und statt dessen philosophische Erörterungen zum Thema der ‚inneren Gefährdung des Menschen' als anthropologisches Wesensmerkmal vornimmt.[219] Insofern stellt Speck die Ebene der Dialogizität an die Stelle institutioneller Handlungsanalysen - eine Option, die im Luhmannschen Sinne als 'Technologieersatztechnologie' zu bezeichnen wäre.

Wolfgang Jantzen an dieser Stelle zu diskutieren, ist insofern schwierig, als er weder eine spezifische Ethik pädagogischer Theorie vorsieht, noch im engeren Sinne professionstheoretische Überlegungen anstellt. Jantzens Entwurf einer materialistischen Ethik zielt auf die Perspektive einer allgemeinen Humanisierung ab, welche aus der Bestimmung menschlichen Seins zu gewinnen sei, das wiederum aus dem 'Konstitutionsprozess der Menschheit insgesamt aus dem Naturprozess' begriffen werden müsse.[220] So gesehen plädiert Jantzen explizit für den Entwurf einer 'antiinstitutionellen Ethik'.[221] Allerdings kann der Verweis auf gesellschaftliche Exklusionsprozesse (‚Isolation' in Folge von Behinderung) als Orientierungsrahmen für eine sonderpädagogische Professionstheorie genutzt werden, nicht jedoch zur näheren Bestimmung von pädagogischem Handeln als spezifische Problemstellung in funktional differenzierten Gesellschaften.

Zu den Autoren, die sich in jüngerer Zeit speziell mit ethischen Fragen innerhalb der Sonderpädagogik beschäftigt haben, gehören Hermann Siegenthaler, Dieter Gröschke und Michael Häußler,[222] die innerhalb dieser Untersuchung allerdings nur insofern Berücksichtigung finden können, als sie sich auf konstitutive Fragen der Disziplin und Profession beziehen.

Hermann Siegenthaler beispielsweise fordert, etwa. im Sinne Bleidicks, dass die Durchsetzung eines allgemeinen Lebens- und Bildungsrechts als zentrale ethische Aufgabe der Sonderpädagogik anzusehen sei:

"Kein Mensch, wie geschädigt, behindert, verzerrt und gestört uns auch erscheinen mag, darf von unserem Menschenbild ausgeschlossen sein. Wenn wir mit dieser Forderung ernst machen, müssen zunächst viele bisher als selbstverständlich erachtete Begriffe wegfallen, weil sie Behinderte ausschließen. So werden wir die Vernunftbegabung. die Sprache. das logisch-abstrakte Denken. die Welt- und Selbstgestaltung des Menschen etc. nicht mehr als Merkmale des menschlichen Wesens gelten lassen dürfen."[223]

Der Verweis auf Kategoriensysteme, die der Semantik der Disziplin zuzurechnen sind (Vernunftbegabung, Denken etc.), legt nahe, dass Siegenthaler sich auf disziplinäre Konstruktionen der Erziehungswissenschaft bezieht und plädiert, ein allgemeines anthropologisches Konzept zu entfalten, das alle potentiellen Klienten inkludiert. Dies allerdings wäre ein Appell an eine allgemeine Erziehungswissenschaft und kein zwangsläufig konstitutives Argument für eine Teildisziplin Sonderpädagogik.

Auch Gröschke sieht das Dilemma, eine spezifisch heilpädagogische Ethik zu fordern, da diese unweigerlich an sonder-anthropologische Bestimmungen anschließe:

"Eben so wenig wie für dieses pädagogische Fachgebiet eine Sonder-Anthropologie notwendig und wünschenswert ist, so wenig sinnvoll wäre eine besondere heilpädagogische Ethik des 'ganz Anderen'. In der Heilpädagogik geht es nicht um besondere Menschen, sondern um Menschen mit besonderen (beeinträchtigten) Bedingungen ihrer Entwicklung."[224]

Ethische Ableitungen sieht Gröschke aus gesellschaftlichen Exklusionsprozessen deduzierbar, also im Sinne des bereits von Haeberlin vorgelegten Modells der besonderen Stellvertretung; Gröschke spricht hier von einem "praktisch verpflichtenden Mandat" für Personen, "die wegen ihrer alters- oder behinderungsbedingten sozialen Abhängigkeit auf Beistandschaft existentiell angewiesen sind."[225] Hier scheint Gröschke ethische Überlegungen vor allem den Handlungsmodus im Professionsfeld zu beziehen,[226] der dadurch auch einen reflexionsbezogenen Horizont erhält, als heilpädagogisches Handeln an der eigenen "humanitären Gesinnung" zu messen sei - diese formuliert Gröschke als doppelte: "Hilfe zur Lebensentfaltung im Behindert sein" sowie "Hilfe bei der Eingliederung in die Gesellschaft".[227] Damit vermischen sich allerdings handlungstheoretischer Bezüge mit einer personenorientieren Verantwortungsethik. Jedoch könnte das Handlungsfeld im Anschluss an Gröschke in den Kontext der Inklusionsvermittlung gestellt und auf professionstheoretischer Ebene das Problem von Stellvertretung und Autonomie des Subjekts eingezogen werden.

Jüngst. legte Michael Häußler "Reflexionen zur Berufsethik der Heilpädagogik"[228] vor, die allerdings über bereits bekannte Positionen nicht hinausgehen, weil auch hier als normativer Rahmen von Heilpädagogik die Durchsetzung von Bildungsmöglichkeiten und allgemeiner Solidarität mit behinderten Menschen eingefordert wird; somit wäre dieses sonderpädagogisch-ethische Konzept im Rahmen des professionsbezogenen Stellvertretermodells einzuordnen.[229]

Hajo Jakobs hat inzwischen den Versuch unternommen, die Disziplin systematisch aus einem ethischen Entwurf zu entfalten, unter der Prämisse, dass Heilpädagogik als normative Wissenschaft zu begreifen sei, welche "Ziele eines 'guten' und 'richtigen Lebens' des Einzelnen wie der Gesellschaft reflektieren und sich über ethisch-moralische Fragen, sei es als Voraussetzung, sei es als Konsequenzen ihrer Theorie und Praxis, Rechenschaft geben" müsse. [230] Diesem Postulat ist in dieser Generalität zuzustimmen, jedoch scheint damit die Relevanz einer explizit sonderpädagogischen Ethik als Konstitutionselement noch nicht geklärt. Etwas unentschieden argumentiert Jakobs in seiner Grundlegung einer heilpädagogischen Ethik, welche sich auf Mitleid/Mitgefühl und Solidarität "als spezifische ethische Erscheinungsformen praktischer Intersubjektivität auf Grund der Differenz der Individuen."[231] stützen solle, ohne jedoch als "heilpädagogische 'Spezial-Ethik'"[232] Geltung zu beanspruchen. Implizit steckt hierin die Möglichkeit, eine ‚besondere Differenz' der sonderpädagogischen Klientel anzunehmen, denn mit Verweis auf die Kritische Theorie, so Jakobs, könne eine 'Rehabilitierung des empirischen Subjekts' gelingen, welches als "empfindungs- und leidensfähig, verletzbar oder beschädigt" verstanden werden müsse,[233] obgleich an anderer Stelle betont wird, Behinderung könne nicht perse mit Leiden gleichgesetzt werden.[234] Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Jakobs darin, die "Ethik des 'verallgemeinerten Anderen'" mit einer "Ethik des 'konkreten Anderen'" zu verbinden.[235] Damit folgt Jakobs einem ähnlichen Postulat wie Jantzen, welcher das Besondere als Teil des Allgemeinen verstanden wissen will und diesbezüglich den sozialen Austauschprozess in das Zentrum der Betrachtung rückt; dabei bleibt der Blick allerdings offen für erschwerte Existenzbedingungen (bei Jantzen mittels der Kategorie 'Isolation' bei Jakobs mittels der Konkretion des Anderen als potentiell Leidendem, Beschädigtem).

Auf diese Weise Hegt ein Entwurf einer sonderpädagogischen Theorie vor, die sich mit Hilfe ethischer Überlegungen fundiert, ohne dass diese dem Bereich der Professionsethik ('berufsständische Pflichten') entlehnt sind.[236]

Jakobs sieht die Bedeutung einer heilpädagogischen Ethik, die er wie gezeigt - aus dem Problemfeld der Intersubjektivität herausarbeitet, in der Fundierung pädagogischer Theorie überhaupt und trennt sie damit von professionsbezogenen Tugendkatalogen und Haltungen ab. Eine sozialwissenschaftlich orientierte Analyse institutionalisierten sonderpädagogischen Handelns wird hier weitgehend zugunsten einer philosophischen Perspektive mit auf Intersubjektivität zurückgestellt.

Zusammenfassend ergeben sich vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung folgende Problemlagen: Begreift man Ethik im Horizont einer Professionstheorie, müssen strukturtheoretische Überlegungen zu den besonderen Bedingungen pädagogischen Handelns in funktional differenzierten Gesellschaften einerseits, sowie der je spezifischen Handlungslogik andererseits angestellt werden. Der ethische Horizont umfasst dabei erstens das Problem der Stellvertretung versus Sicherung autonomer Lebenspraxis, zweitens das Problem der Vermittlung und Aneignung sowie drittens die von hier aus zu bestimmende Dimension professioneller Kompetenz vor dem Hintergrund einer Analyse der Handlungslogik. Damit wäre die ethische Dimension in eine sozialwissenschaftlich begriffene Analyse pädagogischen Handelns eingebunden und überschritte auf diese Weise berufsethische Tugendlehren, die der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zuzurechnen sind. Die Differenzierung spezifisch sonderpädagogischen Handelns ist von daher auch nicht über eine besondere Haltung (Ethik) oder einen besonderen Klientenzuschnitt (Anthropologie) allein zu gewinnen, sondern über eine spezifische Aufgabenbestimmung.

Die Untersuchung der ethischen Entwürfe der Sonderpädagogik zeigt, dass professionstheoretische Überlegungen hier erst in Ansätzen vorhanden sind. Weitgehend werden Tugendlehren (Anwaltschaft zur Sicherung von Menschenwürde, in Sonderheit Lebens- und aus dem Feld der Berufsethik in die Disziplin transportiert und von daher auch als disziplinäres Spezifikum ausgewiesen. Ethik bleibt damit Bestandteil einer Professionsethik und kann nicht auf die Ebene einer Professionstheorie formiert werden. Von daher verbleibt die ethische Perspektive auf der Person der Handelnden ('Verantwortungsethik'), ohne sie als Strukturmoment der Handlung selbst fassen zu können.

Formuliert man hingegen die Eckpunkte einer sonderpädagogischen Professionstheorie, wären die folgenden Spezifika zu berücksichtigen: Als Zielstellung müsste Inklusionsverminderung (an der Schnittstelle von Sozial- und Schulpädagogik) anvisiert sein, wobei die Problemlage von Inklusion und Exklusion gesellschaftlicher Teilsysteme zu berücksichtigen ist. Im Handlungsmodell besondere Problematik Stellvertretung versus Autonomie der Lebenspraxis auszuloten, sowie die spezifischen Bedingungen der Vermittlung unter der Perspektive möglicherweise erschwerter Aneignungsprozesse. Eine alleinige Entfaltung pädagogischer Handlung aus der Perspektive der Intersubjektivität (Jakobs) würde die gesellschaftlichen Bedingungen pädagogischen Handelns zu wenig berücksichtigen und schließlich doch wieder auf die Ebene anthropologischer Bestimmungen zurückverweisen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich weiterhin, dass ein ethischer Universalismus nicht mehr formulierbar, jedoch auch keine Klage postmoderner Beliebigkeit zulässig ist, wie sie vielfach von Sonderpädagogen vorgetragen wird, wenn eine berufsethische Ausgangslage als unzulängliche Fundierung der Disziplin reklamiert wird.

Aus diesen genannten Dimensionen ließe sich schließlich auch ein Modell für eine Neukonstitution der Disziplin Sonderpädagogik skizzieren, die erst auf dieser Basis eine grundlegende sozialwissenschaftliche Wende vollziehen würde.



[155] Vgl. Markus Müller: Denkansätze in der Heilpädagogik. Eine systematische Darstellung heilpädagogischen Denkens, Heidelberg 1991, S. 3

[156] Hajo Jakobs: Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenreflexion auf kritisch-theoretische Sich. Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 169

[157] Vgl. Jürgen Oelkers: Jenseits von Menschenbildern: Pädagogische Anthropologie, in: Anette M. Stroß/Felicitas Thiel (Hrsg.): Erziehungswissenschaft, Nachbardisziplin und Öffentlichkeit. Weinheim 1998, S. 187

[158] Lothar Wigger: Pädagogik und Ethik. Themen und Referenzen im allgemeinpädagogischen Zeitschriftendiskurs, in Stroß/Thiel 1998. S. 193

[159] Ebd.

[160] Jürgen Olekers: Pädagogische Ethik. Eine Einführung in Probleme, Paradoxien und Perspektiven, Weinheim/München 1992, S. 85, Herv. i. O.

[161] Vgl. Lothar Wigger: Die praktische Irrelevanz pädagogischer Ethik, in: Z.f.Päd. 36 (1990) 3, S. 319

[162] Oelkers 1992, S. 121

[163] Niklas Luhmann: Die ethische Reflexion der Moral (Festvortrag anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises der Landeshauptstadt Stuttgart am 23.11.1998), zitiert nach Wigger 1990, S. 310

[164] Wigger 1990, S. 319

[165] Wigger 1998

[166] Heinz Elmar Tenorth: Profession Disziplin. Bemerkungen über die krisenhafte Beziehung zwischen pädagogischer Arbeit in und Erziehungswissenschaft, in: Heiner Drerup/Ewald Terhart (Hrsg.): Erkenntnis und Gestaltung. Vom Nutzen erziehungswissenschaftlicher Forschung in praktischen Verwendungskontexten, Weinheim 1990. S. 94

[167] Vgl. Peter Vogel: Vorschlag für ein Modell erziehungswissenschaftlicher Wissensformen, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 73(1997), S. 421f.

[168] Ebd., S. 422

[169] Ebd., S. 424

[170] Ewald Terhart: Vermutungen über das Lehrerethos, in: Z.f.Päd. 22(1987)6, S. 788

[171] Bernhard Koring: Grundprobleme pädagogischer Berufstätigkeit, Bad Heilbrunn 1992, S. 102

[172] Hans-Josef Wagner: Handlung und Erziehung. Zur Grundlegung einer Handlungstheorie der Erziehung, Weinheim 1989, S. 47

[173] Wolfgang Klafki: Erziehungswissenschaft - Theorie einer Praxis, in: Ders. et al. (Hrsg.): Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft, Bd. 3, Frankfurt 1969, S. 177 Herv. i. O.

[174] Auch die Praxeologische Erziehungswissenschaft erhebt ‚Mündigkeit' zur regulativen Idee von Pädagogik: vgl. Josef Derbolav: Grundriß einer Gesamtpädagogik, Frankfurt 1987, S. 26

[175] Vgl. auch Wagner 1989, S. 68

[176] Heinz-Hermann Krüger: Entwicklungslinien und aktuelle Perspektiven einer Kritischen Erziehungswissenschaft, in: Heinz Sünker/Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt 1999, S. 175

[177] Heinz-Elmar Tenorth: Die zweite Chance. Oder: Über die Geltung von Kritikansprüchen ‚kritischer Erziehungswissenschaft', in: Sünker/Krüger 1999, S. 146

[178] Vgl. hierzu auch Siebren Miedema/Willem L. Wardekker: Pädagogik, Identität und gesellschaftlicher Wandel, in: Sünker/Krüger 1999

[179] Ebd., S. 108

[180] Hans Jürgen Gößling: Ethos und Kompetenz. Zur Begründung pädagogischer Urteilskraft im Horizont traditioneller und aktueller Vernunftkritik, Weinheim 2000, S. 39

[181] Ebd., S. 165

[182] Ebd., S. 197

[183] Vgl. Hans-Josef Wagner: Eine Theorie pädagogischer Professionalität, Weinheim 1998 Letztendlich versucht Wagner hier in Anschluss an Oevermanns pädagogischer Professionstheorie die Kluft zwischen Theorie und Praxis mit Hilfe einer Modernisierung des Herbatschen Pädagogischen Taktes (hierzu wird das Bourdieusche Habituskonzept bemüht) zu schließen.

[184] Vgl. Jörg Zirfas: Die Lehre der Ethik. Zur moralischen Begründung Pädagogischen Denkens und Handels, Weinheim 1999, S. 22

[185] Ebd., S. 80

[186] Ebd., S. 159

[187] Ebd., S. 347

[188] Bernhard Koring: Eine Theorie pädagogischen Handels. Theoretische und empirischthermeneutische Untersuchungen zur Professionalisierung der Pädagogik, Weinheim 1989, S. 33

[189] Ebd.

[190] Derbolav schlägt vor, eine pädagogische Tugendethik an einen Gegenstandsbezug zu knüpfen: "Denn der Erzieher vertritt im pädagogischen Geschäft nicht sich selber, sondern eine Sache, nämlich die Ansprüche und Aufgaben der Bildungswelt. Sie allein aber, nicht seine persönlichen Qualitäten, verleihen dem Mittlertum Gehalt und Substanz, das sonst formell und abstrakt bliebe." Derbolav 1987, S. 61

[191] Koring 1989, S. 65

[192] Dietrich Benner: Studien zur Theorie der Erziehungswissenschaft. Pädagogik als Wissenschaft, Handlungstheorie und Reformpraxis, Bd. 1, Weinheim/München 1994, S. 155f.

[193] Oelkers 1992, S. 11

[194] Vgl. Koring 1989, S. 32f.

[195] Vgl. Jochen Kade: Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen, in: Lenzen/Luhmann 1997, S. 30-70

[196] Ebd., S. 70

[197] Hiltrud Loeken: Spannungsfelder sonderpädagogischer Professionalität - Anregungen für ein Professionskonzept, in: Friedrich Albrecht/Andreas Hinz/Vera Moser (Hrsg.) Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen, Neuwied/Kriftel/Berlin 2000, S. 202

[198] Urs Haeberlin: Gesellschaftliche Entsolidarisierungsprozesse: Braucht die Heilpädagogik neue ethische Grundlagen? In: Günther Opp/Franz Peterander (Hrsg.): Focus Heilpädagogik. Projekt Zukunft, München/Basel 1996, S. 180. Obgleich in diesem Zitat von Entsolidarisierungsprozessen die Rede ist, scheint mir ein Übertrag auf das Phänomen reduzierter Autonomie zulässig.

[199] Koring 1989, S. 124

[200] Urs Haeberlin: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft, Berlin/Stuttgart/Wien 1996, S. 6, Herv. i. O.

[201] Ebd., S. 217

[202] Vgl. ebd., S. 34

[203] Vgl. ebd., S. 33

[204] Urs Haeberlin: Allgemeine Heilpädagogik, Bern/Stuttgart/Wien 1998, S. 82

[205] Emil E. Kobi: Grundfragen der Heilpädagogik. Eine Einführung in heilpädagogisches Denken, Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 83

[206] Vgl. Zwischenüberschrift in ebd., S. 73

[207] Ebd., S. 65

[208] Ebd., S. 38

[209] Vgl. ebd., Kap. 1

[210] Ulrich Bleidick jüngst in: Ders.: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 132

[211] Ebd.

[212] Ebd., S. 133

[213] Ebd., S 144f.

[214] Georg Antor/Ulrich Bleidick. Behindertenpädagogik als angewandte Ethik, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 54

[215] Ebd., S. 95

[216] Otto Speck: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung, München/Basel 1996, S.223, Herv.i.O.

[217] Vgl. ebd.

[218] Ebd., S. 161, vgl. auch S. 325

[219] Vgl. ebd., S. 163

[220] Vgl. Wolfgang Jantzen: Das Ganze muß verändert werden. Zum Verhältnis von Behinderung, Ethik und Gewalt, Berlin o.J., S. 169

[221] Vgl. ebd., S. 185

[222] Christoph Anstötz braucht für die Untersuchung ethischer Argumentationen in der Sonderpädagogik nicht zu Rate gezogen werden, weil er keine eigenen Überlegungen anstellt, sondern lediglich vorschlägt, "christlich-religiöse, marxistische, hermeneutische und rationalistische" Ethiksysteme um utilitaristische zu ergänzen. Da diese allerdings den Boden der verfassungsmäßig garantierten Lebensrechtes verlassen, werden sie hier nicht weiter diskutiert. Vgl. Christoph Anstötz: Ethik und Behinderung. Ein Beitrag zur Ethik der Sonderpädagogik aus empirisch-rationaler Perspektive, Berlin 1990

[223] Hermann Siegenthaler: Menschenbild und Heilpädagogik. Beiträge zur Heilpädagogischen Anthropologie, Luzern 1993, S. 74

[224] Dieter Gröschke. Praktische Ethik der Heilpädagogik. Individual- und sozialethische Reflexionen zu Grundfragen der Behindertenhilfe, Bad Heilbrunn 1993, S. 59, Herv. i. O.

[225] Ebd.

[226] Vgl. hierzu auch ebd., S. 62

[227] Ebd., S. 134

[228] Michael Häußler: Skepsis als heilpädagogische Haltung. Reflexionen zur Berufsethik der Heilpädagogik, Bad Heilbrunn 2000

[229] Die weiteren von Häußler ausgearbeiteten Förderungen, die als 'skeptische Positionen' gekennzeichnet werden, richten sich gegen ein "technizistisches Verständnis von Erziehung" sowie "gegen den Glauben an pädagogische Einheitsentwürfe" (vgl. ebd., S. 271). Allerding scheint Häußler hier eher gegen pädagogische Konzeptionen zu argumentieren, die als nicht mehr aktuell eingeordnet werden dürften.

[230] Jakobs 1997, S. 181

[231] Ebd., S. 235

[232] Ebd. und S. 249

[233] Ebd., S. 219. Vgl. auch den expliziten Bezug auf Behinderung im folgenden: "Der dauernde ‚Stein des Anstoßes' ist die Differenz, das Gefälle zwischen Starken und Schwachen, Privilegierten und Benachteiligten - sei es politisch-wirtschaftlich oder in der Erziehung (...), so auch zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. " Ebd., S. 241

[234] Vgl. ebd., S. 208

[235] Ebd., S. 235

[236] Vgl. ebd., S. 238

4. Das Dialogische - ein sonderpädagogisches Handlungsmodell?

Neben den bisher diskutierten sonderpädagogischen Spezifika, dem objekt-theoretischen Zuschnitt der Disziplin entlang des Behinderungsbegriffes und ihrer darüber hinaus dominant ethischen Fundierung, erscheint als gemeinsames Handlungsmodel1 innerhalb der sonderpädagogischen Kompendien das Konzept des Dialogischen: So beziehen sich fast alle gegenwärtigen Vertreter der Sonderpädagogik auf diesen Ansatz (Kobi, Haeberlin, Jantzen, Feuser, Speck). Historisch gewinnt er allerdings erst ab den 1980er Jahren an Relevanz, obgleich Haeberlin bereits im Werk Hanselmanns Grundlegungen des Dialogischen sieht.[237] Eine Tagung der Dozentinnen und Dozenten der Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern widmete sich 1987 explizit dem Thema 'Dialogische Heilpädagogik'.

So kann als weiterer gemeinsamer disziplinärer Bezug der Sonderpädagogik das Dialogische ausgemacht werden Von Interesse ist nun, ob diese konzeptionelle Ausrichtung vorwiegend die disziplinäre Semantik kennzeichnet, oder ob sich darüber hinaus auch handlungstheoretische Präzisierungen für die Praxis ableiten lassen; bietet sich für die Sonderpädagogik an dieser Stelle ein professionstheoretische Verortungen aus der Sicht einer Funktionsbestimmung und daran geknüpfter Interventionen vorzunehmen?

Das Dialogische wird im Anschluss an Buber innerhalb der Sonderpädagogik rezipiert - und soll in diesem Kapitel in dieser semantischen Tradition stehend diskutiert werden - und zwar hinsichtlich der Bedeutung des, 'Selbst-zu-Wort-Kommens' behinderter Menschen als (auch) spezieller pädagogischer Auftrag (Möckel). Das Dialogische soll über die Betonung der Subjektposition des Edukanden hinaus auch dessen Inklusion in die Gemeinschaft bekräftigen (Orientierung am Du, am Anderen) und wird 'explizit' auch für nichtsprechende Menschen als besondere Begegnungsform beschrieben. Markus Müller bezeichnet die dialogische Erziehung als 'canditio sine qua non':

"Sie jedem Menschen, unabhängig von dessen aktuellen potentiellen (Un-)Fähigkeiten zuzugestehen ist verbindliche Pflicht. Jeder Mensch gilt prinzipiell vollumfänglich als ein der personalen, Dialogischen Erziehung würdiges, bedürftiges und fähiges Subjekt."[238]

Weiterhin wird das Dialogische als Kontrapunkt zu angeblich instrumentell-technizistischen erziehungswissenschaftlichen Modellen verstanden.

Damit sind Kontext in dialogischer Pädagogik vorwiegend ethischer Umrahmungen benannt. Ob es sich dabei allerdings um mehr als eine Haltung, also um eine ethische Position handelt, die primär dem Feld der disziplinären Semantik zuzuordnen wäre oder ob hier auch handlungstheoretische Prämissen für die Praxis abzuleiten sind, welche rückwirkend auch die Disziplin konturierten, soll im folgenden untersucht werden. Zu klären ist also ob mit Konzept des Dialogischen ein Spezifikum sonderpädagogischer Handlungskompetenz entworfen wird, wenngleich Möckel bereits betont dass das Dialogische weder in noch Sonderpädagogik im besonderen kennzeichne.'[239]

Zur Untersuchung spezifisch sonderpädagogischer Handlungskompetenz gehört, etwas genauer präzisiert, die Frage, ob das Dialogische mehr ist als eine phänomenologische Bestimmung des Erziehungsverhältnisses im Sinne von Begegnung und Verstehen - oder, um es mit Tenorth zu beschreiben, als Konstruktion einer Zwischenwelt zwischen Intention und Funktion[240], denn im engeren Sinne wird das Dialogische als eine Form verstehender Begegnung von zwei Personen in Anlehnung an Buber welche aber von einer prinzipiellen Intransparenz der Personen ausgeht.

Die Dimension des 'Verstehens' als Konturierung pädagogischer Praxis produziert, wie Luhmann und Schorr zeigen, das Problem, keine weiteren handlungstheoretischen Präzisierungen zulassen zu können, denn dem dialogischen korrespondiere eine spezifische Thematisierung des Menschen, welche auf Intransparenz bestehe:

"Menschenkenntnis und Verstehen im Sinne der um 1800 anlaufenden Tradition waren an ein Zweipersonenschema gebunden gewesen, und je höhere Anforderungen man stellte, desto zwingender. Durchweg extrahiert die gültige Pädagogik ein Verhältnis von Erzieher und Zögling oder Lehrer und Schüler, die beide je sich selbst und dem andern als Mensch vorführen und verstehen können. Schon mit dieser Dyadisierung eskamotiert sie das Technologieproblem; denn dieses entsteht unter anderem gerade dadurch, daß die typische Sozialsituation der Erziehung und des Unterrichts keine Vollthematisierung der Menschen füreinander ermöglicht. Aber auch davon abgesehen: Die Sozialität der Dyade wird theoretisch nicht angemessen konstruiert, sondern sozusagen den Beteiligten selbst zum Verstehen überantwortet. Erst recht wird kein plausibles Konzept asymmetrischer Sozialität ausgearbeitet. Bei so unentwickelten begrifflichen Ressourcen entsteht kein operations- und anschlußfähiges Theoriekonzept".[241]

So gesehen enthält das dialogische Prinzip eine bestimmte anthropologische - an Sozialität im Sinne eines Verstehensprozesses - gebundene Vorstellung des Menschen, welche technologisch nicht weiter zugänglich gemacht werden darf, denn das Verstehen wird als ein nicht-instrumenteller Prozess gefasst, welcher dadurch die Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit des Menschen sichert. Die im Erziehungsverhältnis darüber hinaus existenten Dimensionen - die auch mögliche Intentionalität von Erziehungsprozessen, dem Dialogischen zuwiderlaufende Dynamiken wie auch die Asymmetrie von Erziehungsverhältnissen - und die über die Dyade hinausgehenden pädagogischen Settings in der Praxis können in einer auf Dialogik und Verstehen dimensionierten Pädagogik nicht in den Blick treten. Im Gegenteil: die Akzentuierungen durch institutionalisierte pädagogische Praxis werden gewissermaßen ausgetauscht zugunsten eines an privater Begegnung konzeptionierten sozialen Feldes.

Vor diesem Hintergrund richtet sich also die folgende Betrachtung auf das Problem, welche handlungstheoretischen Ableitungen pädagogische dialogische Konzeptionen zulassen bzw. welche Beschränkungen auf der Konstruktionsebene hiermit von vornherein verbunden sind. Kursorisch werden dabei auch die einschlägigen allgemeinpädagogischen Konzepte untersucht, hier insbesondere auch die Entwürfe der Kommunikativen Pädagogik sowie deren diskurstheoretischen Ausformulierungen. Dabei gilt es, eine mögliche professionstheoretische Weiterentwicklung des Dialogischen auszuloten, und zwar bezogen auf die Handlungsstruktur sowie auf den mitgeführten Bildungsbegriff, welche beide am Phänomen des Verstehens orientiert sind.

4.1 Dialogische Pädagogik

Konrad Fees stellt in seiner Untersuchung der Dialogischen Pädagogik zunächst fest, dass es auf der programmatischen Ebene an die historische Konzeption des Nohlschen 'Pädagogischen Bezugs' anschließt und somit der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zuzuordnen sei. Aber ebenso wie der 'Pädagogische Bezug' erweise sich das Konzept des Dialogischen als nicht weiter als operationalisiert wieder als spezifische Handlungsform noch als explizierter Bildungsgedanken, wie sich beispielsweise bei Heitger, einem der Hauptvertreter der Dialogisehen Pädagogik, pointiert zeigen läst, das dialogische Prinzip transzendental verortet:

"Wenn hier etwa die Forderung aufgestellt wird, als pädagogische Handeln sich unter dem Prinzip des Dialogischen zu bestimmen, dann wird dem Pädagogen nicht ein bestimmtes konkretes Handeln vorgeschrieben - etwa das Unterrichtsgespräch, Gruppenarbeit oder ein bestimmter Ablauf des Unterrichts. Wie der handelnde Pädagoge den Dialog führt, welche verbale oder gar nonverbale Form er wählt, auf welchem Niveau, in welcher Sozialform, das muß von ihm selbst dergestalt entschieden werden, daß er die jeweilige besondere Situation berücksichtigt - etwa das Alter seiner Schüler, ihren Wortschatz, ihr erreichtes Wissensniveau, ihre Interesse und vieles mehr. Hier werden von der wissenschaftlichen Pädagogik nicht konkrete Verhaltensnormen angeboten; vielmehr werden Grundsätze bzw. Prinzipien einer pädagogischen Haltung aufgestellt."[242]

Dieses Prinzip, welches sozusagen das eigentliche Pädagogische 'im Sinne einer offenen zwischenmenschlichen Begegnung retten will, wird als Argument gegen einen vermeintlichen Technizismus verwandt, welcher mit der sozialwissenschaftlichen Wende innerhalb der Erziehungswissenschaften eingetreten sei. Darüber hinaus wird es im Sinne einer Bildungsidee installiert, jedoch insofern unspezifisch (weil unhistorisch) bleibt, als sie lediglich gegen eine das Erzieherische bedrohende Instrumentalität gesetzt wird. So noch einmal Heitger:

'Pädagogik kann ihren Auftrag nur erfüllen, wenn sie das Du im pädagogischen Führungsprozeß als Subjekt ernst nimt, seine Geltungsbindung und damit ihre philosophische Dimension an- und aufnimmt. Das Definiert den in pädagogischen Auftrag in seiner Größe und Bescheidenheit gleichzeitig. Bildung ist ein intrapersonaler Akt. Sie kann nicht gemacht oder erzeugt werden.'[243]

Bildung wird damit als intrapersonaler Akt verstanden, der sich durch die Begegnung eröffnet, welcher aber nicht näher zu bestimmen ist - weder durch eine weitere Verortung von Bildung im gesellschaftlichen Kontext (wie z.B. in Klafkis Entwurf einer Kategorialen Bildung, welche auf Schlüsselprobleme der Gesellschaft bezogen ist), noch durch Erörterung der Bedingungen, die zum dialogischen Verstehen führen.

Damit öffnet dialogische Pädagogik eine Schere zwischen instrumenteller Verfügung durch technizistisches Erziehen versus Bildung und Selbstbildung der autonomen, zur Freiheit bestimmten Person, wobei Bildung und Selbstbildung in diesem Konzept unbestimmte Größen bleiben, weil ihnen keine bewusste Steuerung, wie beispielsweise pädagogische Intentionalität, unterlegt werden darf. Insofern wird hier Bildung zur Selbstbildung als eine nicht weiter professionalisierbare Angelegenheit konzipiert und siedelt Pädagogik eher im Privaten, im gedachten Raum tendenziell zweckfreier Begegnung an. In dieser Polarität erfasst sie allerdings nicht die Bedingungen professioneller Pädagogik in funktional differenzierten Gesellschaften: Weder findet Pädagogik nur in der dialogischen Begegnung zweier Personen (gemeint ist im wesentlichen das Erzieher-Zögling-Verhältnis) statt, noch kann Erziehung im jeweils neu gestalteten sozialen Raum verstanden werden, welcher sich jenseits gesellschaftlicher Bedingungen konstituiere. Diese Dichotomie ist jedoch zentral von Buber entworfen, der das Dialogische als "Protest gegen Verzweckung des Menschen als Objekt politischmilitärischer Machtinteressen" verstanden wissen wollte[244] - ein Impuls, der sich auch im Bereich der sonderpädagogischen Dialogik herauslesen lässt.

Das Dialogische als pädagogisches Konzept gerät nun insofern in ein Dilemma, als es einerseits Interesselosigkeit des Erziehers zur Ermöglichung von Subjektsein abverlangt, andererseits aber gegen die zeitgenössische Reformpädagogik gewendet den Bezug auf den Anderen (das Du, aber darüber hinaus auch die Gemeinschaft) explizit ins Spiel bringen wollte - dem alleinigen 'Wachsenlassen' misstraute Buber und betonte insofern auch die Dimension der Führung. Führung legitimiert sich bei Buber allerdings nicht über professionelles Wissen und Können und institutionalisierte Praktiken, sondern allein aus dem für die Pädagogik behaupteten konstitutiven Generationenverhältnis, welches bereits den pädagogischen Auftrag unhintergehbar enthalte.

Hier wird Führung auf Seiten des Erziehers vorausgesetzt, ohne dass sie benannt oder professionalisiert werden muss. Zugleich soll Führung aber auch wieder zurücktreten, um zweckfreie Begegnung überhaupt möglich zu machen.

Diese Antinomie - 'der Erzieher tut so, als täte er nicht',[245] weil er die Position der Führung bereits innehat - basiert also einerseits auf der Idee des Generationenverhältnisses als grundlegender Legitimation von Erziehung (welches damit sozusagen per se als gerecht und human begriffen wird), und der Konstruktion 'Vertrauen'. welches sich auf Intentionalitätsverzicht begründe, andererseits. Beides wird offenbar konsensuell vorausgesetzt.

Damit positioniert Buber den Erziehungsprozess absichtsvoll antiprofessionell und zwar vor dem Hintergrund einer bestimmten sozialpolitischen Auffassung:

"Buber glaubt also. das neuzeitliche Problem. daß sich die gesellschaftliche Praxis zunehmend stärker beruflich-sozial wie weltanschaulich ausdifferenziert, könne durch die Persönlichkeit des Erziehers und: den personalen Bezug zu seinem Zögling bewältigt und damit dem fortschreitenden Zerfall allgemein-\verbindlicher-Handlungsmaximen begegnet werden."[246]

Diese Handlungsmaximen sind jedoch für Buber grundlegend für jede soziale Form und damit keineswegs allein für das Erziehungsverhältnis typisch, denn sie sollen ja gerade den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Einheilt befördern. Den somit enthaltenen Aspekt der Anti-Professionalität der Buberschen dialogischen Pädagogik arbeitet auch Michael Theunissen heraus, der das Dialogische als Idee der Ausdehnung von Intimität in alle Gesellschaftsbereiche interpretiert:

"Die Mittelbarkeit der konstitutiven Fremderfahrung hat ihre Gültigkeit in einer Welt, in der ich denn anderen als jemand Bestimmten vor mir habe und meinerseits, jemand'. einer unter Anderen bin. Es ist dies die Sphäre der Öffentlichkeit und der Gesellschaftlichen Ordnung, die allen Menschen bestimmte Rollen zuteilt und als Rollenträger aufeinander bezieht. Hingegen geschieht die unmittelbare Begegnung mit dem Du in der Intimität desjenigen Mit einander seins, in dem der Eine das nie in Funktion und Rolle aufgehende Selbst des Anderen sucht."[247]

So gesehen wird das Dialogische zu einer Art Rücknahme der Folgeprobleme funktional differenzierter Gesellschaften über die Idee der allgemeinen Ausdehnung von Privatheit/Intimität.

Gegenüber diesem Verheißungswunsch, den die Pädagogik aufgreift, indem sie sich auf die konstitutive Begegnung zweier Generationen bezieht und Intentionalität, Instrumentalität und Normativität aus dem Pädagogischen zu eskamotieren sucht, hat die Kommunikative Pädagogik der 1970er Jahre diskurs- und gesprächstheoretische Überlegungen angestellt, um hieran angeschlossene handlungstheoretische Entwürfe zu knüpfen. Zielperspektive war damit auch die Beschreibbarkeit, das heißt Professionalisierung pädagogischen Handelns.

Hier wird die Ausgangslage des dialogischen so verstanden, dass Dialogik - im Gegensatz .zu Bubers Konstrukt - gerade nicht den Konsens vorausgesetzt, sondern diesen kommunikativ herzustellen sucht. Insofern, so Konrad Fees, sei Dialogische Pädagogik gerade nicht anitmodernistisch Da der 'Vorbehalt' von 'Gewißheit' als ein Merkmal der pluralistischen Moderne gilt und 'Erziehung' in der Modernen die Aufgabe zukommt, das Subjekt auf die Erörterung fragwürdiger Geltungsansprüche vorzubereiten, müßte über die Berechtigung des ,dialogischen Prinzips' in der Pädagogik Einigkeit herrschen. "[248]

In diesem Sinn hat auch Wolfgang Tischner 1985 versucht, dialogische Pädagogik diskurstheoretisch aufzuarbeiten, welche durchaus die alte, auch bei Buber aufgetretene pädagogische Antinomie von Selbstgestaltung des Subjekts einerseits und pädagogischer Führung andererseits aufnimmt:

"Erziehung im Dialog, wie sie hier verstanden wird, basiert auf der Voraussetzung, daß die menschliche Vernunft eine allgemeinsame ist, daß alle Menschen am selben und einen Logos teilhaben und daß es daher einen Sinn macht, sich gemeinsam mit anderen argumentativ darüber auseinanderzusetzen, was im konkreten Einzelfall objektiv wahr, richtig, gerecht oder gut ist. Sie gründet sich auf die Unterstellung, daß es möglich ist, eine vernünftige, u.d.h. sachlich begründete - wenn auch nur vorläufige und vorbehaltsbeladene - Antwort auf entsprechende Fragen zu finden (...). Dialogische Pädagogik bekräftigt daher das Recht des Kindes, um dessen Selbstgestaltung zur autonomen Persönlichkeit willen, auf sittliche und sachliche Führung durch den Erziehenden. (...) Erziehung, die auf die Selbstbestimmung des Edukanden zielt, wird ihn als Vernunftwesen ebenso wie als konkreten Mitmenschen zu achten haben."[249]

Tischner schlägt also vor, das Dialogische an Idee der Vernunftgemeinschaft zu koppeln: über die Begegnung hinaus wird mit der Bezugnahme auf eine gesellschaftliche Gruppe die Sinnhaftigkeit der Begegnung diskursiv zur Verfügung gestellt. Diese ist also nicht -wie noch bei Buber über die Gottesidee und das Generationsverhältnis - bereits gegeben, sondern über den Prozess des Verstehens zu erzeugen. Verstehen wird hier zu Verständigung transformiert, schleppt jedoch weiterhin die Frage nach dem Sinn mit sich herum, auch wenn dieser nun nicht mehr vorausgesetzt, sondern selbst als Aufgabe der Verständigung ausgewiesen wird.

Trotz dieses Versuchs, Dialogik handlungstheoretisch - hier mit Bezug auf die Diskurstheorie - weiterzuentwickeln, sieht jedoch insbesondere Karl Eberhard Schorr die Dimension des pädagogischen Verstehens oder der Verständigung als Aufgabe der Sinnerschließung als prinzipiell nicht einlösbares Versprechen. Verstehen, so Luhmann und Schorr, sei konstitutiv für professionelle pädagogische Praxis, aber trotz aller Anstrengungen eben nicht weiter operationalisierbar:

"Als die Pädagogik vor bald 200 Jahren begann, die anlaufende Schulerziehung für alle zu betreuen, hat sie auf Verstehen spekuliert: auf das Verstehen von Texten, auf das Verstehen der Schüler, auf das Verstehen der Lehrer. Um dies unbestreitbare Faktum des Verstehens aufarbeiten zu können, Basisoperation des Verstehens wissenschaftlich qualifizieren können - und sei es mit Begriffen wie 'Wunder' (...) oder mit Rekurs auf eine besondere pädagogische Kunstfertigkeit, die sich einer genaueren Analyse verschließt. An das Ereignis 'Verstehen' kam man gewissermaßen nicht heran, so sehr man die Kontextbedingungen solcher Ereignisse beschreiben und der Praxis verstärken konnte."[250]

Weiterhin betont Schorr, dass Verstehen immer an Sinn geknüpft sei, insofern Dialogische Pädagogik also auf ein Verständnis von Sozialität als das Verstehen des Anderen konstitutiv als menschliche Aufgabe abhebt und damit die Sinnthematik als vorfindbar im Phänomen menschlicher Existenz postuliert: "Die neue Lehrmethode empfiehlt sich als mitlebende Methode, die auf die Erzeugung individualisierender Lebensmomente in ordneten Sinnzusammenhang abstellt, dessen 'Wahrheit' in ihr (Lebensimmanenz)."[251] Sinn ist also enthalten und im Prozess des Mitlebens - wie es auch die Dialogische Pädagogik immer wieder betont - zu entschlüsseln, aber auch generieren (wenn man den Begriff der Verständigung heranzieht). Dies Surplus des Pädagogischen, welches eben ein Mehr als(möglicherweise technizistisches) Unterrichten und Beobachten ausmacht und verweist damit eindrücklich auf das theologische Erbe westeuropäischer Pädagogik. Sinn benötigt also das unverwechselbare Subjekt, auf beiden Seiten in den Erziehungsprozess eintritt: auf der des Erziehers und der des zu Erziehenden und setzt damit auch auf den Humboldtschen Bildungsgedanken (gerade der Aspekt der Selbstbildung des Erziehers jenseits professionalisierbarer Kriterien spielt in der sonderpädagogischen Dialogik eine zentrale Rolle).

Auf diese Weise garantiert das Verstehen, so Schorr, dem System Freiheit denn weder das Subjekt noch das zwischenmenschliche Verstehen sind Sinne eines technologischen Zugriffs verfügbar und prognostizierbar. "Die Schüler im Unterricht müssen nicht mehr nur auf ihr Verhalten hin beobachtet (und reguliert) werden, sie können auch als Mitproduzenten des Geschehens verstanden (als 'Einzelbewußtsein' beobachtet) werden."[252]

Damit ist die Betonung der Jenseitigkeit von Instrumentalität und Verzweckung auch für die Gewährleistung einer Dynamik innerhalb des Systems konstitutiv: Die Entfaltung und Selbstthematisierung des Subjekts entlang der Dimension des gelebten Sinns entfalten den pädagogischen Raum als offen und unbestimmt. So resümiert denn auch Oelkers: "Sinnverstehen ist eine notwendige Fiktion, auch wenn es weder Sinn noch Verstehen als einheitliche Realität geben sollte."[253]

Folgt man dieser systemtheoretischen Betrachtung, so wäre eine Professionalisierbarkeit von Dialogik und Verstehen nicht möglich, ohne den Prozess selbst und damit die Dynamik des Erziehungssystems still zu stellen, welches mit Bezug auf das menschliche Leben die Subjekthaftigkeit (d.h. Offenheit) des Einzelnen fortschreibt. Zugleich enthält die Dialogische Pädagogik die anthropologische Dimension, welche Erziehung nicht als kontingent, sondern als abgeleitet Notwendigkeit (als menschliches Bedürfnis zur Realisierung sinnhafter Existenz) konfiguriert.

Aus dieser Sicht verbietet es sich, Verstehen als operationalisierbaren 'Zugriff' zu entfalten, also handlungsstrukturell diesem Phänomen näher zu kommen - weder Sinn, noch daran geknüpftes Verstehen kann weiter bestimmt werden, wenn es als dauerhafte Aufgabe menschlicher Existenz gefasst wird.

Damit erhält die Selbstverständigung des Erziehungsgeschehens über das Verstehen vom Erziehungssystem reklamierte Zuständigkeit für das Menschliche: "Im Vergleich zu allen anderen Kulturbereichen behauptet schließlich die Erziehung als derjenige, der sich um den Menschen kümmere und darin sein Eigenrecht, seine Autonomie habe."[254]

Zusammenfassend vor diesem Hintergrund festzuhalten, dass das Dialogische nicht im Sinne handlungstheoretischer Konzeptionen konstruiert ist, sondern vielmehr einen ethischen Rahmen bestimmt,. der den Erziehungsprozess offen hält und dabei auf das genuin Menschliche verweist, das hiermit erhalten und befördert werden soll. Dabei. wird das Menschliche je schiedlich formuliert - entweder als Vernunft- (vgl. die Ansätze der Kommunikativen Pädagogik) oder als Beziehungstätigkeit (vgl. die näher an Buber angelegten Entwürfe). Gemeinsam ist ihnen jedoch der konstitutive Verweis auf Sozialität im Sinne von Verstehen oder Verständigung als von der Erziehung zu realisierende Verlängerung des Menschlichen, gefasst als Sinnerklärung.

Somit ist das Dialogische gewissermaßen im Zwischenraum von Anthropologie und Ethik angesiedelt, vermag jedoch als Handlungstheorie nicht zu fungieren, denn das Verstehen und die Verständigung müssen eher 'im Nebel' verbleiben, wollen sie nicht die Bestimmung des Menschlichen als unbestimmbar aufgeben.

4.2 Sonderpädagogische Dialogik

Am der Sonderpädagogik zeigt sich die Dematisierung des Menschlichen innerhalb ihrer dialogischen Konzepte besonders deutlich und mag von dieser Seite für die argumentative Konstitution der Disziplin wirksam sein. Es geht dabei auch hier fundamental um die Sinnstiftung über die Dialogische Begegnung, und zwar hier unter erschwerten Bedingungen - eben um die besondere Thematisierung des Menschlichen, bezogen auf das Phänomen Behinderung. Über diesen Zugang sind allerdings professionstheoretische Anknüpfungen eher versperrt; so finden sich innerhalb der sonderpädagogischen Dialogik lediglich Rahmungen des pädagogischen Arrangements als kommunikativem Raum.

Die Thematisierung der Zweckfreiheit von Pädagogik als Ausgangspunkt Dialogischer Pädagogik wird gleichermaßen von Reiser und Kobi vorgenommen. Bei Reiser heißt es: "In der unmittelbaren Erfahrung des Sich - Gegenüber -Seins, ohne sich einander Objekt zu sein, sehe ich die Chance der Befreiung der Subjekte aus der Entfremdung durch innere und äußere Herrschaft."[255]

Bei Kobi wird das Dialogische explizit der Objektivierung gegenübergestellt: "Diesen dialektischen Gegenzug bezeichne ich als, Rückbiegung zum Subjekt."[256]

Das heißt, Zweckfreiheit pädagogischer Handlung wird auch hier als Voraussetzung der Subjektwerdung gesehen und verspricht für die sonderpädagogische Klientel, ihrer postulierten eingeschränkten Subjekthaftigkeit entgegenzuwirken. Behinderung wird in Bezug auf das dialogische Beispielsweise von Jutta Vierheilig als 'verstörte Subjektivität' gefasst infolge gestörter Interaktionsprozesse:

"Akzeptiert man nun die philosophische Position Bubers, der Mensch erst durch die Beziehung zu einem Du er selbst wird, hat dies für das Gebiet der Heilpädagogik entscheidende Folgen. Entsteht Subjektivität in der Interaktion, sind Menschen mit gestörter oder verstörter Subjektivität Produkte gestörter Interaktionsprozesse."[257]

Die hier dem Dialogischen grundlegende Annahme einer 'vorbeschädigten Subjektivität' als Begründung für die dialogische Begegnung verbindet interessanterweise ganz unterschiedliche sonderpädagogische Theoriesysteme: So die an Paul Moor anknüpfenden geisteswissenschaftlichen Traditionen (Behinderung als 'innere und äußere Haltproblematik'), wie auch materialistische Ansätze (Behinderung als Ergebnis beeinträchtigter Austauschprozesse - 'Isolation'). Insofern eint das dialogische Prinzip unterschiedliche Fassungen des Behindertenbegriffes, denn auch Wolfgang Jantzen und Georg Feuser greifen das Dialogische auf, um Kommunikationsprozesse als reziprok zu entwerfen, so etwa Jantzen: "Durch reziproke Dialoge entstehen (...) Räume von Bestätigung, Vertrautheit und Sicherheit, auf deren Grundlage Neuigkeit bewältigt werden kann."[258]

Über Postulate hinaus werden hier auch konkrete Rahmenbedingungen für Dialogik benannt, wie sachliche und personelle Kontinuität, persönliche Zuwendung, Bereitschaft zum 'einfühlenden Verstehen' sowie bedingendes Konstitutiv der 'gemeinsame Gegenstand', der erst zur Begründung von Dialogik und Kooperation wird.[259]

Um den 'gemeinsamen Gegenstand' herum gruppiert auch Feuser Prozesse von Interaktion, Kommunikation und Kooperation, wobei auf unterschiedlichen Ebenen pädagogischen Handelns das selbe Prinzip angenommen wird und damit ein deutlicher Bezug zu Bubers Bestreben nach Aufhebung funktional differenziert operierender gesellschaftlicher Teilsysteme erkennbar wird; Lehrende und Lernende, Arbeiten und Lernen, Begegnung und Erziehung folgen dem gleichen Prinzip zur Realisierung des Menschlichen:

"Für die Lehr- und Lernprozesse wird (...) kooperative Tätigkeit von Lehrenden und zum Zentrum pädagogischer Praxis, in der die Verhältnisse von Lehren und Lernen zwischen allen in der Kooperation reversibel sind. Das schließt die Dialog- und Kommunikationsfähigkeit und somit auch die soziale Beziehungs- und Bindungsfähigkeit wie -möglichkeit - wiederum in gleicher Weise der Lehrenden und Lernenden - ein, außerhalb deren menschliche Existenz nicht realisiert werden kann."[260]

Auf diese Weise wird nicht nur der Raum intimer Begegnung auch in den professionellen Kontext verschoben, sondern, wie Schorr anmerkte, Pädagogik in Auslegung des Dialogischen an Sinnherstellung gekoppelt: Reiser beispielsweise verweist diesbezüglich auf die Grundidee Bubers, dass der Sinn im Zwischenmenschlichen erzeugt wird und nicht Subjekt an sich - Sinn, der sich, wie ebenfalls Jantzen und Feuser betonen, auf den gemeinsamen Gegenstand und/oder die Gruppe bezieht.

Auch Speck sieht, eher diskurstheoretisch inspiriert, im Dialogischen die Aufgabe der Klärung von Wert- und Normfragen; gehe dabei um einen 'konstruktiven Widerstreit', bezieht sich auch auf den Prozess der Verständigung.[261]

Kobi koppelt demgegenüber die (pädagogische) Ansprache an individuelle Sinnstiftung: "Unter der dialogischen (...) Frage geht es um die Daseins- und Sinnesvergewisserung des einzelnen Subjekts in der Ansprache und Rücksprache mit einem anderen Subjekt im Hier und Jetzt."[262]

Die kommunikative Verständigung über kontigenten Sinn bzw. das Verstehen wird allerdings innerhalb des sonderpädagogischen Diskurses zumeist auf zwei Seiten begrenzt: Auf der einen, indem auf Seiten des Subjekts ('Behinderung') die besondere Sinnfrage aufgegeben wird (Kobi) und nicht mehr im Prozess der Verständigung verhandelt werden muss, auf der anderen, indem der Sinn sonderpädagogischer Tätigkeit bereits vorausgesetzt wird, und zwar ähnlich wie bei Buber durch das Religiöse. Hierfür ist die Position Haeberlins, so auch die Einschätzung Jakobs' [263], einschlägig:

"Es geht um die Sinnfindung im Dialogischen; diese hat in einem gewissen Sinne immer einen 'religiösen' Kern. Es basiert nämlich auf dem nicht weiter zu beweisenden Glauben daran, daß in jedem Menschen eine Ganzheit angelegt ist, deren Entfaltung vorbestimmt ist."[264]

Und: "Der Gedanke des Erschließens von Anlagen bildet nur in Kopplung mit dem Glauben an die Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit jedes Menschen in allen Erscheinungsvariationen die Grundlage einer dialogischen und heilpädagogischen Haltung."[265]

Sonderpädagogisches Handeln ist auf damit auf zwei Seiten zur besonderen Sinnerschließung determiniert: Auf der Seite des Subjekts, welches als beschädigt konzipiert wird und von hier aus das Menschliche vor eine besondere Sinnklärung stelle, auf der anderen Seite durch die allgemeine Realisierung des Menschlichen im Sinne einer auf Verstehen und Verständigung abzielenden Dialogik. Behinderung rückt damit in den Raum des Unverstandenen und in eine besondere Position innerhalb des Menschlichen - eine Semantik, die wiederum an das christliche Erbe erinnert und die durch das Dialogische fortgeschrieben wird.

Da, wie bereits angedeutet. das Dialogische an sich nicht weiter operationalisierbar ist, will man nicht das Verstehen das Humane im Sinne einer Nicht-Verfügbar-Machung aufgeben, wird es einerseits als transzendentales Prinzip vorausgesetzt und andererseits als Tugend des Erziehers ausgewiesen, die allerdings ebenso wenig professionalisierbar ist. Vierheilig etwa spricht von der 'grundsätzlich inneren Haltung des Erziehers'[266]; Haeberlin von Einstellungen des Heilpädagogen,

"der Erziehung, Bildung, Betreuung und Therapie als Dialog mit Partnern auffä1lt; es sind Merkmale der 'Heilpädagogischen Grundhaltung'. Die drei wichtigsten Merkmale des Dialogischen Prinzips sind nach Buber die Annahme des Partners, das Vertrauen in das Potential des Partners und die Echtheit im Gespräch."[267] (...)

"Bedenkt man, daß dialogisches Leben im Sinne der 'Heilpädagogischen Haltung' als Partner nur Menschen ohne Abgrenzungshaltung kennen darf und daß jede Unterscheidung zwischen Kategorien von Menschen. z.B. zwischen Schwer-, Leicht- und Nicht-Behinderten, schon die Zerstörung des Dialogischen Prinzips bedeutet, gelangt man zur Einsicht, daß 'Heilpädagogische Haltung' eine Lebensweise ist, die im Gegensatz zu allen üblichen Bewertungen und Gepflogenheiten in unserer gesellschaftlichen Welt steht."[268]

Auf diese Weise versperrt sich die Sonderpädagogik mit dem Bezug auf das Dialogische gewissermaßen selbst den Weg zur eigenen Professionalisierung: Dialogik als eine wesentliche Bestimmung sonderpädagogischen Handelns darf die eigenen Prämissen, nämlich die dialogische Begegnung, nicht näher bestimmen, will sie sie nicht selbst wieder aufheben.

Wie bereits Luhmann und Schorr aufzeigten, kann dem Verstehen nicht näher gekommen werden, weil es sich damit der eigenen Grundlegung enthebt. Diese antiprofessionalistische Position ist weiterhin damit verbunden, dass der Bezug auf Buber prinzipiell eine Aufhebung funktional differenzierter, also intentional und aufgabenbezogener gesellschaftlicher Handlungen anstrebt. Dem verschreibt sich die Sonderpädagogik dann, wenn der Bezug auf Behinderung als das (auch) genuin Menschliche ausgewiesen wird, welche wiederum pädagogische Handlung als Realisierung des Menschlichen schlechthin nach sich ziehe.

Für die Sonderpädagogik ergibt sich aber gegenüber der Allgemeinen Pädagogik insofern eine Spezifizierung, als Behinderung als besondere menschliche Sinnfrage mit einer besonderen Notwendigkeit zur Realisierung des Menschlichen konstruiert wird und somit eine ethische Rahmung für sonderpädagogisches Handeln abgibt.

Auf der semantischen Ebene ergibt sich hier eine Ausdifferenzierung, die sich allerdings wieder dem Problem der Sonder-Anthropologien annähert.

Über diese ethische Orientierung hinaus ermöglicht dieser Zugang keine nähere Ausarbeitung pädagogischer Intentionalität, wenn gerade die Unbestimmtheit des Menschlichen zur conditio sine qua non erhoben wird. Auch die van Feuser, Jantzen und Reiser vorgeschlagenen Definitionen des Dialogischen als Kommunikation, Kooperation. oder Interaktion durchbrechen diesen Zirkel nicht prinzipiell, denn auch diese sind gewissermaßen tautologisch auf die Realisierung des Menschlichen im Menschen, in der Pädagogik und damit in der Gesellschaft hin gedacht. Auf der Ebene der Anthropologie lassen sich insofern keine konkreteren Definitionen des pädagogischen Auftrages ableiten. Funktionalität und Intentionalität wären demgegenüber aus der Analyse gesellschaftlicher Aufgaben zu entwickeln und hier ließe sich in der Tat an Jantzen anknüpfen.

Auf der bisherigen Grundlage verbleibt also das Dialogische im Kontext ethischer Bestimmungen und pädagogische Professionalität kann aus dieser Perspektive nicht mehr sein als die anzumahnende Tugend des Erziehers, wie beispielsweise Vierheilig die Selbsterziehung des Erziehers in Anlehnung an Moor herausstellt[269] oder auch Kobi auf Selbstbesinnung verweist:

Mit der für den Erzieher wichtigsten und für das erzieherische Gelingen bedeutsamsten dialogischen Frage bringt sich der Erzieher als Subjekt mit ins Spiel. Mit dieser Frage erst hebt jene Selbstbesinnung an. "Welche von allem Anfang an das erzieherische Tun und Lassen begleiten müsste und aus der heraus es sich immer wieder neu zu verstehen und rechtfertigen sucht."[270]

Die Dialogik leistet über diese Selbstverständigung hinaus für die sonderpädagogische Disziplin aber noch einen weiteren Dienst; Sie eint nämlich die unterschiedlichen wissenschaftlichen Strömungen, die, ob geisteswissenschaftlich oder materialistisch geprägt, ein transzendentales Prinzip, nämlich die Realisierung des Menschlichen über Begegnung postulieren und dabei Sonderpädagogik als zutiefst menschliche Aufgabe ausweisen, die, wie gezeigt, sich gerade der Professionalisierung versperren muss, will sie diese Aufgabe nicht verfehlen.

Damit lässt sich festhalten, dass die Dialogik für die sonderpädagogische Disziplin dadurch konstitutiv wird, dass sie insbesondere die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung, deren Subjektivität als beschädigt verstanden wird, zum dialogischen Spannungsfeld erklärt, auf die sich die Sonderpädagogik im Sinne einer 'Ganzwerdung' zu beziehen habe.

Die Strukturierung dieser Beziehung jedoch darf mit dem Bezug auf Verstehen nicht weiter operationalisiert werden, weil es der Fassung des Menschlichen als unbestimmt offen und nicht-objektivierbar widerspricht. Damit ist sie auf Dauer angelegt und muss demnach unbestimmt und, wie Luhmann/Schorr schreiben, begrifflich unterentwickelt bleiben. Auch ihr Gelingen, also ihre Wirkung. bleibt ebenso unbestimmt. Insofern schließen sich handlungstheoretische Explikationen. die dem Prinzip der dialogischen Pädagogik korrespondieren, aus. wenn sie darauf abzielen, über die Benennung von Rahmenbedingungen hinaus dem Verstehen methodologisch näher zu kommen.

Das Dialogische ist also eine - auch für die Sonderpädagogik - spezifische Handlungsdimensionierung zwischen Anthropologie und Ethik - die für die disziplinäre Semantik besondere Wirkung entfaltet, auf der Ebene der Funktionsbestimmung und Intentionalität im Sinne praktischer Handlung jedoch weniger ertragreich zu sein scheint.



[237] Vgl. Urs bei Haberlin: Das dialogische bei Heinrich Hanselmann, in: Gerd Iben (Hrsg.): Dialogische Heilpädagogik. Grundlagen und Heilpädagogische Praxis, o.0. 1996a, S. 206-213

[238] Markus Müller: Denkansätze in der Heilpädagogik. Eine systematische Darstellung heilpädagogischen Denkens, Heidelberg 1991, S. 212

[239] "Pädagogen und Heilpädagogen, und zwar nicht nur die professionellen, haben zu erkläre, daß behinderte Kinder so gut wie alle anderen 'bei ihrem Namen gerufen' sind. Wir müssen sie bei ihrem Namen rufen, damit sie zu uns gehören. Weil sie zu uns gehören, müssen wir uns ihnen öffnen und uns wandeln. Dazu gehört, daß die Pädagogik von allen idealistischen Konzepten der Erziehung Abschied nimmt und sich ändert; denn auch die behinderten Kinder haben einen Mund und fordern unsere Solidarität. Es kann daher nicht der wissenschaftliche Zweifel Grundlage der Pädagogik und der Sonderpädagogik sein. Am Anfang steht vielmehr der Eintritt in einen schon bestehenden menschlichen Lebenszusammenhang. (...) Diese Grundlage läßt erkennen, daß Pädagogik und Sonderpädagogik Teile eines weltweiten Friedensdienstes sind,dessen äußerer Horizont der Planet Erde ist und dessen Richtung auf die Zukunft hin davon bestimmt ist, daß wir bereit sind, neue Formen des Zusammenlebens zu suchen und zu verwirklichen, von denen vielfältigen Formen der Integration behinderter Kinder ein Teil sind." Andreas Möckel: Die Ursprünge des dialogischen Prinzips Martin Buber, Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy, in: Iben 1996, S. 20, Herv. V.M.

[240] Vgl. Heinz-Elmar Thenorth: Intention - Funktion -zwischenreich. Probleme von Unterscheidungen, in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt 1992, S. 194-217

[241] Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt 1988, S. 179

[242] Marian Heitger: Beiträge zu einer Pädagogik des Dialogs. Eine Eiführung, Wien 1983. S. 16, Herv. V.M.

[243] Ebd., S. 134

[244] Herwart Kemper: Erziehung Dialog., Weinheim/München 1990, S. 145

[245] Vgl. ebd., S. 153

[246] Ebd., S. 164

[247] Michael Theunissen: Der Andere, Berlin/New York 1977, S. 491 f., Herv. i. O.

[248] Fees: Dialogisches Prinzip und Erziehung. Anfragen an den Dialogbegriff in der Pädagogik, in: Thorsten Bürlin/Christoph von Wolzogen (Hrsg.): Gegenwendiges Denken. Metaphysiche Fragen zwischen Philosophie und Pädagogik, Hildesheim/Zürich/New York 199, S 205

[249] Wolfgang Tischner: Der Dialog als grundlegendes Prinzip der Erziehung, Frankfurt/Bern/New York 1985, S. 195

[250] Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt 1986, Einleitung S. 8

[251] Karl Eberhard Schorr: Das Verstehensdefizit der Erziehung und die Pädagogik, in Luhmann/Schorr 1986, S. 15, Herv. i. O.

[252] Ebd., S. 24f.

[253] Jürgen Oelkers: Verstehen als Bildungsziel, in: Luhmann//Schorr 1986. S. 186

[254] Luhmann/Schorr 1988, S. 179

[255] Helmut Reiser: Dialog im Gruppenprozeß - Zur Vermittlung dialogischer Philosophie und Pädagogischer Praxis, in: Iben 1996, S. 23

[256] Emil E. Kobi: Grundfragen der Heilpädagogik. Eine Einführung in heilpädagogisches Denken, Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 423

[257] Jutta Vierheilig: Dialogik als Erziehungsprinzip, in: Jutta Vierheilig/Willehad Landwerkopperlin: Martin Buber: Anachronismus oder neue Chance für die Pädagogik? Butzbach 1996, S. 61

[258] Wolfgang Jantzen: Allgemeine Behindertenpädagogik, Bd. 2. Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie, Weinheim/Basel 1990, S. 213

[259] Vgl. ebd., S.215ff.

[260] Georg Feuser: Behinderte Kinder und Jugendliche: Zwischen Integration und Aussonderung, Darmstadt 1995, S. 183

[261] Vgl. Otto Speck: System Heilpädagogik. Eine ökologisch refexive Grundlegung. München/Basel 1996, S. 319

[262] Kobi 1993, S. 414

[263] "Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität der spätkapitalistischen Marktwirtschaft mit ihrer utilitaristischen, 'Ökonomie des Glücks' steht die bei Haberlin (wie schon bei Hanselmann und Moor) rein religiös begründete und lediglich auf die abendländische Religionen bezogene 'Tradition der personalen Menschenbilder' und der, Utopie des Dialogischen." Hajo Jakobs: Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenreflexion aus kritisch-theoretischer Sicht/Bern/Stuttgart/Wien 1977, S. 128

[264] Urs Haberlein: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Bern/Stuttgart/Wien 1996b. S. 67

[265] Edb., S. 315

[266] Vgl. Vierheilig 1996, S. 34

[267] Haeberlin 1996b, S. 37

[268] Ebd., S. 40

[269] Vgl. Vierheilig 1996, S. 52

[270] Kobi 1993, S. 424

5. Erziehung und Bildung in der sonderpädagogischen Theologie

Nach dem bisher Dargelegten wurde die sonderpädagogische Theoriebildung entlang des Behinderungsbegriffes, seinen hier angelegten (berufs)ethischen Implikationen und einem eher unterentwickelten Professionsmodell ausformuliert. Konturierungen, die für die Allgemeine Erziehungswissenschaft kennzeichnend sind natürlich der Erziehungs- und Bildungsbegriff - wurden bislang noch nicht ausführlich thematisiert. Dies soll im Folgenden genauer dargestellt und für die sonderpädagogische Theorie hinsichtlich ihrer konstitutivcn Strukturbildung untersucht werden.

Zunächst ist für die Sonderpädagogik festzuhalten, dass aufgrund bereits dargelegter Konstituentien gewisse Vorentscheidungen hinsichtlich eines Erziehungs- und Bildungsverständnisses nahe liegen:

Erstens ist ein sozialles Erziehungs- und Bildungsverständnis auf anthropologische Einsichten verwiesen - im Falle der Sonderpädagogik hat also die Präferierung eines besonderen Klientenzuschnittes ('Behinderte') möglicherweise Folgen für die Thematisierung von Bildung und Erziehung.

Der Bildungsbegriff hat in seiner Humboldtschen Tradition für die Konstruktion eines autonomen sittlichen Subjekts die Perspektive der 'Freiheit' / Autonomie notwendig im Blick. Heydorn gar formulierte, dass Bildung Erziehung zu überwinden habe, um ein freies Subjekt postulieren zu können: "Erziehung soll obsolet Bildung Wirklichkeit werden".[271] Dementsprechend wäre zu fragen, ob die gefasste eingeschränkte Autonomie der sonderpädagogischen Klientel, die ja geradezu zum Ausgangspunkt sonderpädagogischer Intervention erhoben würde (vgl.die Konstrukte 'Seelenschwäche' bei Hanselmann. 'Haltschwäche' bei Moor, 'eingeschränkte Bildsamkeit' bei Bleidick oder "beschädigte Identität" bei Thimm usw.), nicht explizit dem klassischen Bildungsbegriff entgegensteht. Auch legen die bislang angestellten Überlegungen den Schluss nahe, dass der Erziehungsbegriff gegenüber dem Bildungsbegriff in der Sonderpädagogik präferiert wird, denn innerhalb professionsbezogener Konzepte (auch die der Bildungseinrichtung 'Hilfsschule') wird traditionell eher auf Erziehung abgestellt.

Von daher wäre als erste These zu formulieren, dass der Erziehungsbegriff gegenüber dem Bildungsbegriff innerhalb der sonderpädagogischen Theoriebildung der dominante ist. (Dies wäre eine signifikante Besonderheit, da die Semantik der Allgemeinen Pädagogik, wie weiter oben angedeutet, durch den Bildungsbegriff bestimmt ist.) Insofern bezieht sich der erste Teil der folgenden Untersuchung auf die Fassung des Erziehungsbegriffes und seiner sonderpädagogischen Ausformulierungen - auch hinsichtlich impliziter anthropologischer Vorentscheidungen.

Zweitens - und dies steht in einem gewissen Widerspruch zur ersten These - scheint der sonderpädagogische Bildungsgedanke auf den Aspekt der Unbestimmtheit der Klientel und der Nicht-Instrumentalität sonderpädagogischen Handelns abzuzielen. Dies konnte im Bereich der Dialogizität als sonderpädagogisches Handlungsmodell gezeigt werden. Systematisch wäre also der Frage nachzugehen, inwiefern Sonderpädagogik als Disziplin über einen explizierten Bildungsbegriff verfügt und ob sich dieser im Widerspruch zu dem am Handeln selbst orientierten sonderpädagogischen Erziehungsverständnis befindet.

5.1 Sonderpädagogik und Erziehung

Zunächst soll eine Definition von 'Erziehung' vorgenommen werden, und zwar angelehnt an Entwürfe, die aktuell in der Allgemeinen Pädagogik vorgelegt werden. Dabei geht es nicht mehr um die Frage, 'ob und inwiefern Erziehung überhaupt möglich ist', also um Verifikationsmodelle, in welchen Postulate und Wirkungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, sondern um konzeptionelle Vorstellungen von Erziehung überhaupt. Diese sind in der Tat historischem Wandel unterworfen - wir sind also keineswegs mehr in der glücklichen Lage Schleiermachers, der noch 1826 feststellen konnte, dass das, "was man im allgemeinen unter Erziehung versteht, [...] als bekannt vorauszusetzen" sei.'[272]

Für eine Untersuchung des aktuellen Erziehungsdiskurses lassen sich zwei Perspektiven einnehmen: Erstens die der wissenschaftlichen Selbstreflexion und zweitens die der Beobachtung der Semantik des Erziehungssystems. Für die zweite, systemtheoretisch inspirierte Perspektive, lässt sich allerdings nur in Anschlag bringen, dass der Erziehungsbegriff im Sinne einer Kontingenzformel als historischer Vorläufer des Bildungsbegriffes anzusehen sei: Der Erziehungsbegriff, so Luhmann/Schorr, war eng verknüpft mit dem aufklärungspädagogischen Diktum der Perfektibilität und habe weder institutionalisierte Erziehung noch Pädagogik als Wissenschaft mit fassen können. Diesen wissenschaftlichen 'take-off' habe erst der Bildungsbegriff leisten können - und zwar in der doppelten Bezugnahme auf den Aspekt der Individualisierung hin durch systematische Pädagogik sowie den der Verwissenschaftlichung des Weltverhätnisses als solchem.[273] Aber analog zum Bildungsbegriff betont Winkler, dass auch Erziehung eine spezifische Sinnvermittlung herstelle, und zwar zwischen Subjekt und Gesellschaft - inter- und intrasubjektiv, als eine "Art infrastruktureller Bedingung moderner Gesellschaften".[274]

Insofern kann von einer semantisehen Ablösung von Erziehung hin zu Bildung nicht radikal gesprochen werden. Vielmehr, so scheint es, werden die mit dem Bildungsbegriff assoziierten Ideen zunehmend auch dem Erziehungsbegriff zugesprochen.

Auf der Ebene der Selbstreflexion der Erziehungswissenschaft ist zunächst zu beobachten, dass es sich bei dem Erziehungsbegriff gegenüber der aktuellen Konjunktur des Bildungsdiskurses um einen eher stiefmütterlich behandelten Terminus handelt, der sich aus der Diskussion der 1970er Jahre, in welchem er mit Herrschaft assoziiert heftig debattiert wurde (vgl. u.a. Heydorn, Mollenhauer, A. Schäfer[275] u.a.), wenig erholt hat.[276] Sollte er vor dreißig Jahren noch durch den Begriff der Sozialisation ersetzt oder zumindest ergänzt werden (wobei Erziehungs- und Sozialisationsbegriff systematisch durch Intentionalität versus Einschluss auch unerwünschter Folgen abgegrenzt werden), wird heute (erneut) der Lernbegriff (vgl. Giesecke in seinem Postulat vom ,Ende der Erziehung') favorisiert, um die autonome Seite des Subjekts zu sichern. Michael Winkler konstatiert für die gegenwärtige Begriffsbestimmung folgendes: Während die Erziehungstheoretiker

"zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestützt auf die pädagogische Reformbewegung noch eine 'gemeinsame Idee' als das 'eigentliche Geheimnis und den Sinn des erzieherischen Willens' (Nohl) für verbindlich hielten und einen pädagogischen Grundgedanken' (Flitner) voraussetzen, halten sie heute den Begriff der Erziehung für revisionsbedürftig' (Mollenhauer) oder verwerfen ihn ganz. Erziehungswissenschaft befaßt sich eher mit Pathologien des Erziehens oder richtet ihre Aufmerksamkeit auf die pädagogischen Institutionen. Daher zieht sie die Begriffe 'pädagogisches Handeln', 'Interaktion', 'Unterricht', 'Sozialisation', zuweilen auch schon 'Information' vor. Zugleich gewinnt der Begriff der 'Bildung' neue Akzeptanz, der noch Ende der sechziger Jahre als konservativ und idealistisch galt, nun aber aus der Aporie des Erziehungsbegriffs herausführen soll. Mündigkeit zu versprechen, ohne sie selbst schon verwirklichen zu können."[277]

Gieseckes - wohl gegenwärtig pointierteste - Kritik am Erziehungsbegriff bezieht sich zunächst auf den normativen Zuschnitt von Erziehung, welcher aber in pluralen Wertesystemen unbestimmbar geworden sei. Der Begriff der Erziehung enthalte "normative Intentionen oder zumindest Implikationen (...), die beliebig geworden sind."[278] Erziehung - so auch die allgemeine Kritik der Disziplin - erscheine als Synonym für die unreflektierte Enkulturation in ein bestimmtes Normensystem. Dies ist offensichtlich mit der Diagnose 'plurale Gesellschaft' unverträglich, daher werden nunmehr einem 'Erziehung zu' die Begriffe 'Aneignung' und 'Vermittlung' oder eben 'Lernen' (Giesecke) gegenübergestellt. Das Problem der Normativität wird dabei mit Diskursivität und Kommunikation bearbeitet - so schlägt beispielsweise Arnold Schäfer vor:

"Was aus den jungen Menschen werden soll. muß im kommunikativen Austausch mit ihnen und im öffentlichen Diskurs der für die Erziehung Verantwortlichen legitimiert werden. Kommunikative Vernunft ist die Prüfungsinstanz für den Geltungsanspruch erzieherischer Normen."[279]

Auch Erich Weber präferiert das Modell einer dialogischen Erziehung, welche "zwangsfreie praktische Diskurse nicht nur zulässt, sondern auch zu fördern versucht, orientiert an der Leitvorstellung kommunikativer Verständigung."[280]

Diskursive und kommunikative Vermittlung bezieht sich dabei auf den Sachverhalt, dass Menschen in eine "geschichtliche, gesellschaftlich determinierte, vor allem aber kulturell kodierte Welt hineingeboren [werden, V.M.), die sich nicht unmittelbar selbst expliziert."[281] Zugleich soll aber das seit Kant diskutierte Heteronomie-Autonomie-Dilemma mit Hilfe von Kommunikation bearbeitet werden: Erziehung soll nicht nur erklären und einführen, sondern sich zugleich immer auch schon selbst überschreiten.

Damit ist bereits ein zweiter Aspekt des pädagogischen Erziehungsdiskurses angesprochen - den der Beschließung von Erziehung durch den Status der Mündigkeit. Erziehung ist in dieser Hinsicht seit Schleiermacher ein notwendiges Durchgangsstadium. Noch einmal Erich Weber:

"Eine freiheitliche, an Mündigkeit interessierte Erziehung ist vielmehr als eine durch anregende und fördernde Lernhilfe zu provozierende und zu stimulierende 'Hervorbringung' zu interpretieren und zwar als Unterstützung der Selbsthervorbringung und Selbstformung des individuellen Subjekts. Eine derart konzipierte und realisierte Erziehung ist die optimale Voraussetzung für eine lebenslange Selbst-Bildung."[282]

Undda Mündigkeit die Nähe zu Kant bereits vorgibt, verwendet auch der aktuelle Diskurs die Kantische Formel - hier z.B. Apel: "Das Ziel der Erziehung ist Mündigkeit. die Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Vormünder zu bedienen, 'die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen'."[283] Auf diese Weise ist allerdings kein systematischer Unterschied zu Bildung mehr markiert - noch ist der von Luhmann/Schorr angemerkte Bezugspunkt von Erziehung auf private Kontexte zugunsten eines Programms professionalisierter öffentlicher Erziehung aufgehoben - Mündigkeitserziehung mag es hier wie dort geben.

Der zweite. von Giesecke vorgetragene Kritikpunkt am Erziehungsbegriff, dass dieser nämlich gerade auf Kollektivität statt auf Individualität abziele, geht in dieser systematischen Unschärfe des Erziehungs- zum Bildungsbegriff allerdings auch fehl."[284]

Als drittes Argument schließlich führt Giesecke an, dass Erziehung prinzipiell auf Ganzheitlichkeit abziele, diese Perspektive aber gerade einer Professionalisierbarkeit im Wege stehe. Pädagogisches Handeln sei von hier aus nicht näher spezifizierbar[285] Dem hält Benner allerdings zu Recht entgegen, dass weder der Erziehungs- noch der Bildungsbegriff empirisch abgrenzbare Sachverhalte, sondern lediglich als "Gegenstände theoretischer Pädagogik ausgewiesen"[286] seien.

Zur Vervollständigung des gegenwärtigen pädagogischen Diskurses um den Erziehungsbegriff sei abschließend vermerkt, dass dieser von den meisten Autorlnnen als konstituiert durch das Generationenverhältnis gesehen wird und dass Erziehung nur als konkrete face-to-face-Interaktion realisierbar sei. Auch scheint sich zunehmend die Akzentuierung von individueller Mündigkeit hin zu einem Anerkennungsparadigma zu verschieben[287] (diese Wendung schlägt allerdings der Bildungsdiskurs ebenfalls ein).

Demzufolge ist zusammenfassend Mannschatz insofern zuzustimmen, als er den Erziehungsdiskurs allgemein im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung, Generationenfolge und Gesellschaftszustand verortet."[288]

Dieser Einblick in die aktuelle Debatte um Erziehung als pädagogische Leitkategorie lasst folgendes resümieren:

Erstens ist eine systematische Abgrenzung des Bildungs- vom Erziehungsbegriff unklar. Vielmehr scheint es sich bei den gegenwärtigen Definitionen um eine Aufladung des Erziehungsbegriffes mit traditionell dem Bildungsbegriff zugerechneten Komponenten zu handeln (Autonomie und Mündigkeit - und inzwischen auch Intersubjektivität). Das alte Kantische Dilemma ('Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?') bleibt auch hier ungelöst, wenngleich mit dem Insistieren auf Diskursivität eine Problembearbeitung nahegelegt wird.

Zweitens ist im Erziehungsbegriff eine anthropologische Komponente insofern enthalten, als sie auf ein mündiges bzw. ein auf Anerkennung bezogenes Subjekt abzielt.

Drittens scheint ontogenetisch wie wissenschaftshistorisch eine gewisse zeitliche Abfolge von Erziehung und Bildung angedacht zu sein, die aber darüber hinaus wenig systematische Trennschärfe aufweist.

Viertens schließlich scheint der Erziehungsbegriff pädagogisches Handeln in notwendigen face-to-face-Interaktionen abzusichern (dies lässt sich mit dem Bildungsbegriff, der Bildung auch auf mediale Weise vermittel- und aneigenbar betrachtet. nicht erreichen).

Für die Untersuchung der Sonderpädagogik hinsichtlich ihrer disziplinären Orientierung auf den Erziehungsbegriff hin bleibt festzustellen, dass dieser offenbar kaum in einer qualitativen Differenz zum Bildungsbegriff formuliert sein kann. Dennoch spielt der Aspekt der Mündigkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn. - wie gezeigt - kommt auch der Erziehungsbegriff nicht ohne die Perspektive auf 'Mündigkeit' aus, oder pointierter formuliert: dauerhafte Erziehungsbedürftigkeit im Sinne dauerhafter Unmündigkeit ist hier nicht vorgesehen. Anschlussmöglichkeiten wären allerdings da gegeben, wo der anthropologische Aspekt der Intersubjektivität in den Vordergrund rückt und eine dauerhafte Erziehung ('Pädagogisierung') nicht mehr schlichtweg ausgeschlossen ist.

Der sonderpädagogische Erziehungsdiskurs weist gegenüber dem allgemeinen eigene Charakteristika auf, wobei das Thema der Mündigkeit nicht explizit thematisiert ist. Die Seite der eingeschränkten Mündigkeit gerät eher durch die Hintertür in den Diskussionszusammenhang, und zwar dort, wo eine sonderpädagogische Differenzierung eines allgemeinen Erziehungsbegriffs vorgeschlagen wird. Diese Differenzierung geschieht zunächst nicht auf der Ebene der Methodologie oder der Zielbestimmung, sondern (erneut) auf der Ebene der Klientel. Michael Winkler belonte bereits, dass der Erziehungsbegriff aus zwei Seilen bestehe - der der Vermittlung und der der Aneignung, und insofern auf der Aneignungsseite das Subjekt ins Spiel gebracht werden könne in seiner spezifischen Eigenheit, im Modus der "individuellen Verfaßtheit des Zöglings (....); diese zeigt sich prinzipiell höchst verschieden auch in Gestalten etwa der Behinderung, des Autismus oder entwicklungsbedingter Blockaden." [289] Allerdings wird die angedachte Individualisierung kaum weiter differenziert, sondern bleibt in der klassischen sonderpädagogischen Version pauschal als allgemeine Beeinträchtigung des Erziehungsprozesses infolge von Behinderung stecken.

Diese Position war bereits bei Bleidick im Konstrukt der 'Behinderung als interventerende Variable im Erziehungs- und Bildungsprozess' angelegt und gilt auch bei den anderen gegenwärtigen klassischen sonderpädagogischen Theoretikern als Ausgangspunkt - ist insofern auch Kernbestand der Erziehungsdefinition im 1999 publizierten 'Wörterbuch Heilpädagogik':

Erziehung gebe Anstöße, "die jedoch immer sorgfältig auf die individuellen Lernvoraussetzungen des Kindes abgestimmt sein müssen."[290]

Heinz Bach bringt die Subjektseite am Fall schwerster Behinderung als Markierung einer besonderen Erziehung explizit ins Spiel:

"Erziehung läßt schwerste Behinderung nicht auf sich beruhen - bei aller Anerkennung des Eigenwertes solcher Lebensform. Erziehung führt zwar auf Bejahung des So-Seins, will jedoch - das ist ihre Grundverheißung - ein differenziertes So-sein eröffnen."[291]

In ähnlicher Weise argumentieren auch Haeberlin und Kobi, wobei Kobi auf das besondere Beziehungsverhältnis im heilpädagogischen Erziehungsprozess abhebt, aber grundsätzlich von "Problemen der Erziehung und Bildung in menschlichen Beziehungs- und Lebensverhältnissen" ausgeht, "welche durch Behinderung eine Beeinträchtigung erfahren."[292]

Gleichwohl ist die Gefahr der Anthropologisierung dieser Differenzierung des Erziehungsbegriffs auf der Subjektseite den Autoren deutlich - insofern rücken Haeberlin und auch Speck von der Bleidickschen Vorgabe (der nach 1999 von "Erziehung der Behinderten" spricht und Erziehung und Bildung als "Anwendungsfeld der anthropologischen Einsicht in die Beschränkung des Menschen" sieht[293]) ab und versuchen ansatzweise die Modifikation auf der Handlungsebene:

"Sehr allgemein läßt sich der spezielle Aspekt. unter welchem die Teilpädagogik Erziehung analysiert. als die erzieherische und therapeutische Hilfe für Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene) umschreiben, welche als Folge einer Schädigung und/oder einer problematischen Sozial- und Beziehungssituation in der Entwicklung zur Selbstbestimmung und zur Gesellschaftsfähigkeit beeinträchtigt sind. (...) Das 'Objekt' (der 'Gegenstand') der Theorie ist in diesem Fall die erzieherische und therapeutische Hilfe für Kinder und Jugendliche in erschwerenden Sozial- und Beziehungssituationen."[294]

Hier bezieht Haeberlin also nicht die weitere theoretische Differenz auf das Subjekt, sondern auf die Erziehungs-Hilfen. Analog dazu auch Speck, der in seiner Definition 'spezieller Erziehung' auf besondere Akzentsetzungen des Erziehungsprozesses verweist:

"Das Spezielle an ihr ist lediglich ein besonderer Aspekt, unter den Erziehung tritt, wenn auf Grund einer Funktionseinschränkung oder einer Entwicklungsstörung, d.h. wegen bestimmter Erziehungs- und Lernprobleme, spezielle Erziehungserfordernisse gegeben oder angezeigt werden. Er kann die Vorbeugung. die Unterstützung oder die Kompensation betreffen."[295]

Ohne erneut die Frage aufzuwerfen, ob 'spezielle' oder 'besondere Erziehungserfordernisse' nicht prinzipiell auch anthropologische Vorentscheidungen beinhalten, ist hier der Versuch unternommen, diese nicht zum primären Differenzmerkmal sonderpädagogischer Theoriebildung - hier entlang des Erziehungsbegriffes - zu erheben.

Damit lässt sich zunächst festhalten, dass zwar anthropologische Konnotationen in die Bestimmung eines sonderpädagogischen Erziehungsbegriffes (und zwar implizit als eingeschränkte Mündigkeit) einfließen, dieser aber nicht prinzipiell von einem allgemeinen Erziehungsbegriff unterschieden sein soll (mit Ausnahme des Bleidickschen Konzepts). Die etwas halbherzigen, weil nicht weiter ausgeführten Vorschlage von Speck und Haeberlin hingegen, die Methodenseite zum sonderpädagogischen Differenzmodell zu erheben, verbleiben allerdings eher auf der Ebene des Postulats (dies konnte auch schon entlang des Behinderungsbegriffes beider Autoren gezeigt werden).

Lautete das Erziehungsziel (etwas unentschieden zum Bildungsziel) in den Entwürfen der Allgemeinen Pädagogik Erziehung zu Selbstbestimmung, Mündigkeit oder neuerdings auch Intersubjektivität, so differiert der klassische sonderpädagogische Entwurf dahingehend, als hier zunächst 'Sinnstiftung' und 'Sinnvermittlung' angesetzt werden: Nicht nur Wolfgang Jantzen sieht aus der Perspektive der Tätigkeitstheorie hier einen Schwerpunkt von Erziehung ("Der Prozeß der Erziehung zielt (...) auf die Realisierung und Herausbildung der Fähigkeit zur Sinnentwicklung und Sinnverwirklichung in der menschlichen Tätigkeit als sozialer Tätigkeit, d.h. auf die Entwicklung humaner Beziehungen zu sich selbst, zu den Menschen und zur Natur" [296]), auch Wilhelm Pfeffer formuliert diese Position mit Blick auf die Schwerstbehindertenpädagogik:

"Erziehung als Befähigung zum Erleben und Gestalten seiner selbst erhält (...) die Aufgabe. durch das Angebot einer adäquaten menschlichen und dinglichen 'Welt' dem Menschen mit schwerer geistiger Behinderung die Erfahrung zu ermöglichen, im Wellbezug sich selbst gewahr zu werden als auf die Welt bezogenes, den Leib ständig überschreitendes Subjekt."[297]

Mit Hilfe der bei Pfeffer anklingenden phänomenotogischen Grundlegung seiner Position, ist in der Formulierung eines sonderpädagogischen Erziehungsbegriffes mit der Zielrichtung auf Sinnstiftung auch der Aspekt der Intersubjektivität angedacht. Auf diesen Sachverhalt weist Pfeffer noch einmal ausdrücklich hin und kennzeichnet das Thema der Intersubjektivität als ein besonders dringliches innerhalb der Schwerstbehindertenpädagogik.[298]

In ähnlicher Weise definiert auch Feuser das Ziel von Erziehung - ohne dabei allerdings einen sonderpädagogischen Erziehungsbegriff entwerfen zu wollen: "Erziehung meint die Ausbildung des Bedürfnisses des Menschen nach dem Menschen und auf dieser Basis die Strukturierung der Tätigkeit des Menschen mit dem Ziel größter Realitätskontrolle."[299] Diese Dimension enthält auch das von Jantzen referierte Verständnis menschlicher Tätigkeit.

Entlang dieser Ansätze hat inzwischen Hajo Jakobs den wohl differenziertesten sonderpädagogischen Theorieentwurf aus dem Problemfeld der Intersubjektivität heraus entwickelt. Unter Verzicht auf eine besondere Anthropologie auf der einen Seite und dem schlichten Ziel gesellschaftlicher Einordnung auf der anderen verortet Jakobs den Komplex 'Erziehung' gerade dazwischen:

"Ziel der Erziehung ist und bleibt letztlich - wie auch immer begründet oder verbrämt - die Ein· und Anpassung der nachwachsenden Generation in das gesellschaftlich sanktionierte Normen- und Rollengefüge - bzw. positiver ausgedruckt: die Vermittlung von individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen vom Glücksanspruch des Individuums und den materiellen sozialen Gegebenheiten. In der Heilpädagogik wird dieses Problem noch verschärft durch die reduzierten Lebensbedingungen behinderter Menschen sowie ich reduziertes Leistungsvermögen, zur gesellschaftlichen Produktion beizutragen."[300]

Intersubjektivität, also das Problem der Anerkennung, verlagert Jakobs - ähnlich wie Feuser und Jantzen - nicht nur in den Bereich Ideeller, sondern auch materieller Bezüge und gewinnt auf diese Weise einen sehr umfassenden Begriff von Erziehung zu Intersubjektivität. Von hier aus, so Jakobs, seien klassische anthropologische oder personenorientierte Positionen zu überwinden, die u.U. auch am Mündigkeitstheorm orientiert seien."[301] Vielmehr trete an ihre Stelle auf "sozialphilosophisch-gesellschaftstheoretischer wie pädagogischer Ebene" das "Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft (...) als Ergebnis eines sozialen Anerkennungsprozesses."[302]

Den Versuch, einen sonderpädagogischen Erziehungsbegriff aus dem Kontext der Intersubjektivität zu entfalten, hat auch die in Anschluss an Pfeffer entwickelte phänomenologische Strömung (Dreher, Dederichs, Formfeld, Stinkes) unternommen. Diese Konzepte entstammen ebenfalls dem Bereich der Geistigbehindertenpädagogik und haben das Phänomen der Leiblichkeit zum Ausgangspunkt, welche kompetenzorientierte Perspektiven (Mündigkeit, Kognition etc.) der leiblichen Existenz gegenüberstellen. Allerdings fallen diese Positionen dann hinter die Jakobsche zurück, wenn sie bereits hierin einen genuinen sozialen Sinn vorfindlich sehen, der nicht erst aus gesellschaftlicher Existenz heraus zu gewinnen und insofern auch diskursiv zur Verfügung gestellt werden muss. Im Gegenteil - Fomefeld erkennt im Zugang der Phänomenologie die Ermöglichung auch des Einbezugs vorwissenschaftlicher Erfahrung.[303] Dies wird allerdings an der Stelle problematisch, wo Fornefeld aus der postulierten Andersheit des Anderen die besondere Andersheit behinderter Menschen deduziert: "Die Sonderpädagogik bzw. -pädagogen massen erkennen. daß das eigentliche Problem in ihnen selbst begründet liegt, und zwar in der rationalen Unfaßbarkeit der Andersheit der Behinderten."[304] Diese doch problematische Bestimmung einer 'spezifischen Intersubjektivität' aufgrund von Behinderung unternahm Jakobs nicht.

Insofern lässt sich als die bislang am weitesten entwickelte Position einer (sonder)pädagogischen Erziehungstheorie der von Jakobs vorgelegte Intersubjektivitätsansatz entlang der Fokussierung einer prinzipiellen 'anthropologischen Differenz' nennen. Diese ist durchaus anschlussfähig an die innerhalb der Allgemeinen Pädagogik entwickelten Überlegungen von Erziehungs- und Bildungstheorien, die in ihrer Mitte das Thema der Intersubjektivität zu ihrem Gegenstand machen. Dies soll später noch einmal entlang der Analyse des Bildungsdiskurses aufgenommen werden, denn auch bei Jakobs ist im eigentlichen die Differenz zwischen einem Erziehungs- und einem Bildungsbegriff nicht auszumachen. Diese Unschärfe zeigte sich ja bereits in den Konzepten der Allgemeinen Pädagogik und gilt laut Jakobs auch prinzipiell für die Sonderpädagogik, welche von einer ununterschiedenen Parallelität von Erzieh- und Bildbarkeit ausgehe."[305]

Dennoch soll für den weiteren Untersuchungsgang festgehalten werden, dass die Entwicklung eines Bildungsbegriffes innerhalb der Sonderpädagogik unverzichtbar ist, da hieran traditionell Konnotationen von Selbstbestimmtheit, Autonomie und Mündigkeit geknüpft sind, die auch nicht mit der Perspektive auf Intersubjektivität und sozialer Anerkennung obsolet geworden sind. Und in der Unterentwicklung des Bildungsbegriffs liegt eine besondere Schwäche der sonderpädagogischen Theoriebildung, weil sie insofern nur eingeschränkte Emanzipation postulieren kann bzw. diese Problematik unter Verzicht auf den Bildungsbegriff nicht im Blick behalt. Diesem These soll im folgenden nachgegangen werden, und zwar auch unter der verschärften Lage, dass Konstruktionen eines speziellen sonderpädagogischen Förderbegriffs inzwischen sogar den Erziehungsbegriff in Frage stellen und somit eine besondere Situation behinderter Menschen im Erziehungssystem (oder gar außerhalb davon) diskursiv zementieren:

Der Förderbegriff entstammt sowohl der Konstruktion 'pädagogische Förderung' in der Bildungsratsempfehlung von 1973, als Buch der Theoriebildung im Bereich der Schwerbehindertenpädagogik. Letztere versucht nicht nur den Therapiebegriff durch den allgemeineren Begriff der Förderung zu ersetzen, sondern sieht auch im Konstrukt 'Förderung' eine Operationalisierung des Erziehungsbegriffes (z.B. hinsichtlich Konzepten der Basalen Stimulation, der Kommunikations- und Wahrnehmungsförderung) - ohne im eigentlichen aber, wie prima facie zu erwarten wäre. Methodensicherheit versprechen zu können.[306] Weiterhin ist er eine individuelle. weil entwicklungsbezogene Kategorie[307] und ist insofern nicht zwangsläufig kongruent zu Erziehungs- und Bildungsaufgaben. Auch Theunissen sieht, ähnlich wie Fomefeld, das Problem, dass hiermit ein "Bedeulungswandel oder -verlust des Erziehungsbegriffs" zu befürchten sei."[308]

Diese Annahme bestätigt eine bereit ältere Studie von Walter Dreher aus dem Jahr 1978, in welcher an Klassenleiter in 27 Schulen für Geistigbehinderte im Regierungsbezirk Köln folgende Frage gerichtet war:

"Welcher Begriff bezeichnet Ihrer Ansicht nach Ihre Anteil mit schwer Geistigbehinderten am treffendsten? Bitte entscheiden Sie sich für eine Nennung: Therapie, Förderung, Erziehung, Pflegen, Unterricht, Betreuung, Beaufsichtigung, Beschäftigung, Sonstiges" mit folgendem Ergebnis: "Förderung 16 %), Therapie (18 %), Erziehung (10 %), Betreuung (5,7 %) - Unterricht wurde von niemandem genannt:"[309]

Wenn, wie noch zu zeigen sein wird, innerhalb der traditionellen sonderpädagogischen Theorieentwürfe der Erziehungsbegriff gegenüber dem Bildungsbegriff der dominante ist, lassen sich die eingangs angestellten Vermutungen hinsichtlich einer Perspektive auf die sonderpädagogische Klientel als unmündige, dauerhaften Erziehungsprozessen zu Unterziehende bestätigen.

In der Tat beruht ja die klassische Differenz zwischen Erziehung und Bildung auf der Generationendifferenz, in der zwischen Kind und Erwachsener unterschieden wird. Dies ist insbesondere für den pädagogischen Erziehungsbegriff signifikant, weil dieser damit die Differenz zwischen erzogen/nicht-erzogen in der Selbstbeobachtung des Erziehungssystems eher beschreiben kann als diejenige zwischen gebildet/ungebildet. wo doch Bildung als lebenslange Aufgabe konzipiert war - dazu Lenzen:

"Im Säkularisierungsprozeß (...), aus dem der Bildungsgedanke hervorgegangen ist, richtet das (...) Erziehungs- und Bildungssystem seine Aufmerksamkeit (...) auf Menschen (Zöglinge) und verlängert die theologische Paradoxie der Verzeitlichung dergestalt, daß es Bildung als funktionales Äquivalent für imitatio einsetzt, den Bildungsvorgang verzeitlicht und damit die Unterscheidung von Gebildeten und Ungebildeten letztlich unmöglich macht: lifelong learning."[310]

Damit ist das Erziehungssystem vor die Problematik gestellt, dass es selbst die Hervorbringung von Unbildung nicht positiv besetzen kann - eben so wenig allerdings wie die Sonderpädagogik die Hervorbringung von dauerhafter Nicht-Erzogenheit (weil Erziehung hier offenbar zu keinem Abschluss gelangt und damit den Status der Unmündigkeit fortschreibt). Doch dieses Problem bleibt, wie gesagt, innerhalb der pädagogischen Semantik ausgeschlossen.

Wenn man mit den Begriffen der Erziehung und Bildung operiert, stellt sich eine weitere Schwierigkeit ein: So zeigen die inzwischen vorangeschrittenen systemtheoretischen Analysen des Erziehungssystems, dass dieses nicht mehr zwangsläufig von eigenen Institutionen und Professionen ausgehen kann, denn mit der Beobachtung der Entgrenzung des Pädagogischen (beispielsweise durch die Medien) wurde auf die zunehmende Schwäche der Inklusionsfunktion gesellschaftlicher Institutionen aufmerksam gemacht.

Das Pädagogische - so Kade - sei mithin nicht mehr erkennbar an der Thematisierung der Disziplin selbst über den Programmzugriff 'Erziehung/Bildung', sondern vielmehr über die Analyse eines Codes 'vermittelbar/nicht-vermittelbar', welcher das Pädagogische am Modus der Vermittlung und Aneignung sichtbar mache. Damit sei allerdings auch die enge Kopplung von Bildung und Kultur obsolet und mithin lasse sich nicht mehr bestimmen, was denn nun eigentlich Bildung dem Inhalt nach sei. Mit dieser Codierung, die System und Subjekt trenne, sei nunmehr - so Kade - auch die Einheit des Systems aufgehoben, welches vorgab, dass die zu erziehenden und zu bildenden Subjekte die Erziehungs- und Bildungsangebote differenzlos aufnehmen würden.

"Über die Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung war das Verhältnis der Pädagogik zu ihren Adressaten noch als Einheit gedacht, wobei Bildung zwar auf Erziehung bezogen war, aber zugleich über den engen Rahmen der pädagogischen Praxis weit hinausging. Mit 'Aneignung' wird demgegenüber eine für das psychische System spezifische Operation bezeichnet. (...) Über die Unterscheidung von Vermitteln und Aneignen konstituiert sich daher das Verhältnis des pädagogischen Systems zu seinen Adressaten nicht als Einheit, sondern als Differenz von Systemen, von pädagogischem und biographischem System."[311]

Dadurch sei zugleich erreicht, dass die Seile der Klienten gestärkt sei, mithin finde hier eine "Verlagerung der Verantwortung von der Anbieter- zur Aneignungsseite, von der Pädagogik zu ihren Adressaten statt."[312]

Auf die Problematik der Aufhebung auch gerade des Erziehungsbegriffes wurde in der Sonderpädagogik anlässlich des Förderbegriffes bereits hingewiesen. Dieser scheint nun in der Tat das von Kade beschriebene Feld der klassischen Erziehungsinstitutionen zu überschreiten und auch andere Professionen und Institutionen am pädagogischen Prozess zu beteiligen, allerdings um den Preis, möglicherweise ganze Personengruppen von dem immerhin gesellschaftlich noch relevanten institutionalisierten Erziehungssystem auszuschließen und notwendige pädagogische face-to-face-Interaktionen für obsolet zu befinden.

Insofern ist der Verlust des Erziehungs- (und auch des Bildungs-) begriffs innerhalb der Sonderpädagogik kein Gewinn für die hiervon Betroffenen und auch dem aus der Kadeschen Perspektive der Erwachsenenbildung formulierten Effekt, mit der Codierung vermittelbar/nicht-vermittelbar sei eine Zunahme an Klientenautonomie zu erwarten. nicht unbedingt zuzustimmen. Die Ausdifferenzierung der Aneignungsseite, die Kade hier im Blick hat, zeitigt - dies konnte oben nachgewiesen werden - für die sonderpädagogische Klientel eher negative Folgen, weil sie am Diktum der 'eingeschränkten Erzieh- und Bildbarkeit in Folge von Behinderung' feslhält. Insofern mag eher die Ausdifferenzierung der Vermittlungsseite fruchtbarer und für die (sonder-)pädagogische Professionalität möglicherweise gewinnbringender sein.

Die Zeitdiagnose Kades, die gegenwärtige Neuauflage des Bildungsdiskurses halte im Eigentlichen am alten Muster der professionellen und institutionellen Identität von Pädagogik fest.[313] muss aus der Perspektive der Sonderpädagogik also nicht nur negativ bewertet werden und soll im folgenden zunächst einmal rekonstruiert werden - sowohl für die Allgemeine, wie für die Sonderpädagogik.

5.2 Sonderpädagogik und Bildung

Zum Bildungsbegriff innerhalb der Allgemeinen Pädagogik liegt eine äußerst breite und differenzierte erziehungswissenschaftliche Diskussion vor - sowohl hinsichtlich der Ausformulierungen, was unter Bildung zu verstehen und durch sie zu bezwecken sei - als auch hinsichtlich der Eigenbeobachtung der Disziplin, also bezogen auf den identitätsstiftenden Aspekt des Bildungsbegriffes, Bildung gehört damit - im Gegensatz zum Erziehungsbegriff - zu den am meisten diskutierten, aber auch systematisierten Topoi der Erziehungswissenschaft. Nicht zuletzt Luhmann/Schorr haben 'Bildung' - wie bereits dargelegt - als Semantik des Erziehungssystems ausgemacht und auf seine Bedeutung in der historischen Etablierung für das gesellschaftliche Teilsystem verwiesen.

Der Bildungsbegriff habe dabei auf unterschiedliche Weise an gesellschaftliche Erfordernisse und Deutungsmuster angeknüpft - er habe die subjektphilosophische Position der Aufklärung aufnehmen (Perfektibilisierung durch Vernunftgebrauch bei gleichzeitigem Autonomiezuwachs des Einzelnen, ohne auch theologische Deutungsmuster gänzlich abschütteln zu müssen), sowie an die Interpretation von Zukunft als offen und steigerungsfähig anschließen können. Darüber hinaus habe der Bildungsbegriff den Vorteil gehabt, Pädagogik in das Programm des Humanismus einzubinden, die Vielfalt pädagogischer Praxis auf einen Begriff zu bringen und damit zu verwissenschaftlichen, wie auch die gesellschaftlich funktionale Seite der Selektion 'tiefer zu legen'. Weiterhin schien der Bildungsbegriff geeignet, das Erziehungssystem in deutlicher Grenzziehung zum Wirtschaftssystem zu platzieren.[314]

Nachteilig habe sich die philosophische Fassung von Bildung historisch erst dann erwiesen, als seine mangelnde Präzisierung von "technologisch kontrollierbarer Bewirkung und Wirkung im Erziehungsprozeß"[315] zum Problem wurde angesichts der vielfach debattierten Bildungskrise in den 1960er Jahren. Politik und Erziehungswissenschaft reagierten auf diese Diagnose mit soziologisch und psychologisch orientierter Bildungsforschung, die wiederum Einfluss auf die Theorieausrichtung der Erziehungswissenschaft insgesamt hatte - hier die Ablösung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik durch die sogenannte 'Sozialwissenschaftliche Wende'. Auch unter der inzwischen veränderten historischen Situation, die nicht mehr die Einheit einer humanistischen Gesellschaft vor Augen hat, sondern - geradezu im Gegenteil - ihre zunehmende Differenzierung und Spezialisierung als Problem anerkennt, lagert sich dieses erneut auf der Subjektseite in einer Erhöhung des Anspruches an Flexibilität und schnelle Adaption an. Insofern reagiere die Kontingenzformel 'Lernfähigkeit' - so Luhmann/Schorr - auf die veränderten Bedingungen:

"Das Bildungsideal interpretierte die Leitorientierung durch einen idealen Kulminationspunkt, der Unterschiede der Bildung und Unterschiede der Schichtung in den 'gebildeten Standen' konvergieren ließ. Die Formel Lernfähigkeit gehört dagegen in eine funktional differenzierte Gesellschaft, die ihrer eigenen Folgen ansichtig wird und es fast nur noch damit zu tun hat, die Folgeprobleme hochriskanter Strukturentscheidungen wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen:"[316]

Mit diesem Wechsel der Kontingenzformel aber wird ein besonderer Verzicht deutlich, der den traditionsreichen Bildungsdiskurs bislang gekennzeichnet hat, nämlich der Verzicht auf apriorische Begründungen; das heißt Bildung konnte sich bislang auf philosophische Positionen beziehen, die nicht erst als Effekt des Systems hervorgebracht angesehen werden mussten, etwa in der Anknüpfung an den Humanismus, an die Idee der Perfektion etc., sondern die Idee war gewissermaßen die Ursache des Systems. Lernfähigkeit hat diesen vorgelagerten Begründungszusammenhang nicht mehr mit im Gepäck - und macht insofern die jüngeren Ausformulierungen der Bildungsidee fast unmöglich, will sie mehr als lediglich einen formalen Rahmen ('Lernen' bzw. 'Aneignen/Vermitteln') abstecken.

Betrachtet man nun die Bestimmungsversuche von 'Bildung' innerhalb der Disziplin selbst, wird die Notwendigkeit des Bildungsbegriffes dennoch nach wie vor herausgestellt. Dabei wird allerdings nicht mehr unterschlagen, dass der Bildungsbegriff auf das sogenannte Technologiedefizit nicht antworten kann. So konstatiert beispielsweise Euler, Bildung sei "kein theoretischer, schon gar kein wissenschaftlicher Gegenstand (...). Er ist aber auch nicht als praktischer Begriff im ethischen Sinne ausreichend zu fassen."[317] Trotz dieser negativen Bestimmung, die Euler hier vornimmt, besteht der notwendige Bezug auf den Bildungsbegriff in den Augen gegenwärtiger AutorInnen vor allem hinsichtlich der Einheitsstiftung der Disziplin und hier als Ref1exionsfolie sowohl der Disziplinentwicklung wie der konkreten pädagogischen Tätigkeit. Letzteres knüpft an den Vorschlag Klafkis an, nach dem der Bildungsbegriff deshalb unverzichtbar sei, weil er "übergeordnete Orientierungs- und Beurteilungskriterien für alle pädagogischen Einzelmaßnahmen" liefere und diese von hier aus erst begründbar und verantwortbar mache.[318]

Darüber hinaus wird in den gegenwärtigen Bestimmungsversuchen an einer Sieht auf das Subjekt festgehalten, in welcher dieses sich als 'Gegenüber' von Welt konstituiert, um Freiheit und Zukunftsfähigkeit offen zu halten - als Fortschreibung der humanistischen Tradition.

Diese Position vertritt ganz exponiert Hermann Giesecke und erweitert auf dieser Ebene auch seinen Vorschlag von 'Pädagogik als Lernhilfe': Die Bildungsidee beruhe, so Giesecke,

"im wesentlichen auf der Einsicht, daß der Mensch mehr ist als in seinem Alltag von ihm verlangt und erwartet wird, daß seine grundlegende Bildung also nicht aus der bloßen Zurichtung für diese seine Alltagsaufgaben bestehen dürfe, ja daß Bildung sich auch nicht aus der Summe des Lernens für die alltäglichen Funktionen ergibt."[319]

Insofern dürfe der Bildungsbegriff auch nicht in Bildungsforschung aufgehen: "Die Idee der 'Selbstbildung aller' und einer geglückten 'Identität' (...) bildet im Modus des Deutungsmusters noch immer den Erwartungshorizont auch zukünftigen Lebens und wird damit Objekt von Wissen, Sollen und Hoffen zugleich."[320]

Pragmatischer fasst Tenorth die Relevanz des Bildungsbegriffs:

"Was hatten wir sonst, wenn wir über das Thema reden müßten, das nach wie vor unser ungelöstes Problem ist, zu erklären, wie sich die Konstitution des Subjekts vollzieht, und zu sagen. welche Rolle dabei der Erziehung zukommt? Der Begriff der Bildung kann unsere Rede über diese schwierigen Themen organisieren, aber nicht mehr als unser Bewußtsein des Problems fixieren und überliefern. Anweisungen für eine richtige Praxis sind dort sowenig zu finden wie Vorschriften über das richtige Denken. Die Reflexivität, die dem Bildungsprozeß innewohnt, verbietet solchen Gebrauch."[321]

Der Bildungsbegriff ist so aller normativen Aufladungen entbunden und fungiert als Reflexionsfolie von Wissenschaft und Praxis und damit als Kommunikationsmedium des Erziehungssystems. Dadurch verliert er aber auch die noch in seiner Grundlegung enthaltene visionäre Kraft, obgleich er, wie oben gezeigt, nichts an diskursiver Präsenz einbüßen musste. Bollenbeck bescheinigt ihm in seiner umfangreichen Studie zum "Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters" den Status eines Pflegefalls:

"Innerhalb der akademischen Wissensbestände gehen die idealistisch imprägnierten Bedeutungen (...) nicht verloren. Sie werden von der Philosophie und der Pädagogik bewahrt und neuen Deutungen unterzogen. Aber sie prägen kein ideatives Bewußtsein, das Endzwecke setzen kann, und ihnen fehlen stabilisierende Institutionen. Heute sind die alten Begriffe, leger formuliert, akademische Pflegefälle."[322]

In historischer Perspektive kann der Beginn der Bildungssemantik innerhalb der Pädagogik mit 1800 datiert werden. Gedacht war dabei an eine Bestimmung des Subjekts in Auseinandersetzung mit der 'Welt' zur eigenen Vervollkommnung und Realisierung individueller Freiheit, wobei sich hierdurch zugleich das Allgemeine realisieren sollte. Damit, so Alfred Schäfer, war das Konstrukt des Subjekts der Modeme entworfen: Der Anspruch, "daß das Individuum zum nicht hintergehbaren Maßstab der Beurteilung, der Legitimation und der Orientierung seines theoretischen wie praktischen Zugangs zur Welt, zur Gesellschaft wie zu sich selbst genommen werden muß, ist eines der Kennzeichen der Moderne."[323] Zugleich sei in diese Konstruktion hinein die Bedingung der Autonomie eingeschlossen. Schäfer sieht darin ein normatives Konzept.[324] Der hiermit verbundene Aspekt der Freiheit, der zunächst die individuelle Selbstbestimmung ermöglichen sollte und politisch gegen den absolutistischen Staat gerichtet war, konnte aber erstens durch seinen Bezug auf ein bürgerliches Subjekt und zweitens durch die Integration von Bildung als Konzept staatlich installierter und kontrollierter schulischer Bildung nicht widerspruchsfrei in das Erziehungssystem transformiert werden. Weiterhin sei der Niedergang der klassischen humanistischen Bildungsidee durch seine Unverbundenheit mit konkreten gesellschaftlichen Kontexten - beispielsweise dem Prozess der Industrialisierung - so seine Kritiker - fortgeschritten.

Auf diese Konstituentien - Subjekt-Weltverhältnis, Realisierung des Allgemeinen im zu Autonomie und Freiheit bestimmten Subjekt wie die Verknüpfung von Bildung mit Kultur und den eingedachten ethischen Implikationen - bezog sich auch die Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Erst mit der Bildungskrise der 1960er Jahre traten, wie erwähnt, soziologische und psychologische Disziplinbezüge in die Erziehungswissenschaft ein und Begriffe wie 'Sozialisation', 'Emanzipation', 'Erziehung' und 'Lernen' ersetzten vorübergehend den Bildungsbegriff. Doch kann hier nicht von einer grundlegenden paradigmatischen Umorientierung gesprochen werden[325] - bereits in der Betrachtung des Erziehungsbegriffes zeigte sich auch seine eigentliche Unschärfe zur Kategorie der Bildung.

Explizit hat Klatki, ebenfalls Vertreter der Kritischen Pädagogik der 1970er Jahre, den Bildungsbegriff für unverzichtbar erklärt, weil dieser als Idee die Einheit pädagogischer Anstrengungen zu entwerfen wie zu reflektieren vermöge. Mit dem Entwurf eines Modells von Allgemeinbildung entlang von gesellschaftlichen Schlüsselproblemen legte Klatki eine nicht nur philosophisch inspirierte Bildungsidee vor.

Die im Subjekt zu erzielenden Merkmale (Fähigkeit zu Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität[326]) waren aber in gewisser Weise Modernisierungen des klassischen Bildungskonzepts. Starker dann hat Heydom den auch bei Klatki enthaltenen Mündigkeitsgedanken, der an Vernunft und Solidarität geknüpft war, ausformuliert. Trotz ihres Bezugs zur Kritischen Theorie und deren Hinweis auf die 'Dialektik der Aufklärung' hat es aber die Kritische Pädagogik nicht vermocht, die vernünftige Selbstbestimmung des Subjekts skeptisch zu formulieren. Im Gegensatz zu Adorno halten ihre Gründer Blankertz, Klafki und Mollenhauer wie auch später Heydom daran fest, dass eine "Entbindung kritischer Vernunft als Aufgabe und Chance von Bildung noch möglich ist."[327] Weiterhin hat die Aufladung von Pädagogik mit dem Konzept der Emanzipation als neuerlicher Versuch, den Humanismus im Sinne einer der Menschheit überhistorisch immanenten Idee, fortzuschreiben, ihre Reichweite möglicherweise überschätzt, ohne dabei mitzubedenken, dass auch Pädagogik selbst Teil der 'Dialektik der Aufklärung' sein könne.[328]

Methodologisch problematisiert Tenorth darüber hinaus den Bildungsbegriff der Kritischen Pädagogik, da diesem zugleich eine normative wie kritische Funktion zugeschrieben wurde[329] - allerdings ein altes Konstruktionsproblem von Bildung überhaupt.

In den 1980er Jahren schließlich wird der Bildungsbegriff wieder neu philosophisch restituiert. Seine Wiederentdeckung hat er der Gesellschaftsdiagnose einer inzwischen problematisch gewordenen Allgemeinbildung zu verdanken. Angesichts dieser erneuten Proklamation einer Bildungskrise, mit der im Eigentlichen eher wirtschaftliche, soziale und politische Krisen interpretiert wurden,[330] gewinnt die Bildungsreflexion wieder an Kraft. Etwas ketzerisch kommentiert Gerhart Neuner hierzu: "Bildung (...) - und namentlich allgemeine Bildung - wird als jene erstaunliche Ressource entdeckt oder wiederentdeckt, die sich bei Gebrauch vermehrt, nicht, wie andere, unwiderruflich verzehrt."[331]

Mit neuen theoretischen Bezügen (Neostrukturalismus, Postmoderne, Konstruktivismus) wurde das alte Thema, mit den Worten Uhles, die "Qualität von Selbstsozialisation im Kontext von Vergesellschaftung"[332], neu bearbeitet. Allerdings, so Korings Kritik, habe dabei ein Rückzug aus der pädagogischen Praxis stattgefunden, denn

"auch die Alltagsorientierung in der Erziehungswissenschaft führte zu keiner zufriedenstellenden Kooperation mit der pädagogischen Praxis. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zag sich die Erziehungswissenschaft aus der pädagogischen Praxis zurück. Sie habe die Erwartungen. die zur Zeit der Bildungsreform (in den 70er Jahren) in sie gesetzt worden waren, nicht erfüllen können. Seitdem ist eine Tendenz erkennbar, da1l sich die Erziehungswissenschaft auf sich selbst besinnt, auf ihre wesentlichen Wissensbestände. Ihre Klassiker, ihre Traditionen und ihre einheimischen Begriffe, um von daher ihre Aufgaben neu zu bestimmen und ihren Status als wissenschaftliche Disziplin zu klären. Der Begriff der Bildung nimmt dabei eine zentrale Stellung ein."[333]

Betrachtet man nun die gegenwärtigen Entwürfe von 'Bildung' innerhalb der Allgemeinen Pädagogik, lässt sich ausmachen, dass keiner auf einen normativen Rahmen verzichtet, der gegenwärtige Bildungsbegriff also keineswegs lediglich formale Aspekte thematisiert. Dennoch sind sich alle AutorInnen darin einig, dass die Kraft der Normativität lediglich in ihrer Orientierung für anzustellende Reflexivität besteht.

Überblicksweise lassen sich die neuen Entwürfe und propädeutischen Überlegungen hinsichtlich ihrer inhaltlichen Akzentuierungen folgenden Themenstellungen zuordnen: Erstens dem Problemfeld der Intersubjektivität (Alfred Schäfer, Christoph von Wolzogen, Annedore Prengel), zweitens kontextualisiert mit der Differenzproblematik von Subjekt und Welt (Roland Reichenbach), drittens mit Bezug auf konkrete gesellschaftliche Situiertheit, als, Modifikation der Kritischen Pädagogik (Peter Euler, Dietrich Benner, Heinz-Hermann Krüger), viertens hinsichtlich didaktischer Arrangements, um Bildung zu erzeugen (Andreas Gruschka, Dietrich Hoffmann), viertens mit Bezug auf Demokratie (Annedore Prengel, Hermann Giesecke, Gerhart Neuner, Siebren Miedema/Willem L. Wardekker, Heinz-Elmar Tenorth), sowie fünftens hinsichtlich der Anbindung an professionstheoretische Einsichten (Bernhard Koring) und sechstens mit auch anthropologischer Akzentuierung (Michael Winkler).

a) Bildung als Problemstellung aus dem Feld der Intersubjektivität wird bei Alfred Schäfer dahingehend ausformuliert, dass Bildung, verstanden als Reflexivität, immer einzuschließen habe, dass die eigene Perspektive keine allgemeinverbindliche sein kann, insofern "auch die Perspektiven anderer als gleichberechtigt anzuerkennen sind."[334] Er gibt aber zugleich zu bedenken, dass das Problem von individueller Selbstbestimmung und dem Anderen nicht eigentlich zu lösen sei. Von Wolzogen formuliert die Perspektive der Anerkennung von Seiten des Anderen, unter Bezug auf Levinas - Bildung nach seinem intersubjektiven Verständnis wäre "das Antworten auf die Infragestellung meiner selbst durch den Anderen, die Ausbildung einer 'responsiblen Vernunft'."[335] In ähnlicher Weise hat auch Annedore Prengel in ihrer Schrift "Pädagogik der Vielfalt" die Anerkennung des Anderen zum Gegenstand einer pädagogischen Konzeption gemacht, ohne dies jedoch explizit als Reformulierung eines Bildungsbegriffs auszuweisen.[336] (Hieran wird im folgenden Kapitel nach einmal angeknüpft.)

b) Das Thema der Differenz entwickelt Roland Reichenbach nicht ausschließlich aus der Intersubjektivität, sondern allgemein aus dem Weltverhältnis des Subjekts. Nahe am Begriff des Lernens versteht er Differenz als Konstitutivum von Bildung überhaupt:

"Bildung ist (...) Erwerb eines Ethos des Umgangs mit Differenz durch das Verarbeiten von Differenzerfahrungen. Denn die Auseinandersetzung mit Welt ist nichts anderes als die Auseinandersetzung mit dem Differenten, wie 'hochgradig' different sich dieses auch immer präsentieren mag. Ohne Differenzerfahrung ist Bildung nicht zu denken möglich."[337]

c) Im Sinne einer Verlängerung des Ansatzes der Kritischen Pädagogik sehen Peter Euler, Dietrich Benner und auch Heinz-Hermann Krüger den konkreten Bezug auf die gesellschaftliche Situiertheit als wichtigstes Merkmal in der Reformulierung des Bildungsbegriffes. Euler fordert eine Analyse des Zusammenhangs von Technologisierung und Vergesellschaftung, um hier den Platz des Subjekts auszuloten."[338] Dietrich Benner bezeichnet seinen Konstitutionsvorschlag als 'nicht-affirmative Bildungstheorie':

"Nach der Bestimmung des Menschen und seines Weltverhältnisses in einem nicht-affirmativen Sinne zu fragen, verlangt heute, Bildung als ein reflexives Verhältnis zu den Positivitäten und Errungenschaften der Neuzeit zu konzipieren, in welchem diese nicht affirmiert, sondern im Hinblick auf uns heute bedrängende Fragen und Probleme problematisiert und in neue Wechselwirkungen von Mensch und Welt transformiert werden."[339]

Eine Nähe zu Klafkis Schlüsselproblemen ist hier unübersehbar. Und auch Heinz-Hermann Krüger sieht die Notwendigkeit in der Bestimmung der gesellschaftlich-historischen Subjektposition als Ausgangslage des Bildungsbegriffs. Bildung habe sich zu beziehen auf die "Schattenseiten des Individualisierungsprozesses", mithin deren "Unsicherheits-, Risiko- und Vereinzelungserfahrungen (...). Bildung muß statt dessen in eine Lebensform einführen, die durch inkonsistente Pluralität gekennzeichnet ist."[340]

d) Dietrich Hoffmann enthält sich weitgehend inhaltlicher Bestimmungen und Ausrichtungen des Bildungsprozesses und formuliert demgegenüber am stärksten einen formalen, didaktischen Kern. Inhaltliche Füllungen, wie jüngst der Vorschlag von von Hentigs würden Bildung geradezu verhindern, weil schon immer beschrieben wäre, was gelernt werden solle. Bildung könne aber nur ein prozessualer Verlauf mit ungewissem Ausgang sein, insofern ginge es um die Ermöglichung eigener Erfahrung, um Bildung zu erzeugen, statt sie zu lehren."[341]

e) Der Bezug auf Demokratie ist gegenwärtig die häufigste Explizierung von Bildung, teilweise verknüpft mit Intersubjektivitätskonzepten (wie beispielsweise bei Annedore Prengel). Hermann Giesecke sieht hierin vor allem die Chance auf gleiche Partizipation aller an den gesellschaftlichen Möglichkeiten. "Bildung soll sie eben dazu in den Stand setzen."[342] Gerhart Neuner versteht den Bildungsgedanken auf der Subjektseite als Sicherung innerer Stabilität und auf der Gesellschaftsseite als "Faktor sozialer Gerechtigkeit". Insofern sei sie "mehr denn Je unverzichtbar."[343]

Miedema und Wardekker formulieren ebenfalls einen politisch aufgeladenen Bildungsgedanken und zwar in Bezug auf die 'öffentliche Sphäre', die nicht näher bestimmbar ist. Damit käme man weg von den traditionellen subjektphilosophischen Entwürfen von Bildung: "Bildung und Pädagogik müssen von individueller oder kollektiver Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung abgekoppelt werden. Der Leerraum, die öffentliche Sphäre sollte ihr Bezugspunkt sein."[344]

Und auch Tenorth, bei aller Skepsis, welche inhaltliche Aufladung der Bildungsbegriff noch haben könne, schlägt letztlich den Bezug auf Demokratie vor: Es könne eigentlich nur darum gehen, "nicht Grundlagenprobleme der Disziplinkonstitution zu lösen oder eine philosophische Klärung von Bildung zu versuchen, sondern alleine eine Pädagogik für die Demokratie zu finden."[345]

f) Die Anmerkung Korings, der Bildungsbegriff habe sich seit seiner Neukonstitution der 1980er Jahre zu sehr von der Praxis entfernt und diene lediglich zur Selbstvergewisserung der Disziplin, lässt ihn professionstheoretische Perspektiven einfordern mit entscheidenden Konsequenzen auch für die Disziplin selbst:

"Die Konzentration auf das Lernen, auf den pädagogischen Prozeß selbst und seine personalen und biographischen Folgen ist von zentraler Bedeutung. Die Erforschung pädagogischer Situationen, pädagogischen Handelns und Deutens, empirische Bildungsforschung und pädagogische Biographieforschung waren Schritte in Richtung auf eine empirische Fundierung der Disziplin von ihren zentralen Gegenständen her."[346]

g) Abschließend sei noch auf die gegenwärtig eher ungewöhnliche Bezugnahme auch auf anthropologische Einsichten innerhalb des Bildungsdiskurses verwiesen. Michae1 Winkler sieht nicht nur die gesellschaftliche Organisationsform als Bezugspunkt von Bildung, sondern auch die Tatsache der Geburt und dadurch die Erfahrung der subjektiven Begrenztheit.[347]

Zusammenfassend ist damit für die Allgemeine Pädagogik festzuhalten dass der Bildungsbegriff - auch wenn er möglicherweise nicht mehr wie Luhmann/Schorr. und anschließend auch Kade zu bedenken geben, die Einheit des Pädagogischen noch umfassend zu reflektieren vermag - weiterhin die Semantik der Disziplin bestimmt. Es scheint, dass er, dies zeigte sich am Verzicht auf eine pädagogische Semantik entlang des sonderpädagogischen Förderbegriffs, dennoch den Bezug zum Erziehungssystem als Institution - hier vor allem Schule - herstellt. Solange sich Inklusions- und Exklusionsprozesse aber gesellschaftlich (auch) noch am Ein- und Ausschluss aus Institutionen festmachen lassen, ist dieser institutionelle Fokus von Bildung unverzichtbar. Aus dieser Perspektive ist auch die Entwicklung eines Bildungsbegriffes innerhalb der sonderpädagogischen Theorie unverzichtbar.

In der Historie des Bildungsbegriffes zeigte sich, dass hiermit immer der Versuch unternommen wurde und wird, das Verhältnis des Subjekts zum Anderen (als personale und gegenständliche Welt) zu beschreiben. Dies wird als zweiseitiges Bedürfnis beschrieben, welches im gemeinsamen Begriff der Bildung aufzugehen habe: Einerseits Bildung auf der Subjektseite als Orientierung des Lebenslaufs wie andererseits auf Seiten der Gesellschaft um Sozialität normativ bestimmen zu können. Dass dabei die Implikation der dauerhaften Perfektibilisierung aufgegeben werden kann, die der Humanistischen Bildungstradition anhängt, versteht sich von selbst; nicht so offensichtlich jedoch ist die Aufgabe der Hoffnung, dass das subjektive wie das gesellschaftliche Problem mit der selben Struktur zu beantworten sei:

Dies ist in der Tat ein Dilemma auch gegenwärtiger Beschreibungen des Bildungsbegriffes und Michael Winkler zeigte mit am deutlichsten dass das Problem der Subjektseite, welches er anthropologisch kennzeichnete, nicht kongruent ist zu der Frage, wie sich Sozialität herstellen lasse, beispielsweise über pädagogische Organisation. Die Gefahr, beides wieder als anthropologisches Bedürfnis aufeinander zu beziehen, liegt in den Konstruktionen von Bildung über das Thema der Intersubjektivität nahe - hier soll über einen doch heimlich als naturwüchsig angenommenen Prozess der Anerkennung des Anderen Sozialität gewährleistet sein. (Sozialphilosophisch, und vor allem phänomenologisch orientierte AutorInnen legen diesen Schluss nahe.)

Um diesem Problem zu entgehen, schlugen Miedema und Wardekker vor, sich radikal von der subjektphilosophischen Position zu verabschieden, und von der Gesellschaftsseite her zu denken, in der Aufgaben, die 'öffentliche Sphäre' zu bestimmen. zur zentralen Bildungsaufgabe erhoben werden.

Mit dieser Orientierung würde sich in der Tat das auch für die Sonderpädagogik so naheliegende Konzept. Bildung auf der Subjektseite immer weiter auszudifferenzieren (z.B. mit der vielbeschworenen eingeschränkten Bildsamkeit (Bleidick) oder der besonderen Andersheit (Fomefeld)) in Frage stellen lassen. Michael Winkler gibt in diesem Zusammenhang denn auch zu bedenken:

"In modernen Gesellschaften werden Begriffe, die zunächst zur Beschreibung von Sachverhalten entwickelt wurden, zuweilen sogar - wie im Fall der Pädagogik - zu normativen Entwürfen hin changieren, als Reflexionsbegriffe in die soziale Kommunikation und Interaktion eingebaut Dies ist nicht unproblematisch. Denn sie verlieren so ihre mit dem Status des Begriffs verbundene, insbesondere etwa seit Hegel als Potential von Kritik sichtbar gemachte Distanzierungsmöglichkeit. Sic rücken den Subjekten gleichsam auf den Leib, erzeugen aber durch die nun gegebene subjektive Selbstbezüglichkeit eine neue Form von Handlungsrelevanz."[348]

Somit lässt sich für eine mögliche Fortschreibung des Bildungsbegriffes festhalten, dass er die dominante Bestimmung und Ausdifferenzierung auf der Subjektseile zugunsten einer von Seiten der Gesellschaft her zu denkenden, unter Bezugnahme - wie Koring herausstellt - von hier aus zu entwickelnden professionellen Aufgabenbestimmung zurückzustellen habe. Mit dieser Perspektive wäre auch die aus der systemtheoretischen Analyse herausgearbeitete gesellschaftliche Funktionsseite des Erziehungssystems möglicherweise mit einzubeziehen. Die Hoffnung allerdings, Bildung könnte also mehr als eine theoretische Reflexionsfolie sein, mithin ein praktischer Begriff werden, ist damit nicht eingeschlossen.

Hinsichtlich nun eines sonderpädagogischen Bildungsbegriffes bzw. dem Bezug der sonderpädagogischen Theorie auf Bildung erweist sich die Diskussionslage als deutlich schmaler. Die Ausrichtung der Sonderpädagogik entlang des Erziehungsbegriffes ließ bereits vermuten. dass sich Bildung in seiner Perspektivität auf Autonomie und Mündigkeit - wenn man die traditionelle Fassung heranzieht - als Problem zeigen würde.

So argumentieren denn auch einige einschlägige AutorInnen, dass der klassische Bildungsbegriff mit seiner inhärenten Konstruktion eines durch Vernunftanstrengung transzendentalen, autonomen Subjekts insbesondere für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nicht applizierbar sei.

Jedoch lediglich Ursula Stinkes hat bislang in einem Aufsatz zentral auf die Notwendigkeit der Entwicklung der sonderpädagogischen Theorie entlang des Bildungsbegriffs verwiesen und dabei aus der Perspektive der Geistigbehindertenpädagogik folgendes Konzept vorgeschlagen: Auf der Subjektseite sei Leiblichkeit, auf der Gesellschaftsseite Intersubjektivität in Anschlag zu bringen.

"Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff kann die Geistigbehindertenpädagogik von der Postmoderne-Diskussion profitieren, ohne gleichsam in einem Reflex den Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung stets in das von der Regelpädagogik vorgegebene Bild eines Bildungssubjekts mit transzendentalem Status anpassen zu wollen. Oder anders: Bildung als Selbstgestaltung kann nicht länger einen Akt der Selbtref1exion meinen. Unter Einbezug der Leiblichkeit menschlicher Existenz versteht sich darunter einen gemeinsam-geteilten, intersubjektiven Lebenszusammenhang."[349]

Auf diese Weise 'erdet' sie auch die bereits skizzierten phänomenologischen Ansätze in der Erweiterung um einen kontextuellen, historischen und unter Umständen auch professionstheoretischen Bildungsbegriff - denn in der alleinigen phänomenologischen Verortung sieht sie berechtigterweise die Gefahr einer 'ästhetischen Überhöhung'.[350]

Ansonsten ist in der sonderpädagogischen Theoriebildung lediglich der Konnex von Bildung und sozialer Teilhabe hinsichtlich der Betonung der Notwendigkeit eines bildungstheoretischen Bezugs zu finden. Dies wird ausdrücklich von Otto Speck gesehen. In einem Aufsatz zum Verhältnis von Therapie und Bildung, formuliert er: "Bildung ist (...) ein Prozeß, der zu keiner Zeit verzichtbar ist. Er ist auf den Selbstaufbau der inneren Welt als Sinnhorizont des eigenen Daseins und zugleich auf Teilhabe an der gemeinsamen Kultur gerichtet. Therapie ist kein Ersatz für Bildung.''[351]

In ähnlicher Weise äußert sich auch Haeberlin (dies ist allerdings auch seine einzige Bezugnahme auf den Bildungsbegriff), der die Teilhabe an Kultur und Bildung der sonderpädagogischen Klientel zum "berufsethischen Auftrag des Heilpädagogik "erklärt"[352] - ohne allerdings genau zu bestimmen, zu welcher Form diese Teilhabe konzeptioniert ist. An anderer Stelle betont Speck darüber hinaus, dass der Einschluss aller Menschen durch Partizipation an Bildung und Kultur diese im Sinne eines inkludierenden Heterogenitätsverständnisses verändern könne:

"Als gewissermaßen imprägnierendes Prinzip ist Bildung für jede höhere Kultur unverzichtbar. Indem sie jeden Menschen unabhängig von seiner individuellen Bildbarkeit an der jeweiligen Kultur teilhaben läßt - in welcher Form auch immer - trägt sie dazu bei, dass jeder wirklich Mensch im Sinne seiner ihn einschließenden Kultur werden und eine Kulturgemeinschaft der Unterschiedlichen, der je Starken und Schwachen, entstehen kann. Ein Ausschluß aus dem Bildungssystem schliesse den betreffenden Menschen aus dieser Kultur und damit aus der Menschengemeinschaft aus."[353]

Wenngleich diese etwas pathetisch anmutende Formulierung einen noch in Frage zu stellenden Universalismus beinhaltet, so ist dem Kern, dass Teilhabe an Bildung in funktional differenzierten Gesellschaften zugleich Inklusion in das Erziehungssystem bedeute, unbedingt zuzustimmen. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist in der Tat der sonderpädagogische Bezug zum Bildungsbegriff unverzichtbar.

Bei den weiteren einschlägigen Theorieentwürfen gibt es über diesen Ansatz hinaus noch zwei Schwerpunkte hinsichtlich einer sonderpädagogischen disziplinären Orientierung an der Kategorie 'Bildung': Einerseits eine rechtliche - in der Reklamation eines allgemeinen, unteilbaren Bildungsrechts und andererseits eine anthropologische, entlang der Herbartschen Kategorie der Bildsamkeit. Beide Bezüge sind insofern historisch miteinander verbunden, als sie im Bereich der Geistigbehindertenpädagogik gleichzeitig dazu dienten, die Sonderschule für Geistigbehinderte in den 1960er Jahren gesellschaftlich zu etablieren. Zunächst wurde hier auf das Grundgesetz verwiesen (beispielsweise bei Speck: "Das Recht auf Bildung ergibt sich aus den Art. 1-19 GG niedergelegten individuellen und sozialen Grundrechten, insbesondere aus den auf Achtung der Menschenwürde, auf freie Persönlichkeitsentfaltung, auf Gleichbehandlung und auf angemessene Teilhabe an den Kulturgütern,[354]) und weiterhin gegen das Diktum der 'Bildungsunfähigkeit' geistig behinderter Personen argumentiert. Diese historische Allianz findet sich allerdings nach wie vor ungebrochen als Bestandteil sonderpädagogischer Theorie wieder: Noch 1999 äußert sich Bleidick an den wenigen Stellen in seinem Spätwerk "Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie" zunächst zum Recht auf Bildung - dieses sei uneinschränkbar ("Im Begriff der Menschenwürde vereinigen sich prinzipiell und überzeitlich Lebensrecht und Bildungsrecht."[355]); darüber hinaus aber wird dieses anthropologisch wieder differenziert entlang der sonderpädagogischen Klientel:

"Wenn Erziehung - als weiter Begriff, wozu die Bildung gehört - ein menschliches Wesensmerkmal ist, dann gilt das für jeden Menschen. Wenn Bildung eine menschliche Bestimmung ist, dann hat auch der behinderte Mensch, zumal der Schwerbehinderte, ein unverzichtbares Anrecht, daß wir ihm helfen, seinen Lebenssinn empor zu bilden. Die gängigen Attribute des pädagogischen Bildungsbegriffs - Bildung sei geistige Formung und Werden der Persönlichkeit - erweisen sich, radikal auf die Wurzeln anthropologischer Reduktion hin betrachtet, allerdings als wenig tragbar. Bildung kann bei Behinderten immer nur als die je mögliche Relation von Lernausgangslage und Lernergebnis bestimmt werden."[356]

Abgesehen davon, dass dieser Bildungsbegriff von Bleidick nicht näher theoretisch entfaltet wird, wird er unter Rückgriff auf Kants Diktum von der alleinigen Menschwerdung durch Erziehung erneut anthropologisiert, und dadurch für die sonderpädagogische Klientel einschränkend reduziert.

Eine ähnliche Variante dieses Themas findet sich auch bei Georg Theunissen, der für seine anthropologische Grundlegung von Bildung und Erziehung Portmann (der Mensch als instinktreduziertes Wesen, welches Erziehung und Bildung zwangsläufig erforderlich mache) bemüht und daran anschließend zunächst einen auf den ersten Blick allgemeinen Bildungsbegriff vorlegt:

"Erklärtes Ziel der Geistigbehindertenpädagogik ist die "personale und soziale Integration' (Speck) aller Menschen mit geistiger Behinderung. Dafür ist eine Bildung zu offerieren: die sowohl zur Personlichkeitsentfaltung, zur höchstmöglichen Individuation im Sinne "personaler Integration', als auch zu einem sinnvollen Zusammenleben mit anderen beitragen kann."[357]

Diese allgemeine Offenheit und Unbestimmtheit von Bildung wird aber sodann wieder zurückgenommen und Bildung schließlich im Sinne der Geistigbehindertenpädagogik offenbar doch nur noch eingeschränkt formulierbar:

"Während die Gesellschafts- oder allgemeinen Erziehungswissenschaften das lebenslange Lernen vor allem zur beruflichen Weiterbildung des Menschen für notwendig halten, versteht die Geistigbehindertenpädagogik die Erwachsenenbildung in erster Linie als organisierte und gezielte Lern- und Lebenshilfe, die die konkrete Situation geistigbehinderter Menschen, ihre Sozialisationsgeschichte, Problemlage und ihre Individuellen und kollektiven Bedürfnisse betrifft."[358]

Hier offenbart sich das Problem, einen spezifisch sonderpädagogischen Bildungsbegriff zu bestimmen, am deutlichsten: Sollte zunächst ein allgemeines Bildungsziel formuliert sein (und dieses, wie oben erörtert zur sozialen Inklusion beitragen), wird eine sonderpädagogische Definition von Bildung zur Zementierung einer (bei Theunissen gar kollektiven) Andersheit. Bildung ist dann nicht mehr Ermöglichung von Selbstentfaltung, sondern dauerhafte Lebens- und. Lernthilfe. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Anthropologie, die zur Legitimation dieser Wendung erneut bemüht wird.

Abschließend wäre noch anzumerken, dass in den Grundlagewerken zur Einführung in die sonderpädagogische Theorie von Bach, Haeberlin und Kobi[359] der Bildungsbegriff gar nicht erst herangezogen wird. Auch das "Wörterbuch der Heilpädagogik" bezieht sich in der Definition von Bildung nahezu ausschließlich auf Autoren der Allgemeinen Pädagogik. lediglich auf Begemann wird verwiesen. der unter sonderpädagogischer Perspektive Bildung als Ermöglichung gleichwertiger Lebenschancen einfordere,"[360] Inwiefern der Bildungsbegriff generell für die sonderpädagogische Theoriebildung von Bedeutung wäre. wird dabei nicht thematisiert.

Obgleich Feuser und vor allem Jantzen nicht daran interessiert sind, dezidiert erziehungswissenschaftliche Positionen zu erarbeiten. seien ihre Vorschläge zum Bildungsbegriff - der bei beiden als allgemeiner gedacht ist - erwähnt. Feuser besteht auf einer biographischen Perspektive und definiert Bildung insofern als "dar Gesamt der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen eines Menschen im Sinne seiner aktiven Selbstorganisation, verdichtet in seiner Biographie".[361]Damit allerdings geht im Feuserschen Bildungsbegriff jediglich die Subjektseite auf. das Dilemma der mitzubearbeitenden Sozialität hat er hier nicht explizit zum Gegenstand gemacht. Jantzen hingegen betont auch die gesellschaftliche Seite, indem er Bildung die Begriffe 'Würde' und 'Verantwortung' beistellt - wenngleich er dieses nicht zu einem umfassenden Bildungsbegriff entfaltet. sondern eher auf propädeutischer Ebene verbleibt.[362] (Würden beide Autoren nicht ohnehin dem Erziehungssystem aufgrund dessen anti-humanistischer Selektionsfunktion skeptisch gegenüberstehen, hätten sie mit Sicherheit mehr Anstrengungen in Richtung der Entfaltung eines erziehungswissenschaftlichen Bildungsbegriffes unternommen.)

Insgesamt lässt sich die sonderpädagogische Theorieentwicklung bezüglich des Bildungsbegriffes also als marginal beschreiben. Im Prinzip dominiert die Position, zwar einerseits ein allgemeines Bildungsrecht auf der Organisationsebene einzufordern, dieses aber auf pädagogisch-anthropologischer Ebene wieder auszudifferenzieren, um schließlich Sonderpädagogik eher als "dauerhafte Lern- und Lebenshilfe" (vgl. Theunissen) beschreiben zu können und hiermit ihre Spezifik gegenüber anderen pädagogischen Teildisziplinen aufzuweisen. Zugleich wird Bildung auf Seiten der Heilpädagogen platziert als Aufgabe, Sinn zu entfalten und zu stiften (vgl. z.B. Speck). Bei dieser Unterbestimmung des Bildungsbegriffes bleibt jedoch das hier mitproduzierte Dilemma der dauerhaften Unmündigkeit unterbelichtet. Dies war ja gerade auch das zentrale Argument von Luhmann/Schorr, dass die Semantik des Erziehungssystems ihre - auf der Programmebene - unerwünschten Effekte nicht in den Blick bekommt. Insofern trägt die weitgehende Ausblendung des Bildungsbegriffes innerhalb der Sonderpädagogik hierzu bei.

Aber noch ein weiteres Argument wird einsichtig. warum der Bildungsbegriff für die Sonderpädagogik problematisch ist: Bildung liegt historisch und semantisch nahe an der Institution Schule und kann möglicherweise das große außerschulische sonderpädagogische Arbeitsfeld nicht mitthematisieren. Dieser Frage wird noch nachzugehen sein - insbesondere entlang der Diskussion, ob die Semantik 'Bildung' von der des 'Lernens' abzulösen sei.

Setzt man jedoch auf eine - unter dem Inklusionsaspekt - gewinnbringende Semantik 'Bildung' auch für die Sonderpädagogik, so sind die Bedenken Winklers zu berücksichtigen, dass eine anthropologische Ausrichtung und Ausdifferenzierung immer die Gefahr mit sich bringt, dass diese als soziale Reflexionshegriffe zwangsläufig den Subjekten "auf den Leib rücken". Die Analyse des Behinderungsbegriffes machte dies deutlich - gleiches gilt aber eben auch für anthropologische (einschließlich phänomenologischer) Ausdifferenzierungen des Bildungsbegriffes.

So könnte dem Vorschlag Miedema/Wardekkers gefolgt werden, radikal auf die Bestimmung der Subjektseite zunächst zu verzichten, dagegen die Sozialität - hier die 'öffentliche Sphäre'- ins Zentrum zu rücken, und von hier aus höchstens rekonstruktiv, d.h. biographisch (dies entspricht auch dem Vorschlag Feusers) das Subjekt wieder ins Spiel zu bringen. Ob bei einem solchen Vorgehen auf traditionelle Postulate wie Mündigkeit, Autonomie, Vernunfttätigkeit usw. verzichtet werden kann, wird zu zeigen sein.

Hier wäre in der Tat postmodernen Vorschlägen, die das transzendentale, autonome Subjekt dekonstruieren, auf die sich auch Ursula Stinkes bezieht, oder auch dem entlang der Kritischen Theorie entwickelten Intersubjektivitätskonzept von Hajo Jakobs Aufmerksamkeit zu schenken. In diesem Sinne zeigte auch bereits der aktuelle bildungstheoretische Diskurs der Allgemeinen Pädagogik, dass die Themen der Intersubjektivität und Sozialität die klassischen Subjektbegriffe abgelöst haben.

Interessant war weiterhin zu sehen, dass Erfordernisse auf Seiten des Subjekts und Erfordernisse auf Seiten der Gesellschaft nicht kongruent zueinander sind, und die gedachte Einheit schon gar nicht über Anthropologie (und möglicherweise auch nicht mehr über die Institutionenseite) eingeholt werden kann, wie es u.a. phänomenologische Versuche, beispielsweise im Sinne Fomefelds unternehmen (wenngleich sie dieses Konzept überraschenderweise als Erziehungs- und nicht als Bildungstheorie kennzeichnete). Vielmehr wären semantische Fragen von institutionellen zu trennen.

Abschließend sei noch einmal der bislang grundgelegten These nachzugehen, ob eine Bildungssemantik, die hier für die Sonderpädagogik eingefordert wurde, in der Tat Konsequenzen auch für Inklusionen auf der Organisationsebene haben kann. Diese These lässt sich historisch belegen:

Luhmann/Schorr zeigen auf, dass die Semantik an die Systemdifferenzierungen gekoppelt ist und dass der Gewinn der neuen Systembildungen der Moderne gerade darin bestand, neue, und zwar allgemeine Inklusionen für jedes Mitglied der Gesellschaft zu schaffen (wenngleich dieser allgemeine Inklusionsoptimismus inzwischen problematisiert wird). Im Gegensatz zur Rollendifferenzierung, die an stratifikatorischer Ordnung, d.h. selektivem Ein- und Ausschluss orientiert war, bieten moderne Systemdifferenzierungen gerade für jeden die Option der Teilnahme. Am Beispiel des Erziehungssystems zeigen Luhmann/Schorr auf, dass die Semantik über die allgemeine Erziehungsbedürftigkeit von Menschen, zunächst von Kindern, die damit gewissermaßen als eigene Lebensphase 'erfunden' wurden. die Systembildung begleitet hat.[363]

Insofern erweist sich auch die Betonung des Bildungsrechts für geistig behinderte Personen in den 1960er Jahren als eine auf der Ebene der Semantik entfaltete Bedingung für ihre Inklusion in das Erziehungssystem. Aus diesem Grund mag an der Einforderung eines Bildungsbegriffes innerhalb der Sonderpädagogik festgehalten werden - womit allerdings kein spezifisch sonderpädagogischer Bildungsbegriff gemeint sein kann. Das Spezielle der Sonderpädagogik kann nicht (mehr) über die Anthropologie bestimmt werden, sondern und dies wird zu erarbeiten sein, in einem funktions- und professionstheoretischen Konzept. Ob hierfür der Bildungsbegriff bestimmend und ausreichend ist, wäre zu diskutieren.

5.3 Bildung statt Erziehung?

Entlang der eingangs gestellten Fragen, ob der innerhalb der Sonderpädagogik formulierte Erziehungsbegriff wünschenswert und beizubehalten, durch einen Bildungsbegriff ergänzt oder gar ersetzt werden sollte, lassen sich folgende Überlegungen anstellen:

Zunächst ist in der Tat mittlerweile eine relative Unschärfe der pädagogischen Erziehungs- und Bildungsbegriffe zu konstatieren. Die Analyse allgemeinpädagogischer Konstruktionen des Erziehungsbegriffes zeigte eher. dass dieser mit Konnotationen des Bildungsbegriffes aktuell neu aufgeladen wird, ohne wirklich trennscharf abgegrenzt werden zu können. Rein semantisch ist der Bildungsbegriff ohnehin der modernere, dem allerdings die gleichen Probleme anhaften, wie dem Erziehungsbegriff - nämlich Autonomie und Heteronomie, Individuum und Gesellschaft auf einen Begriff bringen zu wollen. Ein Erziehungsbegriff, der nicht beide Dimensionen aufnimmt, ist eben so wenig tauglich wie ein dergestalter Bildungsbegriff. Doch mit der Perspektive der Autonomie, so zeigte sich, tut sich die Sonderpädagogik besonders schwer - das dauerhaft zu erziehende (bzw. zu bildende) Subjekt ist im eigentlichen ihr Thema. Insofern lässt sich ihre Präferenz für den Erziehungsbegriff - nicht nur aufgrund historischer Weichenstellungen - erklären.

Das Postulat der (dauerhaften) Erziehungsbedürftigkeit anthropologisch aufzuladen, bestimmt die bisherige theoretische Argumentation nicht unerheblich. Dabei ist - wie gezeigt - die anthropologische Bestimmung von Erziehung und Bildung, ja von Pädagogik überhaupt, ein langanhaltender Mythos, der zwar die Semantik entfalten kann, aber die Funktionsseite des Erziehungssystems nicht mit in Augenschein nimmt. Doch was genau ist diese? Erzeugung von Erzogenen und Unerzogenen, von Gebildeten und Ungebildeten oder inzwischen von schlechteren und besseren Lernen?

Weiterhin lässt sich fragen, ob diese beschriebene Selektionsfunktion überhaupt noch als das Kerngeschäft des Erziehungssystems für die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme anzusehen ist, oder ob nicht vielmehr mit der Diagnose der Schwächung der Inklusionsfunktion von Organisationen auf Dauer gestellte Erziehung/Bildung/Vermittlung ihr neuer Auftrag ist? Damit wäre dauerhafte oder immer wiederkehrende Inklusion in unterschiedlichen Organisationsformen zur Vermittlung von 'Wissen' ihre gegenwärtige gesellschaftliche Funktion. Insofern wäre Sonderpädagogik geradezu prototypisch im Konstrukt der dauerhaft erforderlichen Pädagogisierung - lediglich die Seite der Autonomie wäre noch einmal neu zu bestimmen, sowie ihre Aufgabe als Vermittlerin von 'Wissen'.

Interessanterweise ist aber die aktuelle Semantik nicht lediglich - wie möglicherweise zu erwarten wäre - mit dem Begriff des Lernens befasst - selbst ihr Hauptvertreter Giesecke besteht zusätzlich auf dem Bildungsbegriff. Vielmehr ließe sich im gegenwärtigen Bildungsdiskurs Intersubjektivität und Anerkennung als Thematisierung von Sozialität ausmachen - ein noch vor kurzer Zeit wohl klassisches Erziehungs- oder Sozialisationsthema.

Wenn es also nicht nur um die Erzeugung von Lernfähigkeit geht, sondern mithin diese auch bestimmt wird als Erzeugung von Sozialität, dann lässt sich der Bildungsbegriff nicht schlicht zum Verschwinden bringen. Im Gegenteil - hiermit wäre eine inhaltliche Seite gesellschaftlicher Problemstellungen formuliert, die aus der Perspektive der Sonderpädagogik in Bezug auf Anerkennung, Gerechtigkeit und soziale Inklusion weiter zu entwickeln wäre. Diese Dimensionen sind allerdings unteilbar und insofern nicht lediglich innerhalb eines sonderpädagogischen Bildungsbegriffes zu positionieren. Dass damit Prozesse, die vormals mit Erziehung beschrieben wurden, einhergehen, versteht sich von selbst. Die bisherige Verkürzung von Erziehungs- und Bildungszielen innerhalb der Sonderpädagogik, die als individuelle Sinnstiftung und Sinnvermittlung gekennzeichnet wurden, reicht aus dieser Perspektive nicht aus.

Das Plädoyer für eine Orientierung der sonderpädagogischen Disziplin am Bildungsbegriff schließt ein, dass diese sich weiter als Teil des Erziehungssystems versteht. Dies scheint für den Aspekt sozialer Inklusion zwangsläufig - sowohl bezogen auf die Institution Schult: wie bezogen auf die Vermittlung von Wissen in auch anderen Organisationsformen.



[271] Heinz-Joachim Heydorn: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt 1972 S. 120 Auch Tenburk formulierte bezüglich der Idee der Universität: "Ein dauerhaftes Kennzeichen der Bildungsvorstellung der deutschen Universitätsidee liegt darin, daß für Bildung immer in einem strengen Sinne Selbstbestimmung und Selbstformung der Menschen ist. Eine solche Bildung gewinnt also erst der der Erziehung entwachsene Mensch" Zitiert nach Christoph von Wolzogen: Autopoiesis und Bildung in: Jan Masschelein/Jörg Ruhloff/Alfred Schäfer (Hrsg.) Erziehungsphilosophie im Umbruch. Beiträge zur Neufassung des Erziehungsbegriffs. Weinheim 2000, S. 181

[272] Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. in: Ders,: Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn 1964, S. 36

[273] Vgl. Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungsystem. Frankfurt 1988, S. 78f.

[274] Michael Winkler: Erziehung. in: Heinz-Herrmann Krüger/Werner Helsper (Hrsg.): Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Opladen 1996, S. 67

[275] Exemplarisch für diese Position: "Festzustellen, WM Erziehung meint, scheint deshalb schwierig, weil mit dieser Feststellung die Interpretation von Handlungsweisen gemeint ist, die sich zugleich als Interpretation und als Rechtfertigung von Herrschaft begründen muß." Alfred Schäfer: Systemtheorie und Pädagogik. Konstitutionsprobleme von Erziehungstheorien, Hain/Hanslein 1983, S. 150

[276] Dennoch geriet in der erziehungswissenschaftlichen Debatte der 1970er Jahre auch der Bildungsbegriff aufgrund seiner Implikationen eines selbstidealisierten, bürgerlichen Subjekts in die Kritik. Demgegenüber versprach der Erziehungsbegriff eher auch kollektive Identitäten zu erzeugen mit der Perspektive auf Emanzipation.

[277] Michael Winkler 1996, S. 54

[278] Hermann Giesecke: 'Das Ende der Erziehung'. Ende oder Anfang pädagogischer Professionalisierung? In: Arno Combe/Werner Helsper (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt 1996, S. 391

[279] Arnold Schäfer: Erziehung im Aspekt der Endtraditionalisierung. in: Masschelein/Rudolf Schäfer 2000, S. 20, Herv. i. O.

[280] Erich Weber: Biographische Orientierung der Pädagogik: Erziehung und Bildung im Lebenslauf. in: Norbert Seibett/Helmut J. Serve (Hrsg.): Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Multidisziplinare Aspekte, Analysen, Positionen, Perspektiven. München 1994, S. 393

[281] Winkler 1996, S. 59

[282] Weber 1994, S. 38

[283] Hans Jürgen Apel: Erziehung zur 'Selbsttätigkeit im Dienste des Wahren, Schönen und Guten'. Überlegungen zum Bildungsauftrag der Schule, in: Seibert/Serve 1994, S. 518

[284] Erziehung habe immer die kollektiven, "nicht die individualisierenden [Dimensionen im Auge. V.M.), die mußten immer schon gegen diese kollektiven Ansprüche durchgesetzt werden." Giesecke 1996, S. 392, Herv. i. O.

[285] Ebd., S. 393

[286] Dietrich Benner: Erziehung. Bildung. Normativität. in: Cornelia Dietrich/Hans-Rüdiger Moller (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken, Weinheim/München 2000, S. 104

[287] Vgl. hierzu u.a. Micha Brumlik: Moralität in der Zeit·- Probleme einer intersenetativen Ethik, in: Masschelein/Ruhloff/Schäfer 2000, S. 247 - 262

[288] Eberhard Mannschatz: Kommt der Erziehung eine sozial-integrative Funktion zu? In: Dietrich Hoffmann (Hrsg.): Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs. Vorschläge zu seiner Modernisierung. Weinheim 1999, S 225

[289] Winkler 1996, S. 65

[290] Konrad Bundschuh/Ulrich Heimlich/Rudi Krawitz (Hrsg.): Wörterbuch Heilpädagogik, Bad Heilbrunn 1999, Stichwort Erziehung, S. 70

[291] Heinz Bach: Zum Begriff 'Schwerste Behinderung'. in: Andreas Fröhlich (Hrsg.): Pädagogik bei schwerster Behinderung. Handbuch der Sonderpädagogik. Bd 12. Berlin 1991, S. 11

[292] Emil E. Kobi: Grundfragen der Heilpädagogik. Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 18

[293] Ulrich Bleidick: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie. Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 7

[294] Urs Huberlin: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschalft. Bern/Stuttgart/Wien 1996, S. 171

[295] Otto Speck: System Heilpädagogik. Eine ökologisch-reflexive Grundlegung. München/Basel 1996, S. 330f

[296] Wolfgang Jantzen: Allgemeine Behindertenpädagogik. Bd. 2. Weinheim/Basel 1990, S. 235

[297] Wilhelm Pfeffer: Förderung schwer geistig Behinderter. Eine Grundlegung. Würzburg 1988, S. 19

[298] Vgl. ebd., S. 55

[299] Georg Feuser: Behinderte Kinde, und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung, Darmstadt 1995, S. 140, Herv. i. O.

[300] Hajo Jakobs: Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenreflexion aus kritisch-theoretischer Sicht. Rom/Stuttgart/Wien 1991, S. 11f

[301] Vgl., ebd., S. 159

[302] Ebd., S. 250

[303] Barbara Fornefeld: Das schwerstbehinderte Kind und seine Erziehung. Beiträge zu einer Theorie der Erziehung. Heidelberg 1998, S. 110

[304] Ebd., S. 88, Herv. i. O.

[305] Vgl. Jakobs 1991, S. 24

[306] Vgl. auch Georg Theunissen: Heilpädagogik im Umbruch: Oder Bildung. Erziehung und Therapie bei geistiger Behinderung. Freiburg 1993, S 148

[307] So formuliert z.B. Otto Speck: "Die pädagogische Förderung (Erziehung, Unterricht, Therapie) (...) bezieht sich schwerpunktmäßig auf die wichtigsten Entwicklungsstufen der Kinder und Jugendlichen". Ders: Geistige Behinderung und Erziehung. München/Basel 1980, S. 47

[308] Theunissen 1993, S. 141

[309] Walter Dreher: Denkspuren: Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung - Basis einer integrativen Pädagogik. Aachen 1991, S. 25f

[310] Dieler Lenzen: Lebenslauf oder Humanontogenese? Vom Erziehungssystem zum kurativen System - von der Erziehungswissenschaft zur Humanvitologie, in: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann (Hrsg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanonlogenese a1s Medium und Form, Frankfurt 1997, S. 231

[311] Jochen Kade: Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignung. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen. in: Lenzen/Luhmann 1997, S. 50

[312] Ebd., S. 59

[313] Ebd., S. 69f.

[314] Vgl. Luhmann/Schorr 1988, S. 58ff

[315] Ebd., S. 74

[316] Ebd., S. 93

[317] Peter Euler: Kritische Bildungstheorie im Formationsprozeß technologischer Zivilisation, in: Lutz Koch/Winfried Marotzki/Alfred Schäfer (Hrsg): Die Zukunft des Bildungsgedankens. Weinheim 1997, S. 144

[318] Vgl. Krassimir Stojanov. Gesellschaftliche Modernisierung und lebensweltorientierte Bildung. Weinheim 1999, S. 6

[319] Hermann Giesecke: Rückkehr zur Bildung? In: Hoffmann 1999, S. 125

[320] Reinhard Uhle: 'Bildung' als Deutungsmuster. Zur Bedeutung kulturtheoretischer Visionen in Gegenwartsdiskursen. in: Hoffmann 1999, S. 99f

[321] Heinz-Elmar Tenorth: Bildung - was denn sonst? In: Comelie Dietrich/Hans-Rüdiger Möller (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiter denken. Weinheim/München 2000, S. 101

[322] Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt 1996, S. 307

[323] Alfred Schäfer: Individuelle Bildung - zwischen Vernunft, Negativität und Tragik. in: Koch/Marotzki/Schäfer 1997, S. 31

[324] Vgl. ebd., S. 31 f

[325] Yvoone Ehrenspeck und Dirk Ruslemeyer sprechen hier lediglich von einer vorübergehen, den "semantischen Operation" statt eines "forschungsinduzierten Paradigmenwechsels". vgl. Dies: Bestimmt unbestimmt. in: Combe/Helsper 1996, S. 374

[326] Vgl. Wolfgang Klatki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim/Basel 1985, S. 45f

[327] Heinz-Hermann Kroger: Entwicklungslinien und aktuelle Perspektiven einer Kritischen Erziehungswissenschaft. in: Heinz Sonker/Heinz-Hermann Kruger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt 1999, S. 168

[328] Vgl. ebd., S. 175

[329] Vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Die zweite Chance. Oder: Über die Geltung van Kritikansprüchen 'kritischer Erziehungswissenschaft'. in: Sünker/Krüger 1999, S. 146

[330] Vgl. auch Uhle 1999, S. 92

[331] Gerhart Neuner: Allgemeinbildung - ein Phantom? In: Hoffmann 1999, S. 176

[332] Uhle 1999, S. 96

[333] Bernhard Koring: Das Theorie-Praxis-Verhältnis in Erziehungswissenschaft und Bildungstheorie. Donauwörth 1997, S. 15

[334] Alfred Schäfer 1997, S. 35

[335] Christoph von Wolzogen: 'Mit Vernunft oder ungeladener Gast'. Der Andere als widerständiges Problem der Bildungstheorie. in: Koch/Marotzki/Schäfer 1997, S. 99

[336] Vgl. Annedon: Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Opladen 1993

[337] Roland Reichenbach: Bildung a1s Ethos der Differenz, in: Koch/Marotzki/Schäfer 1991, S. 138

[338] Vgl. Euler 1997, S. 156

[339] Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim/München 2001, S. 168

[340] Krüger 1999, S. 178

[341] Dietrich Hoffmann: Bildung - Halbbildung - Unbildung. Der Verfall eines pädagogischen Sachverhalts. in: Ders. 1999, S. 33f

[342] Giesecke 1999, S. 128

[343] Neuner 1999, S. 176

[344] Siebren Miedema/Willem L. Wardekker: Pädagogik, Identität und gesellschaftlicher Wandel, In: Sünker/Krüger 1999, S. 102

[345] Tenorth 1999, S. 160

[346] Koring 1997, S. 156

[347] Vgl. Michael Winkler: Reflexive Pädagogik, in: Sünker/Krüger 1999, S. 282

[348] Winkler 1999, S. 274

[349] Ursula Stinkes: Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff, in: Behinderte 3/1999, S. 79f.

[350] Vgl. ebd., S. 77

[351] 0tto Speck: Bildung statt Therapie, aus bildungstheoretischer Sicht, in: Markus Hammerschmidt (Hrsg.): Bildung statt Therapie (Bericht der 5. Internationalen Tagung für Erwachsenenbildung der Gesellschaft Erwachsenenbildung und Behinderung e.V.), Mainz 1995, S. 39

[352] Haeberlin 1996, S. 344

[353] Speck 1996, S. 159f

[354] Ebd., S. 158

[355] Bleidick 1999, S. 144

[356] Ebd., S. 105

[357] Theunissen 1993, S. 25

[358] Ebd., S. 26

[359] Vgl. Heinz Bach: Grundlagen der Sonderpädagogik, Bern/Stuttgart/Wien 1999; Urs Haberlin: Allgemeine Heilpädagogik. Bern/Stuttgart/Wien 1998 und Kobi 1993

[360] Vgl. Bundschuh/Heimlich/Kruwitz 1999, Stichwort Bildung, S. 46

[361] Feuser 1995, S. 140, Herv. i. O.

[362] Vgl. Jantzen 1990, S. 240f

[363] Vgl. Luhmann/Schorr 1988, S. 29ff

6. Neue Konstruktionen

An dieser Stelle soll nun der Versuch unternommen werden, statt der gezeigten vorwiegenden Ausdifferenzierung der sonderpädagogischen Disziplin entlang der Klientelbestimmung, diese von zwei Seiten neu zu entfalten - nämlich einerseits entlang der Semantik 'Bildung' und andererseits entlang einer funktionalen und aufgabenbezogenen Bestimmung sonderpädagogischen Handelns. Damit könnten sonderpädagogische Theoriebestlinde, sowohl hinsichtlich ihrer semantischen Selbstthematisierung - hier entlang des Bildungsbegriffes, wie auch hinsichtlich der Analyse ihrer Handlungslogik (Bewältigung sozialer Exklusion) weiterentwickelt werden.

Ein solcher Vorschlag verfolgt die Idee, sonderpädagogische Theoriebildung mittels einer Verschränkung von disziplinärer Selbstbesehreibung mit der Hereinnahme professionstheoretischer Aufgabenbestimmungen sonderpädagogischen Handelns weiter zu entwickeln. Auf diese Weise eröffnet sich die Möglichkeit, einen Bildungsbegriff zu entfalten, der nicht - wie der klassisch humanistische - an vorwiegend anthropologische Bestimmungen anschließt, sondern sich an der soziologischen Einsicht in die Notwendigkeit einer Bereitstellung und Sicherung von Inklusion innerhalb des Erziehungssystems orientiert. Weiterhin würde sonderpädagogisches Handeln ebenfalls von den bislang postulierten anthropologischen Bedürfnissen der Klientel abgekoppelt, zugunsten einer Präzisierung ihrer Handlungsorientierung, welche aus der Funktionsanalyse des Systems zu gewinnen wäre.

Dass ein solcher Vorschlag nunmehr die strikt analytisch-rekonstruktive Ebene der bisherigen Untersuchung auf der Basis einer systemtheoretisch inspirierten Disziplinbeobachtung verlässt, ist offensichtlich.

Zugleich enthält der nun zu entwickelnde Vorschlag auch eine normative Perspektive, ohne die sich pädagogisches Handeln nicht denken lässt. Auch diese ist nicht mehr mit systemtheoretischem Material zu gewinnen, sondern muss dem pädagogischen Selbstverständnis, bestimmte - gleichermaßen auf das Individuum und die Gesellschaft bezogene - Ziele verfolgen zu wollen, entnommen werden.

Dennoch knüpft der folgende Vorschlag an die analytische Rekonstruktion bisheriger disziplinärer Konstruktionen an, indem vermieden werden soll, auf anthropologische Begründungsmuster und eher metaphysisch gewonnener normativer Überzeugungen weiterhin zurück zu greifen. Hierzu sind gesellschaftstheoretisch ermittelte Einsichten in die Funktionslogiken des Erziehungssystems erforderlich, die den Zusammenhang von Inklusion und Exklusion beleuchten, wie ein ebenfalls gesellschaftstheoretisch inspirierter Bildungsbegriff.

Die Vorschläge gliedern sich in eine handlungstheoretische und eine bildungstheoretische Perspektive.

6.1 Handlungstheoretische Option

Bernhard Koring fordert innerhalb der Erziehungswissenschaften explizit eine Wende erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung hin zu handlungs- und professionsbezogenen Forschungen ein. Damit erwartet er einen konkreteren Bezug auf pädagogische Praxis, die wiederum Reflexionsangebote für die disziplinäre Selbstvergewisserung zulasse. Auf diese Weise erhalte der disziplinäre Diskurs seinen Reflexionshorizont; dies setze aber voraus, dass "die Frage nach dem Pädagogischen auch als empirisches und heuristisches Problem definiert wird - und nicht nur als Problem der Reflexion, der Ideengeschichte oder der Vergewisserung (historisch und handlungstheoretisch)." [364]

Dem soll insofern gefolgt werden, als in der Tat anzuerkennen ist, dass erziehungswissenschaftliche Disziplinkonstruktionen einen Bezug zur Praxis haben, diese also zu reflektieren und mit Hilfe eigener Semantiken ja gerade auch die Einheit des Systems zu stiften suchen, andererseits aber Empirie nicht unterstellt wird, hiervon in gewisser Weise jenseitige Realitäten beschreiben zu wollen, so lange diese mit disziplinären, also Reflexionsbegriffen des Wissenschaftssystems operieren. 'Praxis' soll hier eingeholt werden über Funktionsbestimmungen des Systems und ihren möglichen Rückschlüssen auf pädagogisches Handeln sowie unter Heranziehung strukturlogischer Handlungstheorien, wie sie in der Weiterentwicklung der klassischen Professionstheorie inzwischen vorgelegt werden.

Insofern wird auch der Handlungsbegriff weiter gefasst, als ihn Koring 1992 vorschlägt, indem er pädagogische Tätigkeit noch einmal in 'Handeln' und 'Deuten' unterscheidet.[365] Der dagegen in dieser Arbeit verwendete Handlungsbegriff mit seinem Bezug auf professionelles Handeln lehnt sich an ein Professionsverständnis an, welches seine Spezifik durch die Perspektive auf besondere Handlungsprobleme gewinnt. die "für das Funktionieren von fortgeschrittenen Gesellschaften von zentraler Bedeutung" sind.[366] Oevermann beispielsweise ordnet diese - wie bereits vorne beschrieben - den Bereichen Wahrheits-, Gesundheits- und Konsensstiftung zu.

Damit geht eine solche handlungstheoretische Verortung pädagogischen Handelns über eine rein systemtheoretische Betrachtung hinaus, die beispielsweise mit den Begriffen 'Lernen' als neuer pädagogischer Semantik, 'Selektion' im Sinne der Funktionsseite des Erziehungssystems oder 'Hilfe' mit Blick auf Soziale Arbeit[367] operiert. Die hier vorgeschlagene handlungstheoretische Perspektive sollte allerdings die von Seiten der Systemtheorie zu beschreibenden Funktionslogiken in die Selbstbeschreibung ihrer theoretischen Explikation pädagogischen Handelns mit aufnehmen können.

Eine solche Verknüpfung regen auch Merten/Olk an und kennzeichnen dies als "strukturtheoretisch inspiriertes Professionsmodell", welches sowohl die äußeren, institutionellen Merkmale des Berufes berücksichtige wie auch die Logik des beruflichen Handelns selbst.[368]

Für die hier anzustellende Entwicklung eines solchen Ansatzes für die Sonderpädagogik ist dabei als ein zentraler Aspekt zu berücksichtigen, der im Verlauf der bisherigen Untersuchung von besonderer Bedeutung war - nämlich die bisherige Verlagerung des Handlungsproblems - und mithin der konstituierenden Bedingungen der sonderpädagogischen Disziplin selbst - in ein besonderes Subjekt hinein. Aufgrund der vielfach diskutierten Folgeprobleme dieses Fokus' auf 'Behinderung' soll innerhalb des hier zu entwickelnden handlungstheoretischen Entwurfes ein Perspektivenwechsel hin zu von Seiten der Gesellschaft formulierten Handlungsproblemen vorgenommen werden. Damit würde sich die Problemsicht eher als systembezogene Inklusionsproblematik, denn als Defektologie eines Einzelnen darstellen lassen.

Eine solche - bereits weiter vorne benannte - (auch) gesellschaftliche Perspektive formuliert Koring in seinem Professionsmodell: Es gehe um die Bearbeitung menschlicher Probleme, die von der Gesellschaft (und dem Individuum) als Gefährdungen angesehen würden und weder schlicht im Alltag, noch durch einfache Dienstleistungen zu bearbeiten seien. Dabei werde "ein allgemeines Interesse an Abhilfe unterstellt. Die Abhilfe kann man als Voraussetzung für das Funktionieren individueller und gesellschaftlicher Lebenspraxis verstehen.''[369] Die Bearbeitung solcher Probleme sind unter pädagogischer Perspektive als 'Lernprobleme' konzipiert, und zwar, so Koring, hinsichtlich "Wissen, Können und Normenbewußtsein."[370] In ähnlicher Weise sehen auch Combe/Helsper Professionen mit je solcher Problemsituation befasst, "die ohne Hilfe und Vermittlung eines Experten dem Klienten nicht mehr lösbar erscheint, deren Bewältigung aber auch aus dem Blickwinkel der Allgemeinheil als bestandswichtige Reproduktionsgrundlage des Lebens in einer Gesellschaft angesehen und anerkannt werden muß."[371]

Innerhalb der Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit scheint eine strukturtheoretische Perspektive bereits weitgehend angedacht: Auch hier können nicht mehr alle Klienten, die aufgrund von Armut, Migration oder anderen spezifischen Exklusionsbedingungen leben und spezifische sozialpädagogische Hilfen in Anspruch nehmen (müssen), als 'deviant' oder 'verwahrlost' bezeichnet werden, ebenso wie auch die Sonderpädagogik nicht mehr alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Lern- und Verhaltensproblematiken schlicht als 'behindert' beschreiben kann. Analog dazu könnte auch die Sonderpädagogik vom Code normal/anormal bzw. behindert/nichtbehindert auf Exklusion/Inklusion im Sinne eines Wechsels von einer personalen hin zu einer strukturbezogenen Perspektive umstellen.

Der Perspektivenwechsel ist allerdings in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion aus theorieimmanenten Gesichtspunkten noch nicht unumstritten. Zwar wird einerseits gemeinhin auf die Systemwirkungen Bezug genommen, die Exklusion - in systemtheoretischer Sicht - als notwendige Bedingung von Systembildungen begreift, andererseits aber wird von einer generellen, die Teilsysteme übergreifenden, gesellschaftlichen Exklusionsproblematik gesprochen, die die sogenannten 'Überflüssigen' (Robert Castel) produziere. Auf der Theorieebene wechselt also hier das Verständnis von Exklusion als notwendige Systemstruktur und Exklusion aus einer 'Gesamtgesellschaft' - ein Problem, das auch bei Luhmann nachlesbar ist und an späterer Stelle noch einmal aufgenommen wird. Dass in diesem zweiten Deutungsmuster implizit auf die Metapher einer gemeinsamen gesellschaftlichen Mitte und ihrer Ränder (Zentrum/Peripherie) Bezug genommen wird, kritisiert u.a. auch Armin Nassehi:

"Eine Gesellschaft ist kein Behälter, in dem man drin ist oder aus dem man herausfallen kann. Man muß wohl beim Begriff der Gesellschaft alle Wohnlichkeitsmetaphern fallenlassen, um überhaupt beschreiben zu können. wie so etwas wie Lebenslagen, wenn man so will: Wohnlichkeiten. durch gesellschaftliche Prozesse erzeugt werden."[372]

Wie ein so erweiterter Exklusionsbegriff mit einem Mechanismus der Systembildungen per Inklusion/Exklusion zusammengebracht werden könnte, soll weiter unten noch einmal diskutiert werden. Ob jedoch die Bestimmung der so Exkludierten als eine Gruppe der 'Überflüssigen' auch neuen erkenntnistheoretischen Gehalt haben kann, wäre noch zu prüfen.[373] Allerdings vermeiden beide Exklusionsbegriffe die in der Sonderpädagogik vorherrschende Blickrichtung auf personale Problematiken und eröffnen - möglicherweise auch in einer Verknüpfung - für die Bestimmung der sonderpädagogischen Handlungsorientierung eine erweiterte Perspektive, die an den Vorschlag Jantzens, Behinderung als Isolationsphänomen zu fassen, anschließen kann.

In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage: Benötigt die Gesellschaft über die Beschreibung von Inklusion/Exklusion hinaus die der Beschreibung von normal/anormal hinsichtlich spezifischer Persönlichkeitsmerkmale? Dies beträfe unter anderem auch die Seite der Leistung des Subsystems Sonderpädagogik und wurde am Mechanismus der Selektion anknüpfen.

Nach diesen eher propädeutischen Überlegungen müssen zur weiteren Präzisierung des sonderpädagogischen Handlungsmodus und der sonderpädagogischen Problembeschreibung zwei Analysefelder zusammengebracht werden: das der Schulpädagogik und das der Sozialen Arbeit, weil Sonderpädagogik historisch wie strukturell versucht, beide Felder abzudecken.

Mit dieser erweiterten Sicht ließe sich auch die gegenwärtig dominant sonderpädagogische Theorieperspektive auf Schule erweitern (die beginnende Professionsforschung innerhalb der Sonderpädagogik hat allerdings außerschulische Felder noch kaum in den Blick genommen).

Diese Verknüpfung würde unterstellen, es gäbe eine gemeinsame Handlungslogik schulischer und außerschulischer Sonderpädagogik - bezogen auf die Beschreibung von Tätigkeitsmerkmalen, die innerhalb der Disziplin zur Zeit gehandelt wären, träfe eine solche Annahme zu. Zur Schnittmenge würden beispielsweise gehören: der Diskurs um Subsidiarität sonderpädagogischen Handelns (vgl. Wocken und Heimlich), sonderpädagogische Diagnostik, Beratung und Kooperation (Reiser), Prävention und Integration (Reiser), Individualisierung allgemeiner pädagogischer Konzepte sowie das Stellvertretungskonzept - um die wesentlichen Spezifika zu nennen, die zugegebenermaßen auf verschiedenen Ebenen von Organisations- und Handlungsformen angesiedelt sind.[374]

Ob sich hieraus ein auch funktional definiertes Handlungsmodell entwerfen lässt, wäre nun im Folgenden zu prüfen, und zwar entlang der aus der soziologischen Systemtheorie vorliegenden analytischen Begriffe des 'Lernens' (Luhmann/Schorr) bzw. des 'Aneignens und Vermittelns von Wissen' (Stichweh, Kade) für das Erziehungssystem allgemein. sowie 'sekundärer bzw. stellvertretender Inklusion' für das Feld Sozialer Arbeit im Besonderen.

Bereits innerhalb der Analyse des Erziehungs- und Bildungsbegriffes zeigte sich, dass die sonderpädagogische Semantik ihr Handeln weitgehend im Modus der Erziehung beschreibt, teilweise ergänzt oder ersetzt durch den der Förderung. So gesehen erscheinen ihr die Probleme ihrer Klienten erstens auf Dauer gestellt, d.h, diese können nicht nach Abschluss der pädagogischen Intervention selbständig und ohne Hilfe bearbeitet werden (dies suggeriert der Erziehungsbegriff, der primär nicht an Erwachsene adressiert ist), Damit kann sonderpädagogisches Handeln bislang auch weniger unter der Perspektive des Lernens und der Vermittlung/Aneignung von Wissen gefasst werden, denn auch dieses unterstellt ja einen ansteigenden Autonomieprozess des Subjekts, der zwar inzwischen wohl nicht mehr zu einem Abschluss gebracht werden soll (vgl. die gegenwärtige Debatte um 'Lebenslanges Lernen' und 'Pädagogisierung der Gesellschaft'), aber dennoch einen gewissen selbständigen Umgang mit Wissen annimmt - so zumindest entwirft Kade inzwischen die Klientenseite. Dem entgegen positioniert die Sonderpädagogik einen Förderbegriff, welcher an Entwicklung orientiert ist und von hier aus aber wenig Aussagen zur Autonomie des Subjekts macht. Eher verbleiben die Förderkonzepte im physischen (Wahrnehmungs-, Kommunikations-, motorische Förderung), allenfalls im psychischen Bereich (hinsichtlich der Hilfe zu individueller Sinnstiftung und Sinnfindung). Insofern könnte ein Bildungsbegriff (S. 6.2) diese Engführung überwinden.

Strukturelle Beschreibungen, wie sie die Theorie Sozialer Arbeit inzwischen verlegt, welche sich auf Inklusions-/Exklusionsprozesse beziehen, bleiben in der Sonderpädagogik auf der Ebene der Semantik weitgehend unthematisiert. Zwar liegen Einsichten in soziale Exklusionsprozesse vor, diese werden aber im allgemeinen - wie gezeigt - nicht dem System selbst zugesprochen, und der Tendenz nach eher mit ethischen Forderungen als mit Strukturüberlegungen beantwortet. Lediglich die Integrationspädagogik scheint die strukturellen Bedingungen von Inklusion/Exklusion innerhalb des Erziehungssystems zu bearbeiten und wird daher im Folgenden zur weiteren Problembeleuchtung mit herangezogen.

Zur Untersuchung der Selbstbeschreibung sonderpädagogischen Handelns werden zunächst sonder- und integrationspädagogische Fassungen zu Rate gezogen, um sie dann mit gesellschaftlich-funktionalen Überlegungen zu konfrontieren.

Als Material sollen für die Frage nach den Handlungsformen der Sonder- und Integrationspädagogik aktuelle, im weitesten Sinne professionstheoretische Entwürfe herangezogen werden. Letztere werden an dieser Stelle mitberücksichtigt, weil erstens innerhalb integrationspädagogischer Settings die Frage nach dem Spezifischen sonderpädagogischen Handelns besonders deutlich zu Tage tritt und demzufolge auch als Problem bearbeitet wird, zweitens berücksichtigt Integrationspädagogik von ihrer Ausgangslage her stärker den gesellschaftlichen Kontext der Exklusion und kann von daher möglicherweise klassisch sonderpädagogische Ansätze um eine funktionale Perspektive erweitern.

Die Ergänzung sonder- um integrationspädagogische Diskurse ist insofern auch zulässig, als zunehmend der Eberweinschen Position, Integrationspädagogik habe die Sonderpädagogik abzulösen, widersprochen wird. Hans Wocken hierzu:

"Der verbreiteten Auffassung. daß im Zuge der Integration das Sonderpädagogische in der Allgemeinen Pädagogik aufgehe und folglich eine spezielle Sonderpädagogik sich weitgehend erübrige, wird nicht gefolgt. Despezialisierung (sonder)pädagogischer Professionalität ist ein Missverständnis integrativer Pädagogik. Just das Gegenteil ist der Fall: Gerade in integrativen Handlungsfeldern ist der Sonderpädagoge als Spezialist gefordert - oder eben überflüssig und ersetzbar. Sofern keine besonderen Aufgaben und Kompetenzen benennbar sind, ist auch der Anspruch sonderpädagogischer Zuständigkeit aufzugeben."[375]

In ähnlicher Weise äußert sich auch Reiser, welcher auf sonderpädagogischen Kompetenz- und Kooperationsmodellen entlang des Handlungstypus 'Beratung' innerhalb integrativer Pädagogik besteht.[376]

In anderer Hinsicht betont Wolfgang Jantzen die Relevanz behindertenpädagogischer Theorie und Praxis, da durch die Auflösung von Sonderpädagogik nicht zugleich das Problem des 'sozialen Tatbestands Behinderung' und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Marginalisierungen aufgehoben sei.[377] (An anderer Stelle verweist Jantzen hierzu vergleichend auf den Prozess der Enthospitalisierung.[378]) Weiterhin seien die entwickelten behindertenpädagogischen Kompetenzen in Disziplin und Profession unverzichtbar, die Jantzen allerdings, wie bereits dargelegt, nicht zwangsläufig innerhalb der Pädagogik verortet sieht.

Preuss-Lausitz (an anderer Stelle auch Wocken und Hinz) gehl von einer professionsgebundenen Perspektivitäl aus, die für den Erhalt der Sonderpädagogik spricht. Etwas schlaglichtartig formuliert er:

"Lehrer können gut unterrichten, aber sie sind dort ungeeignet als Sozialpädagogen (...). Sozialpädagogen haben selten Kenntnis von behinderungsspezifischen Bedingungen des Lernens oder den Alltagserfahrungen etwa eines Querschnittsgelähmten. Sonderpädagogen sind oft die 'normalen' Kinder und die Leistungsansprüche der allgemeinen Schule eher fremd und weil sie sich gern auf die einzelnen Kinder konzentrieren, ist ihnen der kommunale bildungspolitische Rahmen oft unbekannt."[379]

Hingegen betrachtet Feuser die Weiterentwicklung der Sonderpädagogik, auch hin zur Integrationspädagogik, nicht als Gewinn, da diese höchstens zu einer Pluralisierung und weiteren Ausdifferenzierung des bestehenden Schulsystems führe. Dagegen müsse Sonder- und Integrationspädagogik in Allgemeiner Pädagogik aufgehen.[380] Trotz dieses Einwands wird zunächst auch auf integrationspädagogische Literatur Bezug genommen, wobei allerdings in Rechnung zu stellen ist, dass es sich hier in erster Linie um die Bearbeitung didaktischer und organisationsbezogener Fragen handelt, hinsichtlich der Theoriebildung aber eher als 'Perspektive' zu bezeichnen ist.

Als weitgehender Konsens der gegenwärtigen professionstheoretischen Überlegungen - auch innerhalb der integrationspädagogischen Literatur - ist festzuhalten. dass auf sonderpädagogischer Disziplin und Profession weitgehend bestanden, allerdings die historische Kopplung an besondere Institutionen - hier u.a. die Sonderschule - aufgegeben wird. Dies könne, so die Einschätzung Hiltrud Loekens, eine Chance zur Professionalisierung sein. da "die große Abhängigkeit einer Berufsgruppe wie auch ihrer Klientel von einer Institution im Allgemeinen eher als Professionalisierungshindernis gesehen wird."[381] Ob allerdings lediglich durch die konzeptionelle Ablösung von speziellen Institutionen ein theoretischer Zugewinn zu erwarten ist, zieht Andreas Hinz in Zweifel. Vielmehr bestehe die größere Herausforderung darin, handlungstheoretische Optionen zu entfalten, die auf den Behinderungsbegriff verzichten: "Mit dem Verlust der ausschließlichen Orientierung an 'Behinderten' nun nicht mehr genau zu wissen, für wen man zuständig ist, ist deutlich brisanter als sonderpädagogische Förderung an einen anderen Ort zu verlagern."[382]

Was also ist im Blick der Selbstbeschreibung spezifisch sonder- und integrationspädagogisches Handeln? Fachrichtungsbezug sowie Unterrichtskompetenz zählen alle AutorInnen, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, auf. Darüber hinaus werden folgende Felder benannt, wobei die Akzentuierung des sonderpädagogischen Handelns erstens innerhalb spezifischer methodischer Zugänge gesehen wird, zweitens mit Hinblick auf besondere Settings und Arrangements sowie drittens auf eher organisatorischer Ebene:

Bezüglich einer besonderen Methodik, welche als sonderpädagogische Kompetenz gehandelt wird, reformuliert gegenwärtig nur noch Heinz Bach das traditionelle Konzept der 'kleinschrittigen Lernangebote': es gehe hier um "Sequentierung, (...) Isolierung der Schwierigkeiten (...) und um Kompensatorische Bemühungen bei bestimmten Ausfällen."[383]

Darüber hinaus ist relativ unstrittig, dass (sonder-)pädagogische Diagnostik einen wesentlichen sonderpädagogischen Kompetenzbereich ausmacht,[384] wobei die Diskussion um das 'Ettikettierungs-Ressourcen-Dilemma', also Zuweisung von sonderpädagogischen Hilfen nur bei einem am Individuum festgestellten Förderbedarf erst in jüngerer Zeit mit Konzepten des Hamburger Modells 'Integrative Grundschule' und der 'Inclusive Education' angereichert wurde.[385]

Weiterhin wird auf der Handlungsebene das bereits diskutierte Konzept der Förderung als sonderpädagogisches Spezitikum genannt und auch aktuell noch einmal von Ulrich Heimlich im Kontext der sonderpädagogischen Förderzentren als institutionelle Herausforderung an die Professionskonturierung mit "individueller Förderkompetenz" markiert.[386]

In den bis hierhin genannten sonderpädagogischen Handlungskonzepten scheint darüber hinaus ein wesentliches durchgängiges Merkmal auf: das der Individualisierung. Bereits in der Untersuchung der dialogischen Pädagogik und ihren sonderpädagogischen Ausdifferenzierungen[387] war diese Perspektive augenscheinlich; sonderpädagogisches Handeln ist vorwiegend am einzelnen Individuum orientiert und verleiht von daher der Handlungssituation einen spezifischen Akzent - mit den im Gemeinsamen Unterricht bekannten Folgen, nämlich der zurückgeholten Verbesonderung aufgrund des sonderpädagogischen Fokus auf ein behindertes Kind.[388] Auch in den bereits oben erwähnten Überlegungen von Ulf Preuss-Lausitz wird betont, daß Sonderpädagogen "sich gerne auf die einzelnen Kinder konzentrieren". Explizit ausformuliert findet sich das Individualisierungsprinzip innerhalb der professions-theoretischen Publikationen bei Haeberlin:

"Der Grundsatz des Bildungsrechts für jeden Menschen ist nur in die Realität umsetzbar, wenn bei der Vermittlung von Bildung das didaktische Individualisierungsprinzip beherrscht wird. Es ist unumgänglich, dieses in der heilpädagogischen Ausbildung so gründlich und in solcher Konkretheit zu vermitteln, dass die zukünftigen Förderpädagoginnen und -pädagogen als die kompetentesten Spezialisten für individualisierte Diagnostik des Entwicklungs- und Lernstandes eines einzelnen Kindes und für individualisierte Entwicklungsanregung und Lernförderung gelten."[389]

Auf der Ebene des Arrangements sind die derzeit am häufigsten gehandelten Konzepte, die der Beratung und der Kooperation, in nahezu allen professionstheoretischen Überlegungen, die vor allem anlässlich neuer Orientierungen im Zusammenhang mit schulischer Integration angestellt wurden, werden diese benannt. Helmut Reiser, der sich bislang am intensivsten mit Fragen der sonderpädagogischen Professionalisierung beschäftigt, fasst zusammen: "Das besondere Lehramt braucht einen höheren Spezialisierungsgrad, und zwar Spezialisierung auf Pädagogik unter erschwerten Bedingungen. Diese Spezialisierung muß kooperativ einsetzbar und vermittelbar sein in Beratungsprozessen."[390] Auch Wocken erwähnt diese Aspekte als Profilierung von Integrationspädagogik: "Kooperation, Teamteaching, kollegiale Beratung und Supervision - das sind die wichtigsten und zugleich auch die einzigen Lehrinhalte, die in eine integrationsorientierte Lehrerausbildung neu aufzunehmen sind."[391] Allerdings sind, wie auch die zusammenhängenden Nennungen von Kooperation und Beratung zeigen, von hier aus nach wenig handlungstheoretische Präzisierungen zu finden - insofern scheinen diese Beschreibungen den Status eines 'Arrangements' noch nicht weit zu überschreiten. Lediglich fragmentarisch wird von einigen Autoren (Heimlich, Reiser) auf Oevennanns professionstheoretisches Modell der 'stellvertretenden Deutung' Bezug genommen, ohne diesen strukturtheoretischen Ansatz allerdings für das Problemfeld der Sonderpädagogik zu präzisieren.

Das Dilemma der bisherigen unscharfen Konturierung von Beratung und Kooperation arbeiteten jüngst auch Reiser u.a. heraus: Sichte man die einschlägige Literatur genauer,

"dann kommen Zweifel auf, was genau unter diesen beiden Begriffen verstanden werden soll und in welcher Relation sie zueinander stehen. Auch liegen keine qualitativen empirischen Untersuchungen vor, die beschreiben, wie Kooperation und Beratung zwischen sonderpädagogischen und allgemeinpädagogischen Lehrkräften in verschiedenen Feldern und verschiedenen Settings zusammenhängen und welche Prozesse und Ablaufmodelle erfahrungsbegründet konstruiert werden können."[392]

Auf der Ebene der Beschreibung verbleibt somit auch Preuss-Lausitz' Konturierung des Sonderpädagogen als "Koordinator und Initiator von Hilfen", welcher über "Beratungskompetenzen, Kenntnisse sozialpädagogischer Instrumente", Kenntnisse über Arbeitsprogramme sowie interkulturelle Kompetenzen verfüge.[393] Mit dieser Skizze von Kooperation und Beratung erfolgt zwar bei Preuss-Lausitz keine weitere professionstheoretische Präzisierung, sie enthält aber den bedeutsamen Versuch, den Fokus von einem diagnostizierten personalen 'Problemträger' weg zugunsten einer systemisch, oder doch zumindest vernetzt verstandenen Handlungssituation zu verschieben. Insofern wird 'sonderpädagogischer Förderbedarf hier im Sinne eines "Unterstützungsnetzes" verstanden."[394]

Auf der Ebene der Organisation lagern sich schließlich sowohl beschreibende wie auch funktionslogische Überlegungen zur sonderpädagogischen Professionalität an. Funktional gedacht sind die Konturierungen 'Prävention' und 'Integration' (z.B. bei Reiser). Weiterhin wird in jüngerer Zeit der Aspekt der 'Subsidiarität' sonderpädagogischen Handelns betont. Dieser Gedanke ist der Sonderpädagogik insofern traditionell inhärent, als bereits die Institution Hilfsschule lediglich als Ergänzung zum Regelschulwesen konstruiert war - Aufnahmekriterium war von Beginn an ein zweijähriger "erfolgloser" Besuch der Volksschule. Der Aspekt der Subsidiarität ist schließlich auch in den 1994 erlassenen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz enthalten.[395]

Darüber hinaus wird auch innerhalb der integrationspädagogischen Literatur die Dimension der Stellvertretung erneut profiliert. Daraus wird in traditioneller Weise ein berufsethisches Konstrukt entworfen - nicht nur Bach und Haeberlin bestehen auf dieser Akzentuierung sonderpädagogischer Professionalität, auch Monika Vernooij fordert die Ausformung und "Kultivierung" einer "reifen Erzieherpersönlichkeit",[396] wie auch Wittrock:

Die "Profession 'Sonderpädagoge' erfordert (...) die stimmige Lehrerhaltung, die u.a. gekennzeichnet sein sollte von Merkmalen wie autonom, kommunikativ, reflexiv, rational und empathisch. Der Sonderpädagoge hat eine 'Anwalt für das Kind' - Funktion, die sich eher in einer solchen klaren, unmißverständlichen Haltung ausdrücken muß."[397]

Die allerdings hier einzufordernden Professionalisierungsaspekte, wie sie u.a. Hiltrud Loeken herausstellt, bleiben weitgehend unbearbeitet: Nämlich erstens dabei in den Blick zu nehmen, dass "durch berufliche Standespolitik und Etablierung eigenständiger sonderpädagogischer Institutionen manche Klientel erst geschaffen wird, und ihre besondere Forderung, deren Methoden alle im Besitz des eigenen Berufsstandes geglaubt werden, nur um den Preis der Aussonderung bzw. Besonderung zu haben ist", insofern nicht schlicht von einer vorhandenen Klientel und deren notwendiger Stellvertretung auszugehen ist, sowie zweitens, dass bei dem sonderpädagogischen Prinzip der Anwaltschaft offen bleibe, "wer denn das Mandat dazu erteilt und nach welchen Kriterien die Interessen derjenigen, die vertreten werden sollen, bestimmt werden."[398]

Schließlich scheint das bislang am innovativsten erarbeitete Professionsmodell mit der bereits anklingenden spezifischen "sonderpädagogischen Perspektive auf Heterogenität' von Hinz, Wacken und auch Preuss-Lausitz zu ermöglichen, sowohl eine Akzentverlagerung von einer als "behindert' kategorisierten Person hin zu einer situationsbezogenen Problembeschreibung wie auch strukturfunktionale Aspekte aufnehmen zu können hinsichtlich der Prozesse von Inklusion und Exklusion im Erziehungssystem. Diese Perspektive würde, so Wacken, insbesondere das klassische Stellvertretungsmodell irritieren:

"Die Sonderpädagogik verzichtet [damit, V.M.] in Theorie und Praxis auf den Alleinvertretungsanspruch auf behinderte Kinder und akzentuiert anstelle der defektologischen Sichtweise und der Theorie der Andersartigkeit die Normalität und Gleichheit von Menschen mit Behinderungen."[399]

Auf die weiteren Überlegungen von Opp und Reiser[400], die einerseits Reflexivität pädagogischen Handelns, wie auch das Verständnis von pädagogischem Handeln als konturiert durch ein 'Handeln in Ungewissheiten' - so Reiser in Anlehnung an Wimmer - als Merkmale der Professionalisierung vorschlagen, soll hier nicht weiter eingegangen werden, weil sich von hier aus keine funktionale, aufgabenbezogene Weiterentwicklung von spezifisch sonderpädagogischer Professionalität vornehmen lässt. Vielmehr sind beide Aspekte prinzipielle Merkmale pädagogischen Handelns und kaum weiter ausdifferenzierbar.

Wie nun lässt sich eine gesellschaftlich-funktional und aufgabenbezogene Bestimmung sonderpädagogischen Handelns gewinnen? Kann hier dem Vorschlag Wockens gefolgt werden, dass sonderpädagogisches Handeln in Richtung eines erweiterten Normalitätsverständnisses zu fassen ist?

Die bisherigen professionstheoretischen Überlegungen innerhalb der Sonderpädagogik (insbesondere Wocken, Preuss-Lausitz und Hinz) legen jedenfalls nahe, sonderpädagogisches Handeln auf eine pädagogische Situation zu beziehen, in der institutionelle Homogenisierungsstrebungen tendenziell zu Exklusionen führen. Dies entspricht auch neueren systemtheoretischen Beobachtungen, wonach die These, funktionale Differenzierung ermögliche unproblematische Inklusion auf der Kundenseite, inzwischen ais zweifelhaft gilt.

"Durch die favorisierte Fokussierung der Theorie auf Prozesse der Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme: im Übergang von der Frühmoderne zur Moderne gerieten Prozesse des Ausschlusses von Personen aus den ausdifferenzierten Kommunikationszusammenhangen aus dem Blick. Mittlerweile aber wird eingestanden: 'Inklusion' bezeichnet (...) die innere Seite der Form, deren äußere Seite 'Exklusion' ist. Von Inklusion kann man also sinnvoll nur sprechen, wenn es Exklusionen gibt."[401]

Dass allerdings die Seite der Exklusion nicht lediglich als Systemeffekt zu beobachten, sondern auch mit Blick auf Ausschlussfolgen für das Subjekt neu zu bewerten sind, wurde weiter oben schon einmal bezogen auf die Hervorbringung der sogenannten 'Überflüssigen' angedeutet. Luhmann selbst hat in seinem Splitwerk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" zu dieser Problematik Stellung genommen und hier die Lesart einer Mela-Differenz des Exklusionsbegriffes vorgeschlagen:

"Das reichlich verfügbare Material legt den Schluß nahe, daß die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzulocken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren. Ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht überhaupt zum Zuge kommt und ob sie nach rechtssysteminternen Programmen behandelt wird, hangt dann in erster Linie von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab."[402]

Insofern entspricht diese Beobachtung der genannten Produktion von Exkludierten, da sich Exklusionsprozesse gegenseitig bedingen und damit verstärken - von einer allgemeinen Inklusionsfunktion moderner Gesellschaften also nicht mehr gesprochen werden kann.

"Vielmehr bilden sich an den Rändern der Systeme Exklusionseffekte, die auf dieser Ebene zu einer negativen Integration der Gesellschaft führen. Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem - keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit politische Wahlkampagnen und Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden. Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung - beschrankt das, was in anderen Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden."[403]

Luhmann schlägt an dieser Stelle vor, etwa durch Sozial- und Entwicklungshilfe, diese Probleme der Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung zu bearbeiten.[404]

Mit einer solchen Wendung, so betonen Roland Merten und an anderer Stelle auch Armin Nassehi zu Recht[405], verknüpft Luhmann Beobachtungen von autopoietischen Systembildungen mit Theorien zur sozialen Ungleichheit. Dies mag erkenntnistheoretisch zunächst problematisch sein, die Anregung Nassehis zur Verknüpfung beider Perspektiven erscheint jedoch plausibel:

"Das gesellschaftsdiagnostische Potential der Theorie funktionaler Differenzierung jedenfalls hängt (...) davon ab, inwiefern es gelingt. die gesellschaftliche Differenzierungsform einerseits und interaktionsnahe soziale Lebenslagen von Personen und individuelle Selbstbeschreibungsformen andererseits zusammenzudenken."[406]

Diesen Überlegungen folgend wäre für die Sonderpädagogik zunächst einmal zu formulieren, dass sie die Folgen der funktionalen Differenzierung bezogen auf das Erziehungssystem in die Selbstbeschreibung ihrer Handlung aufnimmt, um das Exklusionsphänomen (hier verstanden als Ungleichheitsproblematik) nicht als Störung des Systems selbst nach aufden abgeben zu müssen. Insofern ließe sich als ihre systembezogene Aufgabenstellung die Vermeidung von Exklusion aus dem Erziehungssystem formulieren.

Durch diese spezifische Perspektive könnte beispielsweise das klassische Stellvertretungsmodell im Sinne Wockens als Vertretung von Heterogenität gefasst werden. Damit wäre die Sicherung von Heterogenität im Erziehungssystem eine auf der Ebene der Organisation zu verankernde Strukturbeschreibung sonderpädagogischen Handelns. Die dabei gleichzeitig entstehende Problematik auf der anderen Seite, nämlich durch den Blick auf Heterogenität diese selbst auch zu (re-)produzieren, sollte im Feld der Reflexivität aufgehoben bleiben.

Die funktionale Codierung sonderpädagogischen Handelns könnte also mit 'Exklusion/Inklusion' beschrieben werden und würde damit an den Funktionsaspekt 'Selektion' des Erziehungssystems zunächst anschließen.

Auf der Ebene der Handlung kann die Heterogenitätsperspektive als Zielstellung verankert werden, jedoch bleiben damit die Fragen nach konkreten Handlungsmodellen unbeantwortet. Gegenwärtig scheint die klassische Beschreibung sonderpädagogischen Handelns entlang von Diagnostik, Unterricht. Kooperation und Beratung auch in integrationspädagogischen Settings weiterhin Gültigkeit zu besitzen, jedoch sollte von einer individuumsbezogenen auch auf eine gruppenbezogene pädagogische Situation umgestellt werden, da individualtheoretische Handlungsbegründungen auf der semantischen Ebene (sonder-)anthropologische Argumente reinstallieren und auf der Handlungsebene Prozesse der Desintegration tendenziell befördern.

Über die genannten strukturfunktionalen Bestimmungen sonderpädagogischen Handelns hinaus lassen sich zur Zeit jedoch angesichts der Heterogenität der Arbeitsfelder in schulischen und außerschulischen Settings keine weiteren Engführungen anschließen. Die Strukturüberlegung hinsichtlich der Subsidiarität sonderpädagogischen Handelns lässt allerdings weiterhin den Schluss zu, dass dieses in allen pädagogischen Situationen eintreten kann, insofern keine spezifische institutionelle Verankerung benötige.

Sonderpädagogisches Handeln wäre damit weder durch eine eigene Institution, noch durch eine eigene Handlungsspezifität im Sinne einer Sonderform von Vermittlung/Aneignung und Lernen mit spezifischern Bildungsauftrag gekennzeichnet, sondern lediglich durch eine eigene Perspektivität, sowie durch einen eigenen theoretischen Referenzbereich bestimmt. Letzterer wird in der bisherigen Diskussion als 'Fachrichtungskenntnis' umrissen und wäre zu ergänzen um Kenntnisse hinsichtlich institutioneller und gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsprozesse. Diese ist mit der von Wolfgang Jantzen entwickelten Kategorie der 'Isolation' bereits in die sonderpädagogische Theoriebildung eingeflossen.

Versucht man, hier anknüpfend, nun den gesellschaftlich-funktionalen Aspekt in diese Beschreibung mit aufzunehmen. stößt man bereits innerhalb der eigenen Semantik auf den Zusammenhang der sozialen Integration. Bekanntermaßen ist die Aussonderung oder Verbesonderung der sonderpädagogischen Klientel innerhalb des Erziehungssystems im Zusammenhang mit der allgemeinen systemimmanenten Selektionsfunktion zu sehen. Von daher, so argumentieren Opp, Fingerle und Puhr, sei die Antinomie 'Differenz/Individualität' auf der einen Seile und 'soziale Integration' auf der anderen als Codierung sonderpädagogischen Handelns zu fassen:

"Die pädagogischen Antinomien zwischen individueller Gleichheit und Vielfalt, sozialer Integration und Differenz können nicht aufgelöst werden. Sie bedürfen pädagogischer Reflexion und Gestaltung, wenn sich ihre Reflexion im Medium von Bildungsprozessen nicht in einer 'Polarisierungsfalle' verfangen soll (...). Die sozialen Widerspruchsverhältnisse zwischen Integration und Differenz sind konstitutiv für (sonder-)pädagogisches Handeln."[407]

Allerdings verläuft die Argumentation der genannten AutorInnen entlang einer Parallelisierung von Behinderung und Differenz. Erst wenn die "Differenz von Behinderung und Normalität obsolet" werde, wäre die Frage nach einer Legitimation von Sonderpädagogik neu zu stellen:[408] Von dieser Argumentationsseite her gesehen erfüllt Sonderpädagogik gewissermaßen die Funktion der pädagogischen Produktion und Verdauerung von 'Bchinderung', indem sie sieh auf individuelle Differenz belieht - und diese u.a. mit Behinderung übersetzt. Dies muss mit Verweis auf die Negativfolgen des Behinderungskonstrukts kritisch eingeschätzt werden.

Hans Wocken hingegen argumentiert von Seiten einer zwangsläufigen Heterogenität einer Lerngruppe, auf der zu bestehen und die nicht durch institutionell eingeführte Komplexitätsreduktionen zu bearbeiten sei. Heterogenität bzw. Komplexität sei vielmehr durch Kompetenz- und Personalerhöhung zu entsprechen. Von hier aus ist in der Tat soziale Integration oder Inklusion zu fordern, allerdings nicht als gesellschaftliche 'Totalinklusion', wie der Text von Opp u.a. nahe legt, sondern innerhalb des Erziehungssystems. Wenn dieses sich - wie bereits diskutiert - allerdings zunehmend auf dauerhaftes Lernen und damit lebenslange Inklusion einstellt, ist die Frage, ob der Selektionsauftrag weiterhin dominantes Funktionsmerkmal des Erziehungssystems bleiben, oder ob Selektion von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen übernommen wird, die zudem nicht mehr dauerhafte Entscheidungen vergeben (vgl. die Konfektionierung von alternierenden Berufs- und Bildungsbiographien). Damit würde sich das Funktionsmerkmal des Erziehungssystems eher in Richtung sozialer Inklusion über den Modus des Lernens verlagern, welcher die Folgeprobleme funktional differenzierter Gesellschaften zu bearbeiten hat, ohne damit gesellschaftliche Vollinklusion zu meinen.

Unter diesem Gesichtspunkt wäre schließlich noch einmal ein vergleichender Blick zur Sozialen Arbeit erforderlich, deren Funktion unter dem Stichwort der 'stellvertretenden' oder 'sekundären Inklusion' beschrieben wird.[409] Hier wird ebenfalls argumentiert, Soziale Arbeit habe Probleme zu lösen, die sich aus der funktionalen Differenzierung ergeben, die jedoch nicht innerhalb der großen gesellschaftlichen Teilsysteme, sondern an deren Schnittstelle bzw. als Subsystem bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob hier gewissermaßen eine 'zweite Realität' durch das Hilfesystem erzeugt wird, welche, sobald Hilfe zu ihrem Ende gekommen sei, wieder eine Rückkehr in die erste vorsieht, wobei Inklusionen nun durch die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme zu erfolgen haben.[410] Auch wenn u.a. Baecker ein solches Konstrukt zweier Realitäten verwirft, wird doch zumindest daran festgehalten, dass Soziale Arbeit als 'sekundäre Kommunikation' zu beschreiben sei, mit dem Ziel, wie Bommes/Scherr formulieren, Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung, aber auch Exklusionsverwaltung zu erwirken.[411] Solange demgegenüber Sonderpädagogik in den zentralen Einrichtungen des Erziehungssystems aufgehoben bleibt, würde sie sich kontrastierend dazu nicht als sekundäre Hilfe oder Kommunikationsform im Sinne stellvertretender Inklusionsleistung entwerfen. Und darin liegt ihre systemfunktionale Differenz gegenüber Sozialer Arbeit. Subsidiäre Sonderpädagogik im Sinne einer Subsystemausformung entlang verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme wäre also ein Missverständnis.

Zusammenfassend kann aus einer handlungstheoretischen und funktionslogischen Perspektive sonderpädagogisches Handeln als aufgehoben im Erziehungssystem beschrieben werden mit der Aufgabe, soziale Inklusion innerhalb des Systems aufrechtzuerhalten durch den Bezug auf Heterogenität als zwangsläufigern Bestandteil des Systems selbst. Ihre Handlungslogik voll zieht sich damit analog auf der Ebene von 'Vermittlung/Aneignung' bzw. 'Lernen'.

Diese Verortung geschieht unter dem Vorzeichen, dass sich die funktionale Ausrichtung des Erziehungssystems von primärer Selektion hin zu sozialer Inklusion im Erziehungssystem verschiebt - um gesellschaftlich funktional Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung - nämlich Exklusion - zu bearbeiten. Die Markierung von sonderpädagogischem Handeln als 'subsidär' hieße darüber hinaus, innerhalb des Systems in den relevanten Organisationsformen angesiedelt zu sein. Damit schließt Sonderpädagogik allerdings auch an die Semantik des Erziehungssystems - hier mit Blick auf den Bildungsbegriff - an und gewinnt von hier aus eine Perspektive auf ein (auch) autonomes Subjekt. Das lange gehandelte sonderpädagogische Stellvertretungsmodell wäre hinsichtlich einer Vertretung der Heterogenitätsperspektive zu reformulieren.

Schließlich wäre in Bezug auf die Codierung pädagogischen Handelns auf der semantischen Seile 'Lernen' im Spannungsfeld von 'Vermittlung/Aneignung' zu platzieren, auf der funktionalen Seile 'Inklusion/Exklusion' als das zu bearbeitende gesellschaftliche Problem. Exklusionsvermeidung (auch hier gemeint in der Ungleichheitsperspektive) wäre damit "nicht mehr nur vorwiegendes Thema der Sozialpädagogik.

6.2 Bildungstheoretische Option

Wenn eine Weiterentwicklung sonderpädagogischer Theoriebildung zunächst in einer handlungstheoretischen Option gesehen wird, die eine eigene Perspektive auf Heterogenität positioniert, um den systemimmanenten Exklusionsprozessen entgegenzuwirken: besteht hier die Stärke in einer situationsgebundenen, auch institutionslogischen Sichtweise. Diese würde klassische individuunszentrierte Problemverortungen und zugleich anthropologisierend Semantiken des Erziehungssystems überwinden. Wie eine solche Perspektive auch innerhalb eines reformulierten Bildungsbegriffes auf Seiten der Semantik der Disziplin entfaltet werden kann, soll hier abschließend untersucht werden.

Als Ausgangspunkt dient zunächst der von Miedema/Wardekker vorgeschlagene Bildungsbegriff, welcher versucht, die klassischen subjektphilosophischen Förderungen zugunsten einer Bestimmung von Bildung innerhalb der 'öffentlichen Sphäre' zu überwinden, sowie zweitens die Heranziehung der vor allem in der Integrationspädagogik entworfenen Bildungskonzepte entlang des Anerkennungsparadigmas. Dass das Bestehen auf einem Bildungsbegriff innerhalb der Semantik des Erziehungssystems durchaus sinnvoll ist, wurde weiter vorne mit dem Verweis auf die organisationsbezogene Einheitsstiftung des Erziehungssystems ausgeführt. Eine inhaltliche Bestimmung dessen, was Bildung sein kann, wäre allerdings abzulösen von der Produktion 'Gebildeter' hin zur Bewerkstelligung von Inklusion als gesellschaftlicher Aufgabe. Dadurch verkehrt sich in gewisser Weise die klassische Bildungskonzeption, nach welcher Bildung den Zugang zu weiteren gesellschaftlichen Inklusionen ermöglicht oder zumindest verbessert hin zur Bestimmung von Bildung als dauerhafter Bearbeitung von Inklusion. Bewältigung von Heterogenität wäre dabei die von der Systemlogik einzufordernde Perspektive, denn: "Was heute durch Bildung universalisiert, das heißt, allgemein werden kann und muß", schreibt Adalbert Rang, "das ist die Sensibilisierung für Unterschiede, "[412]

Um noch einmal den Ausgangspunkt von Miedema/Wardekker zu rekapitulieren, so ist ihr Bildungsverständnis erst ein sozial zu bestimmender Raum:

"Der Leerraum zwischen Menschen (...) sollte nicht vor dem Kampf oder vor dem Dialog ausgefüllt werden. Bildung und Pädagogik müssen von individueller oder kollektiver Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung abgekoppelt werden. Der Leerraum, die öffentliche Sphäre, sollte ihr Bezugspunkt sein. Ausgangspunkt ist die nicht reduzierbare Erscheinung der Vielfalt der Menschen, die sich als absolut einzigartige Menschen mitteilen."[413]

Hier ist Bildung eine von personaler Bezogenheit abgelöste Dimension und tragt auf diese Weise dazu bei, Bildung jenseits der klassisch anthropologischen und moderneren interaktionistischen Konzeptionen zu formulieren.

Bildungstheoretische Modelle im Sinne einer interaktionistischen Verortung haben jüngst Annedore Prengel und an anderer Stelle Andreas Hinz vorgelegt, die allerdings an einer - wie gezeigt auch problematischen - Personalisierung festhalten. In der von Annedore Prengel vorgelegten "Pädagogik der Vielfalt" wird die erziehungswissenschaftliche Bearbeitungen von Differenz als Anerkennungsproblematik im Kontext identitätstheoretischer Verortungen nahegelegt. Auf diese Weise wird aber verdeckt das Problem der Anthropologie in gewisser Weise neu aufgelegt - ohne den Ertrag dieser Arbeit schmälern zu wollen, nämlich auf den erziehungstheoretischen Kontext von Homogenisierung und Heterogenität im Anschluss an die bildungspolitischen Debatten um soziale Ungleichheit der 1970er Jahre überhaupt aufmerksam gemacht zu haben.

Annedore Prengel entfaltet das Thema der Anerkennung im Bereich einer Bildungstheorie wie folgt: Zunächst werden Differenzen postuliert, die als geschlechtliche, kulturelle sowie verhaltens- und lernbezogene ('Behinderung') markiert werden. Auf der anderen Seite wird die Koordinate 'Gleichheil' als demokratisches Gut eingezogen und gefordert, Gleichheit zu gewährleisten unter Wahrung der Differenz ('egalitäre Differenz') - konkret auf die Institution Schule bezogen:

"Schule ist in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation dazu herausgefordert, die vorherrschende Pädagogik der Mißachtung dem leistungsschwächeren Drittel ihrer Klientel gegenüber aufzugeben und eine anerkennende Pädagogik für alle zu entwickeln."[414]

Als Bildungsziel wird postuliert, die Anerkennung des Anderen auf der Interaktionsebene zu ermöglichen sowie auf der Institutionenseite das Konstrukt der Homogenität aufzuheben. Dabei wird allerdings 'Differenz' auf zwei Ebenen platziert: Differenz ist einerseits markiert durch Geschlecht, Kultur und Behinderung, andererseits ist Differenz aber auch gemeint als grundsätzliche "Unbestimmbarkeit des Menschen."[415] Insofern erschwert sich zunächst die theoretische Weiterentwicklung dieses differenztheoretischen Ansatzes.

Dennoch beziehen sich beide Fassungen letztlich auch auf ein Identitätsthema, denn Anerkennung von bestimmter, aber auch unbestimmter Differenz bezieht sich auf ein pädagogisch-ethisch gerahmtes Interaktionsverhältnis ("Miteinander des Verschiedenen"[416]), welches sich letztlich an Identitäten (an anderer Stelle formuliert als 'Lebensweisen' bzw. 'Existenzweisen') orientiert. Somit ist vor allem Interaktion der Fokus des Anerkennungsproblems und wird von hier zur zentralen Bildungsaufgabe; etwas in den Hintergrund rückt dagegen die Dimension Heterogenität/Homogenität als Strukturproblem,[417] obgleich 'egalitäre Differenz' als "politische, persönliche und theoretische Option" an anderer Stelle begriffen wird.[418]

In vergleichbarer Weise postuliert auch Andreas Hinz in seiner Schrift "Heterogenität in der Schule" das Verhältnis von Gleichheit und Differenz als (auch) interaktionistisches. In Anlehnung an Reisers "Theorie integrativer Prozesse" wird dieser Sachverhalt mit Bezug auf Mead als Identitatsthematik beschrieben:

"Das Bedürfnis nach Gleichheit und Gemeinsamkeit mit anderen wird als soziale Identität, das Bedürftige nach Einzigartigkeit und Individualität wird a1s persönliche Identität bezeichnet. Die Entwicklung von Ich-Identität wird erst ermöglicht durch eine Balance zwischen beiden Bedürfnissen."[419]

Obgleich auch 'institutionelle und gesellschaftliche Ebenen' angesprochen werden, in denen das Verhältnis von Gleichheit und Differenz relevant wird scheint auch hier Anthropologie und Interaktion zum Ausgangspunkt der Problemverortung zu werden. [420] Als 'Umgangsstrategie mit Heterogenität' fordert Hinz:

"In Anlehnung an das Modell der Identitätsbildung, das ein spannungsvolles Gleichgewicht zwischen den Anteilen der sozialen und der persönlichen Identität zur Entwicklung von Ich-Identität annimmt", sei das 'Ergänzungsmodell' zu favorisieren welches 'auf einem dialektischen Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit entsprechend der Theorie integrativer Prozesse [basiert, V.M.] und bemüht sich um die Förderung von Verschiedenheit in Gemeinsamkeit."[421]

Dazu bedürfe es der Rahmung auf der Institutionenebene, die "administrativen Bemühungen um Homogenisierung" einzustellen wie auf gesellschaftliche Exklusionsprozesse aufmerksam zu machen.[422]

In einem jüngeren Aufsatz hat Ada Sasse aus integrationspädagogischer Perspektive ebenfalls auf die gesellschaftliche Produktion von Ungleichheit verwiesen, und fordert die institutionell und nicht identitätstheoretisch begründete Sicherung von Heterogenität: "Als brisant stellt sich insbesondere die Herausforderung dar, die Anerkennung von Differenz über die personale Ebene hinaus durch ein verbindliches Procedere institutionell und gesellschaftlich zu garantieren."[423]

Wenn innerhalb der früheren Entwürfe Anerkennung von Differenz, die als sozial erzeugt zu begreifen ist, zu einem interaktionistischen - und mithin anthropologischen - Kern gewendet wird, kann dies als Neuauflage einer Individualisierung sozialer Probleme gesehen werden, und zwar solcher Probleme, die institutionelle Relevanz haben, weil ja erst die postulierte Gleichheit einer Sehulklasse die Systemleistung Selektion ermöglicht und insofern auf diese personale Zuschneidung von Differenz zurückgreift:

"Der Anfang ist nicht Ausrottung, er ist Ausschließung des Drillen zur Einrichtung einer systemeigenen Logik. Er sichert das ungleiche Wachstum des Gleichen und eine mehr oder weniger gute Ernte. Aber Ausschließung, Eigenlogik, Gleichheit und Mehr oder Weniger sind künstliche Einrichtungen wie die Geometrie."[424]

Insofern ist Homogenität eine organisatorische Notwendigkeil, auf deren Grundlage Differenzen prozessiert werden - ihre Bearbeitung auf anthropologischer oder interaktioneller Ebene ist gewissermaßen ein Fehlschluss, bietet aber die Möglichkeit, systembedingte Folgen als naturwüchsige, der Person selbst anhaftend, auszugeben: Dass die Menschen verschieden sind, ist ihre Natur, insofern ist auch ihr Erfolg oder ihr Scheitern an System bedingten Erwartungen ebenfalls 'Natur'.

Aufgrund dieser Verstrickung von Systemeffekt und anthropologischer Semantik leuchtet es ein, dass Prengel und Hinz nicht wirklich unterscheiden, ob Differenz eine sozial erzeugte, mithin systembedingte ist, oder ob sie als Natur daherkommt, als anthropologische Unbestimmtheit; anzuerkennen im Sinne von Persönlichkeitsmerkmalen gelte es beide. Dies entspricht aus konstruktionslogischer Sicht der sonderpädagogischen Thematisierung von Behinderung als Identitätsbeeinträchtigung. Gegenüber dieser Perspektive betont allerdings Luhmann, dass die Unterscheidungen, 'die das System verwendet, und alle Differenzen, die das System erzeugt, dem System selbst zugerechnet werden müssen.'[425]

Zu fragen wäre aus dieser Sicht, inwiefern ein Bildungsbegriff von identitätstheoretischen Positionierungen Abstand nehmen könnte zugunsten einer Bestimmung aus dem gesellschaftlichen Feld, wie von Miedema/Wardekker vorgeschlagen.

Ein vergleichbares Problem stellte sich auch der soziologischen Systemtheorie, die eben nicht mehr die Akteure und deren Bedürfnisse als Produzenten sozialer Systeme vorsieht, zugleich aber nicht vollkommen den Menschen aus dem Reflexionsbereich eskamotierte. Der Mensch bleibt insofern als Reflexionsbegriff erhalten, als auch der Mensch zum Feld der Außenseite der Systeme zählt. Wie Frank Hillebrandt aufzeigen kann, ist der Mensch in den Systemen Erziehung, Gesundheit und Wohlfahrt Bezugspunkt von Semantik und Programmen und die bereits diskutierte Folgeproblematik funktionaler Differenzierung lasst den Menschen innerhalb dieser als Thema der 'Sorge' erscheinen. Historisch, so Hillebrandt, sei der Wandel von einer Inklusionsindividualität zu einer Exklusionsindividualität zu beobachten,[426] wobei die Bearbeitung von Exklusion zur Bearbeitung des 'Humanproblems' gehöre.

"Die moderne Gesellschaft kann zwar keine Instanz bereitstellen, die die Inklusionsregelungen der einzelnen Funktionssysteme beaufsichtigt und dadurch vollständig reguliert. Sie ist jedoch mit dem Problem konfrontiert, daß die Inklusionsformen der Funktionssysteme sich nur dann einstellen, wenn die Exklusionsindividuen generell bestimmte Voraussetzungen für die personale Inklusion durch die Funktionssysteme erfüllen. Genau deshalb greift die Gesellschaft in historisch einzigartiger Weise fremdreferentiell auf die kontingente Exklusionsindividualität der einzelnen in ihrer Umwelt zu, indem sie über eine Semantik der Sorge um den Menschen strukturelle Kopplungen zwischen Mensch und Gesellschaft quasi pauschal realisiert. Die Medien Bildung, Gesundheit und Wohlfahrt entstehen demnach, um die Inklusionsfähigkeit der Exklusionsindividuen funktional zu beeinflussen."[427]

Somit leistet der Bildungsbegriff in der Tat einen Beitrag zur Inklusion und muss nicht am einzelnen Individuum als anthropologische Konstante abgelagert werden, wenn er als Kommunikationsmedium des Systems erkennbar bleibt. Zugleich aber konzediert Hillebrandt, dass die Problematik der Inklusion zu bearbeiten sei und das Problem Mensch' nicht aus der systemtheoretischen Perspektive verschwunden ist. Ist dieses nun über den Bildungsbegriff einholbar, der die Exklusionsproblematik mit einbezieht?

Innerhalb der aktuellen bildungstheoretischen Überlegungen scheint dazu vor allem die thematische Bearbeitung von Intersubjektivität vorzuliegen. Diese berücksichtigt weniger den Aspekt des gegenstandbezogenen sachorienlierten Lernens, als vielmehr den der sozialen Existenz. Ein solcher Bildungsbegriff bliebe an Personen adressiert und in deren Lebenslauf eingespeist, könnte aber als sozialbestimmtes Problem - und nicht als anthropologisches - gefasst werden. Darüber hinaus bezieht er sich auf die Seite der Aneignung, er bezeichnet "die 'innere Form', die das Individuum sucht und annimmt."[428]

Wenn nun, wie oben beschrieben, das Problem der Exklusion im Erziehungssystem zu bearbeiten wäre, und der Systeminklusion über den Modus 'Lernen' hinaus auf der semantischen Ebene sozialer Sinn gegeben werden soll, dann scheint die Stiftung von Intersubjektivität eine nach wie vor akzeptierte Selbstbeschreibung zu sein (wenngleich sie möglicherweise etwa gegenüber der Kategorie 'Kommunikation'[429] eher traditionell und moralisch aufgeladen anmutet). Intersubjektivität erscheint zunächst als systemüberschreitende Semantik, die an traditionell humanistische Perspektiven von Bildung anschließt. Dennoch könnte sie auf das von Hillebrandt bezeichnete 'Humanproblem' Bezug nehmen und von daher das Erziehungssystem aufgabenbezogen engführen. d.h. auch normativ orientieren.

Die Problematik der Intersubjektivität innerhalb der Bildungstheorie zeitigt bislang allerdings noch weitere logische Schwächen, auf die jüngst auch Dietrich Benner verwies: So gerieten jene,

"die einseitig das Problem personaler Andersheit betonen, stets von neuem in die Gefahr einer schlechten Metaphysik (...), derweil Ansatze, die einseilig das Weltverhältnis der Bildung erörtern, sich der Gefahr einer neuen positiven oder substantiellen Anthropologie aussetzten.''[430]

Somit soll hier Intersubjektivität als gesellschaftliches Problemfeld gefasst werden, welches im Bildungsbegriff zu verankern wäre, analog zu dem bereits diskutierten Vorschlag von Hajo Jakobs. Dieser sah in der Bestimmung von Intersubjektivität als kommunikatives und ethisches Verhältnis[431] die Möglichkeit, einen Bildungsbegriff zu entfalten, der das Problem sozialer, psychischer und materieller Exklusion aufnehmen kann. Aus dieser Problemverortung ließen sich, so Jakobs, aufgabenbezogene Bestimmungen von Pädagogik ableiten, die ein gesellschaftlich zu beschreibendes Kernproblem in den Mittelpunkt rücken, und sich damit nicht von vornherein als Metaphysik oder Anthropologie verstehen müssten.

Damit bezöge sich Bildung auf das Problem der doppelten Exklusion, nämlich der prekären Inklusion in das Erziehungssystem, aber auch auf deren Sekundärfolgen. Dazu noch einmal Hillebrandt:

"Wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, alle: Exklusionsindividuen personal zu inkludieren, also zu beachten und nicht zu mißachten, können die (...) vielschichtigen Formen der Sorge um den Menschen nicht greifen. Die Semantik der Sorge um den Menschen bezieht sich häufig nur auf diejenigen, denen noch ein Nutzen für die Gesellschaft zugeschrieben wird, denen, anders formuliert, noch eine Reproduktion ihrer Exklusionsindividualität, die entscheidend von partieller personaler Inklusion durch die Funktionssysteme abhängt, zugetraut werden kann. Die 'soziale Dynamik der Mißachtung' (Bonneth), die letztlich dazu führt, daß bestimmte Menschen einen Exklusionschrift erleben und dadurch selbst als Klientel für die auf den Menschen referierenden Funktionssysteme Bildung, Gesundheit und Wohlfahrt nicht mehr relevant sind, läßt sich nicht allein durch eine Intensivierung der gesellschaftlichen Sorge um den Menschen lindern, sondern nur durch Strukturreformen, die die Lebensbedingungen aller Menschen, also die Voraussetzungen für personale Inklusion durch die Funktionssysteme, verbessern und dadurch dazu beitragen, das Leiden des Menschen zu verringern."[432]

Zu dieser Strukturreform mag eine Semantik, die das Problem Exklusion/lnklusion im Bildungsbegriff unter der Perspektive der Intersubjektivität aufnimmt, beitragen. Mit dieser Positionierung verabschiedet sich also das Erziehungssystem nicht vom Menschen, wie immer er auch zu beschreiben wäre.



[364] Bernhard Koring: Zur Professionalisierung der pädagogischen Tätigkeit. Beiträge aus erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Sicht. in: Arno Combe/Wemer Helsper (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt 1996, S. 312 f

[365] Vgl. Bernhard Koring: Grundprobleme pädagogischer Berufstätigkeit. Bad Hellbrunn 1992, S. 61

[366] Ulrich Ocvermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Combe/Helsper 1996, S. 70

[367] Vgl. hierzu den Sammelband Roland Merten (Hrsg.): Systemtheorie Sozialer Arbeit. Neue Ansätze und veränderte Perspektiven, Opladen 2000.

[368] Roland Merten/Thomas Olk: Sozialpädagogik a1s Profession. Historische Entwicklung und künftige Perspektiven. in: Combe/Helsper 1996, S. 576. Von Dewe/Radtke wird ein solches Konzept in Anlehnung an Parsons als "strukturfunktionalistisch" bezeichnet, vgl. Dies.: Was wissen Pädagogen über ihr Können? In: Jürgen Oelkers/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Pädagogisches Wissen (27. Beiheft der Z.f.Päd.) Weinheim/Basel 1991, S. 143-162

[369] Koring 1996, S. 333

[370] Ebd., S. 334

[371] Arno Combe/Werner Helsper: Einleitung: Pädagogische Professionalität. Historische Hypothesen und aktuelle Entwicklungstendenzen. in: Dies. 1996, S. 21

[372] Armin Nusehi: 'Eddusion' als Soziologischer oder Sozialpolitischer Begriff? In: Mittelweg 369 (2000)5. S. 22f

[373] Vgl. hierzu die seit 1998 in der Zeitschrift Mittelweg 36 geführte Debatte um den Begriff der 'Überflüssigen' (ich danke F.-O. Radtke für diesen Hinweis). u.a.: 'Die Überflüssigen', Ein Gespräch zwischen Dirk Baecker, Heinz Bude, Axel Honneth und Helmut Wiesenthal, in: Mittelweg 36 7(1998)6, S. 65-81; Robert Castel: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, in: Mittelweg 36 9(2000)3, S. 11·25; Peter Imbusch: 'Überflüssige'. Historische Deutungsmuster und potentielle Universalität eines Begriffs, in: Mittelweg 3610(2001)5, S. 49-62

[374] Diese Zusammenstellung von Tätigkeitsmerkmalen einerseits und tendenziell strukturellen Beschreibungen andererseits innerhalb der beginnenden sonderpädagogischen Professionsforschung, sofern sie bereits diesen Namen verdient, in dem Problem geschuldet, dass es keinen dezidierten Theoriebezug gibt, innerhalb dessen diese entwickelt würden - so verbleiben die bisherigen Versuche vielfach auf der Ebene normativ bestimmter Tätigkeits- und Persönlichkeitsmerkmale (Ausnahmen hiervon: Reiser. Opp), Symptomatisch ist diesbezüglich sicherlich, dass der l996 erschienene Band für "Pädagogischen Professionalität" viele pädagogische Teildisziplinen berücksichtigt, jedoch keinen Beitrag für Sonderpädagogik enthält.

[375] Hans Wacken: Die Bildung von Sonderpädagogen neu denken! In: Manfred Wittrock (Hrsg.): Sonderpädagogischer Forderbedarf und sonderpädagogische Forderung in der Zukunft. Neuwied/Kriftel/Berlin 1997, S. 71

[376] Vgl. u.a. Helmut Reiser: Sonderpädagogik als Serviceleistung? Perspektiven der sonderpädagogischen Berufsrolle. in: ZfH 49(1998)2, S. 46-54

[377] Vgl. hierzu Wolfgang Jantzen: Bestandsaufnahmen und Perspektiven des Sonderpädagogik als Wissenschaft. in: ZfH 46(1995)8, S. 368-377

[378] Vgl. Wolfgang Jantzen: Integration heißt Ausschluß vermeiden! In: Anne Hildeschmidt/Irmtraud Schnell (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim/München 1998, S. 179-192

[379] U1f Preuss-Lausitz: Integrationsnetzwerke - Zukunftsperspektiven eines Bildungs- und Erziehungssystems ohne Selektion. in: Ulrich Heimlich (Hrsg.): Sonderpädagogische Fördersysteme. Auf dem Weg zur Integration, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 52

[380] Vgl. Georg Feuser: Zum Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik - eine Paradigementdiskussion? in: Friedrich Albrecht/Andreas Hinze/Vera Moser (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin und professionsbezogene Standortbestimmungen Neuwied/Kriftel/Berlin 2000, S. 38

[381] Hiltrud Locken: Erziehungshilfe in Kooperation. Professionelle und organisatorische Entwicklungen in einer kooperativen Einrichtung von Schule und Jugendhilfe, Heidelberg 2OOO, S. 131

[382] Andreas Hinz: Sonderpädagogik im Rahmen von Pädagogik der Vielfalt und Inclusive Education. Überlegungen zu neuen paradigmatischen Orientierungen. in: Albrecht/Hinz/Moser 2000, S. 124

[383] Heinz Bach: Sonderpädagogik als Beruf - Anspruche und Voraussetzungen. in: Wittrock 1997, S. 22

[384] Vgl. dazu Bach 1997, S. 19f: Monika Vemooij: Das Lehramt für Sonderpädagogik und seine universitäre Ausbildung in der Zukunft, in: Wittrock 1997, S. S. 57;Wocken 1997, S. 77; Urs Haeberlin: Heil- und sonderpädagogische Lehrerbildung - Wozu eigentlich? In: Heimlich 1999, S. 132

[385] Vgl. Hinz 2000

[386] Ulrich Heimlich: Der heilpädagogische Blick - Sonderpädagogische Professionalisierung auf dem Weg zur Integration. in: Heimlich 1999, S. 172; vgl. auch Hach 1997, S. 21

[387] Von Buch wird das Dialogische Prinzip innerhalb professionstheoretischer Überlegungen ebenfalls genannt. vgl. Bach 1997, S. 22

[388] Diese Problemlage ist von Beginn an innerhalb der Integrationsforschung thematisiert und konzeptionell bearbeitet worden.

[389] Haeberlin 1999, S. 132

[390] Helmut Reiser: Das Lehramt an Sonderschulen und seine Ausbildung in Zukunft, in: Winrock 1997, S. 67

[391] Wocken 1997, S. 73

[392] Helmut Reiser/Lars Hüper/Michael Urban/Marc Willmann: Vorüberlegungen zu einer gegenstandsbegründeten Theorie der sonderpädagogischen Beratung von Lehrkräften zu Erziehungsproblemen in der Schule, in: Albrecht/Hinz/Moser 2000, S. 211

[393] Ulf Preuss-Lausitz: Sonderpädagogik der Zukunft? Vom Ghetto zur sozialen Kohäsion, in: Albrecht/Hinz/Moser 2000, S. 89

[394] Ebd.

[395] Vgl. hierzu auch Ulrich Heimlich: Subsidiarität sonderpädagogischer Förderung - Organisatorische Innovationsprobleme auf dem Weg zur Integration. in: Heimlich 1999, S. 13-32

[396] Vemooij 1997, S. 571f

[397] Manfred Wittrock: Die Profession 'Sonderpädagoge/in': Tätigkeitsmerkmale und Qualifikationsanforderungen im Übergang zum 21. Jahrhundert. in: Ute Angerhofer/Werner Dillmann (Hrsg.): Lernbehindertenpädagogik: Eine institutionalisierte Pädagogik im Wandel. Neuwied/Kriftel/Berlin 1998, S. 87

[398] Hiltrud Locken: Spannungsfelder sonderpädagogischer Professionalität. Anregungen für ein Professionskonzept. in: Albrecht/Hinz/Moser 2000, S. 203

[399] Wocken 1997, S. 71

[400] Vgl. Günter Opp: Reflexive Professionalität, in: ZfH 49(1998)4, S. 148-158 und Reiser 1998.

[401] Theodor M, Bardmann/Thomas Hermsen: Luhmanns Systemtheorie in der Reflexion Sozialer Arbeit. in: Merten 2000, S. 92; zitiert wird hier der Luhmann-Aufsatz Inklusion und Exklusion, in: Ders., Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237-264

[402] Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt 1998, Bd. 2, S. 632

[403] Ebd., S. 630f

[404] Vgl. ebd. S. 633

[405] Vgl. Roland Merten: Inklusion/Exklusion und soziale Arbeit, in: ZfE 4(2001)2, S. 173-190; Armin Nassehi: Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen 1999, S. 105-131

[406] Nasschi 1999, S 129

[407] Günter Opp/Michael Fingerle/Kirsten Puhr: Differenz als Konstitutionsproblem der Sonderpädagogik. in: Kelma Lutz/Norbert Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich verschiedene Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2001, S. 171

[408] Ebd., S. 174

[409] Vgl. hierzu z.B.Dirk Baecker: 'Stellvertretende Inklusion durch ein ,sekundäres' Funktionssystem: Wie sozial·ist die soziale Hilfe? in: Merten 2000, S. 39-46

[410] Vgl. auch Roland Merten: Autonomie der Sozialen Arbeit. Zur Funktionsbestimmung als Disziplin und Profession. Weinheim/Münchcn 1997, S. 123

[411] Vgl. Michael Bommes/Albert Scherr: Soziale Arbeit, sekundäre Ordnungsbildung und die Kommunikation unspezifischer Hilfsbedürftigkeit, in: Merten 2000, S. 76; vgl. hierzu auch Albert Scherr: Inklusion/Exklusion - Soziale Ausgrenzung. in: Rainer Treptow/Reinhard Hörster (Hrsg.): Sozialpädagogische Integration. Weinheim/München 1999, S. 39-56

[412] Adelbert Rang: Zur Bedeutung des 'Allgemeinen' im Konzept der a1lgemeinen Bildung, in: Z.f.PÄD. 32(1986)4, S. 484

[413] Siebren Miedema/Willem L. Wardekker: Pädagogik, Identität und gesellschaftlicher Wandel, in: Heinz Sünker/Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt 1999, S. 102

[414] Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in lnterkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladcn 1993, S. 61

[415] Ebd., S. 132

[416] Vgl. auch Annedore Prengel: Impulse aus der jüngeren Kritischen Theorie für eine Pädagogik der Vielfalt. in: Stünker/Krüger 1999, S. 238

[417] "Prengels Analyse zeigt ein für viele differenztheoretische Argumentationen typisches Problem: Entweder entwickeln die AutorInnen ihre differenztheoretische Reflexion zwar an bildungstheoretischen Problemen, verzichten aber im Anschluss an die Dekonstruktion auf einen Rückbezug auf (bildungs-)politische, pädagogische, etc. Anwendungsfelder oder sie nutzen - wie meines Erachtens Prengel - unterschiedlich pointierte Differenzbegriffe. In ihrem Theorieteil verwendet Prengel die dekonstruktivistische Differenzkategorie im Sinne des Zersetzens des scheinbar Einheitlichen zur Analyse von Denkgebäuden. Im anwendungsorientierten Teil ist Differenz ein Begriff für die Offenheit für Verschiedenheit, das Uneinheitliche und Plurale verbunden mit Wahrmöglichkeiten und Selbstbestimmung." Martina Löw: Feministische Perspektiven auf 'Differenz' in Erziehungs- und Bildungsprozessen. in: Lutz/Wenning 2001, S. 114f.; vgl. hierzu auch Vera Moser: Geschlechterforschung in der Sonderpädagogik. in: Barbara Rendtorff/Vera Moser (Hrsg.): Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissenschaft, Opladen 1999, S. 262

[418] Annedore Prengel: Egalitäre Differenz in der Bildung. in: Lutz/Wenning 2001, S. 93

[419] Andreas Hinz: Heterogenität in der Schule. Integration - Interkulturelle Erziehung - Koedukation. Hamburg 1993, S. 43

[420] Ob zugleich unterstellt werden kann: dass innerpsychische, interaktionelle, institutionelle und gesellschaftliche Systeme gleichermaßen vom Verhältnis 'Gleichheits-Differenz' strukturell bestimmt sind, können an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.

[421] Ebd., S. 398

[422] Ebd., S. 402

[423] Ada Sasse: Gleichachtung und die Anerkennung von Differenz als Dilemma der Behindertenpädagogik in modernen Gesellschaften, in: Behindertenpädagogik 40(2001 )2, S. 145

[424] Niklas Luhmann: Die Homogenisierung des Anfangs: Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung, in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt 1990, S. 86

[425] Ebd., S. 108

[426] Frank Hillebrandt: Exklusionsindividualität. Moderne Gesellschaftsstruktur und die soziale Konstruktion des Menschen. Opladen 1999, S. 246f

[427] Ebd., S. 257, Herv. i. O.

[428] Niklas Luhmann: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann (Hrsg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, Frankfurt 1997, S. 16

[429] Mediale Kommunikation wird von Müller/Sander als mögliche neue soziale Integrationsfigur beschrieben, und wäre somit auch für das Erziehungssystem fruchtbar zu machen: "Mit der Verabschiedung einer segmentär gesicherten Integration in modernen Gesellschaften wird jedoch nicht vorschnell der Versuch aufgegeben, neue koordinierende Formationsfiguren im gegenwärtigen rasanten Wandel zu entdecken. Einiges scheint darauf hinzuweisen dass ein neuer, noch nicht genau untersuchter Überbau der Unverbindlichkeit im Entstehen begriffen ist, der hier medialisierte Kommunikation genannt wird." Renate Müller/Uwe Sander: Stichwort: Integration. in: ZfE 4(2001 )2, S. 167, Herv. i. O.

[430] Dietrich Benner: 'Der Andere' und 'Das Andere' als Problem und Aufgabe von Erziehung. in: Z.f.PÄD. 45(1999)3, S. 317

[431] Hajo Jakobs: Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenrevlexion aus kritisch-theoretischer Sicht. Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 171

[432] Hillebrandt 1999, S. 293

7. Konstruktion und Kritik

Die Rekonstruktion der Disziplin Sonderpädagogik hat in historischer und struktureller Perspektive aufgezeigt, dass ihre anthropologische Orientierung das zentrale Differenzmerkmal ausmacht, um sie von anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen zu unterscheiden. Diese Grundausrichtung schlägt sich in überlappenden disziplin- und professionsbezogenen Beschreibungen von Sonderpädagogik nieder.

Dabei ist allerdings noch nicht hinlänglich geklärt, inwiefern sich Sonderpädagogik überhaupt selbst als Erziehungswissenschaft versteht. Historisch haben - neben der Institution Hilfsschule - sonderpädagogische Arbeitsfelder im Pflegesektor wie auch im Bereich Sozialer Arbeit operiert; zugleich verzichtete die Theoriebildung bislang auf eine zentrale Anbindung an den allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Diskurs und wartete durchaus mit eigenen Begriffen und Theoriesystemen auf. Diese bewegten sich (mit Ausnahme der materialistischen Behindertenpädagogik) vorwiegend im Begriffssystem einer sich als geisteswissenschaftlich verstehenden Pädagogik - wenn man anthropologische und ethische Fundierungen zu deren Signum erkürt, ohne jedoch auch hier auf deren zentrale Theoretiker wie beispielsweise Nohl oder Weniger Bezug zu nehmen. Dennoch spricht die allgemeine Einbindung von Sonderpädagogik in die Institutionen des Erziehungssystems für eine erziehungswissenschaftliche Verortung auch der Disziplin.

Die Kürung dieser Frage ist insofern entscheidend, als eine gesellschaftlich-funktionale - gegenüber einer semantisch-anthropologischen - Bestimmung von Sonderpädagogik zu erörtern hat, innerhalb welchen gesellschaftlichen Teilsystems die Problemverortung und mithin die Klientel inkludiert werden soll. Als Alternativen stellen sich, einerseits Sonderpädagogik im Erziehungssystem, andererseits aber auch analog zur Sozialen Arbeit an den Schnittstellen gesellschaftlicher Teilsysteme (etwa des Erziehungs-, des Rechts-, des Gesundheits- und des Wohlfahrtssystems) zu platzieren. Für beide Optionen gibt es historische, strukturelle und semantische Belege.

Aus systemtheoretischer Perspektive jedoch wäre Sonderpädagogik insofern dem Erziehungssystem zuzuordnen, als sie an seiner Funktionsseite, der Herstellung von Heterogenität der Schülerinnenschaft zur Ermöglichung von Selektion, zentral beteiligt ist. Für diese Zuordnung spricht auch ihre theoretische Bezugnahme auf die Institution Schule, wie sie seil Bleidicks "Pädagogik der Behinderten" nachzuweisen ist.

Daher sollte die erziehungswissenschaftliche Orientierung der Disziplin Sonderpädagogik in der vorliegenden Arbeit weiterentwickelt werden und zwar entlang einer Rekonstruktion der sonderpädagogischen disziplinären Konstruktionslogik im Vergleich zu den entsprechenden allgemein erziehungswissenschaftlichen Diskursen (ohne jedoch dabei der Teildisziplin 'Allgemeine Pädagogik' zwangsläufig eine Leitfunktion zusprechen zu wollen). Fokus waren dabei auf der Ebene der Semantik Anthropologie, Ethik, Dialogische Pädagogik, Erziehung und Bildung als zentrale Disziplinbegriffe sowie neue handlungs- und bildungstheoretische Konstitutionsvorschläge, die ihrerseits auch eine funktionale Aufgabenbestimmung aufnehmen.

Sonderpädagogik. so konnte gezeigt werden, hat ihre zentrale Differenz über die Klientel entwickelt, und zwar in anthropologischer Ausrichtung über den Behinderungsbegriff (und seine Vorläufer), die von hier aus eine differente, spezielle Pädagogik notwendig mache, und zwar hinsichtlich besonderer Erziehung, besonderer Dialogik, stellvertretender Berufsethik sowie eines allgemeinen Individualisierungsprinzips. Der objekttheoretische Zuschnitt der Disziplin konnte zusammenfassend rekonstruiert werden als spezielle Einzelfallintervention aufgrund eines durch Behinderung bedingten erschwerten Erziehungsprozesses.

Damit erzeugte Sonderpädagogik bislang eine eigene Semantik als Ausweis eines eigenen Subsystems, deren Funktion allerdings. wie gesagt, dem Erziehungssystem entsprach: Erzeugung (und Manifestation) von Heterogenität innerhalb der Schülerlnnenschaft.

Mit Hilfe einer hier angezeigten systemtheoretischen Analyseebene ließ sich nachweisen, dass diese funktionale Seite des Erziehungssystems innerhalb der eigenen Semantik nicht mitberücksichtigt wird und insofern die negativen Folgen des Systems unsichtbar blieben - bezogen auf die Sonderpädagogik bedeutet dies, dass sie innerhalb der eigenen Reflexion die auch eigene Erzeugung von Behinderung im pädagogischen Feld kaum aufzunehmen vermag, wenngleich sie über eigene Technologien zu deren Produktion (Diagnostik) verfügt und diese hinlänglich als besonderes Professionsmerkmal ausweist.

Darüber hinaus war für die Disziplinebene zu konstatieren, dass anthropologische Ableitungen von Erziehung und Bildung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zuzuordnen sind, inzwischen aber eine sozialwissenschaftlich inspirierte Erziehungswissenschaft weder den gesellschaftlichen Bedarf an Erziehung und Bildung, noch die gewünschten und unerwünschten Folgen institutionalisierter Erziehung aus dem Reflexionszusammenhang ausblenden kann.

Als gewissermaßen angehängt an die anthropologische Verortung der Disziplin erwies sich auch der sonderpädagogische Ethikdiskurs, der allerdings unspezifisch berufsethische, normative und teildisziplinäre Ethikkonzepte miteinander verwob, um sonderpädagogisches Handeln unter einem Dach zusammenzufassen und dabei zugleich auch eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen. Insgesamt erwies sich hier Ethik als gemeinsame Orientierung der Disziplin wie der Profession, und zwar expliziert am Stellvertretungskonzept, welches an die postulierte Besonderheit und Angewiesenheit der Klientel rekursiv gebunden blieb. Auch innerhalb dieser Konstruktion blieb die Negativseite von Stellvertretung unterbelichtet, wie insgesamt fraglich ist, ob ein normatives Modell als grundlegende Leitidee einer Disziplin und Profession zugleich fungieren kann. Vielmehr wird innerhalb moderner erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung aufgezeigt, dass Ethik als Teildisziplin zu entfalten und in ein Professionskonzept einzubinden ist, um von hier aus Handlung zu orientieren und reflexiv werden lassen kann. Damit wäre aber eine Differenz von Profession und Disziplin zunächst einmal anzuerkennen.

Der innerhalb der Sonderpädagogik weiterhin dominante Bezug auf die dialogische Pädagogik erwies sich unter systemtheoretischer Perspektive als Entfaltung einer Semantik mit Fokus auf ein 'besonderes Menschsein' und kann von daher ebenfalls als gebunden an eine besondere Anthropologie bestimmt werden. Sinnstiftung und Sinnverstehen angesichts Behinderung war hier der dominante Diskurs und blieb damit zunächst einmal tautologisch gefangen in seiner anthropologischen Grundprämisse. Mit Luhmann und Schorr konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die Dimension 'Sinnverstehen' sich weiterer Operationalisierung verschließt, da 'Verstehen' in humanistischer Tradition notwendig an Intransparenz gebunden bleibt, wenn das Wesen des Menschen als nicht-instrumentell zugänglich gedacht werden soll.

Insofern eignete sich auch dieser Ansatz in Richtung einer Professionsperspektive nicht zu einer genaueren Bestimmung sonderpädagogischen Handelns (will man nicht auf psychotherapeutische Settings zurückgreifen, in denen das 'Verstehen' innerhalb institutionalisierter Verfahren kontrolliert wird). Weiterhin blieb fraglich, ob die Bindung an ein duales Verhältnis Erzieher/Klient (sonder- ) pädagogisches Handeln überhaupt ausreichend beschreiben kann.

Schließlich ist Sonderpädagogik vorwiegend über den Erziehungsbegriff bestimmt, der Bildungsbegriff wird lediglich über eine anthropologische Dimension der 'Bildbarkeit' wie über die juristische Verortung eines allgemeinen Bildungsrechts thematisiert. Dies hat insofern Konsequenzen, als dem traditionellen Erziehungsbegriff Enkulturation und relative Unmündigkeit anhaften. Zwar sind modernere Erziehungstheorien von Bildungstheorien inzwischen kaum noch zu unterscheiden, doch kann für die Sonderpädagogik konstatiert werden, dass die Seite der Autonomie und der Beendigung von Erziehungsverhältnissen nicht ausreichend thematisiert wird. Weiterhin erschien die Konstruktion 'besonderer Erziehungsprozesse' wiederum an Anthropologie rückgebunden zu sein. so dass auch hier die Spezifität sonderpädagogischen Handelns ohne diese Prämisse nicht auszukommen scheint.

Das Problem, den Bildungsbegriff innerhalb der eigenen Semantik nicht aufgenommen zu haben. obgleich dieser in den vergangenen 150 Jahren Hauptsignum wissenschaftlicher Pädagogik (und in Sonderheit der Schulpädagogik) war, wird bislang kaum bearbeitet. Erst die in jüngster Zeit vorgelegten Entwürfe zu Intersubjektivität als Fokus sonderpädagogischen Handelns lassen bildungstheoretische Ansätze innerhalb der sonderpädagogischen Theoriebildung erkennen (Jakobs, Stinkes).

Vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme ließ sich ein bildungstheoretisches Modell skizzieren, welches ohne anthropologische Grundorientierungen auskommt, um nicht wieder Bildung als Subjektbedarf ausweisen und insofern möglicherweise erneut Differenzierungen auf der Subjektseite vornehmen zu müssen. Demgegenüber kann ein neuer Bildungsbegriff die soziale Problembeschreibung 'Exklusion' in den Blick nehmen. Damit würde die inzwischen innerhalb der Systemtheorie vorgeschlagene neue Kontingenzformel des Erziehungssystems 'Lernen' aus bildungstheoretischer Perspektive um den Aspekt der Sozialität ergänzt.

Aus Sicht einer handlungstheoretischen Entfaltung von Sonderpädagogik käme ebenfalls das Problem der Exklusion aus dem Erziehungssystem zentral in den Blick durch Sicherung einer Heterogenitätsperspektive (in Anschluss an Wocken, Hinz, Preuss-Lausitz). Sonderpädagogisches Handeln wäre von hier aus zu beschreiben als subsidiär eingebunden in die allgemeinen Organisationsformen des Erziehungssystems zur Bearbeitung tendenzieller Exklusion.

Mit dieser Aufgabenbestimmung ist zugleich unterstellt, dass sich die funktionale Seite des Erziehungssystems nicht mehr dominant mit dem Selektionsauftrag für andere gesellschaftliche Teilsysteme fassen ließe, sondern dieser als Bearbeitung der Folgen funktionaler Differenzierung - nämlich der gleichzeitigen Erzeugung von Exklusion neu zu beschreiben wäre. Anhand der zeitdiagnostischen Konstatierungen einer 'Pädagogisierung der Gesellschaft' und 'dauerhaftem Lernen' ließe sich eine solche Funktion festmachen. Insofern könnte die sonderpädagogische Selbstbeschreibung als 'dauerhafte Hilfe' im Sinne einer lebenslangen Exklusionsvermeidung stimmig bleiben. Damit käme Sonderpädagogik dem selbst erteilten Auftrag der Integrationspädagogik nach.[433]

Mit Hilfe eines solchen Neukonstitutionsvorschlags wäre eine Perspektive aufgezeigt, Sonderpädagogik aus ihrem klassischen geisteswissenschaftlichen Selbstverständnis zu entbinden, um die selbst erzeugten Problematiken des tautologischen Ableitens von besonderer Erziehung aufgrund anthropologischer Vorentscheidungen in die eigene Reflexion aufzunehmen. Darüber hinaus wäre sie damit anschlussfähig an eine gegenwärtig sozialwissenschaftlich aufgeklärte Erziehungswissenschaft, die ihre Systembildungen nicht mehr über Anthropologie und Ethik, sondern auch über ihre Funktionsseite beschreiben kann.

Dies hätte für die Sonderpädagogik zur Folge, der vielzitierten Ausgangslage 'Behinderung als intervenierende Variable im Erziehungs- und Bildungsprozess' (Bleidick) eine funktional-aufgabenbezogene Bestimmung gegenüberzustellen: Exklusionsvermeidung im doppelten Sinne, nämlich bezogen auf das Erziehungssystem selbst wie auch auf andere gesellschaftliche Teilsysteme. (Diesen doppelten Exklusionsbegriff, der eine stärkere Kopplung bzw. Bedingtheit von Exklusionsfolgen mehrerer gesellschaftlicher Teilsystemen nahe legt, hatte Luhmann selbst formuliert - gewissermaßen als Einschluss einer Perspektive auf soziale Ungleichheit in die Systemtheorie.) Diese Aufgabenbeschreibung könnte innerhalb der Semantik des Systems, entlang des Bildungsbegriffes, aufgenommen werden, wenn 'Lernen' mit der Zielperspektive 'Sozialität' assoziiert wäre - Dimensionen, die wiederum für Inklusionen in andere Teilsysteme relevant sind.

Auf diese Weise wäre auch eine Differenz von Disziplin ('Bildung' und 'Lernen' als Bestandteile der Semantik) und Profession erkennbar und würde nicht in einem bisherigen wohlgemeinten Stellvertretungsmodell verschmelzen; vielmehr erzeugt ja erst die Differenz Reflexion der je anderen Seite.

Insgesamt allerdings wäre eine solche sonderpädagogische Verortung auf eine umfassende neue funktionale Bestimmung des Erziehungssystems verwiesen, dessen dominantes Merkmal nicht mehr mit Selektion, sondern mit Exklusionsvermeidung/-bearbeitung zu bezeichnen wäre, die sich auf die Folgen funktional differenzierter Gesellschaften, wie beispielsweise der Aufhebung kontinuierlicher Berufsbiographien, der nachlassenden Inklusionskraft der gesellschaftlichen Teilsysteme allgemein wie auch der Krise des Wohlfahrtsstaates einstellt.

Mit ihrer Orientierung auf Inklusions- und Exklusionsprozesse verzichtet Sonderpädagogik allerdings auch auf den Behinderungsbegriff, denn individuelle Folgen von Exklusionsbedingungen können nicht mehr zwangsläufig dem Subjekt zugeschrieben werden - dies zeigten auch alle bislang vorgelegten Kritiken am Behinderungsbegriff.

Eine solche Bestimmung von Sonderpädagogik impliziert allerdings eine große Nähe zur Sozialen Arbeit - diese jedoch verortet sich explizit an den Schnittstellen der gesellschaftlichen Teilsysteme, wohingegen Sonderpädagogik die Auswanderung aus dem Erziehungssystem primär zu bearbeiten hätte - mit allerdings allen zu tragenden Folgen, die etwa das Konstrukt des 'lebenslangen Lernens' oder die zunehmende 'Pädagogisierung der Gesellschaft' zeitigt.

Um jedoch nicht gewissermaßen selbst die Systemränder zu erzeugen, wäre Sonderpädagogik subsidiär in den zentralen Organisationsformen des Erziehungssystems zu platzieren.

Nicht mehr und nicht weniger wäre aus einer Abkehr von der Anthropologie für die Sonderpädagogik als Disziplin zu gewinnen.



[433] Vgl. hierzu Helga Deppe-Wolfinger: Integration im gesellschaftlichen Widerspruch. in: Hans Eberwein (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik. "in der mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. Weinheim/Basel l997, S 25-30

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Quelle:

Vera Moser: Konstruktion und Kritik: Sonderpädagogik als Disziplin

Erschienen als: erschienen als Moser, Vera: Konstruktion und Kritik. Sonderpädagogik als Disziplin. Opladen: Leske + Budrich, 2003. ISBN 3-8100-3794-X

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 14.01.2013

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