„Um eine gute Mutter zu sein, brauche ich meine Kinder“

Mutterschafts- und Resistenzerfahrungen von Müttern mit Lernschwierigkeiten

Autor:in - Rahel More
Themenbereiche: Geschlechterdifferenz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: AEP Informationen 1/2019: Trotz aller Barrieren. Ganz Frau-Sein mit Behinderungen, S. 16-19 AEP Informationen (1/2019)
Copyright: © Rahel More 2019

Abbildungsverzeichnis

    „Um eine gute Mutter zu sein, brauche ich meine Kinder“

    Vor einigen Jahren lernte ich (nicht hier in Österreich, sondern in Island) eine Familie kennen. Mutter, Vater und zwei Kinder, die zusammen in ihrer kleinen Wohnung leben. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater arbeitet meist außer Haus, die beiden Kinder sind tagsüber im Kindergarten. Die Mutter, nennen wir sie hier Marianne, ist eine Frau mit Lernschwierigkeiten, und auch der Vater ist ein Mann mit Lernschwierigkeiten. Marianne ist seit ihrer eigenen Kindheit eng in der Kinder- und Jugendhilfe involviert und als sie mit ihrem Mann schließlich selber eine Familie gründete, zweifelte die Schwangerenambulanz vorab an ihren Fähigkeiten als Mutter. Diese Zweifel verfolgen Marianne in ihrem weiteren Leben als Mutter, sie muss sich fortlaufend in der Mutterrolle beweisen und mit der Angst leben, dass ihre Kinder aus der Familie genommen werden.

    Mariannes Erfahrungen und ihre Kritik am ständigen Zweifel und an der Beurteilung, oder eher Verurteilung, ihrer elterlichen Fähigkeiten haben dazu geführt, dass ich mich nun wissenschaftlich mit Behinderungen in der Elternrolle beschäftige. Nachdem ich weitere isländische Mütter mit Lernschwierigkeiten kennenlernte, die zum Teil ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Marianne, wollte ich auch wissen, wie es Eltern mit Lernschwierigkeiten in Österreich in ihrer Mutter- oder Vaterrolle geht. Dafür habe ich unter anderem zehn Mütter und Väter mit Lernschwierigkeiten interviewt. Dieser Beitrag greift die Erfahrungen von sechs Müttern mit Lernschwierigkeiten auf.

    Mütter mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder

    Mütter mit Behinderungen und insbesondere Mütter mit Lernschwierigkeiten sind immer wieder betroffen von Diskriminierung. Sie erfahren weniger Anerkennung als nichtbehinderte Mütter und verfügen häufig über begrenzte Ressourcen und einen eingeschränkten Zugang zu Informationen in der Mutterrolle. Außerdem verlieren Mütter mit Lernschwierigkeiten in vielen Ländern überproportional häufig (im Vergleich zu nichtbehinderten Müttern) das Sorgerecht über ihre Kinder.[1] Manche Mütter mit Lernschwierigkeiten finden einen Weg, um ihr Kind bei sich zu behalten, und wieder andere entwickeln Strategien, um mit einer Fremdunterbringung ihres Kindes umzugehen, und finden alternative Räume für Mutterschaftserfahrungen. Hanna Björg Sigurjónsdóttir und Rannveig Traustadóttir (2010) haben basierend auf ihren jahrelangen Forschungsprojekten mit Müttern mit Lernschwierigkeiten Erfahrungen von diesen mit dem Begriff der Resistenz (Widerstand) in Verbindung gebracht. Die isländischen Wissenschaftlerinnen stellen genderspezifische Unterschiede in der Resistenz von Eltern mit Lernschwierigkeiten fest, demnach würden Mütter eher versuchen, sich zu fügen und mit Fachkräften zu kooperieren. Mütter mit Lernschwierigkeiten würden die Rolle „guter Klientinnen“ übernehmen, indem sie die Macht des Systems und der „Professionellen“ akzeptieren, während Väter eher dagegen ankämpfen und auch öffentlich Kritik äußern würden. Nicht nur in der Mutterrolle selbst müssen Frauen mit Lernschwierigkeiten häufig Widerstandsstrategien entwickeln, sie müssen zum Teil auch Barrieren bei der Familiengründung überwinden. Manche Frauen mit Lernschwierigkeiten befürchten, während der Schwangerschaft zu einem Abbruch gedrängt zu werden, und verbergen diese daher so lange vor den Personen in ihrem Umfeld, bis ein Schwangerschaftsabbruch nicht mehr möglich ist.



    [1] Dazu gibt es unter anderem aktuelle Daten aus Großbritannien, den USA, Kanada, Australien und Norwegen.

    Strategien der Resistenz

    Auch die sechs Mütter mit Lernschwierigkeiten, mit denen ich gesprochen habe, mussten zum Teil ihre Schwangerschaften gegenüber ihren Familien durchsetzen, beziehungsweise gaben die Frauen an, dass sie selbst erst in einem fortgeschrittenen Stadium durch Fachkräfte in ihrem Umfeld auf die Schwangerschaft aufmerksam wurden.

    Eine Mutter erzählte von der Reaktion ihrer Angehörigen: Da waren die nicht so begeistert. Die wollte das Kind abtreiben lassen, meine Mama. Das hat sie vorgehabt. Ich habe mich fest dagegen gewehrt. Dass meine Tochter so auf die Welt kommt, ohne Probleme. Die Mutter dieser Frau mit Lernschwierigkeiten wollte ihre Tochter zu einem Schwangerschaftsabbruch drängen, aber die Frau wehrte sich und brachte ihre Tochter auf die Welt.

    Eine weitere Mutter mit Lernschwierigkeiten berichtete von folgender Erfahrung: Beim ersten, naja mein Bruder und meine Mutter waren nicht so begeistert am Anfang. Sie wollten eigentlich nicht. Aber ich habe mich durchgesetzt. Der Frauenarzt hat auch gesagt, er macht das nicht, dass er abtreibt, wenn ich sage, ich möchte nicht. Also da waren mehrere Sachen, auch jetzt beim Jüngeren, aber ich habe da meinen eigenen Kopf. Diese Mutter war ebenfalls resistent gegenüber ablehnenden Haltungen in der Familie und wurde bei ihrer Entscheidung für die Schwangerschaft von ihrem Arzt unterstützt. Die Frau scheint auch bei ihrem zweiten, deutlich jüngeren Kind eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben. Trotzdem setzte sie bei beiden Kindern eine selbstbestimmte Entscheidung durch.

    Eine dritte Mutter berichtete davon, von ihrer eigenen Mutter unterschätzt worden zu sein: Ja, die Mutti hat es nicht ganz besonders gut gefunden, aber sie hat es nachher auch akzeptiert. Weil sie gedacht hat, ich werde mit dem Buben nicht zurechtkommen, mit dem Kind.

    Andere Mütter mit Lernschwierigkeiten berichteten aber auch von freudigen Reaktionen aus dem Umfeld und vor allem ihrer eigenen Freude über die Schwangerschaft und darauf, Mutter zu werden. Dennoch erzählten zwei Mütter folgendermaßen davon, dass ihre Schwangerschaften erst sehr spät „entdeckt“ wurden: Die sind ja mit mir dann zum Arzt gegangen. Zum Frauenarzt. Also ich habe zuerst nur so ein [...], wo man eine Kontrolle macht, ob man schwanger ist. Das haben die geholt. Aber zur Sicherheit [bin ich] nochmals zum Frauenarzt gegangen, damit man weiß, ob man wirklich schwanger ist. Damit Sicherheit ist.

    Diese Mutter mit Lernschwierigkeiten wurde in der Schwangerschaft vor allem durch Unterstützerinnen am Arbeitsplatz begleitet und auch bei einer weiteren Mutter war es eine Fachkraft am Arbeitsplatz, die sie auf die Schwangerschaft hinwies: Da habe ich, glaube ich, gearbeitet und dann hat damals die Chefin mir gesagt, dass ich schwanger bin. Das war ein Schock. Weil die Monate vorher habe ich nichts gemerkt, gar nichts. Und dann habe ich auch nachher nicht mehr so viel Zeit gehabt.

    Von den sechs interviewten Müttern mit Lernschwierigkeiten leben aktuell nur zwei mit ihren Kindern zusammen, die Kinder von vier der befragten Mütter sind fremduntergebracht. Zwei von diesen Kindern wurden den Müttern unmittelbar nach der Geburt weggenommen und kamen zu Pflegefamilien. Die Kinder der beiden anderen Mütter lebten zuerst einige Jahre bei den Müttern und wurden dann in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht. Alle Mütter haben Kontakt zu ihren Kindern, aber die Häufigkeit, Form und Regelmäßigkeit dieser Kontakte ist unterschiedlich.

    Abbildung 1. Abbildung 1.

    Ein Foto, auf welchem gehäkelte Figuren zu sehen sind.

    © Karin Flatz

    Leben ohne das eigene Kind

    Wie gehen die Mütter, die nicht mit ihren Kindern zusammenleben, mit der Trennung vom Kind um? Eine Form der Resistenz dieser Mütter mit Lernschwierigkeiten ist, dass sie alternative Räume für Mutterschaft als das tägliche Zusammenleben finden. Eine der Mütter sieht etwa die Schwangerschaft und den kurzen Krankenhausaufenthalt nach der Geburt als zentrale Mutterschaftserfahrungen an: Im Krankenhaus war sie eigentlich immer mit mir zusammen. Im Krankenhaus. Weil das, da war ich jeden Tag. Das kann dir keiner nehmen, wenn du im Krankenhaus immer zusammen bist, mit ihr.

    Eine andere Mutter stellt über kleine Geschenke Gemeinsamkeiten und eine Verbindung zu ihrer fremduntergebrachten Tochter her: Mama sein ist, dass ich meine Tochter immer [...], also sie kriegt eine Kette. Ein Kreuz und einen Bären. Sie hat so eine Kette wie ich.

    Zwei Mütter mit Lernschwierigkeiten berichteten davon, dass sie sich (eine davon nur vorerst erfolgreich) dagegen wehrten, dass ihnen ihre Kinder weggenommen wurden: Am Anfang hat das Jugendamt gesagt, man muss ihn unbedingt wegnehmen, weil ich ja behindert bin. Sie haben immer gesagt, ich kann mich um ihn nicht kümmern. Ich hatte eine Wohnung, aber sie haben dann darauf bestanden, dass wir [ihn] in ein Mutter-Kind-Heim gehen. Ich habe dann gesagt, nein, weil ich weiß von Freundinnen, die auch Behinderungen haben. Dann waren sie im Mutter-Kind-Heim und dann auf einmal waren die Kinder weg.

    Die zweite Mutter berichtete von der Angst, dass ihr der kleine Sohn weggenommen werden würde, und dass sie jahrelang dagegenhielt: Ich habe schon Angst gehabt, eben schon am Anfang, dass er wegkommt. Ihn wollten sie eh schon wegnehmen, zu Pflegeeltern. Dann haben wir gesagt nein, also wir sind nicht blöd. Ja, und dann haben wir es eben probiert, dass er bei uns bleibt. Bis zum achten Lebensjahr ist es gut gegangen und seit seinem achten Lebensjahr ist er eben in einer WG.

    Von den beiden Müttern mit Lernschwierigkeiten, die mit ihren Kindern zusammenleben, hat die eine seit der Schwangerschaft ein umfassendes Unterstützungsnetzwerk, während die andere bei der Erziehung ihrer Kinder mehr auf sich alleine gestellt war und ist. Die beiden Mütter sind mit ihren Situationen weitgehend zufrieden und leben ihre Mutterrolle mit all den Herausforderungen, die dieser folgen.

    Abbildung 2. Abbildung 2.

    Ein Bild, auf welchem Hände zu sehen sind.

    © Karin Flatz

    „Ich brauche meine Kinder und die richtige Unterstützung“

    Fast alle Eltern bekommen bei der Erziehung ihrer Kinder Unterstützung unterschiedlichster Form und Herkunft. Unterstützung kann institutionell (ein Kinderbetreuungsplatz), professionell (Familienberatung oder -Betreuung) oder privat (etwa Großeltern) sein. Wie bereits erwähnt, fehlt es Müttern mit Lernschwierigkeiten häufig an Ressourcen, zudem besteht ihr privates Unterstützungsnetzwerk meist aus wenigen Personen (vgl. auch Pixa-Kettner & Rohrmann 2012). Trotzdem erhalten manche Mütter mit Lernschwierigkeiten überhaupt keine professionelle Unterstützung in der Mutterrolle, bevor ihnen ihr Kind weggenommen wird, es mangelt häufig an passenden Unterstützungsangeboten. Jene Mütter wiederum, welche Unterstützung von Fachkräften bei der Erziehung erhalten, empfinden diese oft als unzureichend, unflexibel oder als Eindringen in die Privatsphäre und somit Belastung für das Familienleben. So war es auch bei Marianne und ihrer Familie, die von vielen verschiedenen und häufig wechselnden Fachkräften begleitet wurde, sich jedoch gezwungen fühlte, sich dem System zu fügen und mit diesen zu kooperieren, um der Gefahr einer Kindesabnahme vorzubeugen.

    In Österreich scheint ein noch gravierender Mangel an passenden Unterstützungsangeboten als in Island zu bestehen, wo Traustadóttir und Sigurjónsdóttir ja nebst einem Verbergen der Schwangerschaft das „Sich-fügen“ als zentrale Resistenzstrategie von Müttern mit Lernschwierigkeiten identifizieren. Es lassen sich einige Parallelen zu den Erfahrungen der österreichischen Mütter mit Lernschwierigkeiten und ihren Widerstandsstrategien herstellen, allerdings zeigen die beiden letzten angeführten Zitate auch, dass sich ein Teil der interviewten Mütter mit Lernschwierigkeiten nicht ausschließlich den vorherrschenden Praktiken fügen, sondern selbstbestimmt und selbstbewusst für ihre Mutterrolle eintreten. Wie eine der Mütter es sehr treffend auf den Punkt brachte: Um eine gute Mutter zu sein, brauche ich meine Kinder.

    Abbildung 3. Abbildung 3.

    Ein Bild, auf welchem eine gezeichnete Figur zu sehen ist.

    Literatur

    PIXA-KETTNER, U. & ROHRMANN, K. (2012). Besondere Familien: Welche Unterstützung brauchen Eltern mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder? Bremen: Universität Bremen.

    TRAUSTADÓTTIR, R. & SIGURJÓNSDÓTTIR, H. B. (2010). Parenting and Resistance: Strategies in Dealing with Services and Professionals. In G. Llewellyn, R. Traustadóttir, D. McConnell & H. B. Sigurjónsdóttir (Hrsg.), Parents with Intellectual Disabilities: Past, Present and Futures (S.107-118). West Sussex: Wiley-Blackwell.

    Detailliertere Literaturhinweise können sehr gerne bei der Autorin unter rahel.more@aau.at angefordert werden.

    Autorin

    RAHEL MORE, M.A., studierte in Island Sozialpädagogik und Disability Studies und arbeitet aktuell als Universitätsassistentin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Sie verfasst derzeit ihre Dissertation zur Frage nach der Bedeutung von Lernschwierigkeiten für eine Elternschaft in Österreich.

    Quelle

    Rahel More: „Um eine gute Mutter zu sein, brauche ich meine Kinder“; Erschienen in: AEP Informationen 1/2019: Trotz aller Barrieren. Ganz Frau-Sein mit Behinderungen, S. 16-19

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 10.07.2019

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