Verfremdungseffekte. Brecht, die Migrationsgesellschaft und ihre Kultur

Autor:in - Paul Mecheril
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Hornberg, Sabine, Mecheril, Paul, Lang-Woytasik, Gregor & Dirm, Inci (Hrsg.) (2008). Verstehen, Beschreiben, Interpretieren. Methodische und methodologische Fragestellungen empirischer und theoretischer Forschung der International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft. Münster: Waxmann
Copyright: © Paul Mecheril 2008

Einleitung

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Kultur der Migrationsgesellschaft und will ansprechen und gleichsam vorführen, auf welche Weise, Momente des epischen Theaters, so wie sie in der Theatertheorie Bertolt Brechts formuliert sind, sinnvoll bei der Betrachtung der Migrationsgesellschaft geltend gemacht werden können. Es geht dabei nicht um die Adaption Brechtscher Konzeption, sondern eher um ein Hineingreifen in dessen Theatertheorie, d.h. ein selektives und modifizierendes Aufgreifen und Ansprechen sowie Nicht-Ansprechen einiger Aspekte, so dass ein bestimmter Stil kulturellen Interpretierens erkennbar wird.

Bewähren muss sich das, was ich vorstelle, in erster Linie nicht an dem Kriterium: "Das gibt Brecht korrekt wieder", sondern an einem anderen Maßstab. Das, was nun entwickelt wird, sollte geeignet sein, die Kultur der Migrationsgesellschaft zu erkennen und sie - darin unterscheide ich nicht - darzustellen.

Kulturen verfremden als epistemisch-performative Taktik

Die begriffliche Aufgabe, die sich mit dem Ausdruck "Kulturen interpretieren"[1] ergibt, ist eine doppelte: Was heißt Interpretieren? Und: Was heißt Kultur? Was tun wir, wenn wir Kulturen interpretieren? Und: Was interpretieren wir, wenn wir Kulturen interpretieren? Ich beginne mit der zweiten Frage, der nach dem Kulturbegriff.

Sinn und Bedeutung sind die Schlüsselbegriffe jeder kulturwissenschaftlichen Perspektive, sie werden jedoch unter solchen Perspektiven, die Kultur nicht mit Hochkultur ineinssetzen, sondern als analytische Dimension universalisieren, radikal - so könnte man sagen - demokratisiert und veralltäglicht. In Abgrenzung von einem normativen Verständnis Kulturverständnis, das wir beispielsweise in neuhumanistischen Bildungsbegriffen antreffen können, in denen Bildung als zweckfreie Proportionierung der Kräfte des Menschen durch nur einer Elite vorbehaltene Rückgriffe auf einen Kanon antiker Texte, Topoi und Weltbezüge konzipiert wird, wird Kultur hier nicht (ich folge einer Aufzählung von Reckwitz 2007 S. 203) als Ensemble zivilisatorischer Verhaltensstandards und Kommunikationskompetenzen, nicht als Milieu harmonischer Persönlichkeitsentwicklung verstanden, und es findet hier schließlich auch nicht die Universalisierung der Kriterien bürgerlicher Kultur zum allgemeinen, inner- wie zwischengesellschaftlich wirkenden Maßstab von Kulturalität statt.

Kultur kann vielmehr, wie es etwa in den Cultural Studies nicht unüblich ist (vgl. etwa Mecheril & Witsch 2006), als alltägliche Praxis und genauer: als Beschreibung sozial-symbolischer Praxis verstanden werden (vgl. etwa Hörning & Reuter 2004). Wenn Kultur insofern als praxeologisch aufklärbares Muster des Handelns aufgefasst wird, kann es interessant sein, soziale Praktiken als Modi des Unterscheidens zu untersuchen. Kulturelle Praxen stellen Unterscheidungsweisen dar, sie bewirken Unterschiede und werden durch Unterscheidungsschemata erzeugt. Im Rahmen der kulturellen Reflexivität und des kulturellen Interesses, das aus einer praxistheoretischen Perspektive formuliert wird, interessieren hierbei weniger als gegeben verstandene Unterschiede. Vielmehr geht es um Handlungen konstituierende und in Handlungen beobachtbare Unterscheidungen. Im Fokus der praxistheoretischen Kulturanalyse steht somit die Frage, wie Menschen in bestimmten sozialen Zusammenhängen was unterscheiden. Auf das Wie und das Was des "Unterschiede-Machens", anders formuliert: auf Modus und Gegenstand der Produktion von Differenzen, insbesondere der Herstellung sozialer und symbolischer Differenzen, ist das zentrale Interesse des an dieser Stelle bedeutsamen Blicks gerichtet.

Wer sich auf Kulturen in dem hier skizzierten Sinn bezieht, interessiert sich also für Praxen der Unterscheidung. Vor diesem Hintergrund findet die Interpretation von Kulturen weniger in - um einige Beispiele zu nennen - den Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen in der Schule, zwischen als Menschen mit Migrationshintergrund geltenden Personen und im übrigen sehr selten als Menschen ohne Migrationshintergrund bezeichneten Inländerinnen etwa in der betrieblichen Weiterbildung oder zwischen Professionellen und Laien in der pädagogischen Beratung ihren Gegenstand. Eine kulturinterpretative Perspektive in dem hier präferierten Sinn bezieht sich vielmehr auf die Frage, wie diese sozial wirksamen, symbolischen Unterscheidungen hergestellt werden.[2]

Wer über das Wie und Was symbolisch-sozialen Unterscheidens in einer spezifischen Situation Auskunft geben möchte, wer also in situierten Praxen aufscheinende Kulturen interpretieren will, muss darüber nachdenken, wie er oder sie an das Wie und das Was der Situation heran kommt, wie das Wie und das Was der Situation interpretierbar wird. Hierzu ist es zumindest hilfreich, wenn nicht gar unabdingbar, in ein außerselbstverständliches Verhältnis zu dem untersuchten Zusammenhang einzutreten. Paradoxer Weise muss man, um die lokale, mithin kulturelle Selbstverständlichkeit bestimmter Handlungsformen und -routinen zu erkennen, die Selbstverständlichkeit außer Kraft setzten. Der methodische Vorgang, der diese Außerkraftsetzung leistet, kann mit Brecht Verfremdung genannt werden.

"Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang [...][3] das Selbstverständliche, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugier zu erzeugen. [...] Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als vergänglich darzustellen" (Brecht 1967, S. 301). Kulturen interpretieren meint somit: Alltägliche Handlungen des Selbstverständlichen zu berauben und das dadurch ermöglichte Staunen in (wissenschaftlich anschlussfähige) Worte zu fassen, die das Singuläre der Handlung in übergeordnete Kontexte stellen. Das (sozial-)wissenschaftliche Tun ist mithin in einer sehr selbstbezogenen und zugleich seltsamen Art und Weise räuberisch. Es stiehlt dem Alltäglichen das, was es zum Alltäglichen macht, nicht um es zu besitzen, sondern um es zu zerstören. Der Raub alltagsweltlicher Gewissheit und Unfraglichkeit wird betrieben, um sich selbst in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit, ein Staunen, eine Verwunderung zu versetzen, und das verzückende Diebesgut so zu transformieren, dass daraus ein Stück wissenschaftlicher Text wird.

Verfremdung ist nicht allein eine Darstellungsweise, sondern auch und gleichzeitig sowohl eine Interpretationstaktik als auch ein pädagogisches Mittel, das auf die Bildung des Publikums zielt. Ein wichtiges Verfahren bei der Erfassung kontextspezifischer kultureller Praktiken besteht darin, ein distanziertes Verhältnis zum Feld des Interesses zu gewinnen. Sobald der Grundsatz der Distanz auf vermeintlich Vertrautes, beispielsweise der Art und Weise, wie in der Migrationsgesellschaft zwischen Fremden und Nicht-Fremden unterschieden wird, angewandt wird, bedarf es eines Aktes der "Verfremdung", um jene Distanz zum Selbstverständlichen, zur Fraglosigkeit des Alltagslebens zu erhalten, die als fruchtbare Grundlage der Beobachtung kultureller Praktiken fungiert. Erst die Distanz zu sozialen Prozessen ermöglicht, dass diese als kontingente Praktiken in ihrer Raum- und Zeitgebundenheit zur Geltung gebracht werden (Verfremden heißt Historisieren und heißt Vorgänge als vergänglich darzustellen).

Spätestens hier wird deutlich, dass sich ethnographische Forschung (etwa Hirschauer & Amann 1997) und Verfremdungstaktik methodisch ähnlich sind. In der anthropology at home ermöglicht die beobachtende Teilhabe an sozialen Prozessen ein Abstand-Nehmen von diesen Prozessen, so dass sich diese als kontingente Praktiken darstellen. Im Vollzug der alltäglichen Routinen erscheinen Interaktionsabläufe weniger als Praktiken, sondern eher als selbstverständliche Prozesse. Die Fraglichkeit (Schütz 1971) oder Fragilität (Mehan & Wood 1976) des Alltags wird dann auch alltäglich bedeutsam und sichtbar, wenn Störungen des vertrauten Geschehens auftreten. Störungen sind in gewisser Weise ein Distanzierungs- und Befremdungsverfahren, und bis zu einem gewissen Grad besteht das Befremdungspotential des Beobachtens darin, dass das Beobachten die selbstverständliche Teilnahme am sozialen Geschehen stört - zumindest wird die Ethnographin durch ihr Beobachten in der Teilnahme gestört, oft aber stört und verändert sie auch das, was sie beobachtet. Der szientifisch selbstbezüglichen Befremdung des Bekannten folgt seine Verfremdung.

In diesem Sinne lässt sich eine starke Ähnlichkeit zwischen der ethnographischen Befremdungsidee und dem Verfremdungsansatz im Brechtschen Theater erkennen. In beiden Fällen wird Handeln in einer Reflexion auf seine "kulturellen" Voraussetzungen dargestellt bzw. untersucht, die, so die (quasi-)theoretische Setzung in beiden Fällen, durch das Handeln verwirklicht werden. Auch dient sowohl der ethnographischen Befremdungsidee als auch dem Verfremdungsansatz im Brechtschen Theater die Figur des "Des-Selbstverständlichen-Entkleiden" als Erkenntnis- und Darstellungsmethode.

Allerdings scheint mir der methodologisch gewendete Rahmen des epischen Theaters an bestimmten Punkten für eine erziehungswissenschaftlich reflektierte Untersuchung und Darstellung der Kultur der Migrationsgesellschaft weiterführender zu sein. Ich will dies in zwei Punkten etwas näher ausführen:



[1] "Kulturen interpretieren" war die Überschreibungen des Panels, auf dem der Vortag, dem dieser Text zugrunde liegt, gehalten wurde.

[2] Das Was, der Gegenstand des sozialen Unterscheidens, kann auf Personen, aber auch auf symbolische Strukturen bezogen sein. Gegenstände der Unterscheidung können beispielsweise sein: "wichtig" und "unwichtig", "oben" und "unten", "mächtig" und "ohnmächtig", "Wir" und "Nicht-Wir", "gut" und "böse", "richtig" und "falsch", "schön" und "hässlich" usw. Auf der Seite des Unterscheidungsmodus rückt in den Blick, wie unterschieden wird. Mögliche Weisen der Unterscheidung können sein: " insgeheim" oder "offen", "gelegentlich" oder "durchgängig", "selbstverständlich" oder "reflexiv", "formell" oder "informell" etc.

[3] Gestrichen habe ich hier Brechts Ergänzung: "oder dem Charakter"; der in diesem, "meinem" Text modellierte Verfremdungsbegriff beschränkt sich auf "Vorgänge", auf das, was sich symbolisch in den Räumen zwischen den Handelnden ereignet. "Charaktere" und ihre Verfremdung interessieren hier nur insoweit sie zur Erhellung der "Vorgänge" beitragen. Zur Erinnerung: Ich nutze Brechtsche Figuren selektiv (und suche dieser Praxis Rechtschaffenheit anzugedeihen, indem ich sie bezeichne: Modellierung), um eine Version des "Kulturen interpretieren" darzustellen

Der Pass, die Ordnung und die Macht: Kulturanalyse als politische Analyse der Macht

Wenn der Zuschauer bei Brecht sehen soll: "dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind" (Brecht 1967: 300 ff.), dann ist mit diesem "Seh-Angebot" ein Erkennens- und Bildungsprozess verbunden, der dezidiert kritisch im Hinblick auf "die sozialen Verhältnisse" ist. Die durch das epische Theater offerierte/inspirierte Perspektive versteht Kulturanalyse als Machtanalyse und wird dadurch zu einer engagierten Seh- und Sprechweise. Darin unterscheidet sich dieser Ansatz von den bekannten Spielarten der soziologischen Ethnographie im deutschsprachigen Raum, die sich meiner Wahrnehmung und Kenntnis nach allzu oft als akritisches Projekt der Duplizierung sozialer Verhältnisse und der in ihr geltenden Machtverhältnisse realisiert. Es ist nicht nur so, dass die deutschsprachige Ethnographie durchgehend auf ein historisches Verständnis der Felder und Gegenstände, die sie bearbeitet, verzichtet. Bringen wir sie ihrem eigenen methodologischen Verständnis nach als (sozusagen: erkenntniskulturelle) Praxis zur Geltung, wird deutlich, dass es sich hier um eine Erkenntnispraxis der Dehistorisierung sozialer Zusammenhänge handelt, die das "Soziale" auf das Format bloß situativer und situativ hervorgebrachter Praxis reduziert.

Wenn wir aber die Kultur der Migrationsgesellschaft verstehen wollen, dann reicht es nicht aus, Analysen situierter Praxen vorzulegen. Vielmehr muss der Sinn dieser Praxen immer auch vor dem Hintergrund übersituativer und die Situation überhaupt erst als solche hervorbringender Zusammenhänge ausgelegt werden. Zur Annäherung an ein in diesem Sinne wichtiges Strukturmoment der Migrationsgesellschaft sollen an dieser Stelle zwei Figuren aus Brechts Flüchtlingsgesprächen zu Wort kommen:

"Der Untersetzte: ‚Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.'

Ziffel: ‚Aber Pässe gibt es hauptsächlich wegen der Ordnung. Sie ist in solchen [kriegerischen] Zeiten absolut notwendig. Nehmen wir an, Sie und ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir sind, so daß man uns nicht finden kann, wenn wir abgeschoben werden sollen, das wär keine Ordnung. Sie haben vorhin von einem Chirurgen gesprochen. Die Chirurgie geht nur, weil der Chirurg weiß, wo zum Beispiel der Blinddarm sich aufhält im Körper. Wenn er ohne Wissen des Chirurgen wegziehn könnte, in den Kopf oder das Knie, würd die Entfernung Schwierigkeiten bereiten. Das wird Ihnen jeder Ordnungsfreund bestätigen.'" (Brecht 2003, S. 7 f.).

Diese Passage stellt die Bedeutung zertifizierter nationaler Zugehörigkeitspraxen und ihrer symbolischen Produkte heraus: Der Vorrang des Passes vor dem Menschen ergibt sich aus dem Wertgefälle zwischen ihnen. Ein Mensch ohne Pass, selbst wenn es ein "moralisch guter" Mensch ist, ist wenig wert; ein Mensch - selbst, wenn es kein "guter" Mensch ist - ist mit einem Pass deutlich mehr und unter der Voraussetzung, dass es sich um einen "guten" Pass handelt, also einen, der die Zugehörigkeit zu einem angesehen nationalen Kontext symbolisiert, viel mehr wert. Anerkennung nationaler Zugehörigkeit, so belehren uns die Gespräche der Flüchtlinge, ist wichtiger als die Anerkennung des Menschen, da erst durch die Anerkennung nationaler Zugehörigkeit spezielle Rechte verbürgt sind, die über die häufig auf ein Lamentieren beschränkte Anrufung von Menschenrechten hinausgeht. Mit den ironischen Mitteln der Flüchtlingsgespräche wird eine Ordnung ersichtlich, die Menschen und Körper platziert und den freien Gang der Körper (um sich zu retten, um sich zu verbessern, um etwas zu erfahren) durch Grenzziehungen und Ausweispraktiken behindert. Zugehörigkeitsordnungen sind Machtordnungen - dies erkennen wir in der von der Verfremdungstatktik inspirierten Interpretation der Kultur der Migrationsgesellschaft.

Der Pass ist in dem Gespräch zwischen dem Untersetzten und Ziffel Ausweis formeller Zugehörigkeit. Der Mensch zählt wenig, die nationale Zugehörigkeit viel, sie ist Grundlage der Ansprüche darauf, als Rechtssubjekt geachtet zu sein. "Jeder moderne Staat", schreibt Rogers Brubaker (1994, S. 45), "definiert formal sein Staatsvolk, indem er öffentlich einen bestimmten Personenkreis als seine Mitglieder anerkennt und alle übrigen als Nichtbürger oder Ausländer bezeichnet." Nationale Mitgliedschaft ist ein Prinzip, das der Erzeugung einer Wirklichkeit dient, in der zwischen jenen, die dazugehören und solchen, die nicht dazugehören, unterschieden wird. Und weil natio-ethno-kulturelle Kontexte soziale Wirklichkeiten der Differenzierung zwischen jenen und solchen sind, operieren sie mit dem Prinzip der Mitgliedschaft. Die Gleichartigkeit, die natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft in einem grundlegenden Sinne anzeigt, verdankt sich dem Umstand, dass natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft ein Phänomen ist, das in einem binär kodierten Rahmen produziert und praktiziert wird. Der kontextspezifische Mitgliedschaftsstatus einer Person ergibt sich zunächst und im Kern über die Beantwortung der Frage, ob sie Mitglied ist oder nicht. Dem binären Organisationsprinzip von Mitgliedschaft zufolge bin ich entweder Mitglied oder Nicht-Mitglied. Kann ich die bedeutsamen Merkmale vorweisen, bin ich Mitglied, vermag ich dies nicht, bin ich kein Mitglied.

Dieses ermöglicht eine Klarheit und Eindeutigkeit der Zuordnung von Personen zu Kontexten; zumindest wird diese Klarheit suggeriert. Die binäre Ordnung der Mitgliedschaft, die zwischen "Wir" und "Nicht-Wir", zwischen einem Außen und einem Innen unterscheidet, bedarf, um dauerhaft und verlässlich wirksam zu sein, Verfahren, die die symbolische Ordnung herstellen und bewahren, etwa das Verfahren der Kodifizierung. Kodifizierung kann mit Pierre Bourdieu (1992, S. 103f.) verstanden werden als "Verfahren des symbolisch In-Ordnung-Bringens oder des Erhalts des symbolischen In-Ordnung-Bringens oder des Erhalts der symbolischen Ordnung, eine Aufgabe, die in der Regel den großen Staatsbürokratien zufällt." Natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft ist Ausdruck und Instrument einer kodifizierten Ordnung, die Menschen symbolisch unterscheidet und ihnen im Zuge dieser Unterscheidung unterschiedliche Orte des Handelns und Selbstverständnisses zugesteht. Die politische Regelung natio-ethno-kultureller Mitgliedschaft, etwa Staatsangehörigkeits- und Staatsbürgerschaftsregelungen, schafft eine offizielle und formelle Realität der Differenz, die durch den Verweis auf die dem Generierungsprozess zugrundeliegenden Kriterien diskursiv legitimiert und eingesetzt wird.

Prinzipiell hat das die formelle Mitgliedschaft regelnde dichotome Prinzip zur Konsequenz, dass diejenige, die als symbolisches Mitglied von anderen erkannt wird, zugleich als Mitglied anerkannt wird (dessen ungeachtet gibt es freilich mehr oder weniger geachtete Mitglieder sozialer Kontexte). Identifikation und Respektierung als zugehörig fallen auf der Ebene von symbolischer Mitgliedschaft praktisch - eben weil nationale Mitgliedschaft, ihrer Logik nach ein binäres Konzept ist, das zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheidet - zusammen.

In diesem Sinn ist der "gute Pass" tatsächlich der edelste Teil von einem Menschen. Doch können und müssen wir Brechts "Weisheit", also seine Klugheit und seine Whiteness, an dieser Stelle rassismustheoretisch weiterführen. Die Feststellung von Zugehörigkeit (symbolische Mitgliedschaft) basiert auf formellen Mitgliedschaftskriterien (etwa: Pass), aber auch auf informellen Mitgliedschaftsanzeichen (etwa: Physiognomie): "‚Ta carte d'idendité, c'est ta guele' (Dein Pass, das ist Deine Fresse!)", ist ein bei Rogers Brubaker (1994, S. 253) zitierter Kommentar eines französischen Jugendlichen, dessen Vorfahren aus Algerien stammen. Die Frage, wer Mitglied eines natio-ethno-kulturellen Kontextes, etwa Franzose, Deutsche oder Deutscher ist, wird in Mitgliedschaftskonzepten beantwortet. Und neben den entsprechenden formell ratifizierten, juridischen Konzepten sind solche Konzepte bedeutsam, die in den alltäglichen Handlungs- und Aufenthaltsräumen, in den Alltagswelten der Subjekte anzutreffen sind. Die Frage, wer beispielsweise Deutsche und Deutscher ist, wird in den Alltagswelten beantwortet. Hier spielt der Pass im Zweifelsfall eine untergeordnete und "die Fresse" eine dominante Rolle. Natio-ethno-kuturelle Mitgliedschaftssignale, die unabhängig von der formellen Mitgliedschaftsordnung wirksam sind, sind phänotypisch kodiert. Allerdings ist dies nicht der einzige informelle Kodiermodus. Andere, sozusagen para-phänotypische Mitgliedschaftssignale werden erst deutlich, wenn jemand zu sprechen beginnt, wenn jemand sich verhält, sie werden in Gebärden offenkundig, im Lachen, in der Art des Sich-Streitens, den Mustern des Echauffierens. Menschen geben sich in intellektueller, ästhetischer und moralischer Hinsicht zu verstehen, ihre spezifische und verräterische "Seinsweise", ihr "habitueller Zustand", um Formulierungen von Pierre Bourdieu (1976, S. 446) aufzugreifen, macht sie erkenntlich.

Natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft wird also phänotypisch und para-phänotypisch erkannt. Die dem Erkennen zugrundeliegende symbolische Ordnung kann als physiognomischer Code bezeichnet werden. Dieser Code natio-ethno-kultureller Erscheinungsformen ermöglicht die selbstverständliche Auslegung etwa geschmacklicher Anzeichen, präferierter Werte oder körperlicher Merkmale als Mitgliedschaftssignale (ausführlicher: Mecheril 2003; Kap. IV).

Wer also - hier mit Bezug auf Brecht - Kulturanalyse als Machtanalyse betreibt und auf die Analyse der in der deutschen Migrationsgesellschaft geltenden grundlegenden kulturellen Unterscheidungsformen abhebt, bringt diese Praxen der Unterscheidung als machtvolle Praxen zu Geltung. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen strukturieren moderne Gesellschaften und gehören zu den Ordnungen, die biographisch früh auf Erfahrungen, Verständnisweisen und Praxisformen einwirken und deshalb in der Regel "fraglos" funktionieren und als "natürlich" gelten. Die vergesellschaftende Wirkung von Zugehörigkeitsordnungen besteht darin, dass sie Selbstverständnisse praktisch, also kognitiv-explizit, aber noch viel entscheidender sinnlich-leiblich vermitteln, in denen sich soziale Positionen und Lagerungen spiegeln, so wie sie ein Verständnis der sozialen Welt vermitteln, in dem sich die eigene Stellung in ihr darstellt. Zugehörigkeitsordnungen sind Ordnungen hegemonialer Differenz; in ihnen wird folgenreich unterschieden, in ihnen lernt man sich kennen, in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens aus, die den eigenen Platz in einer sicher nicht starren, aber gut gesicherten Reihe von hierarchisch gegliederten Positionen wiedergeben.[4] Zugehörigkeitsordnungen können als strukturierte und strukturierende Zusammenhänge der Subjektivierung beschrieben werden, die mit unterschiedlichen symbolischen und materiellen Positionierung verknüpft ist. Dass es sich bei diesen Positionierungen um kulturelle Positionierungen und nicht um notwendige oder "natürliche" handelt, weist ihre Kontingenz, also ihre politisch-historische Gewordenheit, ebenso wie ihre prinzipielle Veränderbarkeit aus. Verfremdungstaktik ist Kontingenzausweis und dieser Kontingenzausweis ist nicht nur Grundlage politischer, sondern auch pädagogischer Praxis; sie ist diese Praxis bereits, zumindest dann, wenn sie in ihrer pädagogischen Bedeutung zur Geltung gebracht wird.

Für Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft, für Bildungsprozesse unter Bedingungen von Differenz- und Dominanzverhältnissen ist somit ein Moment als eminent wichtig (und zu selten thematisiert) zu erachten, das Verschiebung von Zugehörigkeitsordnungen genannt werden kann. Dies ist in diesem Zusammenhang gewiss nicht das einzig bedeutsame Bildungsziel, aber eine wichtige Orientierung. Die Idee der Verschiebung von Zugehörigkeitsordnungen macht deutlich, dass die kritische Reflexion der grundlegenden Unterscheidungsschemata, in denen manche Ansätze Interkulturellen Lernens ihre Klientel erkennen und erzeugen, dass die Unterscheidungsschemata in denen das, was anerkannt werden soll, erkannt wird, dass die Thematisierung der Unterscheidung zwischen "Wir" und "Nicht-Wir" von zentraler Bedeutung für einen "interkulturellen" oder migrationspädagogischen Ansatz ist (ausführlicher: Mecheril 2004). Ziel und Anspruch dieser Reflexion ist eine Verschiebung, eine Vervielfältigung und Aufweichung der den vorherrschenden Zugehörigkeitsordnungen zugrunde liegenden Schemata. Meines Erachtens ist dies eine grundlegende pädagogische Aufgabe in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem um Zugehörigkeiten kulturelle und politische Auseinandersetzungen in Stadtvierteln und Schulen, Einrichtungen des Elementarbereiches und Jugendheimen geführt werden. Das Wort "Verschiebung" kennzeichnet eine (pädagogische) Praxis, die auf "Ordnungen" bezogen ist. Die Bewegung der Verschiebung, das "Verschieben", ist eine pädagogische Praxis der Bezugnahme auf dominante Zugehörigkeitsordnungen, die bestrebt ist, sie zu schwächen. Es geht hierbei nicht um die schlichte Ersetzung einer Ordnung durch eine neue. Vielmehr handelt es sich bei dem Verschieben um einen praktisch-interpretierenden Bezug auf Zugehörigkeitsordnungen, der sie dadurch, dass Feststellungen und Ausschlüsse dieses Zusammenhangs deutlich werden, gewissermaßen in sich verrückt. "Verschieben" ist eine beständige Unruhe, die pädagogisches Handeln und Reflektieren in die Zugehörigkeitsordnungen, die sie selbst mit produziert, einbringt.



[4] Mit Bezug auf den Zusammenhang von Zugehörigkeitsordnung und Macht können letztlich drei analytische Facetten unterschieden werden: (Natio-ethno-kulturelle) Zugehörigkeitsordnungen sind erstens deshalb machtvoll, weil sie in ihrem Einflussbereich Mittel der Disziplinierung, der Habitualisierung und Bindung zur Wirkung bringen; sie sind zum zweiten in einem migrationsgesellschaftlichen Zusammenhang machtvoll, da diese in der Regel, wie in Deutschland, Dominanzzusammenhänge darstellen, für die charakteristisch ist, dass bestimmte natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten politisch und kulturell gegenüber anderen privilegiert sind; schließlich sind (natio-ethno-kulturelle) Zugehörigkeitsordnungen machtvoll, weil sie zu jenen Ordnungen gehören, die mit einer exklusiven Logik operieren und den Einzelnen auferlegen, sich in dieser ausschließenden Ordnung darzustellen und zu verstehen.

Das Szientifische zu Bewusstsein bringen: Kulturanalyse als reflexiver Bezug auf Repräsentationsverhältnisse

Brechts Verfremdungstheater hebt durch verschiedene Verfahren darauf ab, den Zuschauer nicht emotional zu verwickeln. Das Gefühl war Brecht suspekt, er verdächtigte es des bloßen Vergnügens und bourgeoiser Bewusstlosmachung. Schauspielerinnen treten aus ihren Rollen heraus, Spruchbänder, auf denen der Text zu lesen ist, der gleich gesprochen wird, werden gehisst, die Bühne ist vollständig ausgeleuchtet ... Das Brechtsche Theater markiert sich selbst, um der Gefahr der unmerklichen Vereinnahmung der Zuschauer zu entkommen. Diese Vereinnahmung, diese Kolonisierung der Zuschauerinnen durch die Rezeption findet, so der Vorbehalt, durch die Darstellung von Handlungszusammenhängen statt, die der Zuschauerin Identifikationserlebnisse ermöglichen und ihr diese gewissermaßen alternativlos aufdrängen. Das epische Theater verweigert sich dieses suggestiven und betörenden Sogs. Hier wird das theatrale Moment auf die Bühne gebracht und dadurch wird, so will ich es formulieren, deutlich, dass es sich um eine Darstellungsform handelt: Die Darstellungsweise wird im Darstellen angezeigt. Damit wird zugleich markiert, dass eine signifikante Differenz besteht zwischen dem, was auf der Bühne des Theaters vor sich geht, und dem, was obschon es auf der Bühne dargestellt wird, nicht durch das Theater erreichbar ist. Das Markieren des Theatralen ruft den gewichtigen Unterschied in Erinnerung, der zwischen dem Spiel auf der Bühne und dem manchmal auch spielerischen Geschehen außerhalb der Bühne besteht.

Wenn wir diesen Aspekt des markierten Unterschieds verallgemeinern, dann heißt es, dass es sinnvoll ist, die jeweils spezifische Erkenntnis- und Darstellungsweise anzuzeigen, die das jeweils Gesagte und Behauptete hervorbringt. Für das Theater lautet das Motto: Das Theatrale auf die Bühne bringen. Für die sich vom Verfremdungsgedanken inspirieren lassende Wissenschaft heißt es: Das Szientifische zu Bewusstsein bringen. Anders ausgedrückt geht es also um eine sich selbst markierende, selbstbezügliche, reflexive Forschung. "Kulturen interpretieren" bedarf, so können wir von Brecht lernen, immer einer Reflexion auf das Format und das Medium, in dem die Interpretation stattfindet, weil ansonsten in einer dramatischen Geste die Differenz zwischen Interpretieren und Interpretiertem verwischt würde.

Das sozialwissenschaftliche Verlautbaren und Verschriftlichen nimmt von einer sozialen Position seinen Ausgang. Anders als die "göttliche" Botschaft, welche von überall und nirgendwo kommt, ist der Ort, von dem aus Sozialwissenschaftlerinnen sehen und sprechen/schreiben, angebbar. Die Bezeichnung des Ortes und die kritische Beschäftigung mit der Einflussnahme des Ortes auf die Konstitution von Gegenstand und Ergebnis hat dann besondere Relevanz, wenn - wie dies etwa für die Interkulturelle Pädagogik oder allgemein: für die Beschäftigung mit Phänomenen der kultureller Differenz, Migration und der natio-ethno-kulturellen Pluralität im deutschsprachigen Raum kennzeichnend ist - wissenschaftliche Sprecherin und Besprochene, wenn Subjekt und Objekt, der erste und der vierte grammatikalische Fall, gesellschaftliche Verhältnisse repräsentieren, die als Strukturen materieller und symbolischer Ungleichheit zu verstehen sind. Migrationsforschung wird reflexiv, wenn sie sich auf das soziale Verhältnis zwischen Textproduzenten und Besprochenen/Beschriebenen theoretisierend einlässt. Dieses Verhältnis ist auch auf der Ebene der je bedeutsamen natio-ethno-kulturellen Position bedeutsam; wobei im deutschsprachigen Raum das Verhältnis von der Figur dominiert wird, dass Etablierte über Außenseiter sprechen und diesen Zusammenhang nicht weiter thematisieren (vgl. genauer: Mecheril 1999).

Das Repräsentationsproblem, das ich hier anspreche und das vor allem in jenen Bereichen der Sozialwissenschaft thematisiert wird, in denen ein Bewusstsein um den Konnex von Darstellung (Episteme) und Vertretung (soziale Praxis) vorhanden ist, ein Bewusstsein um die Gleichursprünglichkeit von epistemologischer und sozialer Praxis, muss, so also die von Brechts Theater inspirierte Idee, in das Interpretieren der Kulturen hineingebracht werden. Von welcher kulturellen Position aus betreibe ich das Interpretieren der Kulturen? Dies wäre eine kritische Frage, die sich eine sich selbst verfremdende Wissenschaft und Pädagogik zu stellen hätte, die sie aufzuführen und an der sie vielleicht auch in dem Sinn zu scheitern hätte, dass ihr an dem Scheitern eine Verfeinerung ihrer selbst gelänge.

Situiertheit und Perspektivität sozialwissenschaftlichen Tuns charakterisieren dieses als kommunikatives Handeln. Sozialwissenschaft wird eben unzureichend verstanden, wenn sie als Unternehmung begriffen wird, die sagt, was der Fall ist oder was nicht der Fall ist; vielmehr - ich variiere eine Formulierung von Jürgen Habermas (1988, S. 32) ein wenig - sagt Erziehungs- und Sozialwissenschaft etwas über jemanden zu jemandem, so dass letzterer versteht, was gesagt wird. Sozialwissenschaft ist eine Form von Kommunikation, folglich an die Bedingungen von Kommunikation gebunden, den Gefahren des Kommunizierens ausgesetzt und aufgefordert, über die Voraussetzungen und Konsequenzen des Kommunizierens nachzudenken. Indem nun dem Kommunikationsmodell ein Vorrang gegenüber dem Modell des Feststellens eingeräumt wird, findet ein Wandel, zumindest eine Ergänzung der Leitmetaphorik statt: Vom "Sehen" zum "Sprechen". In diesem Wandel kommt zum Ausdruck, dass die Frage nach der Beschaffenheit der Instrumente, welche das Soziale erfassen und repräsentieren, zu ergänzen ist um jene Frage, die nach den Bedingungen von erkenntnisschaffender Kommunikation fragt.

In dieser Ergänzung des sozialwissenschaftlichen Selbstverständnisses und ihrer Kritik ist nun aber auch ein prinzipieller Vorbehalt gegenüber dem "Sehen" enthalten. Denn der sozialwissenschaftliche Blick war lange Zeit ein Blick von nirgendwo und überall her. "Dieser Blick schreibt sich auf mythische Weise in alle markierten Körper ein und verleiht der unmarkierten Kategorie die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen" (Haraway 1995, S.80).

Die Kluft, die signifikante Differenz zwischen wissenschaftlicher Präsentation und dem, was, obschon es wissenschaftlich präsentiert wird, nicht von der Wissenschaft erreichbar ist, bleibt unaufhebbar bestehen. Die Erfordernis der Reflexion scholastischer Befangenheiten (Befangenheiten der Terminologie oder der methodologischen Gewohnheiten) und der Befangenheiten, die mit der den wissenschaftlichen Blick disponierenden gesellschaftlichen Position der Wissenschaftlerin zu tun haben, ist nicht suspendierbar.

"Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen,

Gehe ich auf den Markt, wo Befangenheiten [im Original heißt es: Lügen] gekauft werden.

Hoffnungsvoll

Reihe mich ein zwischen die Verkäufer"

(Brecht 1967)[5]

Die Markierung und Reflexion von Repräsentationsverhältnissen, verstanden als Verhältnisse der Darstellung und Vertretung bezeichnet somit einen Aspekt reflexiver Forschung, der für das Interpretieren der Kultur der Migrationsgesellschaft von besonderer Relevanz ist: (trotz quasi rituellem Verweis auf die sogenannte Krise der Repräsentation finden sich in der deutschsprachigen ethnographischen Forschung kaum Anätze, die diese Krise zum Anlass für eine selbstreflexive oder gar selbstkritische Thematisierung nehmen; vgl. auch Winter 1991). Weil die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Produktion von Wissen immer von bestimmten sozialen und kulturellen Positionen betrieben wird, können wir die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Positionen als ein Moment wissenschaftlicher Verantwortung, aber auch Qualität verstehen. "Positionierung ist [...] die entscheidende wissensbegründende Praxis [...]. Positionierung impliziert Verantwortlichkeit für die Praktiken, die uns Macht verleihen" (Haraway 1995, S.87). Das Nachdenken über den Status sozialwissenschaftlicher Erkenntnis in Abhängigkeit von der sozialwissenschaftlichen, lebensweltlichen und symbolischen Position der Erkenntnisschaffenden kann in einem Modell konkretisiert werden, das sozialwissenschaftliche Praxis im Bild autorieller Tätigkeit beleuchtet: Der Sozialwissenschaftler als Autor, der über einen Gegenstand schreibend Auskunft gibt, schreibend über ihn nachdenkt, schreibend ihn auffindet.. Spezifischer noch kann das sozialwissenschaftliche Tun als ein Sprechen und Schreiben über Andere verstanden werden, das zu einem Text über Andere führt. Im Rahmen einer sich selbst bewussten Analyse macht es Sinn, diese Texte mit Blick auf Bedingungen, lokale Eigenschaften, flankierende Interessen etc. ihrer Produktion, mit Blick auf jene Befangenheiten, die auf dem wissenschaftlichen Markt angeboten werden, zu betrachten. Wenn - wie im Rahmen der autoriellen Metapher - danach gefragt wird, wer den jeweiligen sozialwissenschaftlichen Text geschrieben hat, dann ist die Voraussetzung virulent, dass es eine Autorin des Textes gibt und es lohnenswert ist, nach den Konstitutionsbedingungen ihres Sprechens/Schreibens zu fragen. Mit diesem Bezug auf die Voraus-Setzungen wissenschaftlichen Tuns wird dieses reflexiv. So wichtig hierbei die individuelle und psychologische Reflexion ist, so sehr verfehlt jedoch eine Beschränkung auf sie das, was im Rahmen einer reflexiven Pädagogik und Erziehungswissenschaft mit Reflexivität gemeint ist. Mit Pierre Bourdieus Verständnis soziologischer Reflexivität kann hier eine sinnvolle Heuristik pädagogischer Reflexivität markiert werden. Sein Reflexivitätsbegriff wird durch dreierlei charakterisiert:

"Erstens: Ihr Gegenstand ist primär nicht der individuelle Wissenschaftler, sondern das in die wissenschaftlichen Werkzeuge und Operationen eingegangene soziale und intellektuelle Unbewußte; zweitens: Sie ist ein kollektives Unternehmen und nichts, was dem Wissenschaftler individuell aufzubürden wäre; und drittens: Sie will die wissenschaftstheoretische Absicherung der Soziologie nicht zunichte machen, sondern ausbauen" (Wacquant, 1996, S.63; Hervorh. dort).

Man könnte dies wie folgt übersetzen: Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexivität ist primär nicht die individuelle Erziehungswissenschaftlerin, sondern das im erziehungswissenschaftlichen Handeln und Deuten maskierte erziehungswissenschaftliche, kulturelle und alltagsweltliche Wissen. Die Reflexion dieser mehr oder weniger verborgenen Wissensbestände und ihrer Effekte kann nicht der Erziehungswissenschaftlerin je individuell überantwortet werden, sondern es müssen institutionelle Strukturen und Kontexte zur Verfügung stehen, in denen Reflexion als eine kollektive erziehungswissenschaftliche Praxis möglich ist. Schließlich zielt Reflexion nicht auf die Destruktion der Grundlagen der erziehungswissenschaftlichen Analyse, sondern will diese verfeinern.

Ansätze, die ein Autor-Modell von wissenschaftlicher Erkenntnis präferieren, gehen davon aus, dass das, was sie sehen, sagen und schreiben, von dem individuellen, sozialen, geschichtlichen und kulturellen Ort beeinflusst ist, an dem sie sich befinden. Autor-Verständnisse von Wissenschaft fordern und ermöglichen folglich eine psychologische, soziologische, historische und kulturtheoretische Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsprozess. Die Weigerung, sich mit der sozialen und kulturellen Situiertheit wissenschaftlicher Studien und ihrer Ergebnisse auseinanderzusetzen, kann aus der Perspektive des autoriellen Modells insofern als ein Instrument der Sicherung bestehender Strukturen der Dominanz gelesen und betrachtet werden.

Wenn man nun nach einer Richtschnur der (Selbst-)Kritik fragt, wird sich jene Perspektive aufdrängen, die bereits in den vorherigen Abschnitten leitend war, nämlich die Kritik an der für die Migrationsgesellschaft leitende Produktion des und der Anderen, des und der Migrationsanderen (zu dem hier relevanten Kritikbegriff vgl. genauer Mecheril & Messerschmidt 2007).

In Migrationsgesellschaften ist natio-ethno-kulturelle Differenz und Pluralität gewissermaßen in die Gesellschaft hineingeholt, weil sich eine Migrationsgesellschaft dadurch auszeichnet, dass in ihr "Deutsche" und "Italienerinnen", "Griechen" und "Marokkanerinnen", "Türken" und "Inder" und auch weitere Gruppen aufhalten, wie "Sorbinnen" und "Kurden", "Sinti", "Roma" oder "Sikhs", die sich eher als ethno-kulturelle Gruppen verstehen. Die deutsche Migrationsgesellschaft ist also durch die Anwesenheit unterschiedlicher natio-ethno-kultureller und ethno-kultureller Gruppen und Gruppierungen charakterisiert. Insofern ist die migrationsgesellschaftliche Wirklichkeit durch allgemeine natio-ethno-kulturelle Differenzverhältnisse gekennzeichnet, in der die unterschiedlichen, sich selbst imaginierenden und sich wechselseitig konstruierenden Gruppen für einander Andere sind. Gleichwohl wäre es unangemessen bei der Beschreibung natio-ethno-kultureller Andersheit keine prinzipiellen Unterscheidungen einzuführen. Denn die natio-ethno-kulturellen Unterschiede werden von einer übergeordneten Differenz gerahmt, die die soziale Stellung der "Ausländerin" oder des "Migranten", der "Fremden" oder der "Zugewanderten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" erst verständlich macht. Das Spektrum natio-ethno-kultureller Pluralität wird gerahmt von einer binären Unterscheidung, nämlich der zwischen ‚in der Migrationsgesellschaft als Andere Geltenden' und ‚nicht als Andere Geltenden'.

Die überragende Bedeutung, die der Unterscheidung zwischen "Migranten" und "Nicht-Migranten" zukommt, muss verstanden werden mit Bezug auf Merkmale des natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontextes "Deutschland". Denn anders als bei den meisten anderen Nationalstaaten ist Deutschland eine dem "kollektiven Gedächtnis" (Halbwachs 1967) tief eingeschriebene Unterscheidung zwischen natio-ethno-kulturellen Anderen und Nicht-Anderen zu eigen, die mit der Vorstellung, der imaginären Praxis eines ethnisch und kulturell homogenen "Wir" operiert. Zwar ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine weitreichende Unruhe in dieses Selbstverständnis gekommen, gleichwohl ist die Rede von "Fremden", "Zugewanderten", "Migranten" etc., in der sich die andere Seite als einheitliches Kollektiv entwirft, nach wie vor jenes Muster, das die imaginäre Unterscheidung zwischen "Wir" und "Nicht-Wir" bestätigt. "Migrationsandere" sind Ausdruck einer gesellschaftlichen - also: einer politischen und einer kulturellen - Relation. "Die Anderen" stellen eine Konkretisierung politischer und kultureller Differenz- und Dominanzverhältnisse dar, mit denen sich Pädagogik dann beschäftigt, wenn sie sich Migrationsphänomenen zuwendet. "Migrationsandere" ist also ein Wort, das zum Ausdruck bringt, dass es "Migranten" und "Ausländerinnen" und komplementär "Nicht-Migranten" und "Nicht-Ausländerinnen" nicht an sich, sondern nur als relationale Phänomene gibt.

"In zunehmendem Maße", so schreibt Sandra Harding mit Bezug auf den nordamerikanischen Wissenschaftskontext so wie er sich vor etwa 15 Jahren dargestellt hat, "wird der Widerstand gegen die Auswirkung oder kritische Untersuchung von Herkunft, Auswirkungen, Werten und Interessen wissenschaftlicher Projekte als Teil der Unverantwortlichkeit positivistischer Tendenzen in den Wissenschaften und der Wissenschaftsforschung wahrgenommen, die [...] antidemokratische Tendenzen in Staat und Ökonomie befördert haben" (Harding, 1994, S. 224). Weil die sozialwissenschaftliche Produktion von Wissen immer von bestimmten sozialen und kulturellen Positionen aus vorgenommen wird, kann komplementär die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Positionen als ein Qualitätsausweis sozialwissenschaftlicher Tätigkeit verstanden werden. Ohne eine selbstkritsche Auseinandersetzung beispielsweise mit Bezug auf Fragestellungen (z. B. "Woher rühren die Sprachdefizite von Schülern mit Migrationshintergrund?" anstelle von "Wie werden Sprachformen von Schülern mit Migrationshintergrund in Defizite verwandelt?"), Begriffe, Forschungsparadigmen und Verwertungspotentiale von erziehungswissenschaftlicher Forschung der Migrationsgesellschaft, verlängert und bestätigt diese bloß die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie zu untersuchen vorgibt und befördert damit "anti-demokratische" Tendenzen.



[5] Dieses Gedicht entstand während Brechts Aufenthalt in Kalifornien; er thematisiert hier sein Unbehagen und Leiden an der amerikanischen Unterhaltungs- und Konsumkultur.

Literatur

Benhabib, S. (1995). Selbst im Kontext. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bourdieu, P. (2005). Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller.

Brubaker, R. (1994). Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich. Hamburg: Junius.

Brecht, B. (1967). Gesammelte Werke in 20 Bänden, Band 5. Frankfurt a. Main.

Brecht, B. (2003). Flüchtlingsgespräche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Habermas, J. (1996). Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Haraway, D. (1995). Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt: Campus.

Harding, S. (1994). Das Geschlecht des Wissens. Frankfurt: Campus.

Halbwachs, M. (1967). Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke.

Hirschauer, St. & Amann, K. (Hg.) (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Hörning, K. H. & Reuter, J. (2004) (Hg.). Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript.

Mecheril, P. & Witsch, M. (Hg.) (2006). Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen. Bielefeld: transcript.

Mecheril, P. (2003). Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit. Münster: Waxmann

Mecheril, P. (2004). Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz

Mecheril, P. & Messerschmidt, A. (2007). Subjektorientierung als Kritik. Ansatzpunkte non-affirmativer Migrationsforschung. Handlung Kultur Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften, S. 264-285.

Reckwitz, A. (2007). Kultursoziologie.In J.. Straub, A. Weidemann & D. Weidemann (Hrsg.). Handbuch interkulturelle Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz. Grundbegriffe - Theorien - Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler, S. 201-210.

Steiner-Khamsi, G. (1992). Multikulturelle Bildungspolitik in der Postmoderne. Opladen: Leske+Budrich.

Wacquant, L. (1996). Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bourdieus. In: P. Bourdieu und L. Wacquant. Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 17-93..

Winter, R. (1991); Ethnographie, Interpretation und Kritik. In Göttlich, U., Mikos, L. & Winter, R. (Hg.) Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Ausschlüsse und Interventionen. Bielefeld: transcript, S. 21-50.

Quelle

Paul Mecheril: Verfremdungseffekte. Brecht, die Migrationsgesellschaft und ihre Kultur

erschienen in: Hornberg, Sabine, Mecheril, Paul, Lang-Woytasik, Gregor & Dirm, Inci (Hrsg.) (2008). Verstehen, Beschreiben, Interpretieren. Methodische und methodologische Fragestellungen empirischer und theoretischer Forschung der International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft. Münster: Waxmann

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.09.2008

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation