Modelle unterstützter Entscheidungsfindung

Beispiele guter Praxis aus Kanada und Schweden

Autor:in - Hemma Mayrhofer
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen als: Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie: Working paper No. 16; ISSN 1994-490X. Verfügbar unter:http://www.irks.at/assets/irks/IRKS_WP16_Unterstützte-Entscheidungsfindung.pdf Das Working Paper fußt auf einem gleichnamigen Referat bei der Jahrestagung des Österreichischen Komitees für Soziale Arbeit (ÖKSA) am 21.11.2013. Das Referat wurde inhaltlich wesentlich erweitert und um ein viertes Beispiel guter Praxis ergänzt. Der Text wird auch in der Dokumentation zur ÖKSA-Jahrestagung abgedruckt, die voraussichtlich im Frühjahr 2014 erscheint.
Copyright: © Hemma Mayrhofer 2013

Abbildungsverzeichnis

    1. Einleitung[1]

    Gemäß Artikel 12 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen anerkennen die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen. Zugleich verpflichten sich die Staaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu eventuell benötigter Unterstützung bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Artikel 12 legt darüber hinaus fest, dass die Vertragsstaaten verhältnismäßige und wirksame Sicherungen gegen Missbrauch der Unterstützungsbeziehung durch die unterstützende Person bzw. Stelle vorsehen (vgl. BGBL. III Nr. 155/2008, Anlage: 14f). Aus diesem Artikel 12 wird in großer Übereinstimmung abgeleitet, dass Formen der unterstützten Entscheidungsfindung (supported decision-making) die bevorzugten Mittel der Wahl sein müssen, während umstritten ist, inwieweit Formen stellvertretender Entscheidung (substituted decision-making wie in unterschiedlichen Guardianship-Modellen verankert, in Österreich etwa im Sachwalterschaftsmodell) mit der UN-Konvention vereinbar sind (vgl. Ganner 2013: 46f). Der Ausbau Ersterer und die Zurückdrängung Zweiterer kann aber jedenfalls als im Sinne der UN-Konvention gefordert betrachtet werden.

    Unterstützte Entscheidungsfindung[2] ist alles andere als ein klares, einheitliches Modell, vielmehr existieren in unterschiedlichen Ländern verschiedenartige Umsetzungsvarianten. Dennoch lassen sich in Anlehnung an Leslie Salzman (2011: 306f), Clinical Professor of Law (USA), vier zentrale Merkmale unterstützter Entscheidungsfindung übergreifend identifizieren:

    • Die rechtliche Handlungsfähigkeit der Person mit Unterstützungsbedarf wird durch die Ernennung einer entscheidungsunterstützenden Person oder eines ebensolchen Personenkreises nicht beeinträchtigt (d.h. sie behält die volle Geschäftsfähigkeit).

    • Die Unterstützungsbeziehung ist freiwillig und kann nach Belieben durch die Person mit Unterstützungsbedarf beendet werden.

    • Die unterstützte Person partizipiert aktiv an der Entscheidungsfindung und soll im Sinne der Selbstbestimmung bei der Realisierung ihres Willens unterstützt werden.

    • Entscheidungen, die mittels unterstützter Entscheidungsfindung getroffen wer-den, sind rechtlich verbindlich und durchsetzbar (z.B. gegenüber Banken, sozial-en Institutionen etc.).

    In Österreich wurde das Bundesministerium für Justiz in der Folge eines Entschließungsantrags des Nationalrates vom 14.06.2012 (1995/A(E)XXIV. GP)[3] beauftragt, ein Pilotprojekt zu unterstützter Entscheidungsfindung „auf Basis der Erfahrungen aus Kanada und Schweden“ (ebd.: 2) zu entwickeln und durchzuführen. Die beiden angeführten Länder gelten international als Vorreiter in Sachen unterstützter Entscheidungsfindung (vgl. u.a. WHO 2011: 138). Die dort entwickelten und implementierten Modelle fehlen als Beispiele guter Praxis in kaum einem Artikel zum Thema (vgl. etwa Carney/Beaupert 2013; Devi/Bickenbach/Stucki 2011; Gooding 2013; Kohn/Blumen-thal/Campbell 2013; Salzman 2010). Das tatsächliche Wissen über die rechtliche und praktische Umsetzung dieser Modelle ist aber häufig begrenzt, zusätzlich fehlt großteils durch empirische Studien abgesichertes Wissen darüber, wie unterstützte Entscheidungsfindung in der Praxis tatsächlich arbeitet und wirkt (vgl. Kohn et al. 2013: 1128f).

    Im folgenden Beitrag sollen vier unterschiedliche Beispiele guter Praxis aus Kanada und Schweden näher vorgestellt und – soweit vorhanden und (auch sprachlich) zugänglich – durch empirische Studienergebnisse ergänzt und unter deren Einbezug reflektiert wer-den. In der Darstellung bleiben die unterschiedlichen Rechtssysteme und wohlfahrts-staatlichen Rahmenbedingungen sowie die divergierenden Kulturen des Zusammenlebens im Gemeinwesen und der wechselseitigen Hilfe und Unterstützung in Schweden und Kanada großteils unberücksichtigt, wiewohl sie in eine umfassende Beschreibung und Diskussion der Modelle mit einbezogen werden müssten. Solch eine ausführliche Analyse des Themenfeldes würde allerdings den Rahmen eines Vortrags bzw. Working Papers sprengen. Doch auch ohne diese umfassende gesellschaftliche Einbettung können die nachfolgenden Darstellungen nützliche Einsichten und Erkenntnisse über Umsetzungsmöglichkeiten von und -erfahrungen mit unterstützter Entscheidungsfindung geben.



    [1] Ich danke Walter Fuchs, Walter Hammerschick und Reinhard Kreissl für wertvolle Anregungen.

    [2] Seltener ist auch von assistierter Entscheidungsfindung die Rede (vgl. insbes. Gordon 2000). Bei Verwendung dieser Bezeichnung ist jedoch zu berücksichtigen, dass damit nicht Persönliche Assistenz gemeint ist. Letztere stellt eine spezifische Form der Unterstützung von Menschen mit Behinderung dar, die diese in die Lage versetzt, selbst über Art und Umfang ihres Unterstützungsbedarfs zu bestimmen. Die Person mit Behinderung (AssistenznehmerIn) braucht nicht Unterstützung im Entscheiden, sondern in der praktischen Umsetzung bzw. Ausführung der getroffenen Entscheidung (z.B. dabei, etwas Bestimmtes zu kochen, zu unternehmen, nach den eigenen Vorstellungen in der eigenen Wohnung zu leben etc.). Sie sucht die assistierende(n) Person(en) selbst aus und leitet sie ihren eigenen Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen entsprechend an. Der/die AssistenznehmerIn bestimmt Zeit, Umfang, Ort und Ablauf der Assistenz (vgl. Wansing 2005: 156).

    [3] Der gesamte Text des Entschließungsantrages ist online abrufbar unter: http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/A/A_01995/index.shtml [Stand: 12.08.2013].

    2. British Columbia's Representation Agreement (Kanada)

    Das British Columbia's Representation Agreement ist seit 2000 in Kraft und kann als Ergebnis einer grassroots-Initiative zur Gesetzesreform im Bereich Guardianship für Erwachsene betrachtet werden (vgl. Nidus 2010). Die damit in der kanadischen Provinz British Columbia realisierbaren rechtlichen Vereinbarungen werden international als eine Umsetzungsmöglichkeit von unterstützter Entscheidungsfindung betrachtet und häufig als good-practice-Beispiel angeführt (vgl. u.a. Fembek et al. 2012; Gooding 2013).

    Die nachfolgend zusammengefassten Informationen entstammen – so nicht anders aus-gewiesen – den Informationsblättern von „Nidus – Personal Planning Resource Centre and Registry“ zum Representation Agreement Act (=RAA) in British Columbia in der Version vom März 2012.[4] Diese Nonprofit-Organisation stellt die bedeutendste Informations- und Beratungsstelle rund um den RAA in British Columbia dar. Sie informiert und berät EinwohnerInnen in der ganzen Provinz British Columbia in Bezug auf persönliche (Lebens-)Planung und ist auf Representation Agreements spezialisiert. Auf der Homepage von Nidus werden umfassende Informationsblätter, Videos mit mündlichen Erklärungen, Leitfäden zum Erstellen eines RAAs u.v.m. zum Download angeboten. Die Institution fördert zugleich auch Forschungen zum RAA und betreibt ein zentrales Register für RAAs und andere Dokumente zur persönlichen Planung.

    2.1. Rechtliche Rahmenbedingungen bzw. formale Umsetzung

    Ein Representation Agreement Act ist ein Rechtsakt, durch den eine erwachsene Person, die Unterstützungsbedarf im Entscheiden bzw. in gesundheitlichen, alltäglichen, rechtlichen und/oder geschäftlichen Angelegenheiten hat oder künftig haben könnte, eine oder mehrere andere Personen ihres Vertrauens als UnterstützerInnen (im Englischen: „re-presentatives“, im Folgenden mit „Vertrauensperson“ oder „UnterstützerIn“[5] übersetzt) formal autorisiert (vgl. Nidus 2012). Die Entscheidungen, die in diesen Unterstützungs-beziehungen gefällt werden, müssen von der institutionellen Umwelt anerkannt werden.

    • Die Person mit Unterstützungsbedarf behält dabei die volle rechtliche Handlungsfähigkeit und kann die Unterstützungsermächtigung jederzeit zurückziehen, weiters muss sie von der ernannten Vertrauensperson bei den Entscheidungen zumindest beratend hinzugezogen werden.

    • Eine Person, die über den RAA formal zur Vertretung und Unterstützung legitimiert ist, muss ehrlich, in gutem Glauben und innerhalb des Gesetzes handeln. Ihre prioritäre rechtliche Verpflichtung ist es, der unterstützten Person dabei zu assistieren, eigene Entscheidungen zu treffen. Grundsätzlich kann die ernannte Vertrauensperson auch Entscheidungen anstatt der unterstützten Person treffen, muss dafür aber so weit wie möglich deren Wünsche berücksichtigen. Rein rechtlich muss der/die UnterstützerIn die vertretene Person lediglich konsultieren, er/sie kann im begründeten Fall (als „letztes Mittel“) auch von deren Wünschen abweichen, wenn die Umsetzung dieser Wünsche nicht vertretbar er-scheint. Eine Abweichung muss aber gegebenenfalls gerechtfertigt werden.[6]

    Wenn die ernannte Vertrauensperson ihren Pflichten und Anforderungen folgt, ist sie nicht verantwortlich (rechtlich haftbar) für Fehler oder Schäden, die aus den Entscheidungen und Handlungen hervorgehen könnten. Trifft der/die UnterstützerIn allerdings eine Entscheidung ohne Konsultation der unterstützten Person, dann kann er/sie für eventuelle Folgen haftbar gemacht werden (vgl. Salzman 2010: 239). Der/die formal legitimierte UnterstützerIn kann seine/ihre Befugnisse nicht an eine andere Person übertragen. Die Person mit Unterstützungsbedarf kann aber im RAA eine Ersatzperson ("alternate representative") bestimmen, die im Bedarfsfall einspringt.

    • Zugleich ist eine Sicherheitsmaßnahme vorgesehen und verpflichtend für den Fall, dass auch finanzielle Angelegenheiten in das Agreement eingeschlossen sind: Entweder müssen mindestens zwei Vertrauenspersonen ernannt werden, die diese finanziellen Angelegenheiten gemeinsam erledigen und sich wechselseitig kontrollieren, oder eine zusätzliche Person wird mit Monitoringaufgaben betraut, diese Person übernimmt aber keine direkten Unterstützungsaufgaben. Es ist im RAA nicht möglich, eine Organisation/Institution mit dem Monitoring zu beauftragen. Die Person mit Monitoring-Funktion stellt sicher, dass der/die UnterstützerIn seine/ihre Pflichten erfüllt, entweder nur in Bezug auf die finanziellen Angelegenheiten oder – wenn im RAA so festgelegt – auch in Bezug auf die anderen Unterstützungsbereiche. Eine Studie von Nidus (2010: 2) zeigt, dass in drei Viertel der Fälle, in denen finanzielle Befugnisse in den RAA inkludiert sind, die zweite Möglichkeit, d.h. die Bestellung eines Monitors, gewählt wird. 90% bestellen die Monitoring-Person zugleich für alle Bereiche, nicht nur für die finanziellen Angelegenheiten (vgl. Nidus 2012: div. Fact Sheets; Nidus 2010).

    Es gibt weder eine Verpflichtung, sich rechtlich beraten zu lassen, um einen RAA abzuschließen, noch ist ein Gericht für den Abschluss notwendig oder muss eine notarielle Beglaubigung erfolgen (vgl. Nidus 2012: overview). Der RAA ist gültig, wenn die erwachsene Person mit Unterstützungsbedarf und zwei unabhängige ZeugInnen ihn unterschrieben haben. Die Vertrauensperson(en) und – falls vorhanden – die Person, die die Monitoring-Rolle einnimmt, unterschreiben ebenfalls. Der RAA kann eine Klausel enthalten, dass er erst zu einem späteren Zeitpunkt in Kraft tritt.

    RAAs können widerrufen oder abgeändert werden (in der Regel wird dabei ein neuer RAA abgeschlossen, der den bisherigen außer Kraft setzt). Sie können auch durch die gerichtliche Bestellung eines "legal guardian" (rechtliche Stellvertretung im Sinne von substituted decision-making) beendet werden. In Kanada besteht also Guardianship als "last resort" (letztes Mittel).

    Das Gesetz in British Columbia unterscheidet zwei Formen von Representation Agreements (vgl. Nidus 2012): Ein RAA nach Paragraph 7 "standard powers" ist eine rechtsgültige Vereinbarung für Personen mit aktuellem Unterstützungsbedarf in der persönlichen Planung (bei alltäglichen Entscheidungen), deren geistige Fähigkeiten in Frage gestellt sein oder werden könnten. Die Vereinbarung ersetzt nicht die informelle Unter-stützung durch Familie bzw. FreundInnen, sondern gibt persönlichen UnterstützerInnen einen rechtlichen Status, wenn informelle Hilfe nicht (mehr) genug ist (z.B. um von der Bank anerkannt zu werden und für die unterstützte Person Bankangelegenheiten regeln zu können). Der RAA unter §7 kann bis zu vier verschiedene Bereiche umfassen:

    • Unterstützung in Gesundheits- und medizinischen Angelegenheiten (ausgenommen sind gewisse Entscheidungen wie etwa die, lebenserhaltende Maßnahmen zu verweigern; hierfür müssten sowohl das medizinische Personal als auch die Angehörigen zustimmen),

    • Persönliche Unterstützung in Fragen der täglichen Lebensführung (z.B. in Bezug auf die Wohnsituation, die Essensversorgung, die Teilnahme an sozialen Aktivitäten etc.),

    • Unterstützung bei rechtlichen Angelegenheiten (z.B. dabei, bei Bedarf juristische Unterstützung zu erhalten, AnwältInnen zu instruieren, einen Versicherungsanspruch geltend zu machen, die Vertretung vor Gericht bei Bagatellsachen),

    • Routineerledigung von finanziellen Angelegenheiten (z.B. Unterstützung bei Bankgeschäften, staatlichen Leistungen, gegenüber der Finanzbehörde, beim Verwalten von Investitionen); ausgenommen sind aber u.a. Immobiliengeschäfte, hierfür ist eine zusätzliche Vereinbarung nötig (vgl. ebd: RA 7 Fact Sheet).

    Am RAA gemäß §7 ist hervorzuheben, dass damit eine besondere Perspektive auf die Fähigkeiten bzw. das Vermögen einer Person verbunden ist: Jedem Menschen werden grundsätzlich Selbstbestimmungs- und Entscheidungsfähigkeiten zugesprochen. Entsprechend kann jede erwachsene Person ein Representation Agreement gemäß Paragraph 7 ("standard powers") vereinbaren, selbst wenn sie nicht in der Lage ist, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln oder Entscheidungen unabhängig zu treffen (vgl. ebd.: overview) Es sind grundsätzlich keine spezifischen Anforderungen bzw. Fähigkeiten, die mindestens erfüllt werden müssen, definiert. Man muss sich beispielsweise auch nicht verbal artikulieren können.[7] Zugleich gibt es manchmal Mischformen mit stellvertretender Entscheidung: Für finanzielle Angelegenheiten könnte beispielsweise ein "public guardian" vom Gericht ernannt werden, während in den anderen Angelegenheiten ein RAA vereinbart wird.

    Die zweite Variante, nämlich ein RAA nach §9 "Broader Powers", ist ein rechtliches Dokument für Personen, die für die Zukunft eine unterstützende Person bzw. persönliche Vertretung ihres Vertrauens ernennen wollen, falls sie eine rechtlich anerkannte Unterstützung aufgrund von Krankheit, Verletzungen oder Behinderung benötigen. Die Beispiele, die von der Einrichtung Nidus (2012) angeführt werden, sind etwa Personen, die eine Alzheimer- oder Krebs-Diagnose erhalten haben, grundsätzlich kann aber jede erwachsene Person in dieser Weise vorsorgen. Die Unterstützungsvereinbarung tritt erst in Kraft, wenn die Person nicht mehr dazu in der Lage ist, ihre Angelegenheiten zu regeln. Für einen RAA nach §9 bedarf es bestimmter Kompetenzen der Person, die jemand anderen zur Unterstützung ernennt. Sie muss in der Lage sein, die Arten der Befugnisse, die in diese Bevollmächtigung eingeschlossen sind, zu verstehen, und Einsicht in die Konsequenzen haben, die die Übertragung dieser Befugnisse an eine andere Person hat. Sind diese Kompetenzen nicht (ausreichend) vorhanden, kann ein RAA gemäß §7 abgeschlossen werden (vgl. Nidus 2012: RA 9 Fact Sheet).

    Ein RAA unter §9 ist in manchen Angelegenheiten umfassender und kann etwa auch die Sorge um und Erziehung von minderjährigen Kindern der Person mit Unterstützungs-bedarf mit einschließen. Weiters können umfassendere, außergewöhnliche Befugnisse mit aufgenommen werden wie etwa die Vollmacht, medizinische Versorgung und lebenserhaltende Maßnahmen zu verweigern. Die §9-Variante des RAA umfasst allerdings nur medizinische und gesundheitliche Angelegenheiten sowie diverse persönliche Angelegenheiten bzw. die tägliche Lebensführung (s.o.), nicht aber finanzielle Angelegenheiten und rechtliche Belange außerhalb der genannten Bereiche. Um diese Bereiche auch abzudecken, kann zusätzlich ein RAA nach §7 oder eine Form der Stellvertretung abgeschlossen werden (vgl. ebd.).

    Regelungen bezüglich Entgelt bzw. Spesenerstattung für die UnterstützerInnen: In beiden RAA-Varianten sind die formal autorisierten UnterstützerInnen und Monitoring-Personen berechtigt, vertretbare Spesen, die im Zuge der Tätigkeit anfallen, rückerstattet zu bekommen. Allerdings ist im Gesetz festgelegt, dass für die Unterstützung bei Entscheidungen bezüglich der Gesundheits- und medizinischen Versorgung keine Bezahlung erfolgen kann. Wenn jemand die unterstützende Person für andere Bereiche bezahlen will, dann muss dies im RAA explizit festgehalten sein und vom Gericht (B.C. Supreme Court) genehmigt werden (vgl. Nidus 2012: Role of a Representative). Die Unter-stützung wird üblicherweise ehrenamtlich ausgeübt.

    Mit September 2011 traten Änderungen in Bezug auf den RAA in Kraft, die etwa ein-schränken, wer als persönliche Unterstützung bzw. Vertretung eingesetzt werden kann, um potenzielle Interessenskonflikte zu vermeiden. Personen, die für ihre Hilfe in gesundheitlichen oder persönlichen Dingen entschädigt werden (etwa durch Bezahlung eines Lohnes oder Honorars), können nicht eingesetzt werden. Weiters kann auch niemand ernannt werden, der/die in der Einrichtung arbeitet, in der die Person mit Unterstützungsbedarf gegebenenfalls lebt, sofern diese Einrichtung in gesundheitlicher und persönlicher Hinsicht Dienstleistungen bereitstellt. Von diesen Einschränkungen ausgenommen sind in beiden Fällen EhepartnerInnen, Eltern oder eigene Kinder. Zusätzlich wurden neue Erfordernisse definiert, die das Führen und Aufbewahren von Aufzeichnungen über die getroffenen Entscheidungen und die geleistete Unterstützung betreffen. Die Person mit Monitoring-Aufgaben kann Einsicht in diese Aufzeichnungen verlangen, ev. auch ein "public guardian", falls vorhanden, oder das Gericht (vgl. Nidus 2012: Amendments).

    2.2. Umsetzungserfahrungen

    Zur quantitativen Bedeutung des Modells: Gültige Informationen über die Zahl der insgesamt in British Columbia (die Provinz zählt in etwa 4,4 Millionen EinwohnerInnen) abgeschlossenen RAAs konnten nicht recherchiert werden und liegen vermutlich auch nicht vor. Nidus führt allerdings – wie oben erwähnt – einen Register, in der RAAs gespeichert und aufbewahrt werden können. In diesem Register sind ca. 5.000 Datensätze vermerkt (Stand: 2011 – vgl. Fembek et al 2012: 160). Da solch eine Registrierung weder Pflicht[8] noch Nidus die einzige Möglichkeit der Registrierung ist (ein RAA kann auch bei einer Anwaltskanzlei oder in einem Notariat hinterlegt werden), ist die Anzahl der RAAs mit Sicherheit höher, möglicherweise auch wesentlich höher. Dem RAA dürfte somit quantitativ durchaus Bedeutung zukommen.

    Was empirische Befunde zum RAA betrifft, so fehlen vor allem qualitative Studien, die tiefere Einsicht in die Motivationen und Erfahrungen der unterstützten Personen und ihrer VertreterInnen gewähren würden, wie u.a. Nidus (2010: 4) bemängelt. Aber auch quantitative Untersuchungen sind Mangelware. Eine von Nidus durchgeführte quantitative Auswertung von 989 "Representation Agreements with standard powers" (nach §7) kann jedoch nützliche Einsichten in die Nutzungsstrukturen geben, sie bleibt zugleich auf einer rein deskriptiven Ebene und weist lediglich einige Häufigkeitsverteilungen aus. Die folgenden Grafiken wurden dieser Nidus-Studie entnommen und geben einige As-pekte davon wieder:

    Die Personen (55% sind weiblich, 45% männlich), die einen RAA nach §7 abgeschlossen haben, weisen folgende Altersstuktur auf:

    Abbildung 1. Altersverteilung der Personen mit Unterstützungsbedarf (Angaben in %)

    Balkendiagramm

    (Quelle: Nidus 2010: 3 – Die Summe ergibt vermutlich aufgrund von Rundungsungenauigkeiten 99%)[9]

    Die jüngste Alterskategorie der 19-29-Jährigen ist zugleich die größte. Nidus leitet dar-aus ab, dass der RAA ein wichtiges Instrument für die Realisierung des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter für Personen mit Unterstützungsbedarf darstellt. Danach sinken die Zahlen und nehmen erst im Alter v.a. in den Alterskategorien zwischen 70-79 und 80-89 Jahren wieder bedeutend zu, in denen altersbedingte Unterstützungsbedarfe schlagend werden. Allerdings liegen keine Zahlen zur Dauer der Unterstützungsverhältnisse vor, die je nach Alterskategorie eventuell unterschiedlich lang sein und dadurch Einfluss auf die Gesamtzahl der Personen in einer Kategorie haben könnte.

    In 54% der ausgewerteten RAAs nach §7 ist nur eine Person als UnterstützerIn ernannt, in 41% zwei und in 5% drei oder mehr Personen (vgl. ebd.: 3). Die folgende Grafik gibt die Art der Beziehung zu den ernannten Vertrauenspersonen wieder:

    Abbildung 2. Art der Beziehung zu UnterstützerInnen (Angaben in %)

    Balkendiagramm

    (Quelle: Nidus 2010: 3 – Die Summe ergibt vermutlich aufgrund von Rundungsungenauigkeiten 101%)

    Die Beziehung zu den Personen mit Monitoring-Aufgaben gestaltet sich wie folgt:

    Abbildung 3. Art der Beziehung zu Monitoring-Person (Angaben in %)

    Art der Beziehung zu Monitoring-Person (Angaben in %)

    (Quelle: Nidus 2010: 4)

    Die beiden Grafiken zeigen im Vergleich, dass als VertreterInnen überwiegend, nämlich zu über 90%, Familienmitglieder ausgewählt werden, davon gehören über 80% dem engeren Familienkreis an (Eltern, Kinder, Geschwister und EhepartnerInnen). Bei Monitoring-Aufgaben gestaltet sich dies etwas anders, hier kommen andere Familienmitglieder (d.h. in der Regel aus dem weiteren Familienkreis) und Personen aus dem Freundeskreis mit jeweils 30% und darüber zum Einsatz. Dennoch sind auch hier über zwei Drittel der Monitoring-Personen aus dem Familienkreis. Aus dieser extrem starken

    Konzentration auf familiäre Unterstützung in der Umsetzungspraxis des RAAs ergibt sich die Frage nach der Relevanz solch eines Modells der unterstützten Entscheidungs-findung für Personen ohne existierendem und funktionierendem familiären Unterstützungsnetzwerk.

    Nachstehende Grafik gibt die Unterstützungsbereiche wieder, die in den RAA eingeschlossen werden:

    Abbildung 4. Unterstützungsbereiche

    Tortendiagramm

    (Quelle: Nidus 2010: 2)

    Demnach umfassen mehr als zwei Drittel (69%) der RAA nach §7 alle vier möglichen Unterstützungsbereiche, eine Beschränkung auf Unterstützung in Gesundheitsbelangen und Angelegenheiten der persönlichen Lebensführung findet in 30% der RAAs statt. Kaum jemals wird die Unterstützung nur auf finanzielle und rechtliche Angelegenheiten eingegrenzt. Die Gründe für die starke Tendenz, die Unterstützungsbereiche nicht einzuschränken, können hier nicht genannt werden, denn dazu liegen keine empirischen Befunde vor. Ein direkter Vergleich mit den Usancen in der österreichischen Umsetzungspraxis der Sachwalterschaft, wo auch eine Tendenz zur Bestellung einer Sachwalterschaft in allen Angelegenheiten zu beobachten ist (vgl. Kreissl/Pilgram/Hanak/ Neumann 2009) scheint aber nicht zulässig, da mit einem Representation Agreement nicht der Verlust der rechtlichen Handlungsfähigkeit verbunden ist und die Unterstützungsbeziehung jederzeit von der unterstützten Person geändert bzw. beendet werden kann.

    Eine qualitative Mini-Studie von Nidus (vgl. Rutman/Taylor 2009) zur Verwendung von RAAs bei der Unterstützung von erwachsenen Personen mit fetalen Alkohol-Spektrumsstörungen (=FASD – es wurden im Wesentlichen zwei Personen mit Unterstützungsbedarf und ihre UnterstützerInnen interviewt) lässt erkennen, dass der Abschluss eines RAAs einerseits die Unterstützungsbeziehung rechtlich formalisiert und damit den Betroffenen gegenüber Behörden, Einrichtungspersonal o.ä. mehr Anerkennung verschaffen kann. Andererseits gibt es manchmal auch Anerkennungsprobleme, interessanterweise etwa gegenüber RechtsanwältInnen (vgl. ebd.: 12). Hier braucht es dann Unterstützung bei der Durchsetzung der Rechte und Anerkennung der Entscheidungen, wobei eine Institution wie Nidus hilfreich sein kann. Die Studie zeigt auch auf, dass in den beiden untersuchten Fällen zwar ein persönliches Netzwerk von Vertrauens-personen vorhanden war, die zur Unterstützung bereit waren, dies aber keineswegs selbstverständlich ist. Bei vielen Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD, so die Studienautorinnen, fehlt ein derartiges soziales Netzwerk, wodurch die Organisation der Unterstützung über einen RAA zur speziellen Herausforderung wird (vgl. ebd.: 13).

    Zum RAA nach §9 (Verfügung bei künftigem Unterstützungsbedarf) liegt eine quantitative Masterarbeit von Wendy Harrison (2008) im Fach Gerontologie an der Simon Fraser University (Kanada) vor. Die Ergebnisse zu den soziodemographischen Merkmalen von Personen, die einen RAA nach §9 abschließen, stärken tendenziell die Hypothese, dass dieses Instrument vor allem von gut gebildeten Weißen (etwas mehr von Frauen) der oberen Mittelschicht genutzt wird und somit vorrangig ein bestimmtes Bevölkerungssegment anspricht, was die Reichweite und Anwendbarkeit des RAAs nach §9 limitiert (vgl. ebd. 122f). Worin die Gründe dafür liegen, dass für andere Bevölkerungsgrup-pen (etwa aus sozioökonomisch schwächeren Schichten oder Personen der "First Nation") dieses Modell der Unterstützung weniger anschlussfähig oder zugänglich ist/sein dürfte, bleibt eine neuralgische offene Frage in Bezug auf den RAA.

    Fazit: Representation Agreement Acts erfüllen den verfügbaren Daten und zugänglichen Erfahrungen aus British Columbia zufolge vorrangig die Funktion, vorhandene informelle Unterstützungsbeziehungen im familiären oder auch freundschaftlichen Umfeld und die dort getroffenen Entscheidungen mit formaler Geltungskraft gegenüber der institutionellen Umwelt (Banken, Pflegeeinrichtungen etc.) auszustatten. Die UnterstützerInnen werden damit auch rechtlich abgesichert, zusätzlich stellt die Monitoring-Rolle eine wichtige Schutzmaßnahme dar und wird Nidus zufolge auch oft genutzt. Die rechtlichen Bestimmungen sind zugleich – und das muss besonders betont werden – von einer Haltung geprägt, die grundsätzlich von der Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Willensartikulation aller Personen ausgeht, wie insbesondere in der RAA-Variante nach §7 zum Ausdruck kommt. Die Regelungen und Vorgaben sind bestrebt sicherzustellen, dass dem Willen und den Bedürfnissen der unterstützten Person oberste Priorität zukommen. Sie soll gefördert und ihr soll dabei assistiert werden, eigene Entscheidungen zu treffen. Allerdings fehlen valide empirische Studien über die tatsächliche Realisierung dieser Werte und Normen in der Unterstützungspraxis und zur Zufriedenheit der NutzerInnen dieser rechtlichen Vereinbarung in British Columbia. Und es fehlen Erkenntnisse darüber, inwieweit dieses rechtliche Instrument auch für Personen von nennenswerter Relevanz ist, die nicht auf ein bestehendes persönliches Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen können.



    [4] Vgl. http://www.nidus.ca [Stand: 12.11.2013]. Die Quelle wird im Folgenden mit (Nidus 2012) und eventuellen Ergänzungen zum spezifischen "Fact Sheet" belegt.

    [5] Die direktere Übersetzung ins Deutsche wäre VertreterIn, dies wird aber der Rolle der unterstützenden Person nicht gerecht, deshalb wird auf die Übersetzung „Vertrauensperson“ ausgewichen bzw. auch von UnterstützerInnen gesprochen.

    [6] Dieses Schlupfloch für die Möglichkeit stellvertretender Entscheidung wird in der internationalen wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu unterstützter Entscheidungsfindung durchaus kritisch diskutiert (vgl. etwa Kohn et al. 2013).

    [7] Die RAA-ExpertInnen Michael Bach und Lana Kerzner (2010: 86) aus British Columbia benennen folgende Mindestvoraussetzung für die Ausübung rechtlicher Handlungsfähigkeit mithilfe von unterstützter Entscheidungsfindung: Die Person mit Unterstützungsbedarf muss in einer Weise agieren können, dass zumindest eine andere, mit ihr vertraute Person dieses Agieren einigermaßen angemessen deuten und aus ihm den persönlichen Willen und/oder die damit verbundene Intentionen ableiten sowie auf dieser Basis vernünftige Folgehandlungen entwickeln und ausführen kann, die den Willen und/oder die Intentionen der Person mit Unterstützungsbedarf umsetzen.

    [8] Die Registrierung bei Nidus oder bei einer Notariatskanzlei sind jedenfalls freiwillig, auch sonst fand sich in den gesichteten Informationen kein Hinweis auf eine Registrierungspflicht.

    [9] Die Grafiken von Nidus (2010) enthalten keine Zahlen, auch in den Erläuterungen dazu sind die Werte nicht immer ergänzt. Für die Nachzeichnung der hier abgebildeten Grafiken wurden die Balken der ursprünglichen Grafik exakt abgemessen.

    3. Microboards in British Columbia (Kanada)

    Ein Microboard stellt eine Methode der personenzentrierten Planung und Unterstützung dar. Diese Methode vereint und koordiniert formale und informelle Unterstützungen rund um eine Person mit Unterstützungsbedarf (=Fokusperson), deren Wünsche und Bedürfnisse lenken die konkrete Ausgestaltung des Unterstützungsarrangements. Microboards können als ein gruppenbasiertes Modell der unterstützten Entscheidungsfindung betrachtet werden, sie gehen aber zugleich auch darüber hinaus und stellen tendenziell ein umfassenderes Unterstützungsmodell dar, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die nachstehend zusammengefassten Informationen wurden – wenn nicht anders ausgewiesen – der Homepage von VELA entnommen, einer gemeinnützigen Einrichtung in British Columbia, die u.a. Information und Unterstützung in Bezug auf Microboards anbietet (s.u.).[10]

    3.1. Rechtliche und formale Ausgestaltung

    Das Microboard besteht aus einer kleinen Gruppe von mindestens 5 Personen, in der Regel Familienmitgliedern und FreundInnen, die von der Person mit Unterstützungsbedarf ausgewählt wurden und bereit sind, ehrenamtlich zu unterstützen. Sie gründen gemeinsam eine kleine "nonprofit society" (gemeinnützige Gesellschaft, ähnlich einem gemeinnützigen Verein)[11] und treffen sich regelmäßig, anfangs meist etwas öfters, dann teilweise auch in größeren Abständen. Die Treffen können sich zwischen einmal pro Monat und 3-4 Mal pro Jahr bewegen (vgl. Malette 2002: 157). Idealerweise setzen die Microboard-Mitglieder die Unterstützungsbedarfe der Person in einer ermächtigenden ("empowering") und individuellen bzw. der Person entsprechenden Weise um. Sie helfen, das Leben personenzentriert zu planen und neue Ideen zu entwickeln. Die Microboard-Mitglieder treten für die Bedürfnisse der Fokusperson ein und kontrollieren und gewährleisten die Sicherheit von Dienstleistungen, die die Person erhält. Sie unterstützen auch dabei, in Kontakt/Beziehung zur weiteren Community (sozialen Umgebung) zu treten. In welchem Ausmaß es in den unterschiedlichen Microboards tatsächlich gelingt, diese Ideale umzusetzen, kann hier nicht beantwortet werden, dazu liegen auch keine validen Studien vor. Kohn et al. (2013: 1123) weisen jedenfalls darauf hin, dass solche gruppenbasierten Unterstützungsmodelle nur dann als Modelle der unterstützten Entscheidungsfindung zu klassifizieren sind, wenn die Entscheidungen tatsächlich mit den Fokuspersonen und nicht an ihrer statt getroffen werden. Dieser Einwand expliziert, dass ein Microboard nicht in jedem Fall unterstützte Entscheidungsfindung realisiert.

    Ein Microboard kann auch Zugang zu finanzieller Förderung verschaffen und die Dienstleistungen, die die Person mit Unterstützungsbedarf benötigt, organisieren und bereitstellen. Förderungen können etwa über das "Ministry of Children and Family Development", Community Living BC, das "Ministry of Health", eine Treuhandgesellschaft etc. bezogen werden. Solche Microboards müssen gut organisiert sein, sie brauchen eine hohe Verbindlichkeit und entsprechend Zeit, um diese Tätigkeiten abzuwickeln, Personal zu beschäftigen und die Pflichten eines Arbeitgebers zu erfüllen. Es gibt allerdings auch alternative Möglichkeiten, die Finanzierung der benötigten Unterstützung abzuwickeln, wenn das Microboard nicht direkt Unterstützungspersonal beschäftigen will, etwa die Auszahlung der Mittel an einen zuvor ausgewählten Dienstleister oder "Individualized Funding", wo die Fokusperson eine vertraute Person (Familienmitglied oder FreundIn) auswählt. An diese Person werden die finanziellen Mittel direkt ausbezahlt und sie übernimmt entweder die Verwaltung der Mittel selbst oder lässt dies über einen Anbieter tun, der die Mittel verwaltet und die benötigten Dienstleistungen bereitstellt.

    Die soziale Dienstleistungsorganisation VELA nimmt eine bedeutsame Rolle bei der Realisierung von Microboards in British Columbia ein. VELA wurde 1990 gegründet und unterstützte im Laufe dieser Zeit die Entstehung von über 900 Microboards in British Columbia, wobei ein Gutteil davon aktuell nicht mehr bestehen dürfte. Auf der VELA-Homepage ist zu lesen, dass allein 2012 mit Unterstützung dieser Organisation 80 neue Microboards ins Leben gerufen wurden. Die Dienstleistungen von VELA sind für die NutzerInnen kostenfrei. VELA stellt den Microboards allerdings keine Finanzierungen bzw. Förderungen zur Verfügung (s.o.). Die Einrichtung selbst finanziert sich dem Jahresbericht von 2012/13 zufolge zu ca. zwei Drittel über Community Living British Columbia[12], zu 29% über "Charitable Gaming" (gemeinnützig betriebenes Glücksspiel). Der Rest setzt sich aus Spenden (2%), Wohnungseigentumsreserven, Erlöse aus Vermietungen etc. zusammen (vgl. VELA 2013: 6).

    Welche Qualitätssicherungs- und Kontrollmechanismen zum Schutz der Personen mit Unterstützungsbedarf im Modell des Microboards eingebettet sind, darüber konnten nur wenige explizite Informationen erschlossen werden. Microboards müssen etwa als spezifische Rechtsform den gesetzlichen Regeln einer "nonprofit society" entsprechen und u.a. Aufzeichnungen über ihre Tätigkeiten und finanziellen Angelegenheiten führen. Weiters ist anzunehmen, dass auf informeller Ebene durch die Kooperation von mehreren Personen gruppenspezifische Kontrollmechanismen in Kraft treten und die Microboard-Mitglieder ihr Tun wechselseitig wahrnehmen und gegebenenfalls korrigierend eingreifen könn(t)en. Inwieweit diese Monitoring-Möglichkeiten in der Praxis jedoch ausreichend gegen Missbrauch bzw. inadäquate Unterstützung (etwa Bevormundung) zu schützen vermögen, kann auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen nicht beantwortet werden.

    3.2. Umsetzungserfahrungen

    Zur quantitativen Bedeutung des Modells: Die Angaben zur Anzahl der aktuell in British Columbia existierenden und arbeitenden Microboards sind sehr unterschiedlich und schwanken zwischen über 200 (für das Jahr 2010) und 450.[13] Diese Zahlen lassen erkennen, dass die Verbreitung und Nutzung von Microboards als Unterstützungsform eher gering ist, was vermutlich darin begründet liegt, dass das Modell relativ voraussetzungsvoll ist.

    Erfahrungen und empirische Befunde: Zu Microboards liegt eine qualitative Studie aus dem Jahre 2002 von Paul Malette (Direktor von CBI Consultants, einer Unterstützungsagentur für Kinder mit autistischen Störungen in British Columbia)[14] vor. Die Studie liefert eine detaillierte Beschreibung der Lebenssituation von drei jungen Erwachsenen mit komplexen Bedürfnissen aufgrund einer Körperbehinderung; konkret geht es um zerebrale Lähmung, inwieweit damit auch Lernschwierigkeiten bzw. eine kognitive Behinderung verbunden sind, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor, in einem Fall er-scheint es aber wahrscheinlich. Die drei Personen haben infolge der Körperbehinderung Unterstützungsbedarf bei üblichen Verrichtungen des Alltags von zwischen 12 und 24 Stunden täglich (dieser Unterstützungsbedarf bezieht sich also nicht auf unterstützte Entscheidungsfindung). Folgende ausgewählte Aspekte der Studie erscheinen für die Entwicklung und Implementierung von solch komplexen Modellen der unterstützten Entscheidungsfindung allgemein beachtenswert:

    • Die drei Fokuspersonen und ihre Microboards (v.a. Familie und FreundInnen) waren auf umfangreiche Unterstützung von VELA bei der Abschließung von Förderverträgen mit den "Services for Community Living Branch" (jetzt: CLBC - Community Living British Columbia) angewiesen (vgl. Malette 2002: 158). Eine derartig unterstützende Rolle ist demnach von großer Wichtigkeit, es braucht Organisationen, die solch eine Dienstleistung für die Microboard-Mitglieder an-bietet – im Falle von VELA ist sie kostenfrei.

    • Sie wurden und werden von ihren Familien in inklusiver Weise unterstützt, diese starken familiären Beziehungen wurden in der Studie von Malette als Schlüsselfaktor identifiziert, die es den Fokuspersonen ermöglichte, aus traditionellen Unterstützungsstrukturen auszubrechen und Microboards zu entwickeln (vgl. ebd.: 172). Es gilt die Frage im Auge zu behalten, welche Möglichkeiten bei Personen erschlossen werden können und müssen, deren Familien in Bezug auf Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe weniger als unterstützend, sondern eher als hemmend erlebt werden.

    • Als wichtige ermöglichende Rahmenbedingung wird die direkte Zahlung der finanziellen Förderungen an das Microboard betrachtet: Mit dieser Direktfinanzierung hatten die Fokuspersonen mit ihren Microboards die Freiheit, personenzentrierte Lebens- und Unterstützungsarrangements zu entwickeln. Diese Wahlfreiheit wird als essenziell für die erreichbare Lebensqualität und als ein bestimmendes Merkmal des Microboard-Projekts beschrieben (vgl. ebd.: 173). Sie wird ermöglicht durch die Verknüpfung eines bestimmten personenzentrierten Unterstützungsmodells, konkret des Microboards, mit der Finanzierungsform des Persönlichen Budgets.

    • Malette identifiziert in seiner Studie die Möglichkeit, direkte Unterstützungs-strukturen zu definieren und die assistierenden Personen selbst auszuwählen und einzustellen, als zentralen Faktor für das Microboard-Projekt (vgl. ebd.). Wie die jeweiligen Unterstützungsbeziehungen (es geht hier nicht um die ehrenamtlichen Mitglieder des Microboards, sondern um beschäftigte Personen wie persönliche AssistentInnen, PhysiotherapeutInnen, TherapeutInnen, KommunikationsspezialistInnen, RollstuhlmechanikerInnen etc.) gestaltet werden, kann dabei sehr verschieden sein. Essenziell scheint aber eine assistenzorientierte Haltung zu sein, auch wenn es sich nur teilweise um Persönliche Assistenz im engeren Sinn handelt.[15]

    • Die Microboards der drei StudienteilnehmerInnen übten zwei verschiedene Funktionen aus: Einerseits übernahmen sie praktische Aufgaben wie Budgetplanung, sie führten notwendige Dokumentationen und Abrechnungen durch und achteten auf das Einhalten vertraglicher Verpflichtungen gegenüber den FördergeberInnen. Andererseits gaben sie der Fokusperson Unterstützung bei Personalentscheidungen (z.B. Auswahl von AssistentInnen), bei der Planung der Lebensführung und des täglichen Lebens (ebd.: 174).

    Malette verweist auch auf ein paar Problembereiche bzw. Herausforderungen von Microboards in der Umsetzungspraxis (vgl. ebd:. 176f), von denen hier drei Aspekte ausgewählt werden, die in Bezug auf unterstützte Entscheidungsfindung relevant erscheinen:

    • Aus Sicht des Fördergebers werden die finanziellen bzw. steuerlichen und vertraglichen Verpflichtungen des Microboards nicht immer ganz zufriedenstellend eingehalten. Teilweise gibt es einen Mangel an Verständnis für Verpflichtungen rund um den Vertrag, sodass von Seiten des Fördergebers mehr Beratung und Unterstützung notwendig ist.

    • In wenigen Fällen wurde die Selbstbestimmung der Fokusperson von den Wert-vorstellungen und den Lebensentwürfen der Familie unterminiert. Dies verweist darauf, dass Familien nicht an sich und nicht in jedem Fall aus sozialen Beziehungen bestehen, die der Selbstbestimmung der einzelnen Familienmitglieder förderlich sind und eine umfassendere gesellschaftliche Teilhabe (außerhalb des Familiensystems) unterstützen – mitunter mag genau das Gegenteil der Fall sein.

    • Es ist wichtig, so die Erfahrung einer VELA-Mitarbeiterin, dass genug Zeit in die Entwicklung der Beziehungen im Microboard und in die Verantwortungsübernahme desselben investiert wird. Die Microboard-Mitglieder müssen bereit sein, Verantwortung und auch Risiken zu übernehmen. Wenn die Beteiligten vor allem Sicherheit anstreben, ist das Microboard das falsche Instrument (vgl. ebd.: 177).

    Obwohl die qualitative Studie von Malette wichtige Einblicke in Microboards gibt, ist die Aussagekraft der Studienergebnisse relativ begrenzt, da die drei TeilnehmerInnen wegen ihrer positiven Unterstütungsnetzwerke und Lebenssituationen ausgesucht wurden, sie sind nicht repräsentativ für alle Microboards.

    Fazit: Ein Microboard hat Ähnlichkeiten bzw. Überschneidungen mit Unterstützungs-kreisen, wie sie im Zuge der Persönlichen Zukunftsplanung einberufen werden können, oder auch mit der Unterstützungsform der sozialen Gruppenkonferenz. Allerdings handelt es sich bei einem Microboard um eine eigene Rechtsform und insgesamt tendenziell um eine dauerhaftere und verbindlichere Einrichtung. Zahlenmäßig stellt dieses Modell der Unterstützung eher ein Angebot für eine kleine Minderheit dar und dürfte als Alternative zu Sachwalterschaft bzw. anderen Guardianship-Modellen in quantitativer Hin-sicht eher wenig ins Gewicht fallen.

    Der quantitativ geringen Bedeutung gegenüber ist hervorzuheben, dass Microboards, wie die Studie von Malette zeigt, manchen Personen mit Unterstützungsbedarf eine besonders hohe Lebensqualität und günstige Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Teilhabe bieten. Sie zeigen zugleich auch, dass sich ein inklusives Leben in der Praxis nicht in einzelne Teilbereiche trennen lässt und nicht durch isolierte Maßnahmen umsetzbar ist. Vielmehr sind die unterschiedlichen Aspekte in der Lebensführung einer Person eng verwoben und braucht es inklusionsfördernde Unterstützungsstrukturen auf verschiedenen Ebenen. In Microboards zeigt sich beispielsweise, wie Formen unterstützter Entscheidungsfindung mit individuenorientierten Finanzierungsformen (Stichwort: Persönliches Budget) und assistenzorientierten Unterstützungsangeboten (Persönliche Assistenz) verbunden werden können.



    [10] Vgl. URL: http://www.velacanada.org/ [Stand: 12.11.2013].

    [11] Der "Society Guide for British Columbia" beschreibt diese Gesellschaftsform wie folgt: "A Society is usually incorporated by a group of people who wish to assist others or engage in non-profit group activities. (…) A Society that is only incorporated in British Columbia must limit its activities to this province." (Scott et al. 2012: 7, Hervorhebung im Original). Eine Nonprofit Society in British Columbia muss mindestens einmal jährlich eine Generalversammlung abhalten und braucht ein Mitgliederverzeichnis, in dem bestimmte Rollen wie PräsidentIn, VizepräsidentIn, SekretärIn und KassierIn definiert sind.

    [12] Die Finanzierungs- und Monitoringagentur CLBC - Community Living British Columbia wurde 2005 durch den Zusammenschluss von 25 community living services in BC neu gegründet und ist eine „crown agency“ der Provinz BC. Sie wird über das BC Ministry of Social Development and Social Innovation finanziert. Vgl. http://www.communitylivingbc.ca/about-us/ ; Ministerium: http://www.gov.bc.ca/sdsi/ [Stand: 12.11.2013].

    [13] Diese Zahlen wurden nicht näher nachgeprüft, sondern folgenden zwei Homepages entnommen: http://www.inclusionbc.org/member-associations/member-organizations/vela-microboard-association-bc [Stand: 12.11.2013] und http://www.riddc.org/microboards.shtml [Stand: 12.11. 2013].

    [15] Das Unterstützungskonzept der Persönlichen Assistenz ist in diesem Working Paper in Fußnote 3 näher beschrieben.

    4. Schwedens Mentor-System ("god man")

    Schweden schaffte 1989 formal das Guardianship-System für erwachsene Personen ab und ersetzte es durch ein zweigeteiltes System der Entscheidungsunterstützung. Bei der Variante des Mentors bzw. der Mentorin (auf Schwedisch „God Man“) wird die unter-stützende Person einerseits staatlich bestellt (dies ist in bestimmten Fällen auch ohne Zustimmung der betroffenen Person möglich), andererseits darf sie nur mit Zustimmung der Person mit Unterstützungsbedarf agieren. Letztere behält ihre vollen BürgerInnen-Rechte und Geschäftsfähigkeit. Das „God Man“-System kann als Umsetzungsmöglichkeit von unterstützter Entscheidungsfindung betrachtet werden, während dies auf die zweite Variante des schwedischen Systems nicht zutrifft. Die Bestellung eines Verwalters bzw. einer Verwalterin („Förvaltare“) stellt das zuletzt zu wählende Mittel dar und erlaubt es der unterstützenden Person, stellvertretend Entscheidungen zu treffen. Der/die VerwalterIn ist zwar angehalten, wichtige Entscheidungen mit der unterstützten Person zu diskutieren, aber es gibt in der Regel keine Sanktionen, wenn dies nicht passiert, die Zustimmung der unterstützten Person zur Entscheidung ist auch nicht notwendig. Diese rechtliche Stellung gleicht somit großteils dem Guardianship-System, allerdings bleibt das politische Wahlrecht erhalten. In der Praxis dürfte es sehr schwer sein, eine gerichtliche Genehmigung für die Bestellung eines/r Förvaltare zu erhalten (vgl. Sparring Björkstén 2008: 162; weiters Herr 2003: 433ff; Salzman 2010: 235f).

    Das „God Man“-System soll im Folgenden als Umsetzungsmodell von unterstützter Entscheidungsfindung näher vorgestellt werden. Die Bestellung eines Mentors bzw. einer Mentorin kann beim Bezirksgericht („District Court“) angeregt werden erstens von der Person mit Unterstützungsbedarf selbst, zweitens von ihren unmittelbaren Familienangehörigen oder drittens vom „chief guardian“ oder dem „Public Trustees Committee“. Grundsätzlich ist vorgesehen, dass die zu unterstützende Person der Anregung und Bestellung zustimmt. Ist dies nicht möglich, braucht es ein begleitendes medizinisches Attest zum Antrag, dass die betroffene Person nicht in der Lage war, eine derartige Zustimmung zu geben. Das „Public Trustees Committee“ ist die Behörde, die den Antrag prüft und an das Gericht weiterleitet, welches die Entscheidung über die Bestellung eines/r MentorIn trifft. Sparring Björkstén (2008: 161) erwähnt in ihrem Beitrag kurz, dass bei der Antragsprüfung eine "social investigation" durchgeführt werden muss, und zwar üblicherweise von einem/r SozialarbeiterIn. Diese sozialarbeiterische Untersuchung dürfte mit dem österreichischen Clearing bei einer Sachwalterschafts-Anregung vergleichbar sein, wenn auch mit dem Unterschied, dass Erstere obligatorisch ist.[16]

    Die Bestellungsprozesse werden von Herr (2003: 434) als relativ informell, schnell und ohne Kosten für die betroffene Person beschrieben. In den meisten Fällen liegt eine di-rekte Einverständniserklärung der Person mit Unterstützungsbedarf vor, sodass die Bestellung durch das Gericht häufig innerhalb von 2-3 Wochen abgewickelt werden können (diese Beschreibung betrifft die Situation zu Beginn der 2000er-Jahre, es ist unklar, inwieweit sie auf die Situation aktuell zutrifft). Beendet kann eine Mentorschaft durch das Gericht werden und nicht – wie bei Salzmann fälschlich ausgeführt (2010: 236f) – jederzeit durch die unterstützte Person.[17] In diesem Aspekt sind somit die zentralen Charakteristika von unterstützter Entscheidungsfindung, wie sie anfangs dargestellt wurden, nur eingeschränkt umgesetzt.

    Der/die MentorIn kann sowohl aus dem familiären bzw. privaten Umfeld kommen als auch in diesem Feld professionell tätig sein (RechtsanwältInnen, SteuerberaterInnen, SozialarbeiterInnen etc.). Er/sie ist angehalten, den Willen der unterstützten Person umzusetzen. Sparring Björkstén beschreibt die Rolle und Rechte des/der MentorIn folgendermaßen: "The 'good man' has the legal right to apply for social benefits, and to deal with authorities on behalf of the patient, but is not allowed to do anything against the patients expressed wish." (2008: 161) Das Gesetz gibt den Personen mit Unterstützungsbedarf Rechtsmittel gegen MentorInnen in die Hand, wenn diese agieren, ohne ihr Einverständnis eingeholt zu haben (vgl. Herr 2003: 434). Salzman (2010: 235) verweist darauf, dass MentorInnen dennoch einen großen Ermessensspielraum besitzen und manchmal in einer Grauzone zwischen unterstützter und stellvertretender Entscheidungsfindung agieren (müssen). Dies kann im Übrigen auch für den kanadischen Representation Agreement Act als zutreffend angenommen werden. Inhaltlich kann die Unterstützung eine Vielzahl von Angelegenheiten betreffen, das Mentoring ist in dieser Hinsicht ein flexibles Unterstützungsmodell. In der Regel geht es um Unterstützung in rechtlichen, finanziellen und persönlichen Angelegenheiten.

    MentorInnen werden für ihre Leistungen bezahlt, und zwar auch dann, wenn es sich – wie in den meisten Fällen – um Angehörige der unterstützten Personen handelt. Die Bezahlung erfolgt entweder durch die unterstützte Person selbst oder, falls entsprechend festgelegter Richtwerte nicht ausreichend eigene finanzielle Mittel vorhanden sind, durch die Gemeinde. Die Höhe des Betrags kann dabei je nach Ausmaß der notwendigen Unterstützung sehr unterschiedlich sein und wird durch das „Public Trustees Committee“ festgelegt (vgl. Herr 2003: 434).

    Die Gemeinde ist verpflichtet, entweder eine einzelne Person als TreuhänderIn/VertreterIn oder ein Treuhand-Komitee damit zu beauftragen, die Arbeit der MentorInnen (und auch der VerwalterInnen) zu beaufsichtigen. Die MentorInnen müssen jeweils über das vergangene Jahr einen Rechenschaftsbericht mit festgelegten Inhalten an das Aufsichtsorgan abliefern. Durch diese Kontroll-Institution soll die Wahrung der Rechte der unterstützten Personen gesichert werden (vgl. Fußnote 14). Stanley Herr benennt 2003 in Bezug auf diese Kontrollmechanismen Verbesserungsbedarf: Zum einen sieht er die Notwendigkeit, auch nicht-finanzielle Aspekte der Unterstützungsleistungen der MentorInnen enger zu überwachen. Zum anderen fordert er, dass MentorInnen, die ihre Aufgaben nicht zufriedenstellend und dem Willen der unterstützten Person entsprechend erfüllen, ausgetauscht werden (vgl. ebd: 435). Inwieweit in dieser Hinsicht in der Zwischenzeit Veränderungen passiert sind, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Sparring Björkstén weist jedenfalls 2008 noch auf wenig Kontrolle hin, wodurch MentorInnen Gelegenheitsstrukturen für Missbrauch geboten werden, die manchmal auch genutzt würden, so die Autorin.

    Der Artikel von Herr benennt noch weitere Kritikpunkte bzw. Verbesserungsnotwendigkeiten in Bezug auf das schwedische Mentoring-System. Ein Aspekt bezieht sich darauf, dass viele MentorInnen zu wenig Information, Motivation und Schulung haben, um ihre Rolle ganz im Sinne des Gesetzes (und das bedeutet: im Sinne der unterstützten Person) auszuüben. Gefordert wird mehr systematisches Training, um Menschen mit Behinderung adäquat dabei unterstützen zu können, ihre Rechte zu realisieren (vgl. Herr 2003).

    Quantitative Bedeutung des Mentor-Systems in Schweden: Stanley Herr berichtet für das Jahr 1999 von 40.000 und Karin Sparring Björkstén in ihrem Artikel von 2008 von ca. 60.000 Personen, für die ein „god man“ in Schweden (ein Land mit ca. 9,5 Millionen EinwohnerInnen) bestellt war bzw. ist. Die Anzahl nahm seit der Einführung 1989 stark zu, während Förvaltare-Zahlen nach unten gingen und im Jahr 1999 laut Herr bei 3.500 lagen. Sparring Björkstén berichtet 2008 von etwas mehr, nämlich ca. 6.000 Personen, im Verhältnis zu den Personen mit einem "god man" sind es aber jeweils nicht mehr als etwa 10% oder leicht darunter. Diese Daten lassen den Schluss zu, dass das Mentor-System nach seiner Einführung breit angenommen wurde und erheblich bedeutsamer ist als die zweite, restriktivere Variante der Entscheidungsunterstützung in Schweden.

    Fazit: Das "god man"-System in Schweden, das Ähnlichkeiten mit dem Betreuungssystem in Deutschland aufweist, ist wesentlich stärker an öffentliche Rechtsinstitutionen angebunden als die bisher vorgestellten Modelle aus Kanada. Die Bestellung des Mentorings erfolgt über das Gericht, wobei allerdings in der Regel das Einverständnis der Person mit Unterstützungsbedarf notwendig ist. Diese behält dabei ihre rechtliche Handlungsfähigkeit. Nicht ganz realisiert sind die Prinzipien unterstützter Entscheidungsfindung hinsichtlich der Möglichkeit, das Mentoring zu beenden, da dies ebenfalls durch das Gericht erfolgen muss. Das vorgestellte Modell sieht öffentliche Monitoring- bzw. Schutzmaßnahmen vor und die Unterstützung stellt keine ehrenamtliche Tätigkeit dar, sondern wird entweder (bei ausreichenden finanziellen Ressourcen) durch die unter-stützte Person selbst oder subsidiär durch die Gemeinde finanziell entgolten. Diese Ausgestaltung der unterstützten Entscheidungsfindung eröffnet im Gegensatz zum Representation Agreement in Kanada auch eine beruflich ausgeführte Unterstützung, wenn auf privater Ebene kein/e MentorIn verfügbar ist oder gewünscht wird.

    Auch in Bezug auf dieses Modell der unterstützten Entscheidungsfindung ist zu konstatieren, dass kaum systematische Erkenntnisse über die tatsächliche Realisierung der zugrundeliegenden Werte und Normen von Selbstbestimmung und Teilhabe in der Praxis vorliegen oder zugänglich sind, jedenfalls nicht auf Englisch. Stanley Herrs Analysen von vor 10 Jahren und auch Sparring Björksténs kurze Ausführungen zum "god man"-System lassen jedenfalls vermuten, dass dessen praktische Umsetzung keine Selbstverständlichkeit ist, sondern u.a. Information und Training bei den MentorInnen und funktionierende Monitoringmaßnahmen verlangt.



    [16] Die Informationen wurden teilweise auch der Homepage von Alzheimer Europe entnommen: http://www.alzheimer-europe.org/Policy-in-Practice2/Country-comparisons/Legal-capacity-and-proxy-decision-making/Sweden [Stand: 18.11.2013f]

    [17] Salzman dürfte das "god man"-System mit dem "personligt ombud" (siehe Kap. 5) irrtümlich gleichsetzen, wie Fußnote 246 ihres Artikels nahelegt.

    5. Persönliche/r Ombud ("personligt ombud" – Schweden)

    Zusätzlich besteht in Schweden ein spezielles Angebot der unterstützten Entscheidungs-findung für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen bzw. psychosozialen Behinderungen, nämlich der persönliche Ombudsmann respektive die persönliche Ombudsfrau („personligt ombud“, abgekürzt: PO). Die Idee zu dieser Ombudsperson-Dienstleistung, die international als good-practice-Beispiel für unterstützte Entscheidungsfindung rezipiert wird (vgl. WHO 2011: 138; Fembek et al. 2012: 166f), entstand im Zusammenhang mit der Psychiatriereform 1995. Das schwedische Parlament entschied sich, verschiedene Pilotprojekte zu solch einer Dienstleistung über einen Erprobungszeitraum von drei Jahren zu fördern. Aus hunderten Bewerbungen wurden zehn ausgewählt, acht davon von Kommunen betrieben, zwei von „service user organizations“, also von NutzerInnen-kontrollierten Dienstleistungsorganisationen. Eines dieser beiden letzteren Projekte war PO-Skåne (Skåne ist eine südschwedische Provinz), das Personen mit Psychiatrie-Erfahrung im Vorstand hat (vgl. Jesperson 2012). Die Pilotprojektphase wurde begleitend evaluiert, die sehr guten Ergebnisse in quantitativer und qualitativer Hinsicht – so schreibt Maths Jesperson, Vorstandsmitglied von PO-Skåne[18] – führten dazu, dass die Dienstleistung zu einer Dauereinrichtung wurde, auch wenn kein Rechtsanspruch darauf besteht (vgl. Fembek et al. 2012: 167). PO wird dabei nach wie vor von verschiedenen Trägern umgesetzt, die Dienstleistungen unterscheiden sich entsprechend. Nachfolgende Ausführungen beziehen sich vorrangig auf den südschwedischen Anbieter PO-Skåne.

    Die Dienstleistungen von PO-Skåne werden von Professionellen mit akademischem Ab-schluss ausgeführt, es handelt sich also nicht um peer-support, wie die Bezeichnung als „service user organization“ u.U. nahelegen könnte. Der Großteil der bei PO-Skåne tätigen Ombuds-Personen hat einen sozialarbeiterischen Ausbildungshintergrund, einige sind auch RechtsanwältInnen oder verfügen über andere spezialisierte Ausbildungen. PO-Skåne und seine MitarbeiterInnen werden öffentlich finanziert, wobei ein Drittel die Kommune (Gemeinde) trägt und zwei Drittel vom Staat übernommen werden. Die Organisation beschäftigt 17 Ombuds-Personen (vgl. Homepage PO-Skåne, Stand: 16.11.2013).[19]

    Im Prinzip lässt sich die Arbeit der Ombuds-Personen als niederschwellige, aufsuchende Soziale Arbeit (vgl. Mayrhofer 2012) mit einer assistenzorientierten Grundhaltung für vor allem psychisch kranke Personen beschreiben. Die POs sind ausschließlich ihren KlientInnen verpflichtet, mit denen sie zunächst versuchen müssen, grundsätzlich in Kontakt zu kommen und eine Gesprächs- und Vertrauensbasis aufzubauen. Da viele Personen "hard to reach"-KlientInnen mit oft großem Argwohn oder auch Feindseligkeit gegenüber anderen Personen oder Institutionen sind, kann dieser Anbahnungsprozess auch mehrere Monate dauern. POs suchen sich somit ihre KlientInnen auch selbst und arbeiten mit ihnen auf Ebene einer persönlichen Vertrauensbeziehung. Deshalb sind die Unterstützungsverhältnisse auf Längerfristigkeit angelegt, in der Regel auf einige Jahre oder länger (genauere Daten hierzu liegen allerdings nicht vor). Es bedarf keiner bürokratischen Schritte, um eine/n PO zu bekommen, die als PO tätige Person frägt nach Aufbau einer Vertrauensbeziehung lediglich: "Möchtest du, dass ich dein/e PO bin?" Wenn dies bejaht wird, ist eine Arbeitsbeziehung aufrecht. Durch das Vermeiden von Formalitäten wie das Unterschreiben eines Arbeitsauftrags soll Personen mit schweren psychosozialen Behinderungen ein Zugang zur Dienstleistung ermöglicht werden. Die KlientInnen können, wenn sie dies wünschen, auch anonym den Behörden gegenüber bleiben (vgl. Jesperson 2012). Andere PO-Dienstleister in Schweden haben allerdings schon formale Schritte vorgesehen, wenn diese auch insgesamt einfach gehalten sind.[20]

    Inhaltlich ist die Arbeit der POs sehr offen, sie sollen in der Lage sein, ihre KlientInnen in allen Angelegenheiten gemäß deren Wünsche und Bedürfnisse zu unterstützen. POs sind beauftragt, den KlientInnen dabei behilflich zu sein, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, die POs unterstützen lediglich dabei, diese zu identifizieren, auszudrücken und umzusetzen. Den Erfahrungen von Mats Jesperson zufolge geht es in den Ombuds-Beziehungen zunächst vor allem um existenzielle Fragen wie "Wozu lebe ich überhaupt? Habe ich irgendwelche Hoffnungen auf eine Veränderung meiner Lebenssituation?", aber auch um Fragen rund um Sexualität und um Probleme mit Angehörigen. POs müssen fähig und bereit sein, viel Zeit damit zu verbringen, über solche Themen mit den KlientInnen zu sprechen. Ihre Arbeit besteht nicht nur darin, Dinge für diese zu erledigen. Es zählt aber auch zu ihren Aufgaben, die Interessen der KlientInnen gegenüber unterschiedlichsten Institutionen und Behörden oder vor Gericht effektiv zu vertreten. POs benötigen entsprechend auch elaboriertes Wissen in rechtlichen Angelegenheiten und Knowhow über und im Umgang mit Behörden (vgl. ebd., Essl Foundation 2010). POs müssen somit unterschiedliche Rollen vereinen bzw. zwischen ihnen switchen: Sie leisten niederschwellige, assistenz- und empowermentorientierte Soziale Arbeit, sind im Case Management tätig und vertreten gegebenenfalls die KlientInnen gegenüber Behörden und anderen Institutionen.

    Um mit der speziellen Zielgruppe des Unterstützungsangebots, nämlich Personen mit schweren psychischen Problemen, arbeiten zu können, ist eine sehr flexible, kreative und personenzentrierte Arbeitsweise notwendig. Damit ist auch verbunden, dass die Ombuds-Tätigkeit keine geregelten Arbeitszeiten hat, sondern die Wochenarbeitszeit von 40 Stunden in flexibler Abstimmung mit den KlientInnen erbracht wird und auch kurzfristig den KlientInnen-Bedürfnissen anzupassen ist. Weiters arbeiten die POs auf-suchend, sie haben kein Büro, sondern treffen sich mit ihren KlientInnen in deren Wohnung oder an einem neutralen Ort, je nach Wunsch des Klienten bzw. der Klientin. POs behalten auch keine Aufzeichnungen über ihre Tätigkeit, alle Papiere und Dokumente gehören dem/der KlientIn. Endet eine Ombuds-Beziehung, dann werden die gesamten Aufzeichnungen entweder an die KlientInnen zurückgegeben oder gemeinsam mit diesen vernichtet.

    Erfahrungen und empirische Befunde: Leider konnten keine empirischen (Evaluations-)Studien zur Dienstleistung „personligt ombud“ auf Englisch oder Deutsch gefunden werden, sodass Erfahrungen nur aus einer Quelle zugänglich sind, nämlich aus der des Dienstleistungsanbieters „PO-Skåne". Dieser beschreibt die spezielle Umsetzung des persönlichen Ombuds-Modells in Skåne als großes Erfolgsprojekt und unterstreicht vor allem die Unabhängigkeit der Ombudstätigkeit von allen Behörden und Institutionen als besondere Qualität. In anderen Regionen Schwedens wird die Ombudsdienstleistung etwa auch von öffentlichen Stellen, konkret von der Gemeinde betrieben. PO-Skåne kritisiert solche Konstellationen und sieht damit Probleme für die Erreichbarkeit psychisch kranker Menschen mit Argwohn gegenüber Behörden einhergehen. Inwieweit dies den Erfahrungen der gemeindebeschäftigten POs entspricht, bleibt jedoch zu prüfen. Ungeklärt ist ebenfalls, welche Sicherungs- bzw. Kontrollsysteme PO-Skåne implementiert hat, um die Gefahr einer inadäquaten Gestaltung oder gar eines Missbrauchs der Unterstützungsbeziehung zu den vulnerablen KlientInnengruppen zu reduzieren. Die auf der PO-Skåne-Homepage propagierte "stand-alone position" der POs und das sehr hohe Ausmaß an Informalität in der Ausgestaltung der Unterstützung evozieren jedenfalls Fragen der Kontrollierbarkeit und Qualitätssicherung der Arbeit der Ombudsmänner und -frauen. Wie damit bei PO-Skåne umgegangen wird, dazu konnten keine befriedigenden Informationen gefunden werden, auch blieb eine diesbezügliche E-Mail-Anfrage an PO- Skåne unbeantwortet.

    Zur quantitativen Bedeutung des Ombuds-Systems in Schweden: Laut Homepage von PO-Skåne gab es 2010 in ganz Schweden (d.h. nicht nur in Bezug auf die Dienstleistung in Skåne) 325 Ombudspersonen, die in über 100 Einrichtungen bzw. Unternehmen beschäftigt waren und in Summe über 6.000 Personen unterstützten. Das würde bedeuten, dass die PO-Einrichtungen überwiegend sehr klein sind (durchschnittlich drei Ombudspersonen) und ein/e PO im Schnitt knapp 20 Personen unterstützt. Unbekannt ist aller-dings, ob bzw. in welchem Ausmaß die 325 POs vollzeitbeschäftigt sind.

    Fazit: Die Umsetzung des Unterstützungsmodells „personligt ombud“ in der schwedischen Provinz Skåne stellt eine professionelle Dienstleistung mit großem sozialarbeiterischen Anteil dar. Sie wurde für eine engere Zielgruppe innerhalb des potenziellen Personenkreises mit Bedarf an unterstützter Entscheidungsfindung entwickelt, nämlich für Personen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen bzw. psychosozialen Behinderungen. Um diesen Personen Zugang zu Angeboten unterstützter Entscheidungsfindung eröffnen zu können, ist mehr nötig als "nur" ein rechtlicher Rahmen sowie Information und Beratung zu Möglichkeiten, aus dem privaten sozialen Netzwerk Unterstützung zu mobilisieren und formal zu autorisieren. Kennzeichnend für dieses Modell ist vielmehr, dass es sich nicht auf solch private Unterstützungsnetzwerke stützt – und vermutlich teils auch nicht stützen könnte, da diese nicht vorhanden oder angemessen unterstützungswillig bzw. -fähig wären.

    Ungeklärt bleibt in Bezug auf die Realisierung des Unterstützungsangebotes bei PO-Skåne, inwieweit und wie die in der UN-Konvention geforderten verhältnismäßigen und wirksamen Sicherungen gegen Missbrauch der Unterstützungsbeziehung durch die unterstützende Person bzw. Stelle implementiert sind. Möglicherweise findet die Kontrolle innerhalb der Dienstleistungsorganisation durch die KollegInnen (Peer-Kontrolle) und/oder den Vorstand statt, es sind aber keine entsprechenden Informationen über solch organisationsinterne Schutzmaßnahmen oder über organisationsexterne Kontrollmöglichkeiten verfügbar.



    [18] Die Evaluierungsergebnisse konnten leider nicht direkt zugänglich gemacht werden, sie dürften zugleich nur auf Schwedisch vorliegen.

    [19] URL: http://www.po-skane.org/ [Stand: 16.11.2013]

    [20] Dies geht aus den Überarbeitungskommentaren hervor, die in eine Unterseite der Homepage von PO- Skåne eingefügt sind – vgl. URL: http://www.po-skane.org/The_Swedish_Personal_ombudsmen_system%28Maths_Comments%29.php [Stand: 18.11.2013].

    6. Neuralgische Punkte einer guten Praxis der unterstützten Entscheidungsfindung

    Aus den Stärken und Limitierungen der vorgestellten Modelle der unterstützten Entscheidungsfindung und aus der internationalen wissenschaftlichen Diskussion zum Thema (vgl. insbes. Kuhn et al. 2013, Salzman 2010 und 2011) lassen sich wichtige Fragen ableiten, die es bei der Konzeption und Implementierung solcher Unterstützungsmodelle zu reflektieren gilt. Sie sollen abschließend zusammengefasst werden, ohne dass sie an dieser Stelle bereits praxisbezogen beantwortet werden könnten – und ohne An-spruch auf Vollständigkeit.

    • Wie erhalten Personen mit Unterstützungsbedarf Zugang zu unterstützter Entscheidungsfindung? Wen erreichen die Angebote, wen eventuell auch nicht? Worin liegt dies begründet? Inwieweit handelt es sich dabei um systematische Zugangshürden entlang von Merkmalen wie soziale Schicht, Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft/Migrationshintergrund etc.?

    • Wo sind ehrenamtliche, auf persönliche Netzwerke aufbauende Formen der unterstützten Entscheidungsfindung adäquat, wo erscheinen professionalisierte(re) Modelle empfehlenswert? In welchen Fällen erweisen sich einzelne unterstützende Personen, in welchen gruppenbasierte Formen der unterstützten Entscheidungsfindung als geeigneter? Welche Implikationen könnten Modelle, die vorrangig auf familiäre Unterstützung aufbauen, für die Realisierung von Werten wie Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe (außerhalb des Familiensystems) haben?

    • Wie kann eine assistenzorientierte, die Person mit Unterstützungsbedarf ermächtigende Form der Unterstützung gefördert und sichergestellt werden? Welche Schulungen, Trainings und Reflexionsangebote braucht es u.U. für die UnterstützerInnen, um eine entsprechende persönliche Haltung und das dafür notwendige Knowhow auszubilden?

    • Wie und durch wen erfolgt die Finanzierung der Unterstützung bei verberuflichten Modellen? Wie und durch wen erfolgt die Finanzierung von Information, Beratung und Schulung der betroffenen bzw. eingebundenen Personen?

    • Wie wird formal und praktisch sichergestellt, dass die getroffenen Entscheidungen von der institutionellen Umwelt (Banken, soziale Dienstleister, Behörden etc.) anerkannt werden?

    • Welche Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch sind angemessen und ausreichend? Wie können sie wirksam implementiert werden?

    • Inwieweit sind neben Angeboten der unterstützten Entscheidungsfindung auch Formen der stellvertretenden Entscheidung als „letztes Mittel“ vorhanden? Wie wird der Übergang zwischen diesen definiert und praktiziert?

    • Wie wird mit Personen umgegangen, bei denen ein Bedarf an Unterstützung im Entscheiden (von wem?) beobachtet wird, die solch eine Unterstützung aber nicht annehmen?

    Um zufriedenstellende Antworten auf diese Fragen zu finden, reicht ein Blick auf die – leider nur dürftig vorliegenden bzw. zugänglichen – Erfahrungen anderer Länder nicht aus, wiewohl er dennoch sehr zu empfehlen ist. Unterschiedliche Modelle müssen im konkreten rechts- und wohlfahrtsstaatlichen sowie kulturellen Kontext erprobt, adaptiert und reflektiert werden. Und hierfür ist nicht zuletzt auf empirischen Studien basierendes Wissen darüber hilfreich, wie unterstützte Entscheidungsfindung in der Praxis tatsächlich arbeitet und wirkt.

    Literaturverzeichnis

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    Online-Quellen

    Homepage NIDUS (RAA): http://ww.nidus.ca (die dieser Homepage entnommenen Fact Sheets zum RAA mit Stand 2012 wurden im Text zitiert als Nidus 2012)

    Homepage VELA (Microboard): http://velacanada.org/

    Homepage PO-Skåne: http://www.po-skane.org

    Quelle

    Hemma Mayrhofer: Modelle unterstützter Entscheidungsfindung. Beispiele guter Praxis aus Kanada und Schweden. ISSN 1994-490X. Erschienen als: Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie: Working paper No. 16; ISSN 1994-490X. Originalquelle: http://www.irks.at/assets/irks/IRKS_WP16_Unterstützte-Entscheidungsfindung.pdf

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 04.07.2016

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