Sensible Kinder in der Schule

POS - die grosse Verunsicherung

Autor:in - Felix Mattmüller
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Referat-Manuskript: Felix Mattmüller; 18. Jän. 1997; Elpos Zürich
Copyright: © Felix Mattmüller, 1997

1. POS - die grosse Verunsicherung - aber eben: sicher ist nur der Tod!

POS ist eine fragwürdige Etikette für kleine und grosse Menschen, die weder krank, noch behindert sind.

POS setzt sich zusammen aus vielschichtigen Elementen, die sich nicht definieren lassen und keinesfalls ein Krankheitsbild ergeben.

POS bedeutet Empfindlichkeit und Empfindsamkeit auf dem Hintergrund hoher, körperlicher, seelischer und geistiger Differenziertheit.

POS ist eine gleichwertige Lebensform neben andern!

2. Die Zerstörung des Selbstwertgefühls durch Befehlserziehung in Familie und Schule

oder "Dumm geboren ist keiner, dumm wird man gemacht, und wer behauptet dumm bleibt dumm, der hat nicht nachgedacht" (Grips-Theater, Berlin).

POS lässt sich nicht behandeln.

POS widersteht allen Erziehungs- und Motivationsversuchen. Glücklicherweise! Das nämlich ist die Voraussetzung für eine eigenständige Entwicklung durch Anpassung und Widerstand im jeweiligen Moment.

"Erziehung bedeutet: Massnahmen, die ausUnmündigen Mündige machen"- so wenigstens behauptet der Bildungswissenschaftler Hartmut von Hentig.Wer erklärt da eigentlich wen für mündig?

"Erziehen kann man nicht, man kann nur so oder anders sein!" Dieser Satz ist zu finden im letzten Kapitel "summa summarum" des schmalen Bändchens "Kinder für Anfänger" von R.G.E. Lempp mit Zeichnungen von Loriot (Zürich, Diogenes, 1968), noch immer der mit Abstand nützlichste psychologisch-pädagogische Hinweis auf offenes und gesprächsbereites Verhalten.

Nicht erziehen, sondern sein! Erziehung ist hingegen stets Bevormundung (Alice Miller) oderWahn und Wille, andere ideologisch zu beeinflussen, wenn nicht gar in Abhängigkeiten zu drängen.

So kann sich Bildung nicht entwickeln.

Alfred Adlerhat hingegen fern jeder Erziehungsideologie festgestellt und wissenschaftlich belegt, dass jeder Mensch seinen persönlichen Lebensstil in der ersten sechs Lebensjahren entwickelt, keinesfalls endgültig und unumkehrbar, jedoch mit einer offenen Zukunft, in der ständigen Auseinandersetzung mit Mitmenschen, Werkstoff, Werkzeug, Umwelt und Ideen. Demnach bildet sich jeder Mensch lebenslänglich selbst, sofern er genügend Angebote und Möglichkeiten erfährt, die ihn nicht von vornherein einschränken oder gar zerstören, wenn ihm nicht zugemutet wird, was Bert Brechtdichtete (Die Gedichte von Bert Brechtin einem Band, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1981):

"Was an dir Berg war haben sie geschleift

Und dein Tal schüttete man zu

Über dich führt ein bequemer Weg."

So bildet sich der Mensch

"Indem er ja sagt, indem er nein sagt, indem er schlägt,

indem er geschlagen wird, indem er sich hier gesellt,

indem er sich dort gesellt, so bildet sich der Mensch,

indem er sich ändert, und so entsteht sein Bild in uns

indem er uns gleicht und indem er uns nicht gleicht."

Die sieben Todsünden der Erziehung ersticken Selbstwertgefühl und Lebenskraft im Keim. Sie seien hier kurz aufgeführt: (Die ausführliche Fassung findet sich in "Plädoyer für eine Schule mit Pfiff" von F. Mattmüller, Verlag Paul Haupt, Bern)

Überheblichkeit: als Erwachsener weiss ich, was für das Kind oder für andere gut und richtig ist.

Moralismus: Die Erziehung mit dem erhobenen Zeigefinger. Dir will ich beibringen, wo Gott hockt!

Ehrgeiz: Opferung meines / unserer Kinder auf dem Altar der Konkurrenz.

Sturheit: Wir fangen nicht an, bevor es ruhig ist!

Humorlosigkeit: Ernst ist das Leben. Lachen ist obszön. "Man muss viel Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."(Nietzsche)

Trägheit: Aus Bequemlichkeit keine Abenteuer zusammen mit den Kindern.

Ungeduld: Unterrichtsprogramme müssen in entsprechenden Zeiteinheiten durchgezogen werden. Wir wissen aber: "Gut Ding, will Weile haben!"

3. Das Recht auf den eigenen Weg oder "Sälber dängge macht gschiid!" (Mimi Scheiblauer)

"John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte." So beginnt der Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny, Serie Piper.

John Franklin geht unbeirrt seinen Weg und entwickelt fantasievoll seine Lebensmöglichkeiten.

4. Die Ratlosigkeit der Fachleute oder Ratschläge sind auch Schläge

Warngedicht von Erich Fried(1980)

Die Abnehmer

Einer nimmt uns das Denken ab

Es genügt

seine Schriften zu lesen

und manchmal dabei zu nicken

Einer nimmt uns das Fühlen ab

Seine Gedichte

erhalten Preise

und werden häufig zitiert

Einer nimmt uns die grossen Entscheidungen ab

über Krieg

und Frieden

wir wählen ihn immer wieder

Wir müssen nur

auf zehn bis zwölf Namen schwören

Das ganze Leben

nehmen sie uns dann ab

"Habe Mut zu dir selbst, und such deinen eigenen Weg.

Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest ...

Verlange von dir selbst, bereits ein gesetzter und vollkommener Erzieher zu sein - mit einer psychologischen Buchhaltung im Herzen und einem pädagogischen Gesetzbuch im Kopf ..." (Korczak 1978, 153 ff.).

5. "Auf einen Baum im Spiegel kann man nicht klettern. Deshalb ist die Schule nicht die Welt des Kindes."

Inhaltsverzeichnis

Versagen ist menschlich. Wir haben alle unsere Schwierigkeiten. Viele kommen aber mit ihren eigenen Problemen, mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit den Verletzungen der Kindheit nicht zurecht. Das ist keine Schande! Aber es ist nicht gut, wenn ich mir dann nicht Hilfe hole, zum Beispiel in regelmässigen Gesprächen mit einer Fachfrau, einem Fachmann. Denn so, wie ich mich fühle, fühlen sich dann auch die Kinder, traurig oder froh. Und erst, wenn wir alles getan haben, damit wir jeden Tag neu beginnen und einigermassen harmonisch über die Runde kommen, kann für das eine oder andere Kind dazu noch eine Therapie angezeigt sein.

Im Klartext: Nicht Valium, damit das Leben erträglich wird, sondern lebendiges Zusammensein, damit wir Valium nicht brauchen.(Suchtprophylaxe!).

Glück oder Pech

Ein paar Überlegungen zur Schule: Allen Kolleginnen und Kollegen aus Kindergarten und Schule, die heute hierher gekommen sind, möchte ich danken. Mit ihrem Bei-Uns-Sein sagen sie deutlich, dass sie an einer günstigen Entwicklung ihrer / unserer Kinder interessiert sind.

"Auf einen Baum im Spiegel kann man nicht klettern, deshalb ist die Schule nicht die Welt des Kindes!" Mit der Schule hat man Glück oder Pech. Zum Glück gibt es Kolleginnen und Kollegen, die aus ihrer Schule jeden Tag neu einen Raum der Geborgenheit, der Sicherheit und der Lernfreude machen. Wir erkennen sie bereits in der ersten Schulstunde. Da werden die Kinder nicht gleich gepackt, kaum sind sie im Schulzimmer. Vielleicht ertönt sanfte Musik, bis alle gemächlich ihren Platz gefunden haben. Mit Hilfe rhythmischer Übungen finden die Kinder zu sich. Ein Spiel mag folgen und dann eine Geschichte - nicht erst am Samstag und nur, wenn die Kinder die ganze Woche "lieb" gewesen sind - und nicht nur von der Lehrerin, dem Lehrer erzählt, sondern auch von den Kindern, die ihre Lieblingsgeschichten mitbringen. So etwa das Ritual zur Entwicklung des Gefühls, richtig, gut und willkommen zu sein. So wird die Schule zu einem wirklichen Lebensraum, in dem sich atmen lässt und nicht zu einen unwirklichen, weltfernen "Baum im Spiegel".

Bei diesem Vorgehen machen wir die erstaunliche Erfahrung, dass wir anschliessend mit viel weniger Aufwand miteinander lernen und Leistungen erbringen können, weil wir den Sand im Getriebe des Zusammenseins weggeblasen haben. Und wenn wir Pech haben - und noch viel zu viele haben Pech? Dann müssen wir darauf achten, dass uns unser eigener Ehrgeiz in Stellvertretung der Kinder keinen Streich spielt. Wir lassen sie spüren, dass wir mit ihnen wütend werden, wenn sie verletzend behandelt oder blossgestellt werden. Dann geht es nur ums Überleben. Dann müssen wir versuchen, dass sie an widerlichen Umständen wachsen und eine eigenständige Position aufbauen können. Das Motto: "Die Schule ist auch nicht alles, das Leben entscheidet!"

John Franklin verehrt seinen Lehrer Dr. Orme:

"Der hatte nicht behauptet, für ihn da zu sein, er hatte nicht von Liebe geredet und nicht von Erziehung, sondern sich für Johns besonderen Fall interessiert, aus Neugier und ohne eine Spur von Mitleid."

Und John selbst "Hatte nur die Sehnsucht, unterwegs zu bleiben, genau wie jetzt, auf Entdeckungsreise, bis das Leben vorbei war."

Der Referent:

Felix Mattmüller-Frick

General Guisanstr. 8

CH-4054 Basel

Tel: 061 /301 68 87

Quelle:

Felix Mattmüller: Sensible Kinder in der Schule - POS - die grosse Verunsicherung

Referat-Manuskript: Felix Mattmüller; 18. Jän. 1997; Elpos Zürich

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.06.2008

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