Integration als Projekt der Gleichwertigkeit

Von der Defektologie zur Demokratie

Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © Felix Mattmüller, Josef Fragner 1998

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Felix Mattmüller, Josef Fragner

Titel: Integration als Projekt der Gleichwertigkeit - Von der Defektologie zur Demokratie

Infos: Innsbruck - Wien, Studienverlag 1998, 184 Seiten, öS 198,-/DM 27,-/sfr 25,-; ISBN 3-7065-1273-4

Themenbereich: Schule

Keywords: Integration, Demokratie, Gleichwertigkeit

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Georg Pankow

"Ich habe mich in der Schule bis und mit Matura immer als Fehlkonstruktion empfunden. Deshalb wollte ich nicht, dass Kinder, die bei mir zur Schule gehen, nochmals dasselbe erleben. " sagt der heute 74jährige Lehrer Felix Mattmüller. Felix Mattmüller hat zusammen mit Josef Fragner ein Buch herausgegeben. Es heisst:

Integration als Projekt der Gleichwertigkeit. Von der Defektologie zur Demokratie.

Der Titel ist etwas gar abstrakt -- und wer weiss schon, was Defektologie meint? In der Einführung verrät uns Felix Mattmüller, was es mit der Defektologie auf sich hat. Es hat nichts mit dem fromm-deutschen Wort defaezieren (= scheissen) zu tun. Defektologie (= Lehre von den Defekten) hiess in der DDR die Heil- oder Sonderpädagogik.

Mattmüller zeigt auf, wie verhängnisvoll die Orientierung an den Defekten, den Mängeln, Schwächen, Fehlern ist. Die Orientierung an den Defekten hat die Beseitigung des Defekten, notfalls auch der defekten Menschen zum Ziel. Adolf Hitlers programmatische Äusserung "Alles Schwache muss weggehämmert werden!" ist nur ein Beispiel. Im günstigsten Fall soll der Defekt durch zusätzliches Engagement vermindert oder getilgt werden, damit die Normalisierten unter uns Schwerstnormalen bestehen können.

In der Schweiz seien wir nicht weit von der ‚Defektologie' entfernt, findet Mattmüller, denn unsere Schule sei starr auf Fehler und Fehlendes fixiert und hätte den Blick für Möglichkeiten und Talente, die in allen Menschen angelegt sind, verloren. Zwar spreche man bei uns nicht mehr von Normalisierung, das neue Schlagwort heisse Integration. Aber auch diese werde stets verstanden als An- und Einpassung der Schwächeren und Behinderten in eine nicht definierbare Norm - wobei die Schwächeren, die Behinderten nie würden mithalten können. "Die Fehler-Suche", sagt Mattmüller, "ist geradezu krankhaft - und dementsprechend krank-machend.

Wenn ich auf dem Nachhauseweg im Tram die GymnasiastInnen miteinander sprechen höre, dann sprechen sie nur über die Fehler und über die Noten. Das finde ich ganz schrecklich. Das heisst doch: Die Kinder lernen, sich an ihren Fehlern zu messen - und weil ja nur ganz wenige keine Fehlermachen, fühlen sich die meisten Kinder abgewertet. Das führt dazu, dass sie am Schluss das Gefühl haben: Ich bin ein Fehler, eine Fehlkonstruktion, ich passe überhaupt nicht in diese Welt.

Solange wir von Fehlern - statt von Möglichkeiten - ausgehen, führt dies unvermeidlich zu Konkurrenz, Neid, Hass und Zerstörung von Solidarität, des Füreinander-Einstehens und der gegenseitigen Hilfe.

Heinrich Jakoby hat deshalb in seinem Buch ‚Jenseits von begabt und unbegabt' verlangt, dass über jedem Schulhaus stehen sollte:

Hier sollst du keine Angst haben vor dem Falschmachen! Schliesslich ist es ja die Angst, die dazu führt, dass ich nichts mehre ausprobieren mag und so Mut, Lebenskraft und Lebenslust verliere.

Die andere Linie wäre, in der Schule für alle Lebensbereiche Hand-Herz-Kopf-Möglichkeiten anzubieten, also Lern-Angebote zu machen, ohne zum vorneherein schon zu sagen, was richtig und was falsch ist. In der Auseinandersetzung mit Material, mit Ideen, mit anderen Menschen kann sich so langsam entwickeln, was für mich als Schüler wichtig ist. Das ist natürlich eine ganz andere Betrachtungsweise.

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich einen Menschen von seinen Stärken oder von seinen Schwächen her begreife - von seine Löchern her oder von seiner Substanz', schrieb Jörg Jegge.

Die Fehler-fixierte Betrachtungsweise ist demgegenüber ein Training in Faschismus, in Abwertung der anderen Menschen, die nicht so gut sind wie ich."

Aus der Fehler-Fixiertheit der Schule lernt das Kind vor allem, sich selbst als Fehler zu erleben, dabei ... ... ist Irren menschlich + aus Fehlern lernen wir.

If you really want to succeed, you have to double your income of errors. (= Wenn du wirklich erfolgreich sein willst, musst du dich doppelt so häufig irren.) heisst ein US-amerikanisches Sprichwort.

"Die Fehler-Suche kommt natürlich nicht von ungefähr. Sie ist ein Machtmittel. Bei der Fehler-Suche ist immer der Lehrer, der entscheidet - ich als Schüler habe dazu gar nichts zu sagen. Wenn wir aber miteinander Lösungen zur Fehlerbewältigung suchen, ergibt das ein ganz anderes Klima.

Ein Beispiel: Wer in einem Französisch-Diktat 20 Fehler macht, hat bestimmt die schlechteste Note. Wie wäre es, wenn wir die Fehler-Berechnungen umkehrten? Also: Ein Französisch-Diktat hat vielleicht 200 Fehlermöglichkeiten, wenn man alles einbezieht. Und wenn ich dann einem Kind bei 20 Wörtern einen Fehler anstreiche, hat es immer noch 180 Gutpunkte. Das wäre eine ganz andere Betrachtungsweise. Ich habe also mit Gutpunkten zu arbeiten begonnen. Für ein Diktat gab es zum Beispiel maximal 20 Gutpunkte. Es waren nur 10 Wörter jeweils. Alle 20 Kinder hatten sich Mühe gegeben und kamen jeweils auf mindestens 10 Gutpunkte. Und dann gab das eine gemeinsame Auswertung, Wir haben zuerst gross an die Tafel aufgeschrieben:

20 Kinder - wenn wir alle 20 Punkte machen, haben wir zusammen 400 Punkte:

Und dann haben wir, ohne dass die Arbeiten mit dem Namen versehen wurden, einfach mal die Blätter der Reihe nach angeschaut und zusammengezählt, wie viel Gutpunkte wir miteinander entwickelt haben.

Da haben natürlich die fortschrittlichen Kinder, die keine Schwierigkeiten hatten, ihre 20 Punkte beigetragen und diejenigen, die Mühe hatten, nur 10 oder 11 Punkte beigetragen. Aber miteinanderhatten wir eine gute Punktzahl erreicht. Und wenn wir das Diktat dann jeden Tag eine Woche lang gemacht hatten, dann haben auch diejenigen, die am Anfang vielleicht nur 10 Punkte hatten oder 11, die haben sich dann individuell entwickelt. Die haben dann eigentlich mehr geleistet, als diejenigen, die keine Schwierigkeiten hatten und vom ersten Tag an keine Mühe hatten, diese 20 Punkte zu erreichen. Aber alle, auch diejenigen, die keine Schwierigkeiten hatten, haben beigetragen zum gemeinsamen guten oder langsam sich verbessernden Ergebnis.

Auf diese Art haben sich die Kinder nie nachher ausgelacht."

Buchklappentext:

Das Buch ist eine Notwendigkeit für diese Zeit. Eine Zeit, in der die Verantwortung für viele gesellschaftspolitische Fragen in unserem Verständnis von Demokratie und Gleichwertigkeit liegt. Entscheidend dafür ist die Gestaltung des Erziehungs- und Bildungsprozesses, den wir mit Kindern und Jugendlichen vollziehen. Worin liegt der Beitrag der Pädagogik zur Entwicklung eines demokratischen Verständnisses? Welche pädagogischen Qualitäten sind es, die diesen Prozeß unterstützen?

Das Buch verdeutlicht diese pädagogischen Qualitäten und stellt allem voran die Lebensfreude und Wißbegierde: wenn es uns gelingt, Lebensfreude und Wißbegierde in die Schule, aber auch in anderen Lebensfeldern anzuregen, dann sind wir auf dem richtigen Weg zur Gleichwertigkeit.

Mit einer direkten, unverblümten, aber auch zärtlichen und frech-humorvollen Sprache fordert uns das Buch auf, beginnend bei uns selbst, diesen Weg zu gehen.

Josef Fragner

Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Es bietet auch keine Rezepte an. Es versteht sich vielmehr als vielseitige Anregung, als "herbheiteres Lesebuch".

Kürzere und längere Zitate lassen Autorinnnen und Autoren in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen. Auf diese Weise wird man eher Lust bekommen, sich das eine oder andere Werk anzuschaffen, als wenn durch Zusammenfassungen der Inhalt verstümmelt oder unpräzise wiedergegeben wird. So gesehen ist wohl jedes Zitat eine Ermutigung, weitere Bücher zum Thema im Originaltext zu lesen.

Felix Mattmüller

Quelle:

Rezensiert von Georg Pankow

Entnommen aus: A-Bulletin Nr. 431

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 07.03.2006

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