Kinder mit schweren Behinderungen gehören dazu

Gemeinsamer Unterricht an einer Berliner Grundschule - Konzepte und Erfahrungen

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Hinz, Andreas; Körner, Ingrid; Niehoff, Ulrich (Hg.): Auf dem Weg zur Schule für alle. Lebenshilfe-Verlag Marburg 2010 (Hier werden eher die Schulstrukturen beschrieben)
Copyright: © Hedwig Matt, Sabine Koller-Hesse 2010

1. Das soziale Lernen

Jeder Mensch ist wertvoll - unsere Grundhaltung

Jeder Mensch hat besondere Fähigkeiten. Diese gilt es zu erkennen, zu fördern und für die Gemeinschaft zu nutzen. In einem positiven Sozialklima können alle Menschen, vor allem aber Kinder, besser und erfolgreicher lernen. Dazu brauchen sie Selbstbewusstsein, Ich-Stärke, soziale und personale Kompetenzen wie z. B. Empathie und Hilfsbereitschaft. Werden diese Kompetenzen bewusst gefördert, dann kommt dies nicht nur Kindern mit Behinderungen zugute, sondern allen Kindern. Im Rahmen der Schulprogrammentwicklung erschien es uns daher wichtig das Miteinander zu betonen und das soziale Lernen in unserer Schule noch stärker in den Mittelpunkt zu stellen.

Wichtiger als die Haltung der Kinder ist jedoch die Einstellung der Erwachsenen, da sie durch ihr Vorbild das Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler prägen. Die zentrale Rolle kommt den Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern zu. Sie müssen sich für die Kinder mit einer Behinderung genauso verantwortlich fühlen und ihren Lernprozess ebenso wichtig nehmen, wie sie es bei allen anderen Schülern der Klassengemeinschaft tun. Nur so ist gewährleistet, dass Kinder mit schweren Behinderungen nicht nur anwesend sind und dabei ihren sonderpädagogischen Fachkräften oder unterstützenden Helfern überlassen werden, sondern dass sie an allen Facetten des gemeinsamen Schullebens teilhaben können.

Helfen und Hilfe erhalten - Partnersysteme

Von Anfang an werden die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. In unseren altersgemischten JÜL-Klassen (JÜL = Jahrgang übergreifendes Lernen der Klassenstufen 1-3) ist es ein wichtiges Unterrichtsprinzip. In den Phasen selbständigen, individualisierten Arbeitens gilt die Regel: "Zuerst denken wir selbst nach. Wenn wir nicht weiter wissen, fragen wir ein anderes Kind. Wenn es nicht helfen kann, wenden wir uns an einen Erwachsenen." Nicht nur leistungsstarke Schülerinnen und Schüler treten hier als Helfer auf; die älteren Kinder helfen den jüngeren und auch Kinder mit Lernschwierigkeiten übernehmen gern diese Aufgabe und werden damit in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt.

Jedes Jahr werden für die neu eingeschulten Schülerinnen und Schüler jeweils zwei Patenkinder bestimmt, die ihnen in den ersten Schulwochen helfen, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden und sie bei Schwierigkeiten im Lernen zu unterstützen. Daran knüpft auch unser Partnersystem für Kinder mit schweren Behinderungen an, es besteht jedoch nicht nur für die ersten Wochen, sondern wird während der gesamten Grundschulzeit praktiziert. Zwei Partnerkinder werden jede Woche neu ausgewählt und ihre Fotos werden auf den Schultisch des Kindes geklebt. Sie begleiten das Kind in den Pausen und helfen zum Beispiel auf dem Weg vom Taxi in den Klassenraum und zum Hortgebäude. Im Unterricht werden sie zu Lern- und Arbeitspartnern, zum Beispiel bei den Aufgaben des Wochenplans. Auch zum Psychomotorikunterricht oder zum wöchentlichen Schwimmen im Therapiebad einer Fördereinrichtung gehen diese Kinder gemeinsam, und sie helfen bei lebenspraktischen Tätigkeiten, wie zum Beispiel der Zubereitung des Frühstücks oder kleiner Speisen. So ist das Lernen ein gegenseitiger Prozess in dem alle profitieren. Die Partnerkinder lernen Verantwortung zu übernehmen. Sie spüren hautnah, welche Hilfe das Kind mit seinen Einschränkungen benötigt und bekommen meist eine direkte Rückmeldung: Die Freude und Zufriedenheit des Kindes mit der Behinderung und die Anerkennung von der Klassengemeinschaft und den Erwachsenen. In den unteren Klassenstufen fällt es nicht schwer, Lernpartner für diese Aufgabe zu gewinnen. Die Aufgabe soll freiwillig übernommen werden, es wird niemand dazu gezwungen. Die meisten Kinder helfen gern und genießen darüber hinaus die Teilnahme an den motorischen und lebenspraktischen Angeboten. In den höheren Klassenstufen ist dieses Helfersystem zur Selbstverständlichkeit geworden; hier werden die Aufgaben in der Regel nach einem Plan abwechselnd allen Mitschülerinnen und Mitschülern übertragen.

Jeder ist verantwortlich - Die Klassen- und Schulregeln

Klassenregeln hängen in allen Klassen sichtbar auf großen Plakaten aus. Sie sind positiv formuliert und durch Bilder illustriert. Die Inhalte werden mit den Schülerinnen und Schülern zusammen erarbeitet. Meist nennen die Kinder von sich aus die wichtigen Grundsätze im schulischen Zusammenleben, so zum Beispiel das Bedürfnis nach Arbeitsruhe oder einem friedfertigen Umgang miteinander. Die Regeln müssen von Zeit zu Zeit neu diskutiert und bei Bedarf verändert werden. In einer Klasse, zu der zwei Kinder mit einer Körperbehinderung und ein Kind mit schwerer Mehrfachbehinderung gehörten, wünschte die Mehrheit die Regel: "Über Kinder mit einer Behinderung darf nicht gelacht werden." Der vorhandene Satz: "Wir gehen freundlich miteinander um", reichte den Kindern nicht aus, um diese Mitschülerinnen vor negativen Reaktionen zu schützen, die durch deren motorischen Ungeschicklichkeiten, wie zum Beispiel Stolpern, anfangs manchmal ausgelöst wurden.

Eine Gruppe von Lehrkräften und Erzieherinnen arbeitet zusammen mit Schülervertretern kontinuierlich an einem verbindlichen Regelwerk für die Schulgemeinschaft. Vorschläge werden im Rahmen von Dienstbesprechungen und Gesamtkonferenzen mit dem gesamten Kollegium diskutiert und abgestimmt. Verbindlich sind bereits die Verhaltensregeln für den Schulhof und deren Kontrolle durch einen Kinder-"Schulhofdienst", der von den höheren Klassenstufen übernommen wird. Das Forum zur Vermittlung der Regeln an die Schülerinnen und Schüler sind die "Schulversammlungen".

Demokratie lernen - Die Schulversammlung

Vier bis sechsmal im Jahr versammeln sich alle Schülerinnen und Schüler unserer Schule zu einer Schulversammlung. Weil die Aula nicht genug Platz für alle bietet, findet sie in zwei Durchläufen statt, jeweils einmal für die JÜL-Klassen und im Anschluss für die Klassen 4 bis 6 und dauern 30 Minuten. Hier erleben die Kinder, dass sie über den Rahmen ihrer Klasse hinaus Teil einer größeren Gemeinschaft sind. Die Versammlungen werden von einer Schülerarbeitsgruppe unter Anleitung einer Lehrerin vorbereitet und von der Gruppe selbständig moderiert. Über die Klassengemeinschaft hinaus soll auch die Schule als ein Ort demokratischer Werte und Umgangsformen erlebt werden. Die Beteiligung und Mitverantwortung aller Schülerinnen und Schüler werden in diesem Rahmen erprobt und umgesetzt.

Die Schulversammlung informiert über wichtige schulische Ereignisse, stellt in Form kleiner Schülerinterviews neue Kolleginnen und Kollegen vor, beschäftigt sich insbesondere mit der Schulordnung und Schulregeln und den Maßnahmen zu deren Einhaltung und gibt Aufträge zur Erarbeitung oder Umsetzung an die Klassengemeinschaften weiter. Die Ergebnisse aus den Klassen werden wiederum in das gemeinsame Forum hineingetragen und dort präsentiert. Meistens werden die Inhalte in Form von Rollenspielen oder kleinen Theaterszenen durch die Vorbereitungsgruppe veranschaulicht. Unter dem Motto "Wir zeigen was wir können" werden zum Abschluss jeder Versammlung Beiträge einzelner Schülerinnen oder Schüler oder Klassenbeiträge wie zum Beispiel ein Tanzstück aufgeführt.

Alle sind dabei - Gemeinschaftserlebnis Klassenfahrten

Klassenreisen sind ein fester Bestandteil unseres Unterrichts um soziale Fähigkeiten zu vertiefen und zu erproben. Oberste Prämisse dabei ist: Alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse nehmen daran teil. Ahmet, der seit einem schweren Unfall vom Hals abwärts gelähmt ist, wurde durch seine Krankenschwestern, die ihn rund um die Uhr betreuen, begleitet. Auf Klassenreisen mit einem Umfeld, in dem nicht Schreiben, Lesen und Rechnen im Vordergrund stehen, werden oft ganz andere Werte der Kinder sichtbar: die sozialen und lebenspraktischen Kompetenzen sind hier gefragt. Oft schneiden dabei die in der Schule eher leistungsschwachen Schülerinnen oder Schüler weitaus stärker ab. So schaffte es zum Beispiel Pablo sehr viel besser als die Lehrerinnen, seinen autistischen Mitschüler immer wieder zur Teilnahme an den gemeinsamen Aktivitäten zu bewegen, wenn dieser sich auf sein Bett zurückzog. Pablo erhielt viel Anerkennung und wurde in seiner ganzen Persönlichkeit gestärkt.

Faires Verhalten kommt nicht von allein - Soziales Lernen als Unterrichtsthema

Nicht alle Kinder sind in ihrem Selbstbewusstsein so gefestigt, dass sie andere wertschätzen und achten. Deshalb sind spezielle Unterrichtseinheiten zum sozialen Lernen ganz wichtig. Hier besprechen wir mit den Kindern, dass sie alle verschieden sind und dass jeder in seiner Eigenart wertvoll ist. Sie werden aber auch dazu angehalten ihre Gemeinsamkeiten zu entdecken. Gerade den Kindern mit Verhaltensschwierigkeiten fällt das sehr schwer. Dieser Unterricht trägt dazu bei, Gefühle bei sich und anderen zu erkennen und zu respektieren, eigene Verhaltensweisen zu reflektieren, Einfühlungsvermögen zu entwickeln und Verständnis füreinander aufzubringen. Dazu werden zum Beispiel Geschichten aus Bilderbüchern oder aus der Kinder- und Jugendliteratur benutzt. Deniz, der sich in der Hofpause über das Verhalten einer Schülerin mit schwerer Mehrfachbehinderung aus einer anderen Klasse lustig macht, setzt sich über eine Geschichte im Rahmen des Klassenunterrichts mit dem Thema Ausgrenzung auseinander. Er lernt das Mädchen näher kennen, als es in die Klasse eingeladen wird, und entwickelt schließlich selbst Ideen, wie man Kindern beistehen kann, wenn sie gehänselt werden.

2. Die Schulgemeinschaft

Alle machen mit - Feste feiern, Spiel und Sport

Bei Schulfesten wie dem Sommerfest oder Fasching wird darauf geachtet, dass sich die Spielangebote auch für die Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen eignen. Die Sportfeste werden so organisiert, dass Übungen mit kooperativem Charakter eine große Bedeutung zukommt. Malik, ein Junge mit einer schweren Behinderung bildet zum Beispiel mit seinem Rollstuhl das Fundament für eine Pyramide, für die sich seine Mitschüler um ihn herum und über ihm aufbauen. Bei einer anderen Aufgabe muss die ganz Klasse möglichst schnell auf eine "Insel" klettern. Diese besteht aus zwei Barren mit aufgelegten Weichbodenmatten. Die Kinder mit einer Behinderung werden von ihren Mitschülern hoch gehoben. Hier ist gegenseitiges Helfen gefragt, aber auch Überlegen und Absprechen. Die Schwächeren müssen zuerst hoch, starke Jungen müssen helfen und sich möglichst lange zurück halten, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Dafür muss im Sportunterricht oft lange geübt werden. Die Bundesjugendspiele werden zum Teil als "Vielseitigkeitswettbewerb" organisiert (vgl. Wettbewerb Turnen, Vielseitigkeitswettbewerb, Online-Handbuch Bundesjugendspiele des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2009). Bei diesen Übungsformen fällt es nicht schwer, Varianten zu finden, um Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen einzubeziehen. Beim jährlichen Sommerfest ist regelmäßig der Sportverband "Handicap" eingeladen. Viele mitgebrachte Rollstühle stehen für einen speziellen Parcour zur Verfügung, der bei allen Kindern sehr gefragt ist. Zwei Erwachsene, die selbst auf einen Rollstuhl angewiesen sind, beeindrucken vor allem die größeren Schülerinnen und Schüler durch ihr sportliches Können und ihre kompetente Anleitung beim Rollstuhl-Basketball, an dem alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen können.

Jeder steht gern auf der Bühne - Theater spielen

Jedes Jahr erarbeitet eine Arbeitsgemeinschaft aus Schülern und Lehrern ein Theaterstück. Das Grundmuster besteht darin, dass um eine Leitgeschichte herum viele verschiedene Beiträge gerankt werden. Zwei Schülerinnen oder Schüler leiten als Moderatoren durch das Stück. Zentrale Szenen werden von Kindern aus den Theater-AGs gespielt, dazu passend proben viele Klassen einen eigenen Beitrag. Hier sind dann alle Kinder der Klasse beteiligt. Auch die Kinder mit schweren Behinderungen, die aufgrund fehlender personeller Ressourcen an den AGs am Nachmittag nur selten teilnehmen können, haben auf diese Weise ihren Auftritt. So wird in der Schulöffentlichkeit wahrgenommen: sie gehören dazu!

Den ganzen Tag zusammen sein - Die Vorteile der Offenen Ganztagsschule

Seit sechs Jahren ist die Heinrich-Zille-Grundschule eine offene Ganztagsschule. Mehr als zwei Drittel unserer Schülerinnen und Schüler besucht den Hort, der in verschiedenen Gebäudekomplexen des Schulgeländes untergebracht ist. Die Erzieherinnen und Erziehern sind in den Klassen 1 bis 4 auch stundenweise im Unterricht tätig und können auf diese Weise das Lernen, aber vor allem auch die sozialen Prozesse unterstützen. Wie die Lehrerinnen und Lehrer sind sie eingebunden in den Prozess der Schulentwicklung und prägen dadurch entscheidend unser Schulleben mit. Auch mehrere Facherzieher für Integration gehören dazu. Sie unterstützen insbesondere die Kinder im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung und sorgen dafür, dass zum Beispiel Angebote zur Förderung der Wahrnehmung und Motorik sowie das Training lebenspraktischer Fertigkeiten kompetent vermittelt werden. Kemal, ein Junge mit Down Syndrom, hat erhebliches Übergewicht. Er benötigt ein tägliches Trainingsprogramm, das während der Unterrichtszeit von der Erzieherin angeleitet wird. Danach kehrt er in die Klasse zurück und baut weiter an einem Landschaftsmodell mit Meer und Deich. Das ist sein Beitrag zur Nachbereitung der Klassenfahrt, auf der er sich so wohl gefühlt hat. André, ein Junge mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, kann nicht sprechen. Zur Kommunikation benutzt er einen Talker. Er nimmt am Nachmittag mit seinen Klassenkameraden an der Yoga AG teil. Beim Yoga spricht keiner Lautsprache.

Lebenspraktische Fähigkeiten trainieren kommt allen zugute - Das Schulfrühstück

Es ist sinnvoll lebenspraktische Fertigkeiten in Alltagssituationen zu trainieren. Das geschieht im kleinen Rahmen oft in der Klasse. Beliebte Vorhaben sind Tätigkeiten wie das Schälen und Schneiden von Gurke und Möhren, denn die Freude der Klassenkameraden über den Imbiss am Ende des Tages belohnt die Mühe. Natalie, die große Probleme mit der motorischen Koordination hat, versucht für alle Klassenkameraden ein Getränk in kleine Gläser zu füllen, als ihre Klasse gerade an einem naturwissenschaftlichen Projekt zu den Eigenschaften von Flüssigkeiten arbeitet. Natürlich könnte Natalie diese Tätigkeit vorher für sich selbst üben. Motivierender aber ist es, es für die Gemeinschaft zu tun. Im großen Rahmen, zum Nutzen für die ganze Schulgemeinschaft, haben wir die tägliche Zubereitung eines Frühstücks in der Schulküche organisiert. Ein oder mehrere Kinder mit Förderbedarf und die Partnerkinder aus ihren Klassen schmieren und belegen Brote, gießen Getränke ein, füllen Müsli in Schalen und verkaufen die Sachen in der großen Pause an Schüler oder Lehrkräfte. An manchen Tagen ist der Andrang so groß, dass sie mit der Arbeit nicht hinterherkommen. Für den schwerstbehinderten Malik wurde ein Pürrierstab angeschafft. So konnte er an der Herstellung von Milchmixgetränken mitwirken und spürte dabei ganz im Sinn einer basalen Stimulation die Wärme und die Vibrationen des Gerätes.

Auf besondere Anliegen eingehen - Die Eltern der Kinder mit Behinderungen

Grundlage der Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist der Förderplan. Dieser wird halbjährlich erstellt und mindestens einmal jährlich mit den Eltern besprochen. Nach Möglichkeit sind alle beteiligten Lehrkräfte, Erzieherinnen und Helfer dabei. Da die Fragen und Anliegen der Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen nicht immer auf den Elternabenden der Klasse zufrieden stellend besprochen werden können, wird ein- bis zweimal jährlich ein Elterncafé speziell für diese Eltern angeboten. Es hat sich bewährt, auch Fachleute oder Vertreter von Elternverbänden dazu einzuladen, damit Eltern über den Rahmen der Schule hinaus Ansprechpartner kennen lernen. Im Gegensatz zu den deutschen Eltern sind die Eltern mit Migrationshintergrund nur selten in Selbsthilfegruppen organisiert und kennen sich wenig damit aus, wo man Hilfe erhalten oder sich über Probleme austauschen kann.

3. Der Unterricht

Individuelle Förderung - Die Suche nach Lern- und Organisationsformen

Individuelle Förderung ist nur möglich, wenn der Unterricht durch geeignete Lernformen strukturiert wird. Gerade Kinder mit schweren Behinderungen werden sonst schnell zu "Störquellen"; sie müssen beschwichtigt werden oder gar den Raum verlassen, wenn sie sich nicht ruhig verhalten. Auch den anderen Kindern fällt das Stillsitzen schwer. Erfahrungen aus dem lehrerzentrierten Frontalunterricht zeigen uns deutlich, dass das Unterrichtsgeschehen oftmals nur wenige Schülerinnen und Schüler wirklich erreicht. Der Jahrgangs übergreifende Unterricht in den JÜL-Klassen bringt es mit sich, dass für große Anteile des Unterrichtstages individualisiertes Lernen stattfinden muss. Für die Teilhabe von Kindern mit schweren Behinderungen am gemeinsamen Unterricht hat das viele Vorteile gebracht. Ihr individueller Lernprozess unterscheidet sich zwar im Niveau, im Material und in der Vorgehensweise von dem ihrer Mitschüler, er findet aber in dem vorgegebenen Struktur- und Zeitrahmen des Klassenunterrichts problemlos seinen Platz. Die Arbeit mit dem Wochenplan ist für alle Jahrgangsstufen verbindlich, ergänzend dazu wird in manchen Klassen Freiarbeit angeboten. In den JÜL-Klassen haben sich die Kolleginnen und Kollegen zudem auf die Vorgehensweise der "Lernstraßen" oder "Lernwege" geeinigt. In den höheren Klassen 4 bis 6 hat sich die Jahrgangsmischung bisher nicht durchgesetzt. Aber auch hier wird differenziert gearbeitet. Neben dem Wochenplan sind "Lernstationen" oder "Lerntheken" dort als bewährte Arbeitsformen zu finden.

Bewährte Formen der Differenzierung - Die Arbeit mit dem Wochenplan

Im Mathematikunterricht der Klasse 5a steht in dieser Woche das Thema Gewichte auf dem Programm. Der Wochenplan verlangt folgende Aufgabe:

Sertan kann seine Schultasche nicht tragen. Er liest keine Bücher und löst keine Rechenaufgaben. Es ist ungewiss, ob er sehen kann. Seine Hände sind spastisch gekrümmt, gezieltes Greifen ist nicht zu beobachten. Sertan benötigt eine umfassende basale Förderung. Besonders seine taktile, vestibuläre und propriozeptive Wahrnehmung bedürfen der Anregung. In der Klasse 5a findet man verschiedene Möglichkeiten Sertan in den gemeinsamen Lernprozess einzubeziehen. (vgl. Matt 2007, 21). Auf diesem Wochenplan stehen folgende Aufgaben:

Aufgaben für Sertan

Aufgaben für die Lernpartner

Sandsäckchen spüren

Unterschiedlich schwere Säckchen

mit Sand- und anderen Füllungen

Gewichte der Säckchen schätzen, auswiegen,

Unterschiede errechnen

Sertan die Säckchen auflegen, ihn bedecken,

auf den verschiedenen Körperteilen

seine Reaktion erleben.

Körpergewicht

Gehoben, getragen und gehalten

werden

Wie viel wiegt Sertan?

Ein kräftiger Mitschüler soll Sertan hochheben

und sich mit ihm auf die Waage stellen

Sertans Gewicht ausrechnen

Lernschritte strukturieren - die Lernstraßen im JÜL

In Sinans Klasse gibt es eine Lernstraße. Lernstraßen oder Lernwege sind visualisierte Arbeitspensen. An der Wand im Klassenraum hängt eine Magnettafel, auf der in Form verkleinerter Abbildungen alle Lernmaterialien zu Straßen aneinandergereiht sind, welche die Schülerinnen und Schüler in den 3 Jahren bewältigen sollen. Es gibt jeweils eine Lernstraße für Schreiben, für Lesen und für Mathematik. Jedes Kind besitzt drei Magnete, die es auf das Material heftet, an dem es gerade arbeitet. Sinan liebt Autos, für ihn sieht man auf der Lernstraßentafel zwei Lastwagen, auf denen seine Lernschritte abgebildet sind: einen roten für Deutsch und einen blauen für Mathematik. Die Inhalte richten sich nach seinem Förderplan. Entsprechend zu den Schreibübungen der Mitschüler muss Sinan seine Handmotorik üben. Er soll kleine Gegenstände aus einer Sandkiste fischen, dicke Perlen auf Stäbe stecken und einfache Schneideübungen durchführen. Seine Materialien liegen in einerKiste auf Rollen mit einem roten Deckel, seinem Deutsch-Lastwagen. Wenn an der Tafel der Stundenplan erklärt wir, erkennt Sinan das Symbol für "Lernstraße Deutsch" und holt sein rotes Auto. Jetzt kann er mit seinen Partnerkindern arbeiten. Die Kinder verfolgen mit großem Interesse, wie es für Sinan auf der Lernstraße weiter geht. "Wenn Sinan seine Hände geübt hat, lernt er dann so weiter wie wir?" fragte ein Mitschüler.

Im Modell der Lernstraße sind im Gegensatz zum Wochenplan die Leistungserwartungen der Schule erkennbar und das Arbeitspensum ist nachvollziehbar und planbar. Die Lernstraße ermöglicht ein individuelles Lerntempo; es ist jedoch auch für alle sichtbar, wo ein Kind steht. Nach unserer Erfahrung werden echte Leistungsunterschiede von den Kindern akzeptiert. Man kann ihnen gut erklären, dass jemand mehr Zeit benötigt, weil er langsamer begreift, dass aber selbst verschuldete Rückstände durch Zusatzarbeit aufgeholt werden müssen. Nach der Konzeption der Schulanfangsphase können Kinder, die langsamer lernen, ein weiteres Jahr verbleiben, schnell lernende Kinder können eine Klassenstufe überspringen. Die Lernstraße muss aber auch Platz bieten für Zusatzmaterialien, damit Kinder mit Lernbeeinträchtigungen, die abweichend vom Rahmenplan der Grundschule unterrichtet werden, aber auch Kinder mit besonderen Leistungsstärken sich darauf wieder finden.

Die geleistete Arbeit den Mitschülern zeigen - Präsentationen und Vorträge

Im Mathematikunterricht einer 4. Klasse wird in Gruppen gearbeitet. Die Schüler sollen sich selbständig Mathematikaufgaben ausdenken, um Multiplikationsaufgaben in Sachbezügen anzuwenden. Die Ergebnisse werden vorgestellt und diskutiert. Ein Mitschüler denkt sich für Elin, ein Mädchen mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, eine Aufgabe aus, die er mit ihr zusammen darstellt. Er lässt sie Punkte in fünf aufgemalte Kreise kleben, und zwar immer gleich viele. Bei der abschließenden Präsentation müssen die Mitschüler eine Sachaufgabe dazu erfinden. Sie kommen auf folgende Lösung: Bei einer Geburtstagsfeier bekommt jedes der fünf eingeladenen Kinder vier Smarties auf den Teller. In den Klassen 5 und 6 wird der Unterricht in den Fächern Geschichte, Erdkunde und Naturwissenschaften (NaWi) im Rahmen eines klassenübergreifenden Projekttages organisiert. Hier sollen fachbezogene Kompetenzen in den verschiedenen Bereichen erworben werden. Dabei werden die Schülerinteressen durch die Wahl der Projektthemen berücksichtigt. Meliha stellte im Rahmen der Thematik "Mein Körper" ihren Besuch beim Zahnarzt anhand eines Bilderbuchs vor. Meliha hält den Vortrag, indem sie die von ihrer Lernpartnerin und Assistentin vorbereiteten Fragen beantwortet und dazu mit dem OH-Projektor die passenden Bilder zeigt.

Selbst wenn Kinder mit Behinderung im Fachunterricht an ganz anderen Lerninhalten als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler arbeiten, ist eine Präsentation ihrer Arbeit vor der ganzen Klasse immer möglich und sorgt dafür, dass sie in ihrem Lernen von der Gemeinschaft wahrgenommen und einbezogen werden.

4. Notwendige Rahmenbedingungen

Die personelle Ausstattung

Kinder mit schweren Behinderungen benötigen in der allgemeinen Schule eine fachkundige persönliche Begleitung. Für die individuelle Förderung dieser Personengruppe hat sich in den letzten Jahrzehnten ein hochspezifisches, umfassendes Fachwissen entwickelt, das in die allgemeine Schule hinein getragen werden muss. Wenn die Beschulung überwiegend von pädagogisch nicht ausgebildeten Kräften übernommen wird, droht sie allzu leicht auf Pflege und Versorgung reduziert zu werden. (vgl. Hömberg 2007, 67) Damit die individuelle Förderung drüber hinaus in gemeinsame Lernsituationen mit den Mitschülern eingebettet werden kann, bedarf es der gemeinsamen Planung und engen Absprache zwischen der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer und der unterstützenden Kraft. Das ist nur mit sonderpädagogisch qualifiziertem Fachpersonal zu leisten, das zum Kollegium der Schule gehört und auch die zeitlichen Ressourcen hat, an den Teamsitzungen, an Fachkonferenzen, an Fortbildungen und an allen Schulentwicklungsprozessen teilzunehmen. Bei Schulhelfern ist das im Rahmen ihrer vorhandenen Arbeitsstunden nicht vorgesehen. Vermutlich ist das zumindest einer der Gründe, warum in Berlin die Zahl der Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung an den allgemeinen Schulen nach Ende der Versuchsphase eines für diese Schülergruppe spezifischen "Landesweiten Schulversuchs zur Integration von Kindern mit geistiger Behinderung und schwerer Mehrfachbehinderung" wieder zurückgeht. (vgl. Dollezal 2007)

Unterstützende und begleitende Maßnahmen

Schulen brauchen auf dem Weg zur Inklusion ein umfassendes Beratungs- und Fortbildungsangebot. In der Zeit der Berliner Schulversuche zur Integration wurden für die Entwicklung geeigneter Konzepte zum Teil Ermäßigungsstunden gewährt. Das Angebot wurde gut angenommen und es entwickelte sich ein Erfahrungsschatz sowie ein gegenseitiger Austausch. Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich zurzeit durch Reformen oft stark überfordert, zumal sich der Anteil an konzeptioneller und bürokratischer Arbeit stark erhöht hat. Die Erfahrung zeigt, dass an erster Stelle Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung von Abwehrmechanismen betroffen sind, da die pädagogischen Erfordernisse hier als zu unbekannt und zu schwierig erscheinen. (vgl. Hömberg 2007, 65f). Veränderungsprozesse müssen deshalb durch attraktive Gestaltung von Fortbildungsmaßnahmen erleichtert werden. Die derzeit im Mittelpunkt stehenden konzeptionellen Veränderungen hin zu einem differenzierten Unterricht für alle Schulstufen eignen sich grundsätzlich auch für den gemeinsamen Unterricht mit Kindern mit schweren Behinderungen. Die Erfordernisse dieser Personengruppe müssen wieder in Fortbildungsangebote einbezogen werden.

Eltern von Kindern mit schwerer Behinderung brauchen in Bezug auf die Beschulung eine sachkompetente Beratung. Die von Elternverbänden initiierten Informationsveranstaltungen zur Einschulung reichen dazu nicht aus. Sie werden nur von einer kleinen Schicht breit informierter Eltern wahrgenommen. Die früher obligatorischen Förderausschüsse, in denen vor der Einschulung Eltern, Schulleitung, Lehrkräfte der Schule, Erzieher, Therapeuten und teilweise auch Ärzte zusammen kamen, um über die geeignete Förderung und Schulwahl zu beraten, wurden wegen des großen Zeitaufwands leider wieder abgeschafft. Wie von Eltern immer wieder zu erfahren ist, empfehlen ihnen Kinderärzte, Therapeuten und die Sozialpädiatrische Zentren in der Regel die Förderschulen. Dies beruht einerseits auf negativen Erfahrungen mit nicht geglückter Integration, andererseits aber vielfach auch auf fehlender Information über die bereits erfolgte positive Veränderung der Unterrichtspraxis von Schulen. Hier besteht eindeutig Nachholbedarf. Inklusion, die auch Kinder mit schwerer Behinderung einbezieht - und nur dann verdient sie diesen Begriff -, bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller beteiligten Gruppen und Institutionen.

Quellen

BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND. (BMFSF) (HG.) 2009: Bundesjugenspiele. Handbuch; www.bundesjugendsspiele.de

DOLLEZAL, Daniel (2008): Gemeinsamer Unterricht für alle?! Bedingungen für die Schulische Integration von Schülerinnen und Schülern mit schweren Mehrfachbehinderungen in der Primarstufe am Beispiel des Landes Berlin. Aachen

HÖMBERG, Nina (2007): Ergebnisse aus dem Berliner Landesschulversuch. In: Hinz, Andreas (Hg): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Marburg

MATT, Hedwig (2007): "Wenn du brummst, dann singe ich" - Gemeinsamer Unterricht für alle in einer Grundschule. In: Hinz, Andreas (Hrsg): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Marburg

Quelle:

Hedwig Matt, Sabine Koller-Hesse: Kinder mit schweren Behinderungen gehören dazu: Gemeinsamer Unterricht an einer Berliner Grundschule - Konzepte und Erfahrungen

Erschienen in: Hinz, Andreas; Körner, Ingrid; Niehoff, Ulrich (Hg.): Auf dem Weg zur Schule für alle. Lebenshilfe-Verlag Marburg 2010 (Hier werden eher die Schulstrukturen beschrieben)

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.02.2012

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