Geistig behindert und seelisch gestört:

Leben und Entwicklung unter dem Eindruck von Gewalt und die Verantwortung des Pädagogen

Autor:in - Robert Mang
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Diplomarbeit
Copyright: © Robert Mang 2011

Vorwort

So wenig dramatisch das Erlebnis war, von dem ich einleitend schreiben will, hat es mir neben anderem einen deutlichen Anstoß gegeben, mehr darüber nachzudenken und nachzulesen, was geistig behinderte Menschen an Gewalt erfahren und was sie wohl als Gewalt empfinden. Wenn man beobachtet, wie sehr ihr Verhalten oftmals von Angst und von mehr oder weniger lauter Abwehr geprägt ist und wie viele von ihnen irgendwann mit sich nicht mehr zurecht kommen, muss man nach Gründen fragen dürfen. Trotz des augenfälligen Zusammenhangs von Behinderung und Störung ist auch mit dem Anderen zu rechnen: dass sie alle zu Recht Angst haben, dass ihre Abwehr begründet ist und dass sie zu Recht verstört sind. Dann liegt es nahe, nach Gewalterfahrungen in ihrem Leben zu suchen, immer im Hinterkopf behaltend, dass schon das, was wir als ihre geistige Behinderung bezeichnen, möglicherweise Ausdruck und Folge von Verhältnissen ist, die sich mit den Begriffen "Gewalt" und "Unterdrückung" beschreiben lassen.

Die Gruppe von Kindern, die um die Mittagszeit das Restaurant betrat, war im ersten Moment wegen der relativ vielen Betreuer und deren lautstarken Anweisungen auffällig. Offensichtlich waren es Schüler einer Schule mit dem Förderschwerpunkt ganzheitliche Entwicklung. Sitzplätze wurden zugewiesen, die Rucksäcke waren bald über der Stuhllehne. Die Kinder durften zum Buffet. Mir fiel ein offenbar buffeterfahrener Junge auf, der behänd einen Teller vom Stapel nahm und zielstrebig auf das Essen zusteuerte. Eine Betreuerin rief ihm gerade noch rechtzeitig zu: "Weißt du schon, was du willst? Ich helfe dir gleich, ich kümmere mich noch um Sarah." Der Junge blieb wie angewurzelt stehen, der Teller neigte sich in schlaffen Armen zu Boden und der Blick ging ins Leere. Er wirkte in diesem Augenblick sehr behindert. Ein anderer Junge war unbeaufsichtigt bei den Frühlingsrollen und versuchte recht ungelenk, aber mit imponierender Hartnäckigkeit, eine davon nach guter Sitte mit der Zange zu greifen. Ein Gast mit demselben Ziel kam dahinter zu stehen. Er hielt geduldig Abstand und sah mit wohlwollendem Interesse seinem Vordermann zu. Eine Betreuerin eilte herbei. "Merkst du nicht, dass hinter dir jemand wartet?" Sanft wurde er auf die Seite bewegt. Der verblüffte Herr meinte noch, er habe doch nichts gesagt. Er hätte Zeit und fühle sich nicht gestört, wenn es etwas länger dauere. Unter dem Druck des schuldbewussten und Verständnis heischenden Lächelns, mit dem sich die Betreuerin für ihren Schützling entschuldigte, gab er jedoch nach und musste die Vorrangstellung annehmen. Der Junge bekam seine Frühlingsrolle auf den Teller gelegt und bald saßen alle Kinder wieder am Tisch. Die Betreuer, die nebeneinander saßen, unterhielten sich recht laut und waren sichtlich gut gelaunt, da alles so gut funktioniert hat. Die Kinder sprachen wenig. Etwas war an dieser Situation, was mich in diesem Augenblick an meine damalige Lektüre der "Pädagogik der Unterdrückten" von Paulo Freire und den Begriff der "Kultur des Schweigens" [1] denken ließ.



[1] Freire 1971, 9

1. Kapitel: Zur Definition geistiger Behinderung und seelischer Störung

Es ist anzunehmen, dass nur die anpassungsfähigen und berechenbaren Kinder dabei sein konnten. Die anderen Mitschüler, bei denen zu erwarten war, dass sie durch Auffälligkeiten in Verhalten oder Auftreten stören würden, waren für die Dauer des Ausflugs vermutlich in den Parallelklassen untergebracht. Die Herausforderung im Umgang mit behinderten Menschen besteht oft weniger darin, ihnen spezielle Fertigkeiten zu vermitteln als vielmehr darin, mit Stö-rungen in ihrem Verhalten oder in ihrer Persönlichkeit zurecht zu kommen und deren schädliche Auswirkungen zu mildern und zu verhindern.[2] Dies betrifft nicht nur das schulische, sondern auch das familiäre, institutionelle und gesellschaftliche Umfeld. Ein vermehrtes Auftreten von emotionalen Störungen, von Verhaltensstörungen und von Persönlichkeitsstörungen ist zu beobachten und der Schluss liegt nahe, dass geistig behinderte Menschen ein erhöhtes Risiko besitzen, psychisch zu erkranken.[3] Die Zahlen, an denen man dies festmachen kann, sind abhängig von den jeweiligen Definitionen, die abgrenzen, wer geistig behindert ist und wer nicht[4], wer psychisch gestört ist und wer nicht, und die bestimmen, ab welcher Dauer eine Störung zu einer seelischen Behinderung und ab welchem Grad eine Lernstörung zu einer geistigen Behinderung wird. Letztlich stellt sich auch die Frage, ob Geist und Seele sich inhaltlich und begrifflich so voneinander trennen lassen, dass man auseinanderhalten kann, ob das eine oder das andere behindert ist. All diese Fragen erhalten je nachdem, in welchem kulturellen, geschichtlichen und geographischen Umfeld sie beantwortet wurden und werden, unterschiedliche Antworten, da sich Behinderung erst im sozialen Kontext zeigt und dort definiert wird.[5] Definitionen werden so zu Variablen, die nicht einmal als vorläufig gelten können und eine schwache Basis für wissenschaftliches Arbeiten bilden. Berücksichtigt man das ideologische Umfeld, in dem Definitionen formuliert werden, so kommt man nicht umhin, nach dem erkenntnisleitenden Interesse zu fragen und dieses als fragwürdigen Ausgangspunkt für ein Wissen zu erwägen, das Validität beansprucht. Eine deutsche Krankenkasse zum Beispiel wird heutzutage Interesse an solchen Definitionen oder deren Bildung haben, die es ihr erlauben, Leistungsansprüche, die an sie gestellt werden, zu verweigern und auf die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers zu verweisen. Definitionen tragen hier letztlich dazu bei, dass ein seelisch leidendes Kind wegen ungelöster Zuständigkeitsfragen unter Umständen keine, späte oder unpassende Hilfe erhält, da es als behindert definiert wurde.[6] Gerade wenn der Fokus des Betrachtens auf menschlichen Eigenschaften und nicht auf Prozessen ruht, in denen sich menschliches Verhalten und Entwicklung zeigt, droht der Beobachtete zur Gänze zum Träger von Eigenschaften reduziert zu werden, die bei entsprechender sozialen Unerwünschtheit und Etikettierung zu seiner Ausgrenzung beitragen.

Aus dem Ziel der Definition, Dinge voneinander abzugrenzen wird dort, wo Menschen definiert werden, die eine Minorität darstellen, ideologische Ausgrenzung, der die praktische Segregation folgen kann. Dem eigentlichen Wortstamm nach bedeutet "definieren" nicht nur eine "Grenze", sondern auch ein "Ende" setzen. Der als behindert bezeichnete Mensch verliert seine Entwicklungschancen durch die Festschreibung, welcher geistige und seelische Zustand nicht zu ändern ist. Georg Feuser drückt es so aus: "Was wir annehmen, daß der andere nicht lernen kann, bieten wir erst gar nicht zu lernen an, mithin hat er auch keine Möglichkeit, sich Welt über das hinaus anzueignen, was wir vorgeben. So muß er bleiben und sein, was und wie wir meinen, daß er ist!"[7]Einen anderen so zu determinieren nimmt ihm den Kern des Menschseins und verdinglicht ihn. Wenn sich der Pädagoge als einer versteht, der Verantwortung dafür übernimmt, dass sich die Lebensqualität des ihm Anvertrauten verbessert oder der vorbeugt, dass sie sich nicht verschlechtert, ist er darauf angewiesen, anzunehmen, dass er Einfluss auf das nehmen kann, was wird. Theunissen erachtet es als notwendig, "Festschreibungen, Etikettierungen, deterministische, voreilige oder gar nihilistische Schlussfolgerungen und Prognosen zu vermeiden, um den pädagogischen und therapeutischen Handlungsspielraum nicht unnötiger Weise einzuengen."[8] Das Interesse daran, einen Menschen als behindert zu definieren, kann dem Wunsch entsprechen, ein Argument zu haben, mit dem man Verantwortung für das Kommende ablehnen kann. Es kann mit dem Bedürfnis zusammenhängen, sich die ausbleibende oder gar negative Wirkung von Einflussnahme nicht anlasten zu müssen. Mit der Leugnung der Offenheit der Zukunft wird der andere seiner historischen Subjekthaftigkeit beraubt und verliert mit der Zukunft auch seine Geschichte. Damit kann auch die Verantwortung für das, was geworden ist, an das Unweigerliche in der Entwicklung eines geistig Behinderten abgegeben werden. Das, womit man konfrontiert ist, wenn man geistig Behinderten mit massiven psychischen Störungen begegnet, ist so erschreckend und zuweilen unaushaltbar, dass man sich wünscht, niemand und nichts, was von Menschen gemacht ist, müsse dafür Verantwortung tragen. Was man sieht, darf nicht die Wirkung von Menschen sein und der, den man sieht, muss Werk Gottes[9], des Teufels[10] oder des Schicksals sein. Will man dem anderen seinen Status als Mensch samt seiner Würde erhalten, kommt man aber nicht umhin, in ihm die eigene Seinsmöglichkeit zu sehen, auch wenn sein Wesen oder sein Verhalten so befremden mag, dass man es als andersartig von sich weisen möchte. Erst wenn ihm menschliche Verarbeitungsweisen zugebilligt werden, werden Prozesse, die stattfinden oder stattgefunden haben, prinzipiell nachvollziehbar, der Empathie zugänglich.[11] Eine solche Haltung kann nicht herbei gezwungen oder angeordnet werden und wo sie nicht verinnerlicht ist, fehlt allem Folgenden die unabdingbare Authentizität in der Begegnung.

Es ist jedoch möglich, die zeitliche Folge umzudrehen und sich erst um Wissen zu bemühen, das dann die Haltung bestimmt. Der Preis für dieses Vorgehen ist, dass man oft in depravierende Lebensbedingungen und abgründige Lebensläufe blickt, vor denen sich erst die Logik der inneren Zerstörtheit erschließt. Der Lohn ist die Rehabilitation des anderen als Mensch, indem ihm seine Vernunft wiedergegeben wird. Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen, ob sie nun einer Behinderung oder einer Störung zugerechnet werden, werden zu aus dem Menschsein heraus verstandenen individuellen Antworten auf individuelle Erfahrungen. Lernen und Entwicklung geschieht ebenso im Austausch mit der Welt wie Lernhemmung oder Entwicklungsstörung. Die Unterscheidung zwischen Lernstörung, Lernbehinderung und geistiger Behinderung ist eine Nomenklatur, die sich der instrumentellen Messbarkeit des Intelligenzquotienten bedient, um Definitionen zu rechtfertigen. Ungeachtet möglicher Voraussetzungen, die angeboren oder so früh erworben sind, dass sie zu Dispositionen für psychische Erkrankungen werden, lässt sich aus der Definition nicht ableiten, ob zum Beispiel pädagogisch-therapeutische Maßnahmen oder psychiatrische Behandlungsformen einer Besserung zuträglich sind oder welche Beschulung die passende ist. Die Begriffe "behindert" und "gestört" sind für die Betreffenden unnütz und deshalb da abzulehnen, wo sie als Attribute verwendet werden, die darüber hinaus der Diversität der Symptome und ihrer Ausprägung nicht gerecht werden und so relativ geringe Aussagekraft haben.

Die meisten der nicht als "gestört" gekennzeichneten Menschen kennen von sich oder anderen aggressive, autoaggressive und destruktive Verhaltensweisen in Belastungs- oder Stresssituationen, das Bedürfnis nach stereotyper Autostimulation zum Spannungsabbau, Formen von Rückzugstendenzen in bedrückenden Momenten. Bis zu einem gewissen Grad sind solche Verhaltensweisen gesellschaftlich geduldet oder gar erwünscht. Wann das Verhalten im Sinne einer Störung als auffallend oder abweichend bezeichnet wird, hängt nicht nur vom Leidensdruck des Betroffenen ab, sondern auch davon, ab welchem Grad sich das umgebende System so gestört fühlt, dass es sich dadurch schützt, dass es die Störenden ausgrenzt, unsichtbar macht oder gar eliminiert. Ähnlich verhält es sich mit "Behinderung". Jeder Mensch fühlt sich zuweilen in seinen Entfaltungsmöglichkeiten behindert und in seinem Persönlichkeitsspielraum eingeschränkt. Das Prinzip, das hindernd Entgegenstehende zu überwinden, ist letztlich dasselbe, das Lernen und Entwicklung vorantreibt. Ein Säugling ist so hilflos, dass er darin, für sich selbst zu sorgen, noch sehr behindert ist. Ab welchem Grad die Behinderung das Leben so komplett und dauerhaft einschränkt, dass dieser Mensch eine eigene Bezeichnung verdient, ist Ermessenssache. Insofern wäre eine radikale Schlussfolgerung die, dass entweder alle Menschen behindert sind oder keiner.

Dass "behindert" zu einem Eigenschaftswort mit entsprechenden Zuweisungen geworden ist, liegt nicht am Begriff selbst, sondern an dem, was aus ihm mit der dargestellten Absicht insgeheim gemacht wurde. Spricht man von einer Verkehrsbehinderung, so verbindet sich damit ein Vorgang. Selten wird jemand, der auf Grund einer Verkehrsbehinderung im Stau steht, an seinem Auto zweifeln, obwohl äußerlich nicht zu unterscheiden ist, ob die Ursachen, warum es steht, in ihm oder außerhalb liegen. Da man den Verkehr als Ganzes und als Wirkungsgeflecht sieht, nimmt man sozusagen stillschweigend an, dass die Behinderung keine "endogenen" Ursachen hat. Um dem Topos der neusachlichen Verkehrsromane weiter zu folgen: Nimmt man Verkehrsformen als Sinnbild zwischenmenschlichen Verkehrs und diesen als basalen Baustein des Lebens, so müsste man sagen: Bei Menschen mit Behinderung ist zuvörderst nicht der Geist, sondern das Leben behindert. Viele ihrer erschütternden Lebensdramen sind in ihrem Kern soziale Verkehrsdramen. Der Begriff "Behinderung" ist zureichend, das Wesentliche zu erfassen, indem er die Aufmerksamkeit auf den behindernden Prozess lenkt und dem Tatbestand der Behinderung Kontingenz verleiht. Man könnte an ihm festhalten, wenn man sich sicher sein könnte, dass jeder, der von Behinderung spricht, assoziiert, dass Behinderung etwas ist, das stattfindet und dass es darum geht, wie man Behinderung vermeiden, andere an der Behinderung von Menschen hindern oder mit Behinderung aufhören kann. In diesem Sinn spreche ich weiter von "Behinderten". Für die Feststellung eines Hilfe- oder Förderbedarfs sowie bei Dokumentationen oder Übergabeprotokollen kann es notwendig sein, Menschen und Fälle zu beschreiben. Die Schilderung der Symptome und die Weitergabe von Erkenntnissen, die den biographischen und lebensweltlichen Kontext betreffen, sind aufwändiger, aber in jedem Fall aussagekräftiger als die Diagnose "geistige Behinderung".

Wenn es bisher um die soziale Dimension des Begriffs "Behinderung" ging, so soll es im Folgenden um reale "geistige Behinderung als soziale Konstruktion"[12] gehen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass Voraussetzungen wie hirnorganische Schädigungen oder Chromosomenaberrationen erschwerend dazu beitragen können, dass sich der Betroffene ohne besondere Hilfe so in der Welt verorten kann, dass die intellektuelle Entwicklung und die psychische Gesundheit nicht gefährdet sind. In diesen Voraussetzungen die primär wirkende Ursache für Lern- und Verhaltensstörungen zu sehen und dies als Behinderung zu bezeichnen, erleichtert die in diesen Fällen oft mühsame ätiologische Diagnostik, verkennt jedoch bewusst oder unbewusst das behindernde und psychische Folgeschäden verursachende Einwirken von Menschen oder menschlichen Strukturen, welches entsprechend von Menschen verantwortet werden muss.

Um sich die Welt lernend anzueignen, braucht es eine sinnstiftende Beziehung zu ihr, die spezifisch menschlich in sozialer Interaktion vermittelt werden muss. Kommt die Beziehung nicht zustande, verliert das Innerweltliche seine Verankerung in der Realität und es kommt zu Lern-, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Den zwischenmenschlich ablaufenden Prozess und Beziehungskonstellationen als Nährboden für psychische Erkrankungen zu sehen[13], verschiebt Störungen in den zwischenmenschlichen Bereich und weg vom Symptomträger. Störung und Behinderung werden zur Beziehungsstörung. Wenn soziale Kompetenz neben niedriger Intelligenz als Kriterium für die Etikettierung "geistig behindert" gebraucht wird[14], so muss die Frage erlaubt sein, auf welcher Seite die Kompetenz fehlt. Es besteht kein Grund, bei einer nicht geglückten Begegnung die Sozialkompetenz des Behinderten mehr anzuzweifeln als die des anderen Interaktionspartners. Es ist ein Zeichen von selbstunkritischer Arroganz, wie selbstverständlich soziale Defizite beim Behinderten auszumachen und nicht bei den Menschen, zu denen er sich in Beziehung setzen will. Ohne die passenden und kompetenten Bezugspartner ist es ihm unmöglich, sich als Teil der Welt zu empfinden und so in ihr zu reifen und zu gedeihen. Auch unter diesem Aspekt von Behinderung als sozialem Konstrukt böte das Wort "behindert" alle sprachlichen Voraussetzungen zur Beschreibung der Wirklichkeit, wäre es nicht seines Infinitivs "behindern" beraubt worden. Behindern bzw. Behinderung bezeichnet nicht nur, dass jemand etwas tut, sondern darüber hinaus auch, dass die Tätigkeit transitiv, also auf jemanden gerichtet ist, dem man etwas antut. Die Schwäche des Partizips "behindert", die darin liegt, dass - wird es isoliert - nicht zum Ausdruck kommt, ob Es ist jedoch möglich, die zeitliche Folge umzudrehen und sich erst um Wissen zu bemühen, das dann die Haltung bestimmt. Der Preis für dieses Vorgehen ist, dass man oft in depravierende Lebensbedingungen und abgründige Lebensläufe blickt, vor denen sich erst die Logik der inneren Zerstörtheit erschließt. Der Lohn ist die Rehabilitation des anderen als Mensch, indem ihm seine Vernunft wiedergegeben wird. Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen, ob sie nun einer Behinderung oder einer Störung zugerechnet werden, werden zu aus dem Menschsein heraus verstandenen individuellen Antworten auf individuelle Erfahrungen. Lernen und Entwicklung geschieht ebenso im Austausch mit der Welt wie Lernhemmung oder Entwicklungsstörung. Die Unterscheidung zwischen Lernstörung, Lernbehinderung und geistiger Behinderung ist eine Nomenklatur, die sich der instrumentellen Messbarkeit des Intelligenzquotienten bedient, um Definitionen zu rechtfertigen. Ungeachtet möglicher Voraussetzungen, die angeboren oder so früh erworben sind, dass sie zu Dispositionen für psychische Erkrankungen werden, lässt sich aus der Definition nicht ableiten, ob zum Beispiel pädagogisch-therapeutische Maßnahmen oder psychiatrische Behandlungsformen einer Besserung zuträglich sind oder welche Beschulung die passende ist. Die Begriffe "behindert" und "gestört" sind für die Betreffenden unnütz und deshalb da abzulehnen, wo sie als Attribute verwendet werden, die darüber hinaus der Diversität der Symptome und ihrer Ausprägung nicht gerecht werden und so relativ geringe Aussagekraft haben.

Die meisten der nicht als "gestört" gekennzeichneten Menschen kennen von sich oder anderen aggressive, autoaggressive und destruktive Verhaltensweisen in Belastungs- oder Stresssituationen, das Bedürfnis nach stereotyper Autostimulation zum Spannungsabbau, Formen von Rückzugstendenzen in bedrückenden Momenten. Bis zu einem gewissen Grad sind solche Verhaltensweisen gesellschaftlich geduldet oder gar erwünscht. Wann das Verhalten im Sinne einer Störung als auffallend oder abweichend bezeichnet wird, hängt nicht nur vom Leidensdruck des Betroffenen ab, sondern auch davon, ab welchem Grad sich das umgebende System so gestört fühlt, dass es sich dadurch schützt, dass es die Störenden ausgrenzt, unsichtbar macht oder gar eliminiert. Ähnlich verhält es sich mit "Behinderung". Jeder Mensch fühlt sich zuweilen in seinen Entfaltungsmöglichkeiten behindert und in seinem Persönlichkeitsspielraum eingeschränkt. Das Prinzip, das hindernd Entgegenstehende zu überwinden, ist letztlich dasselbe, das Lernen und Entwicklung vorantreibt. Ein Säugling ist so hilflos, dass er darin, für sich selbst zu sorgen, noch sehr behindert ist. Ab welchem Grad die Behinderung das Leben so komplett und dauerhaft einschränkt, dass dieser Mensch eine eigene Bezeichnung verdient, ist Ermessenssache. Insofern wäre eine radikale Schlussfolgerung die, dass entweder alle Menschen behindert sind oder keiner.

Dass "behindert" zu einem Eigenschaftswort mit entsprechenden Zuweisungen geworden ist, liegt nicht am Begriff selbst, sondern an dem, was aus ihm mit der dargestellten Absicht insgeheim gemacht wurde. Spricht man von einer Verkehrsbehinderung, so verbindet sich damit ein Vorgang. Selten wird jemand, der auf Grund einer Verkehrsbehinderung im Stau steht, an seinem Auto zweifeln, obwohl äußerlich nicht zu unterscheiden ist, ob die Ursachen, warum es steht, in ihm oder außerhalb liegen. Da man den Verkehr als Ganzes und als Wirkungsgeflecht sieht, nimmt man sozusagen stillschweigend an, dass die Behinderung keine "endogenen" Ursachen hat. Um dem Topos der neusachlichen Verkehrsromane weiter zu folgen: Nimmt man Verkehrsformen als Sinnbild zwischenmenschlichen Verkehrs und diesen als basalen Baustein des Lebens, so müsste man sagen: Bei Menschen mit Behinderung ist zuvörderst nicht der Geist, sondern das Leben behindert. Viele ihrer erschütternden Lebensdramen sind in ihrem Kern soziale Verkehrsdramen. Der Begriff "Behinderung" ist zureichend, das Wesentliche zu erfassen, indem er die Aufmerksamkeit auf den behindernden Prozess lenkt und dem Tatbestand der Behinderung Kontingenz verleiht. Man könnte an ihm festhalten, wenn man sich sicher sein könnte, dass jeder, der von Behinderung spricht, assoziiert, dass Behinderung etwas ist, das stattfindet und dass es darum geht, wie man Behinderung vermeiden, andere an der Behinderung von Menschen hindern oder mit Behinderung aufhören kann. In diesem Sinn spreche ich weiter von "Behinderten". Für die Feststellung eines Hilfe- oder Förderbedarfs sowie bei Dokumentationen oder Übergabeprotokollen kann es notwendig sein, Menschen und Fälle zu beschreiben. Die Schilderung der Symptome und die Weitergabe von Erkenntnissen, die den biographischen und lebensweltlichen Kontext betreffen, sind aufwändiger, aber in jedem Fall aussagekräftiger als die Diagnose "geistige Behinderung".

Wenn es bisher um die soziale Dimension des Begriffs "Behinderung" ging, so soll es im Folgenden um reale "geistige Behinderung als soziale Konstruktion"[15] gehen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass Voraussetzungen wie hirnorganische Schädigungen oder Chromosomenaberrationen erschwerend dazu beitragen können, dass sich der Betroffene ohne besondere Hilfe so in der Welt verorten kann, dass die intellektuelle Entwicklung und die psychische Gesundheit nicht gefährdet sind. In diesen Voraussetzungen die primär wirkende Ursache für Lern- und Verhaltensstörungen zu sehen und dies als Behinderung zu bezeichnen, erleichtert die in diesen Fällen oft mühsame ätiologische Diagnostik, verkennt jedoch bewusst oder unbewusst das behindernde und psychische Folgeschäden verursachende Einwirken von Menschen oder menschlichen Strukturen, welches entsprechend von Menschen verantwortet werden muss.

Um sich die Welt lernend anzueignen, braucht es eine sinnstiftende Beziehung zu ihr, die spezifisch menschlich in sozialer Interaktion vermittelt werden muss. Kommt die Beziehung nicht zustande, verliert das Innerweltliche seine Verankerung in der Realität und es kommt zu Lern-, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Den zwischenmenschlich ablaufenden Prozess und Beziehungskonstellationen als Nährboden für psychische Erkrankungen zu sehen[16], verschiebt Störungen in den zwischenmenschlichen Bereich und weg vom Symptomträger. Störung und Behinderung werden zur Beziehungsstörung. Wenn soziale Kompetenz neben niedriger Intelligenz als Kriterium für die Etikettierung "geistig behindert" gebraucht wird[17], so muss die Frage erlaubt sein, auf welcher Seite die Kompetenz fehlt. Es besteht kein Grund, bei einer nicht geglückten Begegnung die Sozialkompetenz des Behinderten mehr anzuzweifeln als die des anderen Interaktionspartners. Es ist ein Zeichen von selbstunkritischer Arroganz, wie selbstverständlich soziale Defizite beim Behinderten auszumachen und nicht bei den Menschen, zu denen er sich in Beziehung setzen will. Ohne die passenden und kompetenten Bezugspartner ist es ihm unmöglich, sich als Teil der Welt zu empfinden und so in ihr zu reifen und zu gedeihen. Auch unter diesem Aspekt von Behinderung als sozialem Konstrukt böte das Wort "behindert" alle sprachlichen Voraussetzungen zur Beschreibung der Wirklichkeit, wäre es nicht seines Infinitivs "behindern" beraubt worden. Behindern bzw. Behinderung bezeichnet nicht nur, dass jemand etwas tut, sondern darüber hinaus auch, dass die Tätigkeit transitiv, also auf jemanden gerichtet ist, dem man etwas antut. Die Schwäche des Partizips "behindert", die darin liegt, dass - wird es isoliert - nicht zum Ausdruck kommt, ob jemand behindert wird oder behindert wurde, wird zu einer Stärke bei einer differenzierten Sicht auf den zeitlichen Verlauf der Schädigung. In beiden Fällen ist "behindert" die passive Form von "behindern", zu Deutsch die Form des Leidens und des Duldens. Erleiden, Erdulden und Passivität kennzeichnen dabei nicht nur eine Verbform, sondern die Lebensform vieler geistig und seelisch behinderter Menschen.

"Ein Gewaltverhältnis wirkt auf einen Körper, wirkt auf Dinge ein: es zwingt, beugt, bricht, es zerstört: es schließt alle Möglichkeiten aus; es bleibt ihm kein anderer Gegenpol als der der Passivität." [18]



[2] vgl. Wendeler 1993, 140

[3] vgl. Theunissen 2005, 49f.

[4] vgl. Theunissen 2005, 11

[5] vgl. Cloerkes 2001, 8-10

[6] vgl. Cobus-Schwertner 1998, 40

[7] Feuser 1996

[8] Theunissen 2005, 245

[9] Schon die Jünger fragen: "Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?" (Johannes 9, 2) Die Antwort Jesu sei der Vollständigkeit halber dazu gefügt: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern" (Johannes 9, 3).

[10] "Da ist denn der Teufel in solchen Wechselbälgen als ihre Seele" (Luther, Tischrede 5207). Zit. In: Honecker 1995, 125

[11] vgl. Theunissen 2005, 20

[12] Jantzen 1999, 205

[13] vgl. Bauer 2007, 10

[14] vgl. Wendeler 1993, 11.

Seit 1973 definiert die American Association on Intellectual and Developmental Disabilities geistige Behinderung durch das Doppelkriterium der Beschränktheit von "intelectual functioning" und "adaptive behavior".

[15] Jantzen 1999, 205

[16] vgl. Bauer 2007, 10

[17] vgl. Wendeler 1993, 11.

Seit 1973 definiert die American Association on Intellectual and Developmental Disabilities geistige Behinderung durch das Doppelkriterium der Beschränktheit von "intelectual functioning" und "adaptive behavior".

[18] Foucault 1994, 254

2. Kapitel: Wesen und Wirkung von Gewalt

2.1. Die Achse Trauma - Stress - Angst im Licht der Neurobiologie

Oft prägen Persönlichkeitsmerkmale wie Passivität und Zurückgezogenheit kombiniert mit Verhaltensmerkmalen wie Stereotypien derart das Erscheinungsbild der Gruppe der als geistig behindert eingestuften und behandelten Menschen, dass es nahe liegt, diese als personeninhärente Wesensmerkmale zu sehen und ihren pathologischen Charakter zu übersehen. Nähert man sich dem Phänomen der psychischen Störungen bei geistig Behinderten mit derselben Unvoreingenommenheit und Sorgfalt wie bei Nichtbehinderten und betrachtet man die Störungen isoliert von der Behinderung, so stellt man fest, dass sich die Störungsbilder im Wesentlichen gleichen, was eine differenzierte Doppeldiagnose, wie sie im angelsächsischen Raum verbreiteter ist[19], notwendig macht. Die Zahlen der Prävalenz seelischer Störung sind je nach Studie wie gesagt erheblich voneinander abweichend.[20] Neben dem erwähnten Erkenntnisinteresse, uneinheitlichen Definitionen und unterschiedlichen Methoden ist auch zu berücksichtigen, dass diesem Forschungsfeld erst seit kurzem überhaupt Bedeutung zukommt[21], was etwas über die zugemessene Wertigkeit von Behinderten aussagt. Ich will weitgehend auf Zahlen verzichten und stattdessen drei Punkte festhalten, die als gesichert gelten können. Erstens: Geistig Behinderte können alle psychischen Krankheiten ausbilden wie Nichtbehinderte. Zweitens: Geistig Behinderte erkranken daran häufiger als nicht geistig Behinderte. Drittens: Je schwerer der Grad der Behinderung ist, desto massiver werden die Störungen.[22] Gerade Letzteres verleitet zu der Vermutung, dass zwischen geistiger Behinderung und seelischer Störung ein ursächlicher Zusammenhang besteht.[23] Dieser Schluss ist nicht zwingend. Gelten für Behinderte dieselben Gesetze wie für Nichtbehinderte, das heißt, gesteht man ihnen menschliche Verarbeitungsweisen zu, dann ist logischer, daraus zu schließen, dass die Auslöser für die Erkrankung bei beiden Gruppen dieselben sind und dass Behinderte häufiger und heftiger mit solchen Auslösern zu tun haben. Die Behinderung kann nur dann weiter als Auslöser gelten, wenn damit gesagt ist, dass dieselben Dinge, die einen Menschen behindern, ihn krank machen oder wenn betont werden soll, dass es einen Menschen krank macht, wenn er behindert wird. Geistig Behinderte leiden vermehrt an Depressionen, haben Angststörungen und dissoziative Störungen, zeigen häufig hyperaktives, stereotypes, aggressives, autoaggressives und destruktives Verhalten. Selten treten diese Störungen allein auf. Komorbidität betrifft oft das Trias Fremdverletzung, Selbstverletzung und Destruktivität.[24]

In ihrem Kern sehe ich die genannten Störungsbilder als einen Ausdruck von Lebensfeindlichkeit. Sie stehen für die Antwort "Nein" auf das, was die Welt und die Menschen ihnen bietet. Jene gerät in einen solchen Widerspruch zu dem eigenen Selbst mit seinen Wünschen und Erwartungen, dass der Kampf um Ausgleich ein zerstörerischer ist. Wendet er sich nach außen, so zeigt er sich in fremdaggressivem und destruktivem Verhalten. Wendet er sich nach innen, wird dem Selbst in Form von Autoaggressivität Gewalt angetan, um sich mit einer Wirklichkeit in Einklang zu bringen, die es anders nicht zulässt. In der Depression verbirgt sich ein resignierendes Nein zur Welt und zu sich selbst. Stereotypien und Automatismen blenden die Welt aus, indem sie die Zeit anhalten. Selbstbezogenheit und autistische Verhaltensmuster sind der Rückzug aus der unpassenden und ängstigenden Welt, während Hyperaktivität ein verzweifeltes Ringen darum ist, doch noch an der Welt Halt und Bindung zu finden. Auslösende Umweltfaktoren mitgedacht wird aus Hilflosigkeit "Erlernte Hilflosigkeit"[25], aus Zurückgezogenheit die Antwort auf isolierende Bedingungen, in Teilnahmslosigkeit spiegelt sich die verwehrte Teilhabe und aus Sprachlosigkeit wird ein Verstummen angesichts der Wirkungslosigkeit von Willensäußerungen. Um die Symptome den Auslösern zuordnen zu können, ist es hilfreich, Überlegungen heranzuziehen, wie Erfahrungen psychisch schädigen und wodurch. Denn im Gegensatz zur körperlichen Schädigung wirkt die psychische Schädigung genau genommen nicht direkt, sondern dadurch, wie eine Erfahrung erlebt und verarbeitet wird.

Am deutlichsten lässt sich der Wirkungszusammenhang am Ereignis der Traumatisierung zeigen, da hier mit einem Mal jeder Kontakt zur Welt, wie man sie kannte oder wie man sie sich wünscht abreißt. Entsprechend gravierend können die psychischen Folgen sein. Zwei Komponenten treffen im Trauma zusammen: die als existentiell gefährdend erlebte Situation und das gleich-zeitige Erleben der absoluten Ausweglosigkeit.[26] Ich rede bewusst umständlich vom Erleben, da die zerstörerische Wirkung davon ausgeht, wie sich eine Situation im Bewusstsein des Einzelnen abbildet. Ein Außenstehender mag sowohl den Grad der Gefährdung als auch das Ausmaß der Hilflosigkeit völlig anders beurteilen. Seine Meinung ist jedoch für das Ausmaß der Schädigung belanglos, es sei denn, sie trägt zur Beruhigung des Betroffenen bei. Im Moment des Traumas erscheinen alle Auswege versperrt: Es ist nicht möglich, die Situation zu ändern. Es besteht keine Möglichkeit zu fliehen. Und es ist keiner da, der helfen kann. Das Erlebnis der Isolation spielt bei Traumatisierung eine wesentliche Rolle. Generell sind die Traumata, in denen andere Menschen eine Rolle spielen, solche, die am schwierigsten zu bewältigen sind und die die schlimmsten psychischen Schäden verursachen.[27] Besagte Rolle kann darin bestehen, dass der Verlust eines anderen Menschen oder die Angst davor das Selbst existentiell gefährdet, darin, dass die Gefährdung von einem anderen Menschen ausgeht, was zum Beispiel bei Folterung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch der Fall ist, oder gar darin, dass beides eine Rolle spielt, wie im Fall von Isolationsfolter oder sexuellem Missbrauch durch Angehörige. Sind bei der Traumatisierung andere Personen am Werk, handelt es sich also um ein man-made-desaster, so liegt es nahe, von Gewalt zu sprechen.

Da sich Pädagogik u.a. um das Wohl von Menschen kümmert, die behindert oder gestört werden oder davon bedroht sind, empfiehlt es sich auch bei der Definition von Gewalt, mit der die Pädagogik operieren kann, die Opferperspektive einzunehmen. Fasst man den Gewaltbegriff zu weit, wird jede Einflussnahme zu einem Gewaltakt und liefert den Tätern Gründe für die Rechtfertigung von Gewalt. Fasst man ihn zu eng, klammert man Formen der nicht auf den ersten Blick sichtbaren Gewalt aus und spielt so ebenfalls den Gewalttätern in die Hände. Der "Gebrauch von physischer Kraftanwendung"[28] als Definitionsgrundlage lässt psychische Gewalt unberücksichtigt. Würde man als Hauptkriterium von Gewalt die Handlung[29] sehen, würde man das Androhen von Gewalt ausklammern. Legte man das Hauptaugenmerk auf den Aspekt des Zwanges[30], bzw. der Unfreiwilligkeit, so wäre gegenüber Menschen, die ihren Willen nicht, noch nicht oder nicht mehr erklären können, Gewalt entschuldbar. Legt man der Gewalt grundsätzlich den Vorsatz der Schädigung[31] zu Grunde, so wäre Unwissenheit ein Rechtfertigungsgrund. Im Rahmen der Sozialwissenschaften muss Gewalt so bestimmt werden, dass das Gewaltverbot, das für die Erziehung gültig ist und sich generell aus der Unverletzlichkeit der Menschenwürde ergibt, keine Illusion ist. Im Sinne des Opferschutzes empfiehlt es sich, Gewalt an ihrer Wirkung fest zu machen und so induktiv das Vorhandensein von Gewaltelementen nachzuweisen. Theunert schreibt: "Gewalt (...) ist die Manifestation von Macht und/oder Herrschaft mit der Folge und/oder dem Ziel der Schädigung von einzelnen oder Gruppen von Menschen."[32] Erstes Bestimmungskriterium für Gewalt ist die "bei dem oder der Betroffenen feststellbare Folge, die durch Gewalt bewirkte Schädigung."[33] Das bedeutet auch, dass jede Form von Gewalt schädigt, sofern man bei dem Begriff Gewalt die Ohnmachtssituation des Opfers konnotiert[34]. Denn kann man sich gegen Gefährdung erfolgreich wehren, kann genau das Gegenteil einer Schädigung eintreten.

Das Wechselspiel von Gefahr, Stress und Bewältigungskompetenz und seine Relevanz für die Bestimmung von Gewalt werden deutlich, wenn man den Mechanismus neurophysiologisch betrachtet. Nicht jede belastende oder als Gefährdung empfundene Situation löst eine traumatische Reaktion aus. Der Mensch ist wie die meisten Lebewesen mit Möglichkeiten ausgestattet, sich gegen Gefahr erfolgreich zu wehren oder sie auf andere Art abzuwenden. Aggression, Flucht, Tarnung bzw. Verstecken sind Verhaltensweisen, die die eigene Existenz und die der eigenen Gattung sichern sollen. Dem Menschen hilft dabei die Stressreaktion.[35] Reize von außen oder vom eigenen Körper werden daraufhin analysiert, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht. Hierzu werden die sensorischen Informationen der aktuellen Situation auf neuronalem Wege mittels elektronischer Impulse und hormoneller Stoffe, die als Transmitter fungieren, mit den Informationen verglichen, die im Erinnerungsgedächtnis abgespeichert sind. Zu lokalisieren ist dies vermutlich im Hippocampus, der dem limbischen System zugeordnet wird. Der Weg zur ebenfalls dort ansässigen Amygdala, dem wichtigsten emotionalen Gedächtnisträger ist kurz und gut ausgebaut. Besteht ein gewisses Maß an Übereinstimmung des Neuen mit dem erinnerten Gefahrerlebnis, so schlägt das auf Grund seiner Form auch mit dem Namen "Mandelkern" bezeichnete Organ Alarm und setzt eine Stressreaktion in Gang. Botenstoffe, insbesondere Glutamat aktivieren Notfallgene, die in kürzester Zeit Hypothalamus und Hirnstamm dazu bewegen, ihrerseits den Körper so in Spannung zu versetzen, dass er gewappnet ist, die Situation erfolgreich zu meistern oder zumindest unbeschadet zu überstehen. Gelingt dies, so wird die Stressreaktion zurückgefahren und die Situation als zu meisternde im emotionalen Gedächtnis gespeichert. Dies ist ein alltäglicher Mechanismus, der letztendlich die adaptive Fähigkeit und damit die menschliche Möglichkeit, sich auf Neues einzustellen, kennzeichnet. Wird die neue Situation als besonders gefährdend bewertet, ist die Aktivierung der Stressachse entsprechend massiv und der gesamte Organismus wird darauf eingestellt, mit einer besonderen Anstrengung kämpfend, fliehend oder um Hilfe rufend zu reagieren.

Im Fall eines Traumas ist diese Reaktion erfolglos.[36] Oft ist der einzige und letzte Ausweg aus dem Unaushaltbaren die Flucht des Bewusstseins, das den Körper zurücklassen muss. Das bedeutet Bewusstlosigkeit oder durch den Ausstoß von körpereigenen Endorphinen ein geistiges Heraustreten aus dem Leib in Form von Dissoziation, Depersonalisation oder Derealisation. Die Wirkung von Endorphinen ähnelt der von opiumartigen Substanzen. Das Prinzip, durch Manipulation das Bewusstsein für eine gewisse Zeit so zu ändern, dass man die Wirklichkeit besser aushält, ist den meisten Menschen ebenso bekannt wie die Sogwirkung, die solche Erlebnisse ausüben können. Dissoziation stellt eine körpereigene Notlösung dar für den Fall, dass weder der eigene Wille noch die eigene Tätigkeit Einfluss auf eine Bedrohung haben. Seelische Ereignisse im Todeskampf und Nahtoderfahrungen weisen auf Wirkungen desselben Mechanismus hin. Man wird der Bedeutung des Traumas nur gerecht, wenn man vom Erleben des Opfers ausgeht und um dessen Todesangst weiß. Dass die Leib-Seele-Einheit auseinandergerissen wird, ist - sofern das Trauma überlebt wird - eine so "gewaltige" Störung und Zerstörung des Selbst, indem durch die Trennung beides, Leib und Seele, gefährdet ist, dass sich der gesamte Vorgang in die innersten Strukturen des Gedächtnisses einbrennt. Gespeichert wird nicht nur die Situation als Referenz für die Bewertung des Neuen, sondern auch das Erlebnis der Wirkung und der Mechanismus, der abgelaufen ist. Die Erinnerung droht als Flashback wiederzukehren, die Amygdala kann sich nicht mehr beruhigen und ist so für den Alarmzustand sensibilisiert, dass es zur dauernden Erhöhung des Stresspegels kommt. Erlebnisse von Dissoziation neigen dazu, sich zu wiederholen, begleitet von der Angst, nicht mehr zu sich selbst zurückzufinden. Selbstverletzendes Verhalten erscheint als letzter Weg, im eigenen Tun die Einheit von Körper und Bewusstsein ansatzweise spürbar wiederherzustellen. Die selbst zugefügten Wunden und Narben am Körper sind die Spuren psychischer Verletztheit, eben so, wie sie sich im Gedächtnis als Gedächtnisspuren abbilden. Auch dieses Abbild hat Körperlichkeit in Form von Gehirnstrukturen. Insofern ist das Bild von einer Narbe nicht nur sinnbildlich zu verstehen:

"An impression may be so exciting emotionally as almost to leave a scar upon cerebral tissue." [37]

Es gehört zum Prinzip der Funktionsweise des Gehirns, dass der Gebrauch von Nervenzellverbindungen diese festigt. Dies geschieht durch Verstärkung der Dendriten und Axone bei Benutzung und durch strukturelle Verstärkung der nervenzellverbindenden Synapsen.[38] Der Zusammenschluss zu starken Zellverbänden bis zu Netzwerken sichert schnelle und zuverlässige Abläufe und Reaktionsketten. In Gefahrensituationen ist die Reaktion besonders wichtig. Deswegen werden negative Ereignisse und die entsprechende Reaktion besonders gut gespeichert. Entscheidend für die Stärkung der Strukturen ist die Menge an freigesetzten Transmittern. Ein heftiges Erlebnis hat ähnliche Folgen wie ein auf vergleichbare Weise, aber niederschwelliger sich oft wiederholendes Erlebnis. Viele kleine Frustrationserlebnisse in vergleichbaren Situationen mögen so für die Bewertung einer Bewältigungsaufgabe und die Reaktion darauf dieselbe Wirkung haben wie ein einmaliges Erlebnis kompletter Ohnmacht. Wiederholung kann auch Erinnerung, einschießende Erinnerung oder gar Wiederholung der traumatisierenden Situation, wie im Fall des wiederholten sexuellen Missbrauchs sein. Als besonders hartnäckig erweisen sich Reaktionsmuster, die in der frühen Kindheit erworben wurden, da das Wachstum und die Verschaltung der Nervenzellen in diesem Stadium den Höhepunkt ihrer Aktivität haben.[39] Deshalb sind positive und negative Erlebnisse in dieser Phase in besonderer Weise für die Bewertung von Neuem lebenslang wesentlich prägend. Die Folge der Speicherung von Gefahrmomenten für das Leben wie für das Selbst in seiner Gesamtheit einschließlich der Gefühle und Reaktionen ist gut für das Überleben, kann aber fatal für die Psyche sein. Unter Umständen genügt eine geringe Menge an Reizen, die dasselbe Profil aufweisen wie die, die zum erlebten Trauma passen, um die gesamte katastrophische Reaktionskette auszulösen.

Aus Stress wird Angst. Je weniger Situationen als ungefährlich bewertet werden können, desto mehr kann das Leben speziell nach einem unbehandelten Trauma von Angst und Vermeidung geprägt sein. Absturz des Selbstwertgefühls und Depression folgen und können als Stresserkrankungen gesehen werden, die möglicherweise auf ein Trauma hindeuten, das möglicherweise Gewalt beinhaltet. "Wie wir noch sehen werden, hat der Verlust des Selbstwertgefühls am Beginn einer Depression meist verborgene Ursachen, die auf zum Teil weiter zurückliegenden zwischenmenschlichen Beziehungen beruhen. Das Gefühl, nichts mehr wert zu sein, bedeutet maximalen Stress."[40] Die Folgen einer unverarbeiteten oder fortdauernden Traumatisierung durch Gewalt, die sich sekundär ergeben können, sind u.a. Hyperaktivität, dissoziative Störungen, Borderline-Störungen, Bindungsängste, angstbedingte Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen[41]. Dem Kontinuum dieser Entwicklung folgend, befinden sich auf derselben Achse Lernhemmung, Lernstörung, Lern-behinderung und geistige Behinderung als chronifizierte Form der traumatisierenden Gewalteinwirkung. Das bedeutet, dass geistige Behinderung auf Gewalterfahrung zurückgeführt werden kann.[42] Jantzen formuliert die starke These: "Gewalt ist der verborgene Kern von geistiger Behinderung."[43]

Dieser Umkehrschluss ist argumentativ zwar problematisch, wird aber dadurch immer richtiger, dass man den Nachweis erbringt, dass dort, wo geistig behinderte Menschen leben, viel Gewalt vorkommt, oder dadurch, dass man eine Vielzahl von Fällen aufdeckt, in denen geistig behinderte Menschen Gewalt erlitten haben. Wenn einem Symptom mehrere Ursachen zugeordnet werden können, so ist es eine Sache der Wahrscheinlichkeit, mit der Festlegung einer Ursache einen Treffer zu landen. Einfacher und sicherer wäre es, man würde den Auslöser kennen und könnte ihm die kurzfristig und langfristig beobachtbaren Folgen zuweisen. Nur dann "ist das Kind schon in den Brunnen gefallen". Die Gedanken darüber sind nur bedingt wertvoll, da das epistemische Ziel lediglich die Bestätigung des Bekannten ist, was sicherlich auch wichtig ist, was aber dem Opfer höchstens indirekt nützt. Wenn Gewalt im Spiel sein könnte, sollte ihr als einer anzunehmenden Ursache für seelisches Leiden ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden. Sie trifft ihre Opfer mit so zerstörerischer Wucht und kann dabei so unbemerkt agieren oder sich in Lebensläufen unentdeckt verbergen, dass man nach ihr gezielt suchen muss. Deuten Symptome auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit auf Gewalterfahrung hin, ist es geradezu eine humanistische Pflicht, nachzuweisen, dass Gewalt nicht vorliegt oder sie zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Es ist nachhaltiger, Ursachen zu ändern als die Folgen zu bekämpfen. Tritt der Aspekt der Prävention hinzu, wird nicht nur das Aufspüren von Gewalt, sondern auch der Nachweis von Gewaltelementen und Gewaltrisiken zu einer Aufgabe der ersten Wahl für alle, die sich um das Wohl von Menschen sorgen. Im Zusammenhang mit Lebensweltorientierung werde ich darauf zurückkommen und beende den Exkurs über die beiden Richtungen der Argumentation mit einem Beispiel, bei dem es leider um hohe Prozentzahlen geht. Bauer schreibt, dass "45-65 Prozent der Opfer von Vergewaltigung oder schwerer körperlichen Misshandlung eine posttraumatische Belastungsstörung zurück(behalten)."[44] An anderer Stelle wird vom Symptom ausgegangen: "Der Anteil unter den Borderline-Patienten, die von schweren Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch betroffen waren, liegt nach den Angaben verschiedener großer Studien bei 70 Prozent bis zu über 90 Prozent."[45] Beim ersten Beispiel geht es darum, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand erkrankt, beim zweiten darum, was der Erkrankte wahrscheinlich erlebt hat. Die Zahlen machen deutlich, dass sowohl der Schluss vom Auslöser zum Symptom als auch der vom Symptom zum Auslöser seine Berechtigung hat. Wenn geistig behinderte Menschen die Symptomatik von PTBS oder Borderline-Störung zeigen und wenn man ihnen das Recht auf externe Auslöser zubilligt, so muss die Möglichkeit der Misshandlung und der Gewalterfahrung mitgedacht werden. Valerie Sinason, die in der Londoner Travistock Clinic zahlreiche Patienten betreut, auf die die Doppeldiagnose der geistigen Behinderung mit emotionalen Störungen zutrifft, schreibt, "dass 70% aller behinderten Kinder, die zu uns überwiesen wurden, missbraucht worden sind oder Verdacht auf Missbrauch bestand. 40% aller behinderten Erwachsenen, die zu uns kamen, sind missbraucht worden. Andere Autoren haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass behinderte Kinder unter den Fällen körperlicher Misshandlung überrepräsentiert sind".[46]

Gelingt es, vor allem auf die geistig behinderten Menschen weiblichen Geschlechts bezogen, die ähnliche Symptome zeigen wie missbrauchte Frauen/Mädchen ohne geistige Behinderung, in deren Erfahrungswelt überhaupt vorzudringen, so finden sich ebenso häufig wie bei jenen Fälle von Misshandlung, Missbrauch oder extremer Vernachlässigung. Aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten mag die Dunkelziffer bei behinderten Menschen noch höher sein als ohnehin. Das vermehrte Auftreten der genannten Krankheitsbilder deutet also nicht etwa darauf hin, dass Behinderte in besonderer Weise erkranken, sondern darauf, dass sie im besonderem Maß gefährdet sind, Opfer von Gewalt, Misshandlung und Missbrauch zu werden.

Letzteres bezog sich nun auf schwerste Gewalt. Wie beschrieben, kann Gewalt Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Störungen sein. Deshalb kann sie als ein Faktor für psychisches Erkrankungsrisiko gelten, wobei das Ausmaß der Gewalt mit dem Ausmaß der Erkrankung zusammenhängt. Die Korrelation von Gewalt und Schädigung lässt sich dann direkt in Verbindung mit der Korrelation von Schwere der Störung und Grad der Behinderung[47] bringen, wenn man Behinderung als einen Akt der Gewalt beschreibt. In der Definition von Klein, nach der "Behinderung das Einschränken des individuellen Bewegungsraumes eines Menschen durch das Einwirken anderer und gegen den Willen des betroffenen Menschen (ist)"[48], ließe sich das Wort Behinderung problemlos durch "Gewalt" oder "Unterdrückung" ersetzten. Die Korrelation kann auch Indiz für vermehrte Konfrontation mit Gewalt sein[49]. Erhöhtes Gewaltaufkommen beziehe ich dabei sowohl auf den einzelnen Behinderten als auch auf die Gruppe der Behinderten als Grundgesamtheit. Ein dritter Faktor, der für das erhöhte Maß der Schädigung in Betracht kommt, ist eine erhöhte Vulnerabilität durch die im Bewusstsein veränderte Bewertungsgrundlage dafür, was wie gefährlich ist. Hier komme ich wieder auf das Thema der Speicherung von Erlebnissen im Erinnerungszentrum des Gehirns zurück.

Wieviel Stress ein Ereignis verursacht, ist immer im Verhältnis zwischen Situation und Bewältigungsmöglichkeiten zu sehen. Im Fall von schwerer Gewalt gibt es in dem Augenblick des Geschehens keine ausreichende Bewältigungskompetenz, wodurch sie zum Trauma wird.[50] Der Stressfaktor anderer Situationen, die bewältigt werden wollen, zum Beispiel Prüfungen, ist dagegen entscheidend davon abhängig, wie Aufgabe und Können zusammenpassen. Lernen und die Erinnerung an erfolgreiches Handeln bei ähnlichen Aufgaben reduziert Stress und erhöht die Chance der Bewältigung. Dies ist zwar eine Binsenweisheit, soll jedoch hinweisen auf die Bedeutung von Selbstbewusstsein und abgespeicherten Vorerfahrungen für alle problematischen Lebenssituationen, die ein reaktives Handeln verlangen. Mangelnde Bewältigungskompetenz als Schlüsselfaktor für Stresskrankheiten wird bei solcher Betrachtung zur Summe von Vorerfahrungen. Schädigen sie das Selbstbewusstsein, so verursachen sie nicht nur direkt, sondern auch indirekt auf längere Sicht hin Stress- und Störungsanfälligkeit. Wenn diese schädlichen Erfahrungen auf menschliches Tun zurückzuführen sind, so ist dies als indirekte Gewalt zu bezeichnen. Gewalt ist also nicht nur, wenn eine gefährdende Situation geschaffen wird, sondern auch, wenn das Bewusstsein so beeinflusst wird, dass Selbstvertrauen und damit Bewältigungskompetenz als Basis von geistiger und seelischer Entwicklung herabgesetzt werden. Galtung bestimmt ähnlich wie Theunert Gewalt aus der Opferperspektive, also über ihre Wirkung:

"Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist, als ihre potentielle Verwirklichung." [51]

2.2. "Erlernte Hilflosigkeit"

Wie aus Stress Angst wird, so wird aus dem Erlebnis von Unkontrollierbarkeit das Bewusstsein von Hilflosigkeit. Man kann diese unheilvolle Metamorphose neurophysiologisch "Speicherung" oder psychologisch "Lernen" nennen. Was bleibt, ist Angst und "Erlernte Hilflosigkeit"[52].

Hinsichtlich des Verlustes von Bewältigungskompetenz beschäftigt sich Martin Seligman mit der Frage, wie das Erlebnis von Unkontrollierbarkeit zum Wissen um Hilflosigkeit wird und dieses wiederum hauptverantwortlicher Faktor bei der Entstehung zahlreicher seelischer Erkrankungen ist. Dieses Kausalitätsverhältnis ist explizit für den Behindertenbereich bedeutend. Nicht nur als "H" im Ausweis wird Hilflosigkeit bei vielen geistig Behinderten zum Identitätsmerkmal stilisiert. Seligmans Betrachtungsweise macht es möglich, die gleichermaßen prominente Persönlichkeitseigenschaft der Passivität mit dieser Hilflosigkeit in einen Zusammenhang zu bringen und so zu vermeiden, dass depressives Verhalten völlig konträr zum eigentlichen Kern als Ausdruck von Ruhe und Zufriedenheit missdeutet wird. Insbesondere im institutionalisierten Bereich gewährleistet Ruhe auf kurze Sicht hin einen reibungsloseren Arbeitsalltag als Lebhaftigkeit. Hier ist also die Gefahr besonders groß, dass depressive Anteile verkannt werden, und "ruhig" als willkommene Charaktereigenschaft auch dort angenommen wird, wo sie Ausdruck einer erworbenen Hoffnungslosigkeit dahingehend ist, dass eigenes Tun Wirkung haben kann. Ohne der Suche nach Gewaltelementen im behinderten Leben zu weit vorzugreifen zu wollen, behaupte ich, dass Behinderte so oft mit Erlebnissen konfrontiert sind, bei denen das, was auf sie trifft, unkontrollierbar ist, dass der Aspekt der erlernten Hilflosigkeit wesentlich dazu beitragen kann, dass eine Erklärung für das vermehrte Auftreten von Depression bei Behinderten gefunden wird. Mit Seligmans Augen wird es unmöglich, Passivität und Hilflosigkeit weiterhin als unvermeidbare Naturphänomene im Leben von Behinderten zu sehen.

Entsprechend der Ausdrucksweise der Lerntheoretiker beschreibt Seligman Hilflosigkeit als "Reaktionsunabhängigkeit."[53] Wenn man in einer Situation reagiert, um sie zu beeinflussen, sei es, dass man etwas Angenehmes will oder etwas Unangenehmes vermeiden will, und man erfährt, dass das eigene Tun keinen Einfluss darauf hat, was tatsächlich geschieht, erlebt man die Situation als unkontrollierbar und sich selbst als hilflos. "Ein Individuum oder ein Tier sind hilflos gegenüber einer Konsequenz, wenn diese unabhängig von allen ihren willentlichen Reaktionen eintrifft."[54]Seligman schöpft seine Erkenntnisse aus der Beobachtung von Menschen und Experimentieren mit Tieren. Bei Experimenten am Menschen wurde auf Freiwilligkeit geachtet.[55] Ein Tier kann lernen und demonstrieren, wie Auslöser wirken. Auf die Problematik der Übertragbarkeit auf den Menschen will ich hier nicht näher eingehen.[56] Trotz berechtigter Einwände halte ich es für hilfreich, tierisches Verhalten zu beobachten, eben weil diese lernfähig sind. Wenn Menschen ihres Willens und ihrer Willenskraft beraubt und so ihrer selbst entfremdet wurden, sind sie Konditionierungen ebenso hilflos ausgeliefert wie Tiere.

Wenn ein unkonditionierter Hund, der von Seligman "naiv"[57] genannt wird, immer wieder Stromschlägen ausgesetzt wird, so versucht er eine Zeit lang, sie zu vermeiden und reagiert mit Fluchtverhalten. Wenn er erfährt, dass er mit seiner Reaktion die Stromstöße nicht beeinflussen kann, verliert er die Motivation, ein Verhalten zu zeigen. Er hört auf hin und her zu rennen, legt sich nieder und winselt vor sich hin. Im nächsten Durchgang hört er schon nach wenigen Sekunden auf zu toben, legt sich in eine Ecke und lässt die Stromschläge passiv über sich ergehen.[58] Fatalerweise ist dieses Ereignis so prägend, dass er mit der Zeit auch in aussichtsreichen und objektiv kontrollierbaren Situationen keine Motivation mehr zeigt.[59] Sogar wenn die Situation eine völlig andere ist, ist das "Hundebewusstsein" so von Hilflosigkeit geprägt, dass die Bereitschaft, auf einen Reiz aktiv zu reagieren, generell herabgesetzt ist. Auch für den Menschen glaubt Seligman, "dass das, was in einer unkontrollierbaren Umgebung gelernt wird, tiefgreifende Konsequenzen für das gesamte Verhaltensrepertoire hat."[60]

Die Emotion, die den Zustand der Hilflosigkeit begleitet, ist nach der Meinung von Seligman[61] Depression.[62] Jeder hat wohl am eigenen Leib schon erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man etwas will und dies deutlich macht oder entsprechend handelt, um dann festzustellen, dass weder der eigene Wille noch Reden oder Tun irgendeinen Einfluss darauf hat, dass sich die Situation so ändert, wie man es sich wünscht. Der Zustand der Ohnmacht, der dem der Hilflosigkeit gleicht, ist per se ein als gefährdend empfundener. Tritt das Ereignis tatsächlich ein, in dem die Machtlosigkeit schädigende Wirkung hat, wird die Angst zunehmen und zum ständigen Begleiter des Wissens um Unkontrollierbarkeit werden. "Auf der Verhaltensebene wird dies die Initiative zu denjenigen Reaktionen, die Konsequenzen kontrollieren, verringern, kognitiv wird es eine Überzeugung in die Unwirksamkeit der eigenen Reaktion hervorrufen und wird das Lernen erschweren, dass Reagieren zum Erfolg führt; und emotional wird dies, traumatisierende Konsequenzen vorausgesetzt, zu stärkeren Ängsten führen, die von Depression gefolgt werden."[63] Wird eigene Wirkungslosigkeit erlernt, so etabliert sich die Erwartungshaltung, dass ersehnte Ereignisse nicht eintreten und "dass man an der Auftretenswahrscheinlichkeit des Ergebnisses nichts ändern kann."[64] Abrahamson bestimmt Hilflosigkeit als einen proximalen ätiologischen Faktor für Symptome, die zum Bild einer "Hoffnungslosigkeits-Depression"[65] zusammengefasst werden können. Eines der Symptome ist verringertes Selbstwertgefühl. Selbstwert ist als zentrales Moment für Motivation zu sehen, sich handelnd und mit Zuversicht einer Situation zu stellen. Dieser Bewältigungsfaktor leidet unter dem Bewusstsein der eigenen als generell empfundenen Inkompetenz.

"Zusammenfassend erscheint mangelnde Motivation zu willentlichen Reaktionen, die gelernte Hilflosigkeit kennzeichnet, auch für depressive Zustände typisch. Sie führt zu Passivität, psychomotorischer Retardation, verlangsamten Denkprozessen und verminderter sozialer Ansprechbarkeit; in extremer Depression führt sie zu stuporösem Verhalten." [66]

Die Affinität zu Beschreibungskriterien von geistiger Behinderung mit entsprechenden Auffälligkeiten ist augenfällig. Selbstwertverlust, der nach Bauer zentraler Bestandteil der Depression war, wird zu einem Glied in der Kette, die vom starken oder wiederholten Erlebnis des Kontrollverlustes über erlernte Hilflosigkeit zur Depression reicht. Diese Kettenreaktion kann aufgehalten werden, wenn Reaktanz erfolgreich ist oder wenn das Selbst so stark ist, dass das Ereignis nicht auf eigene Inkompetenz hin attribuiert und gespeichert wird. Seligman beschreibt das Bedürfnis nach Kompetenz als Bedürfnis danach, "die durch Hilflosigkeit induzierte Angst und Depression zu vermeiden."[67] Kontrollverlust und Hilflosigkeit bedeuten einen Verlust von Sicherheit. Deshalb würde ich dem Bedürfnis nach Kompetenz noch das Bedürfnis nach Sicherheit, worin Maslow ein fundamentales menschliches Grundbedürfnis sieht[68], überordnen. Der Zustand, in dem das Sicherheitsbedürfnis befriedigt werden kann, ohne dass man von anderen abhängig ist, kann als Autonomie bezeichnet werden. So sehr das Gefühl von Autonomie zum Resilienzfaktor gegen emotionale Störungen wird, so sehr ist das Ausbleiben dieses Bewusstseins und das Vorherrschen des hilflosen Bewusstseins entsprechend ein eminenter Risikofaktor. Erfolglosigkeit und Verlust des Selbstwertes können dabei eine Abwärtsspirale in Gang setzten, in deren Verlauf Vermeidung, Unsicherheit und Angst gegenüber allem, was bewältigt sein will, erworben werden. Nicht zuletzt Lernhemmung und ein verminderter IQ, wie er Index für geistige Behinderung ist[69], stehen am Ende der Kette.[70]"Was oft als Retardation und Intelligenzdefizit weitergeführt wird, kann das Ergebnis gelernter Hilflosigkeit sein."[71]

Um den schädigenden Mechanismus mit dem Thema "Gewalt" in Verbindung zu bringen, bestimme ich diese als mögliches erstes Glied in der Kette. Die argumentative Herangehensweise über das Thema der Hilflosigkeit macht es möglich, Gewalt nicht nur in der direkten Schädigung zu sehen und zu definieren, sondern bereits das Vorgehen, das einen schädigenden Bewusstseinsstatus, zum Beispiel den der Hilflosigkeit, bewirkt, als gewaltsam zu identifizieren. So wie Angst durch Hilflosigkeit und Hilflosigkeit durch Kontrollverlust induziert ist, so schiebt sich Gewalt an erste Stelle, wenn das Ereignis des Kontrollverlustes oder die Verminderung des Selbstwerts Menschenwerk ist. Gewalt ist dann dadurch indiziert, dass Autonomie verhindert, verweigert oder ohne Einwilligung entzogen wird. Im wahrsten Sinn des Wortes handgreiflich ist das Beispiel für einen durch Gewalt induzierten Kontrollverlust bei einem eindrucksvollen, wenngleich grausamen Tierversuch, an dem Seligman "Erlernte Hilflosigkeit" erläutert. Assoziationen mit Menschen lassen sich dabei kaum vermeiden: "Richter entdeckte, dass wilde Ratten ["wild" ist nicht negativ zu sehen, sondern meint "nicht durch Konditionierung verändert" d.V.], wenn er sie solange in der Hand gehalten hatte, bis sie aufgehört hatten zu zappeln, und sie dann in einen Wasserbehälter ohne Fluchtmöglichkeit setzte, innerhalb von 30 Minuten ertranken, während Ratten, die nicht festgehalten worden waren, 60 Stunden schwimmen konnten, bevor sie ertranken. (...) Richter vermutete, dass die entscheidende Variable für den plötzlichen Tod ‚Hoffnungslosigkeit' war. Für ein wildes Tier bedeutet es eine überwältigende Erfahrung von Kontrollverlust über seine Umgebung, wenn es von einem Gegner festgehalten und in seiner Bewegung behindert wird."[72] Abgesehen von diesem Beispiel ist Festhalten und "Fixierung" generell ein aussichtsreiches Vorgehen, wenn Tiere experimentell neurotisiert werden sollen.[73]

Ohne Schlussfolgerungen für den Menschen zu ziehen, will ich die Schilderung eines Ereignisses danebenstellen, das viele geistig behinderte Menschen kennengelernt haben. Wenn im Bereich der Motorik eine Retardierung zu befürchten ist, wird bereits im Säuglingsalter Krankengymnastik empfohlen. Besonders bei Kindern mit Down-Syndrom soll so der "üblichen" Muskelschlaffheit und Hypotonie entgegengearbeitet werden, um Folgeschäden zu vermeiden und Entwicklung zu beschleunigen. Eine beliebte Methode ist die nach "Vojta". Zielgruppe sind unter anderem von Vojta so genannte "Risikokinder"[74], vorzugsweise solche mit Down-Syndrom oder infantiler Zerebralparese. Der Säugling muss bei jeder der sieben Variationen in eine bestimmte Lage gebracht werden. Dort wird er vom Therapeuten so berührt, dass er "Lagereflexe"[75] ausführt. Die Muskelbewegungen werden als propriozeptive Reize dem Zentralnervensystem zugänglich gemacht, wo das Zusammenspiel der Muskeln gespeichert wird. Vereinfacht gesagt soll dem Gehirn durch von außen provozierte Bewegungen das vermittelt werden, was der Körper von selbst noch nicht kann. Mit dieser Theorie will ich mich hier nicht länger befassen, da es mir um die unmittelbare und mittelbare Wirkung beim Säugling geht.[76] Als erstes wird er in eine bestimmte Lage gebracht.[77] Dabei ist die Position jedes Körperteils genau festgelegt. In dieser Lage muss er fixiert werden. Am besten gelingt dies, wenn er fest gegen den Bauch des Therapeuten gedrückt wird und der freie Arm bei der Fixierung hilft. Der Therapeut drückt nun, um bei einer bestimmten Übung zu bleiben, mit dem Daumen intensiv auf einen bestimmten Punkt zwischen zwei Rippen der Brustwirbelsäule. Ob es nun mehr am Druckschmerz oder an der Fixierung liegt, alle "wilden" Säuglinge, die die Energie dazu haben, schreien, winden sich und wehren sich mit der ganzen Kraft, die ihnen schon zur Verfügung steht. Wenn sie Glück haben, hebt sich ihr Kopf und ein Bein bewegt sich. Wenn der erwünschte Reflex jedoch ausbleibt und der Therapeut sich sicher ist, den richtigen Punkt zu "haben", erhöht sich der Druck. Je nach Zahl der Lagereflexe dauert ein Durchgang bis zu 15 Minuten. Wirkung ist nur dann zu erwarten, wenn viermal täglich das gesamte Programm konsequent durchgezogen wird. Deshalb werden gern die Eltern zu Kotherapeuten ausgebildet. Die Kinder hören irgendwann auf zu schreien und irgendwann wehren sie sich auch nicht mehr. Dies wird vom Therapeuten als erfreuliches Zeichen gewertet, dass sich das Kind an die Prozedur gewöhnt hat und sie nicht mehr als schlimm empfindet. Der Beweis ist erbracht, dass das Vorgehen nicht schmerzhaft ist. Das Kind hat sich beruhigt.

Oder hat es aufgegeben? Ich kann mir vorstellen, dass seinem Verhalten weit eher Erschöpfung und erlernte Hilflosigkeit unter dem Eindruck von traumatisierender Gewalt zu Grunde liegen als Beruhigung: Das Kind erlebt totalen Kontrollverlust und Ausweglosigkeit, indem es fixiert wird. Im Zustand der Bewegungsunfähigkeit wird es gequält. Sämtliche Reaktionen, ob Kraftanstrengung oder Schreien, haben keine Wirkung. Die Bereitschaft zur Reaktion erlahmt. Die möglichen psychischen Folgen sind hinlänglich beschrieben. Die Traumatisierung wird dadurch komplettiert und grenzt ans Unvorstellbare, wenn das, was dem Kind wie Folter erscheinen muss, von denen praktiziert wird, die es über alles liebt. Die Eltern, die für das Kind Zuwendung und Sicherheit repräsentieren und eine vertrauenswürdige Welt symbolisieren, verhalten sich so, dass die Welt aus den Angeln gehoben wird und alles bis in die letzten Winkel des Selbst in Frage gestellt ist. An dieser Stelle muss erneut deutlich werden, dass das Hauptaugenmerk auf Gewalterfahrung aus der Opferperspektive liegt.

Es ist ein Dilemma, dass es Ausnahmesituationen gibt, in denen es vertretbar ist, zum Besten des anderen gegen dessen Willen zu handeln. Davon wird später die Rede sein. An dieser Stelle, wo es um die Bestimmung von Gewalt geht, sei nur betont, dass ein Vorgehen wie das beschriebene vom Kind als Gewalt erfahren wird und entsprechend wirkt. Diese mögliche Wirkung muss Gewicht haben, wenn über das Verhältnis von Nutzen und Schaden nachgedacht wird.

2.3. Isolation und verweigerte Identität

Bisher lag der Schwerpunkt beim Verständnis für das, was schädigend wirkt, darauf, wie sehr oder wie wenig man sich selbst als autonom, wirksam und kompetent erlebt und fühlt. Nun soll von schädlichen Folgen von Erfahrungen die Rede sein, die sich im zwischenmenschlichen Bereich abspielen. Beides ist so wenig streng voneinander zu trennen, wie der Mensch selbst nicht als autonomes oder soziales Wesen betrachtet werden kann. Beides ist so aufs Engste miteinander verwoben, dass das eine nicht ohne das andere sein kann. Die dialektische Natur des Menschen kann als gleichzeitiges Sehnen nach dem verstanden werden, was abhängig, und nach dem, was unabhängig macht. Nähe und Ferne, Vertrautes und Fremdes suchen nach einem Gleichgewicht, das die eigene Stabilität sichert. Kompetenz, selbst zurecht zu kommen und gleichzeitig auf ein soziales Netz zurückgreifen zu können, bietet einen doppelten Boden, der dem angesprochenen Grundbedürfnis nach Sicherheit entgegen kommt. Selbstsicher und sicher gebunden sind zwei Seiten einer Medaille, die sich nicht voneinander lösen lassen, obschon meist die eine oder die andere Seite obenauf liegt. In der Traumatisierung werden alle Sicherheitsseile gekappt. Bleibt man bei dem Beispiel der Fixierung oder generell des Festhaltens[78], das als Sinnbild für erzwungene Untätigkeit herhalten mag, so bedeutet die Situation, dass es ebenso aussichtslos ist, auf die eigene Befreiung oder die Veränderung der Situation hinzuarbeiten wie es unmöglich ist, hilfreichen Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Isolation bedeutet deswegen ebenso Stress wie Kontrollverlust. Chronisch ist das Gefühl, sozial ausgeschlossen zu sein im gleichen Maße wie das Gefühl der Hilflosigkeit eines der Angst. Das Defizit an Zuwendung löst nicht minder schwere emotionale Störungen und Verhaltensstörungen hervor als Zwang. Harlow beschreibt in seinem bekannten Experiment mit Rhesusaffen, die von der Mutter getrennt wurden oder die zu Artgenossen keinen Hautkontakt aufnehmen konnten, deren Reaktionen: "Mit jedem Monat und jedem Jahr, das verging, verhielten sich die Affen weniger und weniger normal. Wir haben sie in ihren Käfigen sitzen sehen, merkwürdig reglos, unbeweglich in den Raum starrend, relativ gleichgültig gegenüber Menschen und anderen Affen. Einige packten ihre Köpfe mit beiden Händen und schaukelten vor und zurück. (...) Andere geraten, wenn man sich ihnen nähert, und selbst, wenn sie allein sind, in heftige Anfälle von Raserei, packen und zerren an ihren Beinen mit solcher Wut herum, dass sie manchmal reif sind für ärztliche Behandlung."[79] Man kann vermuten, dass auch Menschen stereotypes und autoaggressives Verhalten als einziges Ausweichfenster in lebensfeindlichen Bedingungen bleibt, wenn sämtliche Bewältigungskompetenzen versagen oder versagt bleiben. Sieht man Selbstschädigung im einem korrelierenden Verhältnis zur Belastungssituation, in der man einsam und nur auf sich selbst zurückgeworfen ist, so wird die innere Qual eines magersüchtigen oder ritzenden Menschen deutlich und das Ausmaß an Kopfschlagen oder ähnlichen Verhaltensweisen insbesondere bei geistig Behinderten lassen erahnen, wie unerträglich ihnen die Lebensbedingungen, ja das Leben schlechthin ist.

Feuser versteht sowohl Stereotypien als auch selbstverletzendes Verhalten "als entwicklungslogische Antwort auf eine für ein Individuum inadäquate, es hochgradig isolierende Lebensrealität"[80]. Die Symptome der Harlow'schen Affen gleichen weitgehend denen des Hospitalismus, bei dem die Schädigung durch soziale Deprivation überdeutlich ist. Autoaggression[81] tritt als Reaktion auf den Mangel oder den Verlust der mütterlichen Zuwendung bei Kleinkindern und Säuglingen, also im Rahmen des Hospitalismussyndroms, ebenso auf wie depressive Tendenzen[82] und Intelligenzminderung bzw. Intelligenzretardation[83]. Der Brockhaus fasst zusammen und lässt keinen Zweifel an Ursache und Wirkung: "Hospitalisierung ist eine Sammelbezeichnung für psychologische und psychosomatische Schäden. (...) Diese Schäden sind hauptsächlich auf den Mangel emotionaler Zuwendung zurückzuführen. Hospitalisierung macht sich durch verzögerte Entwicklung, Aggressivität, Teilnahms- und Ausdruckslosigkeit von Kindern bemerkbar."[84]Einerlei, ob man diese Phänomene mehr einer Behinderung oder mehr einer Störung zuordnet: Beides erscheint als mögliche direkte Folge psychischer Vernachlässigung, bei der Kinder die Opfer ungenügender sozialer Bedingungen werden. Dass sowohl in den Förderschulen für Lernen als auch in denen für geistige Entwicklung Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen überrepräsentiert sind[85], spricht dieselbe Sprache.

Der unhinterfragte Rückschluss von Störungen auf das familiäre Umfeld ist bedenklich, kurzsichtig und stigmatisiert Familien. Aus der Bedeutung der sozialen Bindungen in ihrer ganzen Bandbreite für menschliche Entwicklung und Verhalten kann man umgekehrt aber annehmen, dass die Gefahr groß ist, dass sich soziale Verarmung in geistiger und seelischer Armut niederschlägt.[86] Wenn soziale Verhältnisse und die inhärenten Bindungsangebote so gestaltet sind bzw. werden, dass es dem anderen nicht gelingt, seine sozialen Bedürfnisse zu befriedigen[87], dann ist damit sein Selbst existentiell angegriffen und aus Lebensverhältnissen werden Gewaltverhältnisse im Verständnis von

"Gewalt als die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was grundsätzlich möglich ist."[88]

Kaum eines der Grundbedürfnisse, wie sie Maslow 1943 formulierte[89], ist unter dem Ausschluss von Mitmenschen zu befriedigen. Einzig die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse ist zeitweise autonom zu erreichen. Die angesprochenen Sicherheitsmotive, per se die sozialen Motive wie "Zugehörigkeit" oder "Freundschaft" und auch die Ich-Motive "Anerkennung, Wertschätzung" bis hin zu dem, was "Selbstverwirklichung" genannt wird, können nicht aus dem sozialen Zusammenhang gelöst werden. Das Selbst ist von Anfang an verwiesen auf Ansprache und auf Antwort. Nur in Reziprozität hat es die Chance, sich zu entfalten, sich zu bilden und sich zu finden.

Die Beeinflussbarkeit macht es möglich, in eine soziale und kulturelle Welt hineinzuwachsen. Da hier Werte abgebildet sind, die sich als nützlich erwiesen haben, ist dies als Wettbewerbsvorteil zu werten. Die Anpassung an Lebensbedingungen erfolgt schneller, wenn erfolgreiche Bewältigungsmuster durch Sozialisation ontologisch vermittelt werden als wenn man warten muss, bis dies die Evolution schafft. Die Formbarkeit des Selbst und seiner motivationalen Grundausstattung beinhaltet notwendig die Möglichkeit der Deformation und der Manipulation. Aus der Chance, im Sozialisationsprozess Unterstützung zu erfahren kann jederzeit die Gefahr erwachsen, dass der Mangel an Verhaltenssicherheit, der im Begriff des "Mängelwesens"[90] zum Ausdruck kommt, durch die Umwelt nicht passend ausgeglichen wird.

Die Gefährdung im Abhängigkeitsverhältnis ruft immer auch den Willen auf den Plan, Herr seiner selbst zu sein und selbst das Steuer des eigenen Lebens in Händen zu halten. Man kann das Verhältnis des Strebens nach Wirksamkeit, Autonomie, Selbstgestaltung, des Willens zur Macht schlechthin als ein ergänzendes oder als ein konkurrierendes zum Willen betrachten, Bindungen zu haben, Verantwortung abgeben zu können, einen sicheren Platz in der Gesellschaft zu haben: ergänzend als Komponenten eines personalen und soziales Selbst[91], darin, dass "der Mensch (...) am Du zum Ich (wird)"[92], in der Gleichberechtigung des Wunsches nach Prestige durch eine Rolle und dem Wunsch nach Räumen, in denen Status nichts gilt[93], oder konkurrierend in psychoanalytischer Sichtweise. Immer sind zwei Kräfte am Werk, die mehr oder minder in einem Spannungsverhältnis stehen. Beide benötigen als Plattform neben dem individuellen Lebensraum den Sozialraum und den Zeitraum, in der sie ihre Wirkung entfalten können. Werden die Räume zu sehr künstlich begrenzt, müssen sie als Gefährdung des Selbst und so als Gewalt empfunden werden.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann man als das nach Selbstbestimmung und Autonomie bezeichnen. Das Bedürfnis, einen sicheren Platz unter Menschen zu haben, ist das nach Integration. Erst Integration macht auch sozialen Austausch möglich. Unter diesem Gesichtspunkt würde ich dieses Grundbedürfnis auch als das nach Zuwendung bezeichnen. Die bloße Existenz in einem Sozialverbund jeglicher Größe sagt noch nichts darüber aus, ob die dortige Verortung eine förderliche ist. Neben dem Aspekt, dass eine Gruppe Hilfe und Schutz bieten kann, ist die Chance, sich jemandem zuzuwenden und Zuwendung zu empfangen wesentliches Charakteristikum von Integration. Die Kombination aus beidem, also wirksamen Anteil an dem zu haben, was ist und was wird, entspricht dem Bedürfnis nach Teilhabe und Partizipation.

Als übergeordnet und aus den genannten drei hervorgehend will ich das Bedürfnis nach Angstfreiheit hinzufügen. An der extrem schädlichen Wirkung, die eine Frustration dieser Bedürfnisse hat, wird ihre existentielle Bedeutung offensichtlich. Sie sind nicht Beiwerk zum Erlernen von Bewältigungskompetenz, sondern Säulen, auf denen eine intakte Persönlichkeit ruht.

Werden Grundbedürfnisse ernst genommen, leiten sich Grundrechte daraus ab. Es ist müßig zu betonen, dass diese Rechte für alle Menschen "inclusiv" Kinder oder Behinderte gleich gültig sein müssen. Dass die Begriffe der Teilhabe, der Integration und der Selbstbestimmung jedoch zentral in Dokumenten auftauchen, die sich mit Behinderten befassen[94], kann darauf hinweisen, dass hier der tatsächliche Rechtsbestand so ist, dass er besonders betont und verteidigt werden muss. Durch natürliche oder künstliche Lebensbedingungen sind Kinder wie Behinderte in besonderer Weise gefährdet, an Grenzen zu stoßen, wenn es darum geht, diese Rechte in Eigenregie einzufordern und durchzusetzen. Nur unter dieser Maßgabe ist Exklusivität zu rechtfertigen. Die Gesellschaft, in deren Vertretung solche Gebote formuliert werden, schützt sich so vor sich selbst. Die Befriedigung von Bedürfnissen ist nicht nur momentan wirkendes Lebenselixier, sondern unverzichtbarer Katalysator für Entwicklung. Folgt man Erikson darin, dass sich eine Identität lebenslang entwickelt[95], so gilt das Recht, dass "jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung (...) zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (hat)"[96] für alle Menschen mit Förderbedarf. Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit lassen sich als Erfüllung der Bedürfnisse nach Autonomie, Partizipation und Integration lesen. Gewalt wurde bestimmt als ein Einfluss, der die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse beeinträchtigt. Ich will dem eben zitierten Gesetz deshalb das Recht auf gewaltfreie Erziehung[97] direkt an die Seite stellen. Da man bei Erwachsenen ungern von Erziehung redet, könnte man, um keinen Menschen auszuschließen, von einem Menschenrecht auf gewaltfreie Beeinflussung reden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Nur in einem Klima der Gewaltfreiheit sind Angstfreiheit und unbehindertes Wachstum möglich.

Es kann nicht ohne Auswirkungen auf die Identität und die Persönlichkeitsstruktur bleiben, wenn Gewalt und Zwang ein Level erreichen, das für das Opfer nicht kompensierbar ist. Für die Menge an Gewalterfahrung, die wirkt, ist es - wie im Zusammenhang mit Speicherung im limbischen System erwähnt - zweitrangig, wie sie zustande kommt. "In manchen dieser Fälle scheint diese Ich-Schädigung ihren Ursprung in überwältigenden Ereignissen zu haben, bei anderen ist es die allmähliche Zermürbung durch zahllose Quälereien."[98] Den Drang nach autonomer Wirksamkeit findet man bei Erikson im Begriff der Individuation wieder. Elemente von Individuation und Integration synthetisieren sich zur Ich-Identität. Reifung zu einer integrierten Persönlichkeit ist bei Erikson ein stufenweise immer wieder neues Austarieren des inneren Gleichgewichts entsprechend der sich ändernden Vehemenz, mit der die innere Stimme mehr nach Selbstständigkeit oder mehr nach Gemeinschaft ruft. Die Autonomie kommt darin zum Tragen, dass diese Leistung eine Aktivität des Ichs ist. Selbstgestaltungswille zeigt sich im Drang nach Handlungsfreiheit. Entwicklung geschieht dabei nicht passiv als Ergebnis von Reifung oder Sozialisation. Auch entzieht sich der Entwicklungsprozess als Ausdruck innerer Konflikte nicht der Beeinflussung durch den Willen. So ist jedenfalls der ans Humanistische erinnernde Freiheitsanspruch, der Kontrolle über das Geschehen mindestens suggeriert. Erikson befreit so den Menschen teilweise aus der Determination und von dem Bewusstsein, Spielball von Genen, Trieben und Umwelteinflüssen zu sein. Das starke Ich weiß sich handelnd bei dem Streben, sich selbst zu gestalten und im Einklang von Selbst und Erfahrung eine Identität zu haben. Ergebnis von Entwicklungsaufgaben ist ein Selbstgefühl, das bestimmend für die Bewältigung der kommenden Aufgaben ist. Erikson ist die Bezeichnung "ein Gefühl von"[99] z.B. von Autonomie, Vertrauen oder Minderwertigkeit sehr wichtig. Er beschreibt damit, dass etwas so wirkt, wie es sich im Bewusstsein abbildet. Dies verweist auf die im Vorigen beschriebene Abhängigkeit der Bedeutung einer Situation von den Vorerfahrungen. Ängstliche Menschen erkennen für sich früher Momente einer Gefährdung als Unerschrockene. Betrachtet man den wiederkehrenden zirkulären Prozess, bei dem Selbst- bzw. Bewältigungserfahrungen, die auf eine Konfrontation folgen, gespeichert und jedem neuen Erleben einflussreich vorgeschaltet werden, auf den menschlichen ontologischen Entwicklungsverlauf hin, findet man in Erikson einen Fürsprecher dafür, dass sich lebenslang neue Erfahrungen in der Persönlichkeit niederschlagen. Kompetenzen, die sich in einer bestimmten Entwicklungsstufe nicht entwickelt haben, können so kompensiert und partiell nachgeholt werden. Nicht nur für den Pädagogen ist es wichtig, sich an Theorien zu orientieren, die berechtigte Hoffnung machen, dass eine Persönlichkeit, womit auch Störungen einbezogen sind, nie so starr ist, dass ein Einwirken nicht fruchtbar sein kann. Sie begründen den Glauben daran, dass in jeder Situation das Angebot von Erfahrungs- und Selbsterfahrungsmöglichkeiten, das an den anderen gerichtet ist, wirksam und heilsam sein kann. Die pädagogische Verantwortung für Positives wie für Negatives wächst durch solche Sichtweise und sie will bewusst übernommen sein.

Das Ich, das sich lebenslang formt, findet seine Prozesshaftigkeit in der Neurobiologie bestätigt. Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur den sich verändernden biologischen Grundlagen und den Erfahrungen anzupassen.[100] Die Ausdrucksweise "ich verbinde etwas mit einer Person, einem Erlebnis, einem Geruch..." wird geradezu biologisch in dem abgebildet, was Nervenzellen miteinander verbindet. Altersunabhängig bleibt diese synaptische Plastizität prinzipiell erhalten. Im Bereich des Hypothalamus, dem Hauptsitz der Erinnerung im limbischen System, wird gar die Neubildung von Nervenzellen über die frühkindliche Entwicklung hinaus vermutet.[101] In der ersten Zeit ist die Plastizität am größten. Entsprechend hinterlassen die Erfahrungen, die dort gemacht werden, einen tiefen Eindruck. Der Eindruck in die Seele ist biologistisch gesehen ein Eindruck in die stofflichen Strukturen des Gehirns. Seelische Verletzung findet ihren direkten Niederschlag in der körperlichen Verwundung des Organs Gehirn. Erlebnisse, die heftig sind oder die permanent in eine Richtung wirken, manifestieren sich wie beschrieben in einer Verdichtung der angesprochenen neuronalen Netzwerke, was als Verfestigung von Denk- und Verhaltensmustern erscheint. Darin mag man "Persönlichkeit" oder "Identität" sehen. Der Blick darauf als ein Gewordenes und ständig Werdendes nimmt beidem jedoch die Endgültigkeit. Ist die Identität von Erfolgserlebnissen geprägt, ist die so gefestigte Persönlichkeit ein Gut. Waren andere Kräfte wie Misserfolg, Angst, Gewalt oder Hemmung am Werk, ist die Etablierung der so gestörten und behinderten Persönlichkeit ein Problem. Es kann nicht gelöst werden, wenn die Einstellung "der ist eben so" die Begegnung bestimmt. Auch in der Starre ist die Person im Fluss. Nur sind alle neuronalen Impulse in dem elektrischen und hormonellen Strom gebündelt, der Körper, Seele und Geist schädigt und der sich irgendwann selbst mit Wasser versorgt. Pädagogisches Bewusstsein muss auf dem Wissen basieren, dass immer neue Quellen erschlossen und Blockaden gelöst werden können, wenn neue Erfahrungen des Wohlbefindens vermittelt werden. Die Vorstellung, dass mit jeder positiven Erfahrung Nervenzellverbindungen gestärkt werden, die dem limbischen System signalisieren, dass Leben ein emotionaler Gewinn sein kann und dass im gleichen Atemzug die Wirkmacht der Stressachse etwas nachlässt, hilft Geduld zu haben und zu akzeptieren, dass es ein langer schwieriger Prozess ist, bis sich innerweltliche Strukturen so verändert haben, dass zum Beispiel selbstschädigende Kompensationsmuster aufgegeben werden können. Jede Aktion, die dem anderen Bewusstsein das Erleben vermittelt, gut mit sich selbst und mit anderen zu sein, hat einen Effekt. Und doch bleibt offen, ob die das Ich fesselnden Strukturen so aufgeweicht und durchlässig gemacht werden können, dass das Eindringen von positiven Störungen einen Effekt hat, der sich zeigt. Erst in der Akzeptanz von Ungewissheit und Offenheit in zwischen-menschlichen Prozessen zeigt sich der Respekt vor dem Selbst der anderen Person, vor seiner Selbstwirksamkeit, seiner Fähigkeit zur Selbstorganisation, postmodern gesprochen vor seiner "Autopoiesis".[102]

Erikson macht aus der Alternative "Reifung oder Sozialisation" ein "und". Den innerseelischen Konflikt zwischen Integration und Individuation, der mit dem Drang zusammenhängt, sich gleichzeitig gebunden und ungebunden zu fühlen, sieht er immer im jeweiligen sozialen Gefüge eingebettet. Auf der Suche nach sich selbst ist das Ich auf passende Signale innerhalb des Radius wichtiger Beziehungen angewiesen. Die Personen, für die es sich je nach Entwicklungsstufe besonders interessiert, sind nicht nur Begleiter der psychosozialen Krisen, sondern bestimmen und beeinflussen deren Verlauf. Als unabdingbare Interaktionspartner tragen sie wesentlich dazu bei, dass der Mensch, der im inneren Konflikt ihre Anteilnahme braucht, Widerstrebendes in Einklang bringen kann und im inneren Gleichgewicht ein zuverlässiges Rüstzeug für kommende Herausforderungen hat. Vertrauen, ein Gefühl von Autonomie, von Wirksamkeit, Selbstwert und Anerkennung kennzeichnen die so integrierte Persönlichkeit. Findet das Selbst keinen Halt in der Welt, da sich die Umwelt nicht passend verhält, droht Fehlanpassung. Das Ich, das sich verbiegen musste, um in seiner Lebenswelt existieren zu können, droht in jeder Krise mehr aus dem Gleichgewicht zu kommen, bis die Persönlichkeit aus den Fugen gerät. So "verrückt" werden Kernpathologien erworben, die prägend bleiben.

Liest man Eriksons Formulierungen der Folgen von Fehlanpassung, so glaubt man an ein Psychogramm von geistig Behinderten mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Rede ist von Misstrauen, Selbstzweifel, Isolierung, Stagnation, Selbsthass, von Rückzug, Zwang, Stereotypie, Hemmung und Trägheit.[103] Die Identität geistig behinderter Menschen erscheint somit als Kumulation schädlicher Folgen von missglückenden Anpassungsversuchen an eine Welt, die keine passenden Interaktionsangebote beinhaltet. In ihr zu leben ist ein Leben in genereller Angst. Wieder kristallisiert sich Angst als ein eminent übergeordneter und beherrschender Daseinsmodus heraus. Das letzte Kapitel von "Kind und Gesellschaft", das Erikson als Schlussfolgerung bezeichnet, trägt den Titel: "Jenseits der Angst". Darin schreibt er:

"Die Angst, die aus dem Gefühl entspringt, bis zur völligen motorischen Machtlosigkeit behindert und gefesselt zu sein, hat ihr Gegenstück in der Angst, alle äußeren Bindungen und Schranken zu verlieren und mit ihnen die für die Definition der eigenen Autonomie notwendige Orientierung." [104]

2.4. Mit Paulo Freire das unterdrückte Bewusstsein verstehen

Grundvertrauen ebenso wie Angst sind Introjekte durch Erfahrungen der Interaktion vornehmlich mit Menschen, die für die Identitätsbildung wichtig sind. Diese stehen in der Verantwortung, richtige Signale zu setzten und falsche zu vermeiden. Der Panzer aus Angst und Vermeidung kann nur dünner werden, wenn der Druck von außen auf ihn weniger wird. Heilendes kann also nur geschehen, wenn mit der Zunahme von selbstwertspendenden Erlebnis angeboten Gewalt, Unterdrückung, Isolation und Behinderung abnehmen. Wenn der Mensch erlebt, dass seine Bedürfnisse nach Autonomie, sozialer Bindung und Angstfreiheit im Rahmen der umgebenden Welt keine Geltung und keine Wirkung haben, ist es ihm nicht möglich, sich so anzupassen, dass er mit sich im Reinen ist. Der einzige Weg, in einer befremdenden und als bedrohlich wahrgenommenen Welt zu existieren, ist Selbstentfremdung. Die Mechanismen von Assimilation und Akkomodation versagen an der Unvereinbarkeit von Wunsch und Wirklichkeit. Fehlt darüber hinaus die Kompetenz, die Wirklichkeit zu verändern, muss das Gleichgewicht auf dem untersten Niveau der Lebendigkeit gefunden werden. Es bleibt nur noch die Identifikation mit dem Zustand, der nicht zu ändern ist. Wenn die Auslöser für diese Entwicklung im Verhalten anderer Menschen zu finden sind, liegt nach der genannten Definition von Galtung Gewalt vor. Ordnet man den Auslösern die Pathologie der Persönlichkeitsstrukturen zu, dann erweist sich die bestimmten Menschen attribuierte Unausweichlichkeit der Ausbildung von Störungen oder Hemmungen als ein Mythos.

Konnte sich ein Mensch die Identitätsmerkmale nicht aneignen, die ihn kompetent machen, im Leben zu bestehen, so ist er in der Tat behindert. Unter dem Gesichtspunkt, dass eine lebensfeindliche soziale Umgebung ihm nicht die Möglichkeit ließ, sich anders zu entwickeln, werden aber die Merkmale, die zu seiner Bestimmung dienen, zu "Wundmalen"[105]. Seine Verhaltensweisen sind "als entwicklungslogisches Produkt der Systemevolution eines Menschen unter den für ihn gegebenen Ausgangs- und Randbedingungen seiner Existenz zu begreifen, die er nach Maßgabe der Mittel seines Systems in dieses integriert. Oder anders ausgedrückt (...): Behinderung wäre zu verstehen als Ausdruck der Aneignung beeinträchtigender, behindernder und mithin isolierender Bedingungen durch einen konkret unter diesen Bedingungen handelnden Menschen."[106] Da sich kein Mensch solche Bedingungen freiwillig aussucht, liegt es nahe, diesen Zustand als einen der Unterdrückung zu fassen. So erklärt sich die Bestimmung Cloerkes, dass nach dem interaktionistischen Paradigma Behindert sein ein "Zwangsstatus"[107] ist.

"Mit der Errichtung eines Unterdrückerverhältnisses hat Gewalt bereits begonnen." [108]

Paulo Freire fordert eine genaue Zuweisung, wo die Quelle von Unterdrückung ist. Das scheint auf den ersten Blick einfach. Hält man sich jedoch vor Augen, wie oft ein Verhältnis der Unterdrückung damit begründet wird, dass die Unterdrückten es so brauchten, es so verdienten oder es gar so wollten, kann auf die Zuordnung, wer Täter und wer Opfer ist, nicht genug Wert gelegt werden. Freire bestimmt unmissverständlich: "Es gäbe keine Unterdrückten, hätte es nicht zuvor eine Situation gegeben, die ihre Unterwerfung begründet hat."[109]Das Schicksal südamerikanischer Landarbeiter, das Freire beleuchtet, hat Parallelen zum Schicksal der in Unterdrückung lebenden Indianer Nordamerikas, mit denen sich Erikson beschäftigte, und mit dem Schicksal geistig behinderter Menschen. Beim Landarbeiter, wie Freire ihn schildert, sind Formen von Trägheit, Lernhemmung, Antriebslosigkeit, Apathie und fehlendem Emanzipationswillen ebenso wenig zu bestreiten wie bei vielen Behinderten. Da Freire das "Wort"[110] als Sinnbild einer aktiven Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sieht, steht "Schweigen"[111] für ihn synonym für eine Lebenseinstellung, die sich als Folge von Unterdrückung einstellt. Lange prägt in seiner Einführung zu Freires "Pädagogik der Unterdrückten" so den Begriff der "Kultur des Schweigens"[112]. Die Ausformungen der Persönlichkeit unter dem Eindruck von Herrschaft dürfen nicht als quasi natürliche Charaktereigenschaften von ihren Wurzeln isoliert werden. Denn der Unterdrücker benutzt das Phänomen der Lebensuntüchtigkeit, um seinen herrschaftlichen Führungsanspruch zu rechtfertigen. Dieser Gefahr sind die beschriebenen Landarbeiter ebenso ausgesetzt wie Behinderte. Damit wird jedoch die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt. Lange schreibt im Sinne Freires weiter, dass die "'Kultur des Schweigens' (...) immer schon eine Folge der Unterdrückung (ist). Es ist nicht die Apathie der Massen, die zur Herrschaft der Eliten führt, sondern es ist die Herrschaft der Eliten, die die Massen apathisch macht. Die Theorie von der ‚natürlichen' Unterlegenheit der Unterdrückten ist eine (...) Zwecklüge der Unterdrücker."[113]

Goffman, der sich in "Asyle" ebenfalls mit der Bildung der Ich-Identität unter unterdrückenden und beschränkenden Lebensbedingungen befasst, welche er "totale Institution"[114] nennt, bezeichnet den Prozess, in dem ein Verhalten provoziert wird, um es dann zu bekämpfen, als "Looping-Effekt": "Jemand ruft beim Insassen eine Abwehrreaktion hervor und richtet dann seinen nächsten Angriff gerade gegen diese Reaktion. Die Schutzreaktion des Individuums gegenüber dem Angriff auf sein Selbst bricht zusammen angesichts der Tatsache, dass es sich nicht, wie gewohnt, dadurch zur Wehr setzen kann, dass es sich aus der demütigenden Situation entfernt."[115]

Man kann darüber streiten, ob bei dem Versuch, Freire für die Behindertenpädagogik fruchtbar zu machen, dessen politische Stoßrichtung und der Aspekt der generationenübergreifenden Wirkung von Gewalt zu kurz kommen. Ich denke, allein die Schilderung des Prozesses, wie Erniedrigung internalisiert wird und im unterdrückten Bewusstsein alle dem Leben zugewandten Kräfte unter fortlaufender Behinderung erlahmen und die konsequente Rückführung dieses Prozesses auf Unterdrückung und Gewalt machen Freire für eine emanzipatorische Behindertenpädagogik unverzichtbar. Denn "ist einmal die Situation der Gewalt und der Unterdrückung geschaffen, dann führt sie zu einer umfassenden Lebens- und Verhaltensweise für alle, die darin gefangen sind."[116] Die Chronologie der psychischen Fehlanpassung mit allen Folgen für das Selbstbild, für Lernen und Entwicklung beginnt nicht mit der Abweichung, sondern mit der Erfahrung von Unterdrückung und Gewalt mindestens in der Form, dass von Anfang an durch Manipulation und Kolonisierung idiosynkratischer Strukturen des Selbst bewusstseinsbildend eingedrungen wird. "Die unterdrückerische Wirklichkeit verschlingt (diejenigen), die darin leben, und (hat) auf diese Weise die Wirkung, das Bewusstsein der Menschen zu überfluten."[117]

Auf die zerstörerische Wirkung des Selbstwertverlustes, der durch Gewalterfahrung in Form von erlernter Hilflosigkeit erzeugt ist, wurde bereits hingewiesen. Als Gewalt wurden unter anderem Maßnahmen bestimmt, die den Selbstwert reduzieren. Dieser speist sich aus dem Wert bzw. dem Unwert, der dem Menschen sozial vermittelt wird. Der so prägende Einfluss kann Behinderte ebenso wahrscheinlich treffen wie das Volk der ausgebeuteten Landarbeiter: "Selbsterniedrigung ist ein anderes Merkmal der Unterdrückten, das daher rührt, dass sie die Meinung, die die Unterdrücker von ihnen haben, internalisiert haben. Sie hören zu oft, dass sie zu nichts nutze sind, nichts wissen und unfähig sind, etwas zu lernen - dass sie krank sind, faul und unproduktiv -, so dass sie schließlich von ihrer eigenen Unfähigkeit überzeugt werden."[118]Wenn der Behinderte das Glück hat, dass ihm derartige Äußerungen nicht zu Ohren kommen, oder er sie nicht kognitiv verarbeiten kann, so werden ihn einige dieser Zuschreibungen vermutlich als versteckte Information erreichen.

Freire schreibt: "Jeder Versuch, Menschen nur als halbmenschliche Wesen zu behandeln, enthumanisiert sie."[119]Selbsterniedrigung als Folge der Erniedrigung, Selbstunterdrückung als Folge von Unterdrückung bedeutet, im Ringen um einen Platz in der Welt das Werk des Unterdrückers an sich selbst zu vollenden. Die beiden Achsen des Menschseins, das individuell autonom gestaltende und das gemeinschaftlich gebundene, wie sie bei Freire als freiheitlich einerseits und dialogisch andererseits wieder auftauchen, können in der unterdrückenden Situation nicht zum Tragen kommen und verkümmern. Mit der Kompetenz geht das Vertrauen in die Kompetenz verloren, Selbstwert schwindet und wieder kann die Angst einziehen. Sprechen hat ebenso wenig Wirkung wie Handeln, was bleibt ist Schweigen und Starre. Als Charakterweisen, die sich unter unterdrückenden Bedingungen ausbilden, kehren die Verhaltensweisen, wie sie das Trauma hervorruft wieder: Mutismus, Numbing, Freezing. Die dissoziativen traumatischen und posttraumatischen Erlebnisse von Derealisation und Depersonalisation finden ihren Widerschein in Entfremdung und Selbstentfremdung. Im vorgreifenden Seitenblick auf früh erworbene Behinderung kann man assoziieren: Wer in die Fremde hineingeboren wird, erlebt Enkulturation in eine Kultur des Schweigens. Der Kampf um einen wirkungsvollen, schöpferischen Platz in der Gemeinschaft mit wohlgesonnenen Menschen wird aufgegeben, ehe er begonnen wurde, da er aussichtslos erscheint. Ob ein Halt an der Welt nicht zustande kam oder ob er entrissen wurde, ob das sich behauptende Selbst sich nicht entfalten konnte oder ob es verloren ging: Beides umschließt Freires Begriff der "Enthumanisierung"[120]. Wird der Mensch in seinem Streben unterdrückt oder behindert, "voll menschlich zu werden[121]", kann "Humanisierung"[122] nur durch "Befreiung"[123] vom Unterdrücker eingeleitet werden.



[19] vgl. Theunissen 2005, 54

[20] "Die Unsicherheit bei den Häufigkeitsangaben für psychisch relevante Störungen wird verstärkt durch die Ungenauigkeit bei der Definition und Erfassung des Personenkreises, der mit dem Ausdruck ‚geistig Behinderte' umschrieben werden soll. Es gibt also keine verlässlichen Zahlen, die man als sichere Basis für eine Bedarfseinschätzung nehmen könnte" (Gaedt 1992).

[21] vgl. Gaedt 1992

[22] vgl. Jantzen 2002

[23] In zahlreichen aktuellen Publikationen wird zitiert, was der damalige deutsche Bildungsrat 1973 zu geistiger Behinderung formulierte:

"Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher. Die Ergebnisse von validen Intelligenztests, motorischen Tests und Sozialreifeskalen können Orientierungsdaten für die Abgrenzung der geistigen Behinderung zur Lernbehinderung liefern" (Deutscher Bildungsrat 1973, zit. in: Wüllenweber 2006, 131).

[24] vgl. Wendeler 1993, 139-148; Theunissen 2005, 49-54

[25] Seligman 1999

[26] vgl. Schmidt 2004, 3-12; Bauer 2007, 170

[27] vgl. Petzold 1999

[28] Reinhold 1991, 211

[29] vgl. Der Brockhaus. Psychologie. 2009, 224

[30] vgl. Neidhardt 1986, 123

[31] vgl. Fröhlich 2000, 256

[32] Theunert 1987, 40

[33] ebenda

[34] vgl. Marks 2008, 210

[35] vgl. Bauer 2007, S.35 ff.

[36] vgl. Bauer 2007, S.163ff.

[37] James 2007, 670

[38] vgl. Bauer 2007, 56ff.

[39] vgl. Steinhausen 2006, 2f.

[40] Bauer 2007, 83

[41] vgl. ebd. 175f., 186-194; Jantzen 1998

[42] Für geistige Behinderung, die auf Gewalt zurückzuführen ist, schufen A. Buchanan und J. Oliver (1977) die Abkürzung VIMH (violence-induced mental handicap).

[43] Jantzen 2004, 148

[44] Bauer 2007, 166

[45] Bauer 2007, 192

[46] Sinason 2000, 90

[47] vgl. Wendeler 1993, 144

[48] Klein 1994, 82

[49] siehe S.13

[50] vgl. Petzold 1999

[51] Galtung 1975, 9

[52] Seligman 1999

[53] Seligman 1999, 14

[54] ebd. 15

[55] Die Tierexperimente geben nach meinem Empfinden dem Buch einen schalen Beigeschmack, denn allein schon wenn man sich nur auf sie beruft, gibt man ihnen einen Sinn und eine Berechtigung. Ein Tier kann sich wehren, aber nicht widersprechen und es kann leiden. Auch wenn uns dieses Leiden nicht vorstellbar ist, da wir keine Tiere sind, ist es eine begründbare Forderung, Leid nicht an dem menschlichen Status, sondern an der Leidensfähigkeit des Geschöpfes zu messen. In dieser Weise argumentiert Singer und ruft so zum Schutz dagegen auf, dass auch nur irgendeinem leidensfähigem Wesen ohne schlechtes Gewissen Leid zugefügt werden darf (vgl. Singer 1994, 109f.)

[56] ich verweise auf den kritischen Aufsatz von Lothar Pickenhain (1988) im 8. Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie.

[57] Seligman 1999, 19

[58] vgl. Seligman 1999, 20

[59] vgl. ebd. 25, 46

[60] ebd. 29

[61] Es ist bemerkenswert, dass Seligman überall, wo er vom Tier auf den Menschen schließt, deutlich macht, dass es seine Meinung ist.

[62] vgl. Seligman 1999, 50

[63] Seligman 1999, 43

[64] Seligman 1999, 227

[65] ebd. 227

[66] ebd. 80

[67] ebd. 52

[68] vgl. Maslow 1994, 62ff.

[69] vgl. Theunissen 2005, 21-24

[70] vgl. Seligman 1999, 155

[71] Seligman 1999, 146

[72] ebd. 55f.

[73] vgl. Seligman 1999, 40

[74] Vojta 2004, 187

[75] ebd. 72

[76] Ältere Kinder oder Erwachsene, die Vojta-Therapie erhalten, können sagen, wenn ihnen etwas weh tut oder wenn ihnen eine Berührung unangenehm ist und man sie nicht haben will. Die Aussicht, dass sich dadurch etwas ändern würde, macht die Lage für sie kontrollierbar. Für sie ist auch eher kalkulierbar, dass und wann die Behandlung endet, was Stress abbaut.

[77] In einer kritischen Abhandlung über Vojta-Therapie von Reinhard Radzun und Astrid Schröder heißt es dazu: "Es muß davon ausgegangen werden, daß die zumeist abrupt einzuleitenden Lageveränderungen in hohem Maße angstauslösende und verunsichernde Faktoren beinhalten, da sich das Kind nirgendwo abstützen kann und ihm die sichernde Unterlage, quasi der ‚Boden unter den Füßen', genommen wird" (Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie 1983, 82).

[78] siehe dazu: "Aspekte einer Kritik des Verfahrens des ‚erzwungenen Haltens' (Festhaltetherapie) bei autistischen und anders behinderten Kindern und Jugendlichen" von Georg Feuser (1987, 73-134)

[79] Harlow 1962, 144

[80] Feuser 2004

[81] vgl. Heinemann 2008, 153

[82] vgl. Spitz 1976, 281

[83] vgl. Skeels 1942, 340ff.

[84] Der Brockhaus 1989, 261f.

[85] vgl. Nickel, 1999

[86] vgl. Sinason 2000, 18

[87] vgl. Maslow 1994, 62ff.

[88] Galtung 1993, 106

[89] vgl. Maslow 1943, 370ff.

[90] Gehlen 1986, 46 ff.

[91] vgl. Mead 1969, 294ff.

[92] Buber 2006, 33

[93] vgl. Plessner 2002, 58

[94] vgl. SGB IX

[95] vgl. Erikson 1973, 141

[96] SGB VIII, §1

[97] BGB, §1631

[98] Erikson 1973, 44

[99] Erikson 1973, 62

[100] vgl. Bauer 2007, 71

[101] vgl. Bauer 2007, 61

[102] vgl. Luhmann 1985, 402

[103] vgl. Erikson 1973, 62-120

[104] Erikson 1971, 400

[105] Der Satz "Dummheit ist ein Wundmal (Horkheimer/Adorno 1969, 229)" aus der "Dialektik der Aufklärung" kann in Zusammenhang mit der Thematik der geistigen Behinderung gebracht werden.

[106] Feuser 1996

[107] Cloerkes 2001, 9

[108] Freire 1971, 53

[109] ebd. 53

[110] ebd. 93

[111] ebd. 94

[112] Lange in Freire 1971, 9

[113] Lange in Freire 1971, 9

[114] Goffman 1972, 17

[115] Goffman 1972, 43

[116] Freire 1971, 57

[117] Freire 1971, 47

[118] ebd. 63

[119] ebd. 68

[120] Freire 1971, 51

[121] ebd. 78

[122] ebd. 154

[123] ebd. 83

3. Kapitel: Die Verantwortung des Pädagogen

3.1. Reflexion und Aktion im Dienst der Befreiung

Bevor ich dazu übergehe, Gewalterfahrungen im Leben geistig behinderter Menschen zu entdecken, will ich noch einen Moment bei Freire verweilen und die phänotypische Ähnlichkeit im Verhaltensmuster der dargestellten Landarbeiter mit dem vieler geistig Behinderten dazu benützen, die Rolle des Sonderpädagogen aus der des Befreiungspädagogen im Sinne Freires zu entwickeln.

Für letzteren bedeutet der Vorgang der Befreiung "die Aktion und Reflexion von Menschen auf ihre Welt, um sie zu verwandeln."[124] Im unter diesen Umständen günstigsten Fall ist dies ein Akt der Selbstbefreiung - in dem doppelten Sinn, dass das Selbst sich selbst befreit. Die Entwicklung von Autonomie aus eigener Kraft kennzeichnet mehr oder weniger jede "normal" verlaufende Identität. Dazu braucht es wenig Zutun. Nicht normal ist, wenn unter dem Eindruck von Unterdrückung und im Bewusstsein von Hilf- und Wertlosigkeit die Motivation, im eigenen Sinn zu denken und zu handeln brachliegt. Im Zwangsstatus ist die Kluft zwischen Sehnen und Wirklichkeit tief und mit jedem Versagen wird sie tiefer. Im Schwinden der Kräfte wächst die Angst, sie zu überwinden und bald erlahmt jede Fähigkeit, einer Grenzsituation offensiv zu begegnen. "Da die Unterdrückten das Bild des Unterdrückers internalisiert haben,(...) fürchten sie sich vor der Freiheit."[125] Anpassungsdruck und Veränderungsangst führen in einen Seelen- und Geisteszustand, der es schwierig macht, aus sich selbst heraus wieder in Bewegung zu kommen. Nicht nur Depressive und geistig Behinderte, aber diese häufig, geraten in einen Zustand, der sich ohne einen Anstoß von außen kaum mehr zu ändern droht. Der Status quo, in dem das Leben nicht mehr ohne Hilfe gelingen kann, ist der, dass das Außen und das Innen so wenig zusammenpassen, dass die eigene Kompetenz nicht ausreicht, beides so zueinander zu bringen, dass es sich kongruent anfühlt. Erfahrung und Selbst, Außerweltliches und Innerweltliches finden nur noch so zueinander, dass eines von beiden bekämpft wird. Fremdschädigendes oder selbstschädigendes Verhalten ist der einzige Weg, dass sich das eine im anderen widerspiegelt. Reißt das Band zur Welt, in der man trotzdem weiterleben muss, ist innere Zerrissenheit nicht aufzuhalten.[126] Wenn man erlebt, dass die Welt sich nicht ändern lässt, muss man sich selbst ändern. Die eigene Seele wird soweit zurechtgestutzt, der eigene Körper solange aggressiv bearbeitet, bis es passt. Man geht sozusagen an der Welt zu Grunde.

Die Aufgabe des Pädagogen ist es, sich dazwischen zu stellen und das Widerstrebende zueinander zu führen, eine Brücke zu sein zwischen der erscheinenden Welt und dem inneren Erleben des anderen.[127] Da für Behinderte nur dieselbe Pädagogik gelten kann wie für alle, scheue ich mich, von einem besonderen pädagogischen Verhältnis zu sprechen. Hat man sich festgelegt, Behinderung ausschließlich als eine Beschreibung eines sozialen Verhältnisses gelten zu lassen, fällt es schwer, ein Vokabular zu finden, das nicht doch unterschwellig etwas Defizitäres und Bedürftiges in der Person des Behinderten als etwas suggeriert, was von Haus aus da ist. Hilfebedarf kann nur meinen, dass es eines Zutuns bedarf, damit der Betroffene wieder in die Gesellschaft und die Gesellschaft wieder zu ihm findet. Die Beziehung ist es, die Hilfebedarf hat. Oder anders gesprochen: Die Integration ist behindert und es braucht Hilfe, dass der Behinderte in ein System findet, aus dem er vorher ausgeschlossen wurde. Es gibt innerpersönliche Voraussetzungen, die Interaktion und Integration erschweren. Ob körperliche Normabweichungen, hirnorganische Schäden, genetische Schädigungen, ob erworbene oder angeborene Auffällig-keiten - die Interaktionspartner und das System stehen vor der Aufgabe und brauchen Hilfe darin, dass sie Behinderung und sozialen Ausschluss mildern oder vermeiden. Im Verhindern von Behinderung und Ausschluss arbeitet Pädagogik präventiv.

Als Mittlerin zwischen den Welten ist sie also aufgefordert, sich sowohl dem Behinderten bzw. dem von Behinderung Bedrohten als auch dessen umgebender Lebenswelt zuzuwenden. Da der Pädagoge die Intention haben muss, etwas zum Besseren zu lenken, schließt die Zuwendung Reflexion, Aufklärung und Aktion mit ein. Für Flitner ist pädagogische Wissenschaft, deren Selbstverständnis die "Reflexion am Standpunkt der Verantwortung"[128] ist, eine, die sich handelnd als "réflexion engagée"[129] versteht. Eine Pädagogik, die auf Befreiung und Emanzipation hinarbeitet, kann nur kritisch und handlungsorientiert sein. Beide Aspekte haben ihren separaten Raum und sind doch aufeinander verwiesen.[130] Der Mensch, der sich befreit, benötigt beides wie auch die Pädagogik, die den Menschen befreit. Sie wird so zum verlängerten Arm dessen, der Unterstützung braucht. Freire schildert drastisch, was passiert, "wenn ein Wort seiner Aktionsdimension beraubt wird"[131]: "Da wird das Wort in leeres Geschwätz verkehrt, in Verbalismus (...). Es wird dann zu einem leeren Wort, das nicht mehr in der Lage ist, die Welt zu kritisieren, denn zur Kritik kann es nicht kommen, wo man nicht der Veränderung verpflichtet ist."[132] Handlungsorientierung schließt für mich mit ein, dass durch Reden und Schreiben andere zum Handeln angeregt werden. Kritische Wissenschaft ist deshalb unverzichtbar, denn sie klärt auf und kann dazu beitragen, dass andere besonnen handeln. Versteht sich der Pädagoge als einer, der den Behinderten assistierend unterstützt, ihm als Sprachrohr zur Seite steht, damit er sich ausdrücken kann, muss er in dieselbe Richtung denken und handeln wie er.

Man würde Freire zu kurz interpretieren, wenn man sein Werk nur als Kind der Zeit und der Umstände sehen würde. Deutschland ist nicht Südamerika, Behinderte sind keine Sklaven und es geht nicht um eine manifeste Revolution, die die Unterdrückten von Armut und Hunger befreit. Aber Rechte für Behinderte durchzusetzen kann auch eine Form von Kampf sein, Druck von ihnen zu nehmen, kann Befreiung sein, und Befreiung kann verstanden werden als eine vom Hunger nach Liebe und von Armut in Geist und Seele. Der Vergleich sei mir erlaubt, denn Freire selbst redet in diesen Dimensionen und überträgt seine Theorie allgemein auf menschliche Prozesse, die von Machtdifferenz geprägt sind und die so im Rahmen von sozialer Ungerechtigkeit ablaufen. Der besondere Wert seiner Theorie besteht darin, dass er getreu seinem eigenen Motto dem Übel auf den Grund geht und Wege zur Beseitigung aufzeigt.

Am Anfang steht der Akt der Gewalt, der das Opfer in ein elendes und entfremdetes Leben zwingt. Der revolutionäre Führer, der sein Volk befreien will, hilft ihm, sich seiner Unterdrückung bewusst zu werden, was mit "conscientização"[133] bezeichnet ist. Dies geschieht durch Miteinander-Denken im Miteinander-Reden nach der "problemformulierenden Methode"[134]. Der folgende Kampf ist einer gegen den Unterdrücker an der Seite der Unterdrückten. Das Ende ist nicht die Beseitigung des Feindes, sondern der Sieg über den verinnerlichten Unterdrücker. Erst wenn beide besiegt sind, ist die Basis für einen humanen und liebevollen Umgang miteinander gelegt und ein schöpferisches und angstfreies Leben ist wieder möglich. Dieses Prozedere kann für alle Pädagogik gelten. Je nach Ausmaß der Gewalt und der Gewaltwirkung kann es für jeden Pädagogen notwendig werden, dass er Anteile eines revolutionären Führers besitzt, auch wenn der Kampf nicht immer so manifest und die Verhältnisse nicht immer so dramatisch sein mögen.

Prinzipiell geht es immer darum, dass das Individuum an Grenzen stößt. Widerstände und Hindernisse, wie sie das Leben mit sich bringt, wollen überwunden werden. Hürden müssen genommen werden, Aufgaben müssen gemeistert werden. Grenzerfahrungen[135] werden vom Menschen bewusst und als Herausforderungen erlebt. Begrenzung, Behinderung, Beschränkung lösen Widerstand aus. Niemand bleibt gern begrenzt, behindert und "beschränkt". Nur selbst auferlegter Zwang und Selbstbeschränkung zugunsten einer Sache, für die man bereit ist, Freiheit aufzugeben, kann in die Persönlichkeit integriert werden, während man hingegen immer versuchen wird, sich von Fremdzwang und Fremdbestimmung zu lösen. Grenzen zu überwinden ist eine Verwandlung an sich und an der Welt. Es ist ein schöpferischer Akt, wie er dem Wesen des Menschen, wie Freire ihn sieht, gerecht wird: "Befreiung ist ein Vorgang der Praxis: die Aktion und Reflexion von Menschen auf ihre Welt, um sie zu verwandeln."[136]

Wo die Mittel versagen oder die Hürden zu groß sind, kann pädagogische Einflussnahme hilfreich sein. Das Entscheidende für eine befreiende Pädagogik inklusive Behindertenpädagogik ist die Richtung des pädagogischen Wirkfaktors. Im Sinne einer Befreiungspädagogik hat der Sonderpädagoge das Selbstverständnis, dass er den Behinderten darin unterstützt, die Welt nach dessen Bedürfnissen zu verwandeln. In der Reflexion ist der Pädagoge auf den Behinderten und auf die Welt bezogen, was Selbstreflexion einschließen muss. Die Aktion aber, die von Haus aus auf Verwandlung setzt, wendet sich der Welt und nicht dem Behinderten zu.

"Für den echt humanistischen Erzieher wie den echten Revolutionär ist die Wirklichkeit, die von ihnen mit anderen Menschen zusammen verwandelt werden muss, Gegenstand des Handelns, nicht aber der Mensch selbst." [137]

Vor dem Verständnis, dass es die umgebende Welt ist, die dem unpassenden Menschen gegenüber behindernd agiert, würde sich der Pädagoge, der den Behinderten passend ändern will, zum Handlanger der dehumanisierenden Gesellschaft machen. Nur der Pädagoge, der die Lebenswelt des Behinderten ändern will, vertraut im Wissen um dessen Vernunft darauf, dass es diesem in der passenden und freiheitlich gestalteten Welt möglich wird, Abwehrhaltungen und Abwehrhandlungen aufzugeben, den verinnerlichten Feind zu besiegen und in ein dynamisches Leben zurückzufinden.

Um die sonderpädagogische Verantwortung konkreter und zusammenfassend an die Gewaltproblematik zu binden: Gewalt auf der einen Seite und Gewalterfahrung auf der anderen Seite sorgen dafür, dass die objektive Welt, in der der Behinderte lebt und die subjektive Welt, in der er diese erlebt, unmöglich zueinander finden. Ist die Beziehung zur Welt ein Gewaltverhältnis, in dem der Behinderte das Opfer ist, lässt sich Stimmigkeit nicht erzielen. Die Unstimmigkeit mit der Welt setzt sich fort, indem sich der Behinderte weder mit der Umgebung noch mit sich selbst als stimmig erlebt. Der erste und wichtigste Schritt, damit er mit sich und mit der Welt annähernd in einen Frieden kommt, ist deshalb die Reduktion von Gewalt und von Gewalterfahrung. Der Einwand wäre hier berechtigt, was der Pädagoge damit zu tun hat. Wenn Gewalt objektiv vorliegt, ist die Justiz zuständig, wenn psychische Faktoren dafür sorgen, dass alle Erfahrungen als gefährdend empfunden werden oder traumatisierende Gewalt stattgefunden hat, ist die Psychologie bzw. die Psychiatrie zuständig. Beide Interventionen greifen erst, wenn der Schaden offensichtlich ist. Prävention und Aufklärung über das, was schädigt, sind dagegen ureigenes Terrain des Pädagogen. Aber auch, wenn Gewalt als Behinderung und Störung bereits ihre Spuren hinterlassen hat, ist pädagogisches Wirken unverzichtbar. Wird Gewalt - wie geschildert - als jede menschliche Aktion gesehen, die Angst macht und akut oder permanent dem Bedürfnis des anderen nach Autonomie und Teilhabe entgegenarbeitet, dann greift der schützende Arm des Gesetzes nicht weit genug. Psychologische Hilfe muss Behinderten mit Störungen diagnostisch und therapeutisch unbedingt geleistet werden. Gleichwohl stellt Gaedt 1992 fest: "Die Psychiatrie erhebt heute keinen Anspruch auf Zuständigkeit bei der Betreuung dieses Personenkreises."[138]

Der Pädagoge ist aber nicht nur Lückenbüßer, sondern auch einer, der im "Dazwischen" seinen angestammten Platz hat. Tendenziell beschäftigt sich die Justiz vornehmlich mit dem Täter und die Psychiatrie mit dem Opfer. Indem der Pädagoge sein Arbeitsfeld im Idealfall in den erschwerenden Lebensverhältnissen hat, kann er Beziehungen und Gewaltverhältnisse beeinflussen und so quasi Täter-Opfer-Ausgleich betreiben. Er fungiert als Puffer für Gewalt, wenn er sich dazwischen stellt. Reflexiv und aktiv bekämpft er Gewalt, indem er sie benennt und interveniert. Durch seinen Widerspruch und seinen Widerstand behindert er letztlich Behinderung und stört er Störung. In einer nach dem Maßstab der Gewaltfreiheit umgestalteten Lebenswelt und in der Begegnung mit der Person des Pädagogen selbst wird dem Behinderten eine stressarme Welt mit Freiheits- und Bindungsangeboten vermittelt, die sich vor seinem inneren Auge allmählich so repräsentiert, dass er es wagt, eine Beziehung zu ihr zu suchen und so aktiv und selbstwirksam am inneren Gleichgewicht zu arbeiten, um mithin im äußeren Frieden inneren Frieden kennenzulernen, denn

"Frieden ist die Abwesenheit von Gewalt." [139]

3.2. Lebensweltorientierte Suche nach Gewalt

Wäre Gewalt immer etwas Offensichtliches, bräuchte man sich mit der Suche nach ihr nicht aufhalten. Sie ist jedoch eine Meisterin im Verstecken und Verkleiden. Gewalt tritt physisch und psychisch auf, sie erscheint direkt oder indirekt. "Den Typ von Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, bezeichnen wir als personale oder direkte Gewalt; die Gewalt ohne Akteur bezeichnen wir als strukturelle oder indirekte Gewalt (...): die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen."[140] Sie manifestiert sich oder wirkt, indem man sich vor ihr fürchtet, denn "die Androhung der Gewalt ist ebenfalls Gewalt."[141] Sie versteckt sich im Lebenslauf der Behinderten und treibt dort ihr Unwesen. Sie bleibt verborgen, weil keiner sie sucht und dem Behinderten die Mittel fehlen, sie zu artikulieren und sie bleibt unerkannt, weil Bewertungsvoraussetzungen von Gefährdung, wie sie die Person des Behinderten bestimmen, weder mitgedacht noch verstanden werden. Der Bedeutung von Gewalt kann nur gerecht werden, wer sich bei der Suche nach ihr an der gesamten Lebenswelt des anderen orientiert, insbesondere dann, wenn Wesen und Verhalten auf Gewalterfahrung hindeuten.

Meiner Meinung nach hält das Konzept der "Lebensweltorientierung"[142] nach Hans Thiersch ebenso wie die Befreiungspädagogik Freires viele Aspekte bereit, die für eine Behindertenpädagogik nützlich sein könnten und die noch nicht genügend aufgegriffen wurden. Beide stehen für eine Pädagogik, die den individuellen Menschen als freiheitliches und soziales Wesen in den Mittelpunkt des Interesses stellen, sein Problem aber gleichzeitig dezentralisieren. Auch die Problemlösung bleibt primär dezentral, indem die Lebensumstände so geändert werden, dass Freiheit im sozialen Verbund gelebt werden kann. Die Vehemenz, mit der kritische Pädagogen das Marx'sche Gedankengut auf ihr Terrain anwenden, entspricht der Hartnäckigkeit, mit der andere versuchen, das Problem beim Betroffenen zu lassen und es dort zu bekämpfen. Noch immer oder mehr denn je wird versucht, ohne das geringste Zweifeln an gegebenen Verhältnissen Problemkinder und Risikokinder mit primitiver Konditionierung in diese Verhältnisse hinein zu zwingen. Es braucht oft keine Beziehung zu einem Einzelfall, um grundsätzlich Unterdrückung und Gewalt aufzudecken. Deshalb ist mit einer kritischen Theorie, die primär Gewaltelemente und soziale Ungerechtigkeit in der Lebenswelt aufdeckt, anprangert und so aufklärerisch bekämpft, viel gewonnen. Solange die Lebenswelt, in der sich das Individuum zurecht finden muss, erkennbar mit Elementen durchsetzt ist, die für sich schon ein Entwicklungsrisiko darstellen, braucht man sie nicht eigens zu Vorerfahrungen im Leben des Betroffenen wertend in Beziehung setzten. Die Überlegung, dass eine Erfahrung unter Umständen erst im Abgleich mit dem Bewusstsein zu einer Gewalterfahrung wird, erübrigt sich, wenn bei der Analyse von Lebenswelt, Alltag oder gesellschaftlichem Umfeld klar wird, dass Grundbedürfnissen und Grundrechten in einer Weise nicht entsprochen wird, dass jegliche Bewältigungskompetenz scheitern muss. Die Abbauarbeit an entfremdenden Verhältnissen ist Voraussetzung für die Lösung menschlicher Probleme, sie ist Vorleistung für das Werdende. Der Pädagoge oder alle anderen Mahner können Initiatoren für diesen Kampf gegen Gewalt sein, den zu führen sie unabhängig von der Stimme der Benachteiligten berechtigt sind, wenn sie zu deren Wohlergehen abgestellt sind. Denn es kann angenommen werden, dass niemand gern in Angst lebt und auf das Gefühl von Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe verzichtet. Diese indirekte Art der pädagogischen Hilfe kann einsetzten, ohne dass der Betroffene etwas dafür tun muss. Er muss es, um es lapidar zu sagen, nicht einmal mitbekommen, dass der Pädagoge etwas für ihn tut. Und das ist manchmal gut, da er sich nicht erneut abhängig fühlen muss.

Um Verhältnisse klientenzentriert zu verstehen, genügt es oft nicht, nur Beobachter zu sein. Doch bereits als teilnehmender Beobachter wird man Teil der Lebenswelt des anderen. Reflexion über Lebensverhältnisse muss insofern das Nachdenken darüber mit einschließen, wo Missachtung und Zwang von einem selbst ausgehen. In den Betrachtungen zu Förderung und besonders zum Hilfeaspekt bezogen auf die Lebenswelt des geistig behinderten Menschen wird davon die Rede sein müssen.

Die Suche nach Auslösern für ein Verhalten und nach unerfüllten Sehnsüchten wird vereinfacht, wenn Kommunikation stattfinden kann. Die Antworten auf Fragen wie "wovor hast du Angst?", "was ist passiert?" oder "was willst du?" erleichtern die Suche nach Lösungen. Wenn Dialog behindert ist, bleibt es oft ein Raten. Lebensweltorientierung kann ein Umweg zum Wissen um die Bedürfnisse des anderen sein, wenn dieser sie nicht artikulieren kann. Die Qualität von Beziehungen kann Hinweis auf Auslöser sein. Da die Welt des Erlebens von Vorerfahrungen geprägt ist, sind Biographiearbeit und Rehistorisierung im Prinzip des Lebensweltbezugs mit eingeschlossen. Nur in diesen Verfahren mag es dann möglich sein, zum Kern einer Behinderung vorzustoßen, dessen Wirkung ungebrochen ist, wenngleich er sich als Ursache im Lebenslauf unsichtbar macht. Verstehen im hermeneutischen Sinn ist dann weniger eine Sache des Gefühls als eine Sache des Wissens und die Kenntnis von lebensweltlichen Zusammenhängen und Ereignissen.

Dieses Wissen bestimmt die Diagnose, wie das Problem gelagert ist. Auch eine gute Wirkung oder eine positive Reaktion ist oft nur vor dem Hintergrund der Vorerfahrungen des anderen verständlich, aber da es bis jetzt um Gewaltwirkung, also um negative Erfahrungen geht, richtet sich der Blick auf Belastungssituationen, die Ursache für problematisches Verhalten und eine problematische Entwicklung sind. Dabei ist es unerheblich, ob der andere erblich vorbelastet, posttraumatisch oder traumatisch belastet ist. Immer erschließt sich der Sinn des so Seins und so Handelns nur im Bezug auf die aktuelle und vergangene Lebenswelt. Sinnverstehen ist ein Blick unter die Oberfläche, ein Blick hinter Mauern und Fassaden. Man muss darauf gefasst sein, dort, auf der "Hinterbühne", auf Gewalt zu stoßen, die sich auf der "Vorderbühne" anders gewandet.[143] Eingeschlossen ist der Blick hinter die eigene Fassade. Im Bemühen um Hintergrundwissen spiegelt sich der Respekt vor der Sinnhaftigkeit des anderen Verhaltens entsprechend dem Satzes des chinesischen Philosophen Tschuang-Tse: "Ich bin nicht du und weiß dich nicht."[144] Auch die Anerkennung, dass das Hineindenken Grenzen hat, ist Ausdruck von Respekt vor der anderen Person. Für Sennett ist die Akzeptanz der Möglichkeit von Unverständnis Zeichen des Respekts vor seiner Autonomie. Erst in der Abgrenzung ist eine Annäherung möglich, in der der andere sich selbst als autonom erfahren kann. Nur scheinbar paradox ist es, dass die Begegnung im Bewusstsein der Gleichheit über das Anerkennen der Ungleichheit verläuft:

"So verstanden ist Autonomie ein mächtiges Instrument zur Förderung von Gleichheit. Statt einer Gleichheit des Verstehens, einer transparenten Gleichheit, bedeutet Autonomie, dass man akzeptiert, was man im anderen nicht versteht - eine opake Gleichheit. Damit behandelt man die Autonomie des anderen als der eigenen gleichwertig." [145]

Die gebotene Zurückhaltung dabei, sich des Verstehens des anderen sicher zu sein, rechtfertigt jedoch nicht, das Bemühen um Verstehen zu unterlassen. Der Begriff der prinzipiellen Unverstehbarkeit ist philosophisch gesehen Ausdruck von Respekt. In der Praxis dagegen, wenn es darum geht, Bedürfnisse des anderen zu entschlüsseln, ist die Annahme von Unverstehbarkeit im Sinn von Unvernunft Ausdruck von Respektlosigkeit und die Vorstufe zu Unwissen. Im Zusammenhang mit Erkrankungen ist Respekt die Grundannahme, dass Symptome verständlich sind, auch wenn das Wissen um die Gründe im Augenblick fehlt.

Fallbeispiel [146] :

Marcel[147], Schüler einer Förderschule, konnte nur gegen Widerstand in die Schule gebracht werden und war dort aggressiv. Sein Verhalten wurde gemaßregelt, nicht zuletzt um andere Schüler zu schützen. Behandlung mit Psychopharmaka wurde begonnen, was aber nur Nebenwirkungen erzielte. Als Ursache wurde seine Behinderung festgelegt. Erst im Blick auf seine Lebenswelt zuhause wird der wahre Zusammenhang deutlich: Der Junge musste oft mit ansehen, wie der Vater die Mutter schlug. Er wusste, dass er sie nicht schützen kann, wenn er aus dem Haus geht, und die Zeit in der Schule musste er in Angst um seine Mutter verbringen und im Ungewissen, ob sie gerade geschlagen wird oder nicht. Sein Platz war an der Seite der Mutter und alles andere war falsch und unvernünftig.

Besonders in der Begegnung mit Menschen mit einem Behinderungs- und Störungsbild ist Respekt vor der Anderheit des anderen bei gleichzeitigem Wissen um seine Vernunft eine Herausforderung. Ihn auf der einen Seite mitsamt seinen Bewältigungsleistungen als Person gelten zu lassen und sich trotzdem in seine innere und äußere Lebenswelt einzumischen und auf eine Veränderung hinzuwirken, ist ein Spagat. Wie der Mensch das Maß aller Dinge ist, so ist der (sonder)pädagogische Maßstab für Einmischung in das Leben des zu vertretenden anderen dessen Leidensdruck und nicht der Erwartungsdruck von außen. Nicht nur im Handeln, sondern auch im Verstehen dient der Homo-Mensura-Satz des Protagoras als Richtschnur. Wie sich die Welt dem einzelnen Menschen darstellt, ist Maßstab für die Beurteilung, welche Bedeutung ein Eindruck für ihn und welche Wirkung ein Erlebnis auf ihn hat. In dieser Weise findet neben hermeneutischem auch phänomenologisches Denken Eingang in das Konzept der Lebensweltorientierung.

3.3. Macht und Gewalt

Verantwortung zu übernehmen heißt nicht zwangsläufig, die Entwicklung des anderen agierend zu beeinflussen. Verantwortetes Handeln ist auch ein bewusstes Nicht-Eingreifen. "'Geschehenlassen' (ist) keine Passivität, sondern höchstes Tun, (...) ein ‚Wirken' und ‚Wollen'"[148]. Macht auf das Bestehende auszuüben ist ebenso zu verantworten wie Untätigkeit. Letztere ist nicht automatisch ein Laissez-faire und ersteres nicht von Haus aus ein Gewaltakt. Macht ist immer ein potentieller Eingriff in die Autonomie des anderen. Jede Abhängigkeit, auch wenn sie freiwillig gewählt ist, lasst sich als Machtverhältnis bezeichnen: "Insofern als wir mehr von anderen abhängen als sie von uns, mehr auf andere angewiesen sind als sie auf uns, haben sie Macht über uns, ob wir nun durch nackte Gewalt von ihnen abhängig geworden sind oder durch unsere Liebe oder durch unser Bedürfnis, geliebt zu werden, durch unser Bedürfnis nach Geld, Gesundung, Status, Karriere und Abwechslung."[149] Asymmetrie und Machtüberhänge scheinen so unvermeidlich, aber da "Macht jede Chance (ist), innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen"[150], wird jedes Streben darauf gerichtet sein, Machtdifferenz auszugleichen oder zumindest Nischen zu finden, in denen Autonomiedefizit kompensiert werden kann. Selbsttätig Autonomie zugunsten sozialer Beziehungen aufzugeben begleitet die Persönlichkeitsentwicklung, wie sie bei Erikson aufgezeigt wurde, und man sollte annehmen, dass der Mensch selbst für ein Gleichgewicht sorgen kann. Das Bedürfnis nach dem einen oder dem anderen ändert sich je nach Lebenslage und wenn man seinen Bedarf nicht aus eigener Kraft sichern kann, ist man darauf angewiesen, dass die Sozialisationspartner die passenden Angebote bereit stellen. Freiheit zulassen, soziale Kontakte ermöglichen und Bindung anbieten im Vertrauen darauf, dass der andere weiß, was für ihn gut ist, kennzeichnet eine Aktivität, die geringes Gewaltpotential hat. Die Einstellung, dass man etwas manipulieren muss, damit es gelingt, ruft dort, wo es Menschen betrifft, Widerstand hervor, da Eigenverantwortlichkeit und Eigengesetzlichkeit in Frage gestellt werden. Es ist Gewalt notwendig, jemanden, der Bindung will, in die Freiheit zu zwingen und es braucht Gewalt, den, der nach Emanzipation strebt, in Zwang und Abhängigkeit zu fesseln. So gegen das Selbst des anderen zu arbeiten, ist in einem Erziehungsverhältnis - dieses Wortspiel in Anlehnung an Bubers "Vergegnung"[151] sei erlaubt - nicht Erziehung, sondern "Verziehung".

Oft ist zu beobachten, dass Zwang und Frustration künstlich in den Sozialisationsprozess eingebaut werden. Nahrung und Rechtfertigung bieten zahlreiche Erziehungsratgeber. Zwang ist dabei kaum von Gewalt zu trennen, da Ohnmacht und Hilflosigkeit erfahren werden. Nichtsdestotrotz herrscht vielfach die jeder Entwicklungspsychologie widersprechende Meinung vor, dass Methoden, wie sie in Büchern wie "Jedes Kind kann schlafen lernen"[152] oder "Lob der Disziplin"[153] empfohlen und in Festhaltetherapie oder innerhalb der konfrontativen Pädagogik praktiziert werden, die damit arbeiten, dass der Eigenwille gebrochen wird, geeignet sind, zur Entwicklung eines starken und gemeinschaftsfähigen Menschen beizutragen. Dass Fremdzwang nötig ist, um zivilisationsfähig zu werden, kann nur für inhumane Zivilisationen gelten. Dem, der so behandelt wird, vermittelt sich, dass er so wie er ist, nicht richtig und nicht vollständig ist. Er erfährt, dass man ihn anders will als er ist. Im Ringen um Identität wird er versuchen, sich dem Zugriff auf sein Selbst zu entziehen. Behinderte haben oft nicht die Möglichkeit, sich zu entziehen oder sich zu wehren. Gleichzeitig erfahren sie mehr als andere, dass man an ihnen "herummacht", dass sie nicht genügen, wie sie sind und dass sie Förderbedarf haben. Das volle Menschsein wird ihnen von Anfang an abgesprochen.

Internalisiert wird daraus Selbstwertverlust. Dieser wurde neben Hilflosigkeit, Bindungslosigkeit und Angst als eine der zentralen Ursachen für psychische Schädigung bestimmt. Als Gewalt wurde bezeichnet, wenn menschliches Tun, Dulden oder Unterlassen für einen dieser Zustände verantwortlich ist. Suche, Benennung und Reduzierung von Gewalt wurde in den Verantwortungsbereich des Pädagogen eingebunden und Lebensweltorientierung als nützliche Methode zur Entdeckung von Gewalt beschrieben. Was bleibt, ist die Frage danach, wo im Leben von geistig behinderten Menschen Gewalt bevorzugt auftritt. Der Nachweis, dass Gewalterfahrungen das Leben von Behinderten in besonderer Weise prägen, kann ein Erklärungsversuch für die Prävalenzrate bei geistig Behinderten für eine psychische Erkrankung sein und auf das Zustandekommen einer geistigen Behinderung an sich zurückweisen.



[124] Freire 1971, 83

[125] ebd. 42, 197

[126] vgl. Freire 1971, 61

[127] Mit dem "anderen" ist jeder Adressat von Pädagogik gemeint und die Aufgabe kennzeichnet jeden Pädagogen.

[128] Flitner 1958, 18

[129] ebd.

[130] vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005, 16

[131] Freire 1971, 93

[132] Freire 1971, 93f.

[133] Freire 1971, 135

[134] Freire 1971, 84

[135] vgl. Freire 1971, 109-114

[136] Freire 1971, 83

[137] Freire 1971, 102

[138] Gaedt 1992

[139] Galtung 1975, 9

[140] Galtung 1972, 50

[141] Galtung 1993, 106

[142] Thiersch 2009, 5

[143] vgl. Goffman 1996,18

[144] Buber 1921, 62

[145] Sennett 2007, 151

[146] Es handelt sich um einen Fall, den ich persönlich erlebte, weswegen die Quellenangabe fehlen muss.

[147] Name geändert

[148] Heidegger 2003, 72

[149] Elias 1985, 97

[150] Weber 1984, 89

[151] Buber 1961, 6

[152] Kast-Zahn/Morgenroth 2005

[153] Bueb 2006

4. Kapitel: Gewalterfahrungen in der Lebenswelt geistig behinderter Menschen

4.1. Der defizitäre Blick

In der Fixierung auf Defizite und Abweichungen, wie sie beim Behinderten festgestellt werden, sehe ich einen entscheidenden Faktor für Selbstwertverlust und gleichzeitig die Quelle von weiterer Gewalt. Die Betrachtung und Behandlung des Behinderten als ein defizitäres Wesen wirkt direkt zerstörerisch auf das Selbst, ohne dass Erfahrungen von Hilflosigkeit, Einsamkeit und Angst involviert sein müssen. Der Mensch ist so sehr auf Verhaltenserwartungen und Reziprozität geeicht, dass er auf Abweichungen beim anderen sehr sensibel reagiert. Das Erwartete ist das Normale, das Abnorme sorgt innerlich für Perturbation. Je nach eigener Stabilität und dem Grad der Abweichung des anderen reicht das Reaktionsspektrum vom Gefühl der Bereicherung und des Aufgefordert-Seins bis zu Xenophobie, Hass und Tötungswunsch[154]. Abweichung beinhaltet sowohl, dass etwas anders ist als auch, dass etwas fehlt. Ist die Abweichung offensichtlich und eklatant, droht der Blick auf Defekte oder Defizite die Beurteilung und die Begegnung mit dem anderen zu beherrschen. Dies betrifft den Behinderten immer und überall. Der defizitäre Blick heftet sich an ihn von der Wiege bis zur Bahre und diffundiert in sein Inneres. Dass der Mensch "am Du zum Ich"[155] wird, wird dem Behinderten oft zum Verhängnis. Aus dem "du bist nicht richtig, wie du bist", wird ein "ich bin nicht richtig, wie ich bin", aus dem "es genügt nicht, wie du bist" wird ein "ich genüge nicht, wie ich bin", aus dem "ich will dich anders als du bist" wird ein "ich will mich anders, als ich bin" und schließlich wird aus dem "es stimmst nicht, wie du bist" ein "es stimmt nicht, wie ich bin". Gesagt oder gedacht trifft es den Behinderten als offene oder versteckte Gewalt.

Jedes stimmige Selbsterleben wird im Keim erstickt, wo anerkennende Signale fehlen. Nicht nur in der Kindheit ist Selbstwert ein interaktional vermittelter. In ihm bildet sich der Wert ab, der zugebilligt wird. Wertschätzung und wertschätzender Umgang erreichen den Behinderten unzureichend. Erst recht, wenn die Diagnose der Behinderung gestellt ist, konzentriert sich der Blick auf das Abweichende und versperrt den Blick auf die ganze Person. Der Rest der Person, der den Zugang erleichtern könnte, wird abgespalten und marginalisiert; eine Entwicklung, die sich innerseelisch fortsetzen kann. Defizitorientierung gerät so zum Widerspruch zur Lebensweltorientierung, welche versucht, den Menschen als Ganzes zu fassen und den Blick auf Ressourcen und Potentiale zu lenken.[156] Der defizitäre Blick macht vor der Person des Behinderten halt und verdinglicht ihn zu einem Objekt von Behandlung und Förderung. Er bedient sich eines medizinischen Paradigmas, wie es nicht einmal zeitgemäß ist, im Glauben, damit auch der Komplexität von Geist und Seele gerecht zu werden. Der Behinderte wird defektologisch untersucht; was falsch ist, wird möglichst korrigiert[157]; was fehlt, wird möglichst gefördert. Er wird passend gemacht. Die parallel verlaufende Achse, auf der sich die Lebenswelt anpassen muss, Defizite in ihr zu suchen sind und sie behandelt werden muss, wird ausgeklammert oder nicht einmal mitgedacht. So als wäre der Mensch ein System, das nur um sich selbst kreist. Behinderte drohen sich eben erst dadurch in sich selbst zurückzuziehen, dass die Welt sich nicht anpassungsbereit zu ihnen in Beziehung setzt. Integration scheitert nicht selbstverständlich an der Integrationsunfähigkeit des Behinderten, sondern im gleichen Maß an der der umgebenden Gesellschaft.

Der defizitäre Blick ist nicht nur Sinnbild für Ablehnung und Abwertung, manchmal befreit er sich aus der Subtilität und tritt auf die Straße, wo man ihn beobachten kann: Trifft er auf einen Behinderten, so wird er starr. Hemmungslos wird auf ihn geblickt, als käme er von einem anderen Stern. Einige schämen sich ihrer Schaulust oder haben noch nicht genug und der Blick trifft den Behinderten von hinten. Die Blicke sind bohrend. Die Intensität des Blicks verrät nichts Wohlwollendes, sondern wie bei Gaffern passives Interesse. Sicherheitsabstand wird eingehalten. Im besten Fall spricht aus dem defizitären Blick Mitleid, meist jedoch Befremden, Überheblichkeit, Verachtung, Ekel oder Spott. Ist der Behinderte von seinen Eltern begleitet, wandert der Blick zu diesen. "So alt sind die doch gar nicht." "Das muss doch heute nicht mehr sein." "Was haben sie falsch gemacht?" Wenn die Eltern es schaffen, sich nicht zu schämen, werden sie aggressiv oder gewöhnen sich daran, unter Fremden niemandem in die Augen zu sehen. Manchmal ist Einsamkeit unter Menschen unerträglicher als Einsamkeit allein. Eltern können dazu tendieren, sich den Blicken und dem Ungesagten darin zu entziehen und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Der Behinderte selbst isoliert sich auf seine Weise mit den ihm gebotenen Mitteln. Der Rückzug ist nicht selbst gewählt oder der Behinderung geschuldet, sondern er ist Antwort auf die sich abgrenzende Umwelt.

So wie Selbstwert sozial vermittelt wird, unterliegt auch der Selbstwertverlust meist einer sozialen Steuerung. Der Teil des Selbstwertes, der Ergebnis von Anerkennung ist, hängt auch vom umgebenden Werteverständnis ab. Schwächen in den gültigen Werten bedeuten eine Wertminderung. Solange sich die Gesellschaft der Bewertung von Menschen befleißigt, bemisst sich auch der Selbstwert an der Erfüllung der jeweils gültigen Normen und sozialen Erwartungen. Von der gesellschaftlichen Makroebene bis in den Mikrobereich des Austausches in den primären Beziehungen ist der Behinderte der Gefahr der Minderwertigkeit ausgesetzt, da er ja nicht als behindert bezeichnet würde, würde er die Erwartungen erfüllen. Die Gesellschaft, die Menschen nach Leistung, Arbeit, Schönheit und Vitalität bewertet, schafft ihre eigenen Behinderten, Menschen, die in ihrer Umwelt keine Gelegenheit haben, Selbstwert zu tanken. In allen nachfolgenden sozialen Kontexten von Schule über unbehinderte Spielkameraden, Fördersettings bis in die Familie werden sie mit der Erfahrung konfrontiert, hinter Normen und Erwartungen zurückzubleiben.

Viele Menschen begegnen dem Behinderten abwertend im Bewusstsein des eigenen Mehrwerts. Einige Menschen verzichten auf den erniedrigenden Bewertungsschlüssel und begegnen ihm im Bewusstsein von Gleichwertigkeit. Nur im Kontakt mit diesen lernt der Behinderte, dass Schwächen nicht seinen Wert mindern. Geistig Behinderte sind nicht emotional behindert. Sie entwickeln ein feines Gespür dafür, ob sich der Gegenüber für sie als Person oder für sie als Behinderung interessiert. Er lernt zu unterscheiden, wer ihn für voll nimmt und wer nicht, wer ihm ein horizontales Beziehungsangebot bei unterschiedlicher Kompetenzverteilung macht und wer Machtdifferenz zur Basis der Beziehung macht. Den Menschen vom Typ A, ob mit oder ohne Funktion, wird er sich eher öffnen und kooperieren. Menschen vom Typ B wird er sich eher verweigern und sich ihnen verschließen. Er gilt dann als stur, renitent, faul, dumm oder entwicklungsunfähig. Da Typ B den Willen des Behinderten brechen muss, neigt er zu direkter physischer und psychischer Gewalt. Wird Missachtung des anderen Willens gar zum festen Teil eines Konzepts, so lauert sie dort als strukturelle Gewalt - bereit, sich jederzeit in offene Gewalt zu verwandeln.

4.2. Förderung - ein zwiespältiges Thema

Der Begriff der Förderung ist gewöhnlich positiv konnotiert. Unter dem Aspekt des Verlustes von Selbstwert und Autonomie mischen sich Zweifel an der uneingeschränkten Förderlichkeit von Förderung. Eine selbstkritische Förderpraxis muss einkalkulieren, dass sie Selbstwert, Kompetenz und Autonomie eher hemmt als fördert und in Gefahr gerät, im Loopingprozess[158] die Schwächen zu fördern, die sie zu bekämpfen vorgibt. Selbstwert kann gemindert werden durch das Bewusstsein, förder- und hilfsbedürftig zu sein. Autonomie kann bestritten werden, indem der Behinderte dem Konzept und nicht das Konzept ihm angepasst wird, die Förderpraxis sich somit mehr am Konzept als am Klienten orientiert. Autonomie kann darüber hinaus gemindert werden durch die Erfahrung, dem Willen der Förderperson unterworfen zu werden. Das Berufsethos verlangt, dass diese sich selbst diesbezüglich kritisch Fragen stellt, auch wenn sie von dem Klienten nicht offen kritisiert wird. Wenn nötig stellvertretend für den Behinderten betreibt sie bei sich selbst die Freire'sche Bewusstmachung von Gewalt und Unterdrückung und stellt sich neben Supervision internen Gesprächen, die nach der problemformulierenden Methode prüfen, ob sie selbst ein Problem ist.

Das rechte Maß an Förderung zu finden ist eine pädagogische Kunst. Da es darum geht, das Individuum und die Umwelt, die auseinandergedriftet sind, wieder in Kontakt zu bringen, ist es ein ständiges Ausloten, welche der beiden Seiten wie viel Beitrag dazu leisten kann. Der Behinderte kommt der Welt näher, wenn er ihre Techniken erlernt und umgekehrt fällt der Umwelt der Zugang zu ihm umso leichter, je mehr Anknüpfungspunkte ihr geboten werden. Die Kunst derer, die dem Behinderten etwas Gutes tun wollen, besteht darin, ihn weder zu überfordern noch ihn zu unterfordern. Unterforderung kann in Richtung indirekte Gewalt gedeutet werden, da das, was eine für ihn optimale Entwicklung gewährleistet, nicht zur Verfügung gestellt wird. Eine dauernde Reizarmut, die erzeugt wird, indem man vom Behinderten alles fernhält, womit er nicht auf Anhieb zu Recht kommt oder indem man ihn in einem reizlosen Umfeld gegen die Welt abschottet, bremst seine Entwicklung. Dauernde Überforderung andererseits erzeugt dauernden Stress mit den bekannten Folgen. In der Beschäftigung mit Behinderten ist es in besonderem Maß schwierig, den Punkt zu finden, bis zu dem eine auffordernde Umwelt als Bereicherung empfunden wird und ab dem das Neue als Gefährdung des Selbst interpretiert wird. Referenzpunkte, an denen man sich orientieren könnte, sind rar gesät, da die Entwicklungsvoraussetzungen bei Behinderten so unnormal schwierig zu beurteilen und heterogen sind, dass eine Statistik, die auf Menschen mit normalen Chancen beruht, nicht aussagekräftig ist. Die Grenze kann nur eng an der Person und mit dem Maßstab, den sie selbst vorgibt, gefunden werden.

Flexibilität und Behutsamkeit sind in meinen Augen im pädagogischen Balanceakt zwischen Über- und Unterforderung gerade im Behindertenbereich Tugenden erster Wahl, da man deren erhöhte Vulnerabilität einkalkulieren muss. Hat man die Grenze zur Überforderung überschritten, dann ist nicht nur nichts gewonnen, sondern etwas verloren. Die beängstigende Situation kann nicht rückgängig gemacht und aus dem Bewusstsein radiert werden. Der Setpoint, an dem Angst einsetzt, ist möglicherweise bereits so verstellt, dass das Überfordernde nicht ignoriert wird, sondern Versagens- und Existenzängste wachruft. Und der Selbstwert hat möglicherweise schon so gelitten, dass ein missglückter Bewältigungsversuch so attribuiert wird, dass das Selbst weiter geschädigt wird. Permanente Überforderung macht den Behinderten für andere und vor allem für sich selbst zum generellen Versager mit generalisierter Angst.

Zusammen mit ihren behinderten Kindern teilen die Eltern das Gefühl, es nie recht zu machen. Ihr Alltag ist vom ständigen Zweifel bestimmt, ob sie ihrem Kind zu viel oder zu wenig zumuten. In der Angst, etwas unversucht zu lassen und sich dadurch an ihrem Kind schuldig zu machen, tendieren sie dazu, eher zu viel als zu wenig zu fordern.[159] Förderung droht am Behinderten vorbei zu gehen, wenn die Hoffnung der Eltern und die Erwartung der Gesellschaft maßgeblich sind. Freire würde sagen, dass der Behinderte zu einem "Container"[160] gemacht wird, der mit ihm fremden Wünschen und Vorstellungen aufgefüllt wird. Mit der wachsenden Zahl an Fördermöglichkeiten wächst der innere und äußere Druck auf die Eltern, diese möglichst viel zu nutzen. Die Angebotsvielfalt ist auf der einen Seite zu begrüßen, da sie die unterschiedlichsten Bedarfe abdecken kann. Auf der anderen Seite droht der Alltag des Behinderten so vom Fördergedanken geprägt zu werden, dass die Person mir den ihr eigenen Stärken und Eigenheiten hinter dem Förderobjekt verschwindet. Von anderen Gefäßen als Containern spricht Francois Rabelais rund 450 Jahre vor Freire: "Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen."[161]

Nichts liegt mir ferner, als Förderung und Hilfe in ein schlechtes Licht zu rücken. Der Behinderte braucht wie jeder Mensch je nach Lebenslage, Gemütslage, Kompetenz und Entwicklungsalter angemessene Förderung und Unterstützung. Doch muss es erlaubt sein, anzunehmen, dass nicht jede Förderung hilft und nicht jede Hilfe förderlich ist, ohne als Skeptiker oder in pädagogischen Kreisen als Nestbeschmutzer zu gelten. Die Namen "Förderung" und "Unterstützung" allein garantieren noch nicht deren Umsetzung. Gerade in Kulturkreisen, in denen Aktion einen höheren Stellenwert hat als Reflexion, oder deren Gesinnung vom Prinzip einer tätigen Nächstenliebe geprägt sein mag, droht es zur Selbstverständlichkeit zu werden, dass man dann am meisten zum Guten hin wirkt, wenn man etwas autark tut und sichtbar bewegt. Je mehr man tut und je mehr man äußerlich bewegt, desto mehr fördert man den anderen. Der Homo Faber macht vor dem Behinderten nicht Halt und die Abdeckung von Förder- und Hilfebedarf wird so sehr zum erzieherischen und pädagogischen Apriori bei Behinderung, dass Räume des Dialogs und Räume der Selbstfindung in Gefahr geraten, verschüttet zu werden. Je mehr dabei Förderung zur Technik wird, desto mehr wird der Behinderte zum Förderobjekt verdinglicht und verkümmert als Mensch unter den Händen derer, die meinen, Gutes zu tun. Um Bedenken konkret werden zu lassen, will ich schildern, was der Vaters eines Kindes mit Trisomie 21 erlebte und wie er sich selbst dabei erlebte:

Fallbeispiel:

"Als Andrea [162] kaum und undeutlich sprach, fuhren wir auf Empfehlung unseres Kinderarztes zu einem mehrtägigen Sprachtraining in einem Logopädischen Zentrum, in dem viel an behinderten Kindern gearbeitet wird. Die Einführung bestand darin, dass uns weniger das Konzept als vielmehr der vorgestellt wurde, auf dem das Konzept beruht. Die von C. M. in Argentinien betreuten Down-Kinder könnten alle perfekt reden und erreichten einen Intelligenzgrad, der ihnen Abitur ermögliche. Sie lebten absolut selbstständig und alle hätten zu allem Überfluss auch noch guten Mundschluss. Mangelnde und falsche Förderung verhindere all dies bei uns. Das wichtigste sei, dass durch Hartnäckigkeit und Konsequenz die Voraussetzungen geschaffen würden, dass es möglich sei, die eigenen Vorstellungen beim Kind durchzusetzen, das Kind sozusagen mit den Mitteln der Erwachsenen notfalls gegen Widerstand zur Willfährigkeit zu zwingen. Die Kinder würden letztlich profitieren und ein annähernd normales Leben führen können. Welche Eltern sind nicht empfänglich für solche Versprechungen insbesondere in der frühen Phase der Elternschaft, in der Resignation und Förderenthusiasmus gleichzeitige extreme Pole sind, die aufgrund von Wissen und Erfahrung noch ungenügend reguliert und relativiert sind? Den Eltern wird suggeriert: ‚Wenn sie ihr Kind nicht nach unserer Methode fördern, dann sind sie selbst schuld, wenn es nicht selbstständig wird, undeutlich spricht und vielleicht auch noch die Zunge heraushängt. Wie viel Schuld wollen sie durch Versäumnisse auf sich laden?' Andrea war durchaus guter Laune, als wir das Zimmer betraten. Während der einführenden Worte saß sie unbeachtet in einer Spielecke. Ich ging immer wieder zu ihr und versuchte, sie trotz dieser Nichtbeachtung bei Laune zu halten, was angesichts ihres in diesen Tagen kränkelnden Zustandes schwer war. Als meine und Andreas Geduld fast erschöpft waren, wurde meine Frau auf das genaueste nach Krisen im Verlauf von Schwangerschaft und Geburt befragt. Unser Kind könne sich ja wohl mal eine Zeitlang alleine beschäftigen. Es sei nicht gut, wenn ich dauernd zu ihr hinginge. Andrea fing irgendwann an zu quengeln. Sie bekam Buchstabenkarten in die Hand und sollte den Mund passend formen. Andrea kannte keine Buchstaben. Ihre Aufmerksamkeit war nach dem einstündigen Vorlauf nicht wieder zu aktivieren. Da sie augenscheinlich unter der Erkältung litt, schlugen wir vor, es für heute genug sein zu lassen.

Die Therapeutin war unzufrieden: Sie hätte schon gemerkt, dass wir es unserer Tochter immer recht machen wollen. Mit dieser Einstellung käme man bei diesen Kindern nicht weit. Sie seien sehr bockig und wenn man es nicht fertig brächte, ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen, würden sie einem auf der Nase herumtanzen und Förderung sei kaum möglich.

Am nächsten Tag wurde bewegt. Andrea sollte alle Entwicklungsabschnitte der Fortbewegung nacheinander turnen. Sie verstand nicht, warum sie jetzt auf einmal krabbeln sollte, wo sie doch endlich zu laufen gelernt hatte. Sie konnte damals noch nicht begreifen, dass Regression ein Spiel sein kann. Außerdem wurde ihr zum Verhängnis, dass sie nie kroch. Ihre erste Fortbewegung nach dem Rollen war das Krabbeln. Sie wusste also gar nicht, wie Kriechen geht. Dies sei eine Katastrophe und die schlimmsten Entwicklungsstörungen seien zu befürchten, wenn so ein Schritt ausgelassen würde. Die Therapeutin, eine in ihrer Gesamterscheinung voluminöse Persönlichkeit beugte sich über Andrea und drückte sie mit ihrem Körper zu Boden, bis diese flach war. [Sie wurde sozusagen deprimiert, d.V.] Nun sollte sie sich kriechend befreien. Ich fahre in der Schilderung der Ereignisse fort mit meiner Aufforderung, sie solle bitte jetzt damit aufhören. Eine verstörte und verärgerte Therapeutin entließ uns nicht ganz freiwillig. Am folgenden Tage bekam ich einen außerplanmäßigen Einzeltermin bei der Chefin des Zentrums. ‚Sie wollen ihr Kind also nicht fördern.' Wir reisten ab. Um uns möglichst wenig vorwerfen zu können, machten wir mit diversen Hilfsmitteln die Mundübungen weiter und Andrea musste sich beim Kieferorthopäden auch eine Gaumenplatte nach Maß anfertigen lassen, die durch störende Strukturen die Zunge im Inneren des Mundes beschäftigen soll. Einige Male schafften wir es, diese gegen erbitterten Widerstand mit Superhaftcreme am Gaumen festzumachen. Bald gaben wir auf. Heute kann Andrea verständlich reden und ihre vergleichsweise ansprechende Physiognomie erleichtert einen unbefangenen Erstkontakt zu ihr. Dies ist unser Glück. Wer weiß, welche Vorwürfe wir uns machen würden oder gar man uns machen würde, wenn dem nicht so wäre."

Ich habe das Beispiel in dieser Ausführlichkeit gewählt, weil ich glaube, dass daran unter anderem deutlich wird, wie dicht indirekte und direkte Gewalt beisammen liegen können.[163] Wenn die Bereitschaft, Zwang auszuüben, als Handlungsmodell schon in der Konstruktion eines Konzepts verankert ist, dann wäre es eine Verharmlosung, dies nur als Vorstufe von Gewalt zu sehen. Vielmehr ist von struktureller Gewalt zu sprechen, nicht zuletzt deshalb, weil die potentielle Gewalt Angst macht. Der "Patient" spürt die jederzeit drohende Gewalt, deren Ausbruch er, wenn überhaupt, nur durch Folgsamkeit und Duldsamkeit kontrollieren kann.

Hat er bei der Förderperson, bei der Therapieform oder auch nur in demselben Zimmer bereits Gewalterfahrung gemacht, wächst die Angst und schwindet das Vertrauen, wächst die Abwehr und schwindet die Offenheit. Durchforstet man die beschriebene Therapieepisode nach Momenten von Gewalt, so fällt als erstes die direkte Gewalt ins Auge, die Andrea trifft. Todesangst in der Unabsehbarkeit, wie weit die Brutalität der Förderperson noch geht. Welches Kind soll man in dieser Situation beruhigen, indem man ihm zuruft: "Das ist nur Therapie und gut für dich!" Andrea erlebt totalen Kontrollverlust über die Situation. Sie sieht, wie ihre Eltern dem Treiben tatenlos zusehen und erlebt dies womöglich als Verlust der letzten "Sicherheitsbindung". Die Missachtung sowohl von Andreas Willen als auch von ihr im Ganzen deutet sich schon früh in der Therapiestunde an. Es hat den Anschein, als richte sich die Förderung vor allem nach dem zugrunde liegenden Konzept. Je starrer das Konzept und je unbeweglicher der Therapeut ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Förderung mit dem, was das Kind auszeichnet und mit dem, was es in die Förderung mitbringt, nichts gemein hat. Mit dieser Abwertung komplettiert sich der Kriterienkatalog, der die Situation zu einer Gewalterfahrung für das Kind macht. Ein Element der Gewaltkriterien Angst, Autonomieverlust, Isolation und Selbstwertverlust hätte genügt, die Situation zu problematisieren. Andrea wird die Erfahrung gespeichert haben und es ist möglich, dass im Geringsten vergleichbare Situationen, von denen man sich viele ausmalen kann, Angst und Schrecken wachrufen. Je mehr solcher Erfahrungen gemacht werden, desto mehr droht sich prophylaktischer Widerstand und Misstrauen in Förder- und Therapiesituationen zur erlernten Selbstschutzstrategie auszuwachsen. Förderung bereitet so ihr eigenes Versagen vor, wenn sie auch nur bereit ist, radikal und kompromisslos vorzugehen.

Ein Förderkonzept, das so konstruiert ist, dass es keinen Spielraum lässt, sich in seiner Ausformung und seinen Zielvorgaben jeweils an der ganzheitlich begriffenen Individualität des Klienten zu orientieren, ist starr und dabei fragil. Es ist gezwungen, seine vordergründigen Erfolge mit Zwangsmitteln zu erkaufen und gerät unter Rechtfertigungsdruck. Charismatisch auftretende Persönlichkeiten und die Arbeit mit der Verzweiflung der Eltern nähren einen Fanatismus, der blind machen soll für Gewalt. Der einzelne Therapeut im Dienst eines nicht gewaltlos tragfähigen und mit Utopien arbeitenden Konzepts neigt darüber hinaus zu Gewalt, da er nicht nur das System, sondern auch sich selbst vor dem drohenden Versagen notfalls mit Gewalt schützen muss. Ich will jedoch den in den nächsten Kapiteln folgenden Gedanken zur inneren Disposition dessen, der fördert und hilft, als Quelle von Gewalt nicht vorgreifen und deutlich machen, dass es bei der vorigen und der folgenden Geschichte nicht um die gewaltfördernde Destruktivität von Idealen geht, sondern darum, dass Gewalt dadurch erzeugt wird, dass ein starres Konzept, das an die Person und das Umfeld des Behinderten weder angepasst wird noch anpassungsfähig ist, gegen das arbeitet, was da ist und nicht mit ihm, indem es lebensweltorientiert auf dem aufbaut, was an Ressourcen und Kompetenzen vorhanden ist. Die logische Folge ist Widerstand, der mit Gewalt bekämpft wird. Es wird Kinder geben, die in das Raster auch einer nicht modulationsfähigen Behandlungsmethode passen und die noch so wenig ängstigende und frustrierende Erfahrungen gemacht haben, dass sie sich als gut förderfähig erweisen. Die anderen sind von Gewalt bedroht.

Zu Verdeutlichung der Folgen eines zu starren Konzepts will ich von einer weiteren Begebenheit berichten. Ich bin der Meinung, dass ich damit wissenschaftliches Terrain nicht verlasse. Wenn die Adressaten von Pädagogik oder deren Angehörige zu Wort kommen und ihre Eindrücke schildern, so ist dies die Essenz einer humanen Pädagogik und die Richtschnur für eine Wirkungsforschung, bei der es um den Nutzen für die Betroffenen geht. Erfahrungsberichte als Bestandteil einer qualitativen Sozialforschung sind mehr als illustrierendes Beiwerk. Es sind "nur" Geschichten, aber aus Geschichten wird Geschichte. Sie verdichten sich zu Lebensgeschichten und schreiben nicht zuletzt an der Geschichte der Pädagogik. Jantzen schreibt: "Die Verstrickung der Behindertenpädagogik in eine Geschichte, oder sofern Ihnen die postmoderne Variante lieber ist, in viele kleine Erzählungen von Gewalt ist offensichtlich. Umso erstaunlicher ist es, dass es bisher erst zaghafte Ansätze einer Diskussion gibt, die systematisch danach fragt, inwiefern diese Gewalt nicht sekundär in das Fach diffundiert ist, sondern eine notwendige Bedingung seiner Herausbildung war und ist."[164] Geschichten von Gewalterfahrung sind nicht schön. Sie werden von allen Seiten verdrängt und treiben unverarbeitet ihr Unwesen unter dem Mantel des Schweigens. Erst, wenn sie Ohren finden, werden sie wieder erzählt. Sprache wird behindert durch das Gehör des Angesprochenen. Liest man Gesprächsnotizen in Büchern wie in Niedeckens "Namenlos"[165], in Sinasons "Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins"[166] oder in Klaus Wolfs "Heimerziehung aus Kindersicht"[167], ist man überrascht und erschrocken zugleich, mit welcher Klarheit der Behinderte oder anderweitig Gestörte das Eigentliche zur Sprache bringt, wenn er sich im richtigen "Sprachraum"[168] wiederfindet. Man spürt mit einem Mal, dass das, was gesprochen wird, nun "wirkliche Worte"[169] sind, wie Freire sie nennt und man erfasst die Bedeutung des Dialogischen für den Akt der Bewusstmachung. Ich habe meinen Gedanken über die Rolle des Zwischenmenschlichen bei der Aufgabe des Verstehens vorgegriffen, um den Quellenwert von Geschichten zu rechtfertigen und kehre einstweilen zurück zu der Beschreibung von Gewalt(erfahrung) fördernder Verfahrenshörigkeit auf Seiten derer, die fördern, helfen und erziehen, und zu der exemplarischen Geschichte.

Fallbeispiel:

Klaus[170] musste alle 3 Monate in einer zumindest damals recht ärztlich geprägten Fördereinrichtung zusammen mit seinen Eltern vorstellig werden, um Leistungen wie Ergotherapie oder heilpädagogische Frühförderung zu erhalten. Am dem Termin, den ich herausgreife, war neben der obligatorischen Kontrolle ein psychologischer Entwicklungstest vorgesehen. Wie üblich sprachen zuerst die Erwachsenen im Beisein von Klaus über dessen Probleme und darüber, was er mittlerweile kann und was nicht. Danach musste Klaus' Kopfumfang mit einem Maßband gemessen werden. Da Klaus sich der Schlinge um seinen Kopf immer wieder zu entwinden versuchte, wurde an den Eltern die Harmlosigkeit der Prozedur demonstriert. Die Eltern waren diesbezüglich nicht traumatisiert. Klaus hörte wie so oft in seinem Leben: "Du musst keine Angst haben". Während seiner Krankenhausaufenthalte hatte er viele Infusionen und Spritzen zur Blutabnahme unter die Kopfhaut bekommen, wenn es an Armen und Beinen nicht mehr klappte. Lange Zeit geriet er in Panik, wenn man ihn im Bereich der Schädeldecke auch nur berühren wollte. Mit Zureden und ein bisschen Zwang wurde ein nur ungefährer Wert ermittelt, da Klaus nicht still hielt. Inzwischen hatte er vor Angst eingenässt und eingekotet. Nach dem Umziehen konnte er nur mit Mühe zurück ins Untersuchungszimmer gebracht werden. Er flüchtete in eine Ecke und der Hammer, mit dem sich Herr K. seinem Knie näherte, trug nur wenig zu seiner Beruhigung bei. Klaus wollte nur noch weg und heim. Zwei Zimmer weiter folgte nun der Test. Die Eltern durften zwar dabei sein, aber striktes Schweigen wurde ihnen auferlegt. Einem ratlosen und verängstigten Klaus war es egal, dass beim schweigend präsentierten zweiteiligen Puzzle der Rüssel des Elefanten hinten war. Als die Mutter ihn sachte aufforderte, sich das Tier anzusehen, wurden die Eltern vor die Tür gesetzt, da sie den Test zu manipulieren drohten. Ein paar Mal hörten sie Klaus durch die Tür nach ihnen rufen. Bald kam die Testerin heraus: Klaus sei schwer zum Mitmachen zu motivieren und könne sich schlecht konzentrieren. Der Test sei schwierig gewesen. Nach einigen Tagen war das Ergebnis da. Das Endurteil fiel verheerend aus und die Eltern gaben sich alle Mühe, nichts davon ernst zu nehmen. Der Arzt, der das Ergebnis überreichte, versuchte, ihnen dabei zu helfen: Die Eltern sollten das Ergebnis am besten ignorieren, er hätte schon gehört, dass die Rahmenbedingungen nicht ideal waren, aber sie sollten das Dokument aufheben, man wisse nie, wie man mal ein Testergebnis brauchen kann, bei dem Klaus schlecht abgeschnitten hat.

Ob Test oder Förderung, immer droht der Behinderte mit dem konfrontiert zu werden, was er nicht kann. Die Situationen drohen denen zu ähneln, die bei unglücklich verlaufenden Arztbesuchen erlebt werden. Dem Behinderten wird vor Augen gehalten, was er nicht ist, was er nicht hat und was er nicht kann. Nimmt man Förderstunden, präventive und akut notwendige Arztbesuche zusammen, so bilden sie bei vielen Behinderten ein großes Quantum an Leben. Wird Selbstwertverlust nicht kompensiert durch selbstwertspendende Lebenserfahrungen, so droht Lebenslänglichkeit im Selbstbewusstsein als körperliches und geistiges Mängelwesen. Mit ihm muss das Selbst und das Körperselbst deformiert werden, um in der Welt bestehen zu können. Gerade im Bereich der Gesundheitsfürsorge mag es zuweilen unvermeidbar sein, dass Zwang, Angst und Schmerz erlebt werden. Erst recht, wenn der Betroffene geistig und psychisch nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit von ärztlichen Maßnahmen einzusehen und sich ihnen freiwillig zu fügen, geraten solche Ereignisse zu Gewalterfahrungen. Verstärkt werden diese extremen Stressmomente, wenn man keine Vorstellung hat, wann sie enden. Wenn auf dem privaten und dem Fördersektor dem nichts entgegengesetzt wird oder sich Erfahrungen gar ähneln, wird für den Behinderten das Gezwungen werden zum dominierenden Modus der Zwischenmenschlichkeit. Wird ein Kind bei Untersuchungen festgehalten oder gar, um ein Beispiel zu nennen, zum Röntgen in eine Plastikröhre bis zur Bewegungsunfähigkeit gedrückt und so in einen Apparat geschoben - ich erinnere hier an Seligmans hilflose Ratte - , so muss man sich bewusst sein, dass dem das Doppelte und Dreifache an Freiheitserfahrungen in anderen Bereichen entgegengestellt werden muss, um wenigstens die Chance zu haben, Traumatisierung zu mildern. Je nach Gefährdung und je nach dem Bewusstsein der Gefährdung geraten diejenigen Situationen aus dem Kontext Gesundheit und Förderung, die dem beschriebenen Muster folgen, zu mehr oder minder schlimmen Situationen der Gewalterfahrung. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie von anderen Menschen herbeigeführt werden und dass mit unterschiedlicher Gewichtung Gewaltindizien wie nackte Angst, Schmerz, Furcht, Angst vor der Angst, das Gefühl von Ausgeliefert sein, das Gefühl von Alleingelassen sein, der Entzug von Selbstwert und die Angst davor nachweisbar sind. Jeder der vier Gewaltindikatoren Autonomieverlust, Isolation, Minderwertigkeit und Angst - sofern jedes für sich in menschlichem Tun oder Lassen begründet ist - ist potentiell angesprochen. Wenn der Behinderte nicht der Spur folgt, die für ihn vorgesehen ist, wenn er nicht spurt, dann erreicht ihn die Gewalt manifest, konditionierend, drohend, strafend.

4.3. Im Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Hilfsbedürftigkeit

a) Pädagogische Selbstreflexion

Greift man das Problem des Selbstwertes heraus, von dem schon beim "defizitären Blick" die Rede war, so antwortet jeder Mensch auf dessen Gefährdung mit aktivem oder passivem Widerstand. Den Behinderten begleitet die Beurteilung "ungenügend" auf Schritt und Tritt. Wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt wird sie ihm zur ständigen und allgegenwärtigen Bedrohung. Er reagiert aggressiv oder vermeidend. Aversion ist ihm die logische Konsequenz von aversivem Verhalten, das auf ihn trifft und nicht umgekehrt. Nicht seine Widerständigkeit ist der erste Ausgangspunkt von Gewalt, sondern sie hat ihre Wurzeln in dem, der Gewalt übt, der sozusagen mit der Feindseligkeit anfängt, auch dann, wenn diese zu Strukturen, Institutionen und Ideologien verhärtet ist. Eine sich selbst speisende Aggressivität und Renitenz bei Behinderten ist ein Mythos. Die Mystifizierung wird unter anderem von denen betrieben, die nicht bereit sind, ihr eigenes Tun zu hinterfragen.

Nur ein starkes Ich kann es sich leisten, ab und zu an sich zu zweifeln. Das Defizit hierin betrifft wiederum neben Personen auch die anderen Repräsentationsformen struktureller Gewalt. Um aber die personale Gewalt im Auge zu behalten: Wer nicht nur finanziell, sonder auch ideell davon lebt, auf andere Menschen Einfluss auszuüben, dessen Ego ist seinerseits gefährdet, wenn sich der andere verweigert, indem er sich der Einflussnahme widersetzt oder sich ihr entzieht. Wieder sind es Nuancen, in denen sich Einfluss von Gewalt unterscheidet und die aus dem Bedürfnis, bei anderen einen guten Eindruck zu hinterlassen, eine Sucht werden lassen. Je größer die Abhängigkeit davon, sich in der Wirkung am anderen verwirklicht zu sehen, ist, desto größer ist die Gefahr der Abwehr des anderen. In der Kollusion der gegenseitigen Abhängigkeit finden sich beide Parteien im selben Boot und geraten im verzweifelten Kampf um das jeweils eigene Selbst in einen Strudel aus Aggression und Abwehr, in dem sich beide gegenseitig "herunterziehen". Bei aller wechselseitigen Verstärkung darf nicht vergessen werden, dass die Wurzel des beiderseitigen Niedergangs in der Psyche dessen begründet ist, der das unangemessene Bedürfnis hat, den anderen nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten und nicht bei dem, der seine Selbstgestaltungmöglichkeiten verteidigt. Sind beide Parteien vorbelastet, sind unter Umständen auf der einen Seite Aggression, auf der anderen Seite Abwehr von Anfang an latent vorhanden. Die Atmosphäre ist von Anfang an gespannt und die Begegnung droht negativ zu verlaufen.

Hat der Behinderte gelernt, dass es ihm besser geht, wenn er sich abschottet, ist es schon für den unvoreingenommenen Interaktionspartner, der in der Begegnung von einer bestimmten Intention geleitet ist, eine gewisse Herausforderung, Geduld und Contenance zu bewahren und nicht der Versuchung zu erliegen, zu rigorosen Mitteln zu greifen. Hat der Behinderte zu oft die Erfahrung gemacht, dass jegliches Bemühen darin endet, nicht zu genügen, stirbt seine Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und mit ihr sämtliche Neugier. Durch die Erfahrung des Versagens und die Angst, erneut zu versagen, wird er in eine Lernhemmung hineingetrieben, die keine Kompetenzerweiterung zulässt und mit der Zeit jede Anregung zu einer Überforderung werden lässt. Erlebt die Förderperson, dass nicht nur ihre Angebote, sondern auch sie als Person abgelehnt wird, droht sie auf ihre Weise ebenso hilflos zu werden wie ihr Gegenüber. Sie wird zum "Hilflose(n) Helfer"[171].

In dieser Situation verbergen sich zweierlei Gewaltherde: Gewalt als Antwort auf den Widerstand des anderen und Gewalt als Antwort auf die eigene Hilflosigkeit.

Begegnet man[172], ungeachtet der Rolle, die man hat, offensivem Widerstand, der sich aggressiv gebärdet, so wird es niemandem verwehrt sein, sich oder andere gefährdete Personen zu schützen. Dagegen ist es gerade im pädagogischen Kontext zwar auch allzu menschlich, aber nicht logisch, Aggression mit derselben Aggressivität zu beantworten. Der erste Schritt ist - wie ich es im Kapitel über die Verantwortung des Pädagogen angedeutet habe -, zu prüfen, ob man selbst etwas tut oder darstellt, was dem Feld der direkten oder indirekten Gewalt zuzurechnen ist und so Aggression oder Abwehr auslöst. Kann man das ausschließen, beugt man der eigenen Gewalt vor, indem man versucht, die Abwehr nicht persönlich zu nehmen, sondern sich als Projektionsplattform für generelle Ablehnung oder als Übertragungsopfer von Selbsthass zu verstehen. Dies hilft dabei, Aggression, Verweigerung und Lernhemmung als etwas Gewordenes, das ein logisches wenn auch unerfreuliches Ergebnis der Verarbeitung des bisher Erlebten ist, zu akzeptieren und dies als Aufforderung zu sehen, dem das ganz Andere entgegen zu setzten.

Je nachdem, welche Ziele und Erwartungen der Begegnung mit dem Behinderten vorangestellt sind, ist man mehr oder weniger gefährdet, sich als hilflos, erfolglos, frustriert, verzweifelt und versagend zu erleben. Solche Gemütszustände und die Angst davor bedeuten Stress. Davon war bisher vornehmlich auf das Innenleben der Behinderten bezogen die Rede, aber dies gilt auch für die, die mit ihnen zu tun haben. Dabei sind es die Erwartungen und Ziele, die das Versagen benennen und letztlich bewirken können. Ist die Messlatte für das, was man als Erfolg sieht, so hoch, dass eine Befriedigung unwahrscheinlich ist und sind die Ziele so fixiert, dass es ein Zufall wäre, ihnen zu entsprechen, wird alles andere als Misserfolg gewertet und entsprechend auf sich selbst oder den Behinderten hin attribuiert. Der Druck, der von außen auf den Pädagogen oder auf die Eltern aufgebaut wird, der Druck, den sie sich selbst machen und die Erwartung, die sie in den Behinderten setzen, bereiten das Scheitern an ihm vor. Der Behinderte und sein Gegenüber drohen jeder auf seine Weise, aber doch zusammen an Idealen nicht zu wachsen, sondern im Gegenteil an ihnen zu zerbrechen. Was stattfindet ist gegenseitige Selbstwertgefährdung.

Der Stress, der durch anhaltende Überforderung, durch Hilflosigkeit und permanente Gefährdung des Selbstbildes erzeugt wird, macht aggressiv und krank. Wie der Behinderte am Ideal, mindestens normal zu sein, scheitert, so scheitert der andere an der Erwartung, dass er so wirkt, dass alles gut und am besten wieder heil wird. Diese Form von Stress, die ich als dauernde Unzufriedenheit mit sich selbst und mit dem Zielobjekt der Bemühungen zusammenfasse, halte ich für eine reichhaltige Quelle von Gewalt und Gewaltbereitschaft. Die Angst, zu versagen und der Wunsch, die eigene Hilflosigkeit zu überwinden fördert an sich schon die Tendenz, Wirkung mit der Brechstange zu erzwingen und alle Mittel, auch Gewalt und Zwang einzusetzen.

Der beschriebene Stress macht darüber hinaus aggressiv. Wenn alltägliche Erfahrung als Beweis für diesen Zusammenhang nicht ausreicht, verweise ich auf das Ergebnis einer Studie mit dem Namen "Fast Positive Feedback Between the Adrenocortical Stress Response and a Brain Mechanism Involved in Aggressive Behavior"[173], in der - bei Ratten - eine positive, schnell und zuverlässig funktionierende Rückkopplungsschleife zwischen Stresshormonen und dem Hirnareal nachgewiesen wurde, das für Aggression zuständig ist.

Neben dem Gewaltpotential erhöht der Erfolgsstress, wie er oben beschrieben wurde, das Risiko der seelischen Erkrankung. Gepaart mit mangelnder Bestätigung bzw. Unzufriedenheit drohen Depression und das besonders bei den helfenden Berufen verbreitete "Burn-out-Syndrom". Die innere Verfassung des Helfers ist an und für sich für den Behinderten keine Gewalterfahrung. Dennoch soll hier die Rede davon sein, da es darum geht, Gewalt zu vermeiden und zu suchen, wo Gewalt beginnt und in diesem Fall die Stressoren richtig zuzuordnen.

Auch wenn der Behinderte in einer vorgegebenen Zeit eine Tätigkeit nicht selbst schafft, wenn er zu lange braucht, um sich auf das Kommende einzustellen, wenn es das Zeitfenster nicht zulässt, ihn zu motivieren oder wenn er zu langsam ist, nur um Beispiele zu nennen, entsteht Stress. Man sieht sich zu Zwang und Übernahme von Tätigkeiten gezwungen, wird ungeduldig und neigt zu restriktiver Behandlung, vielleicht sogar wohlwissend, dass es nicht richtig ist. Was "stresst", ist nicht der Behinderte, sondern die mangelnde Zeit, die man sich und ihm gibt. Statt dass die Zeit dem Behinderten angemessen wird, wird dieser in die Zeit gepresst und der Betreuer mit dazu. Wenn der Behinderte dann "schwierig zu händeln" ist, wird ihm fälschlicherweise die alleinige Verantwortung für Stress angelastet.

Dasselbe wie für Zeitvorgaben gilt für Zielvorgaben. Nicht der Behinderte regelt, was für ihn effektiv ist, sondern es wird von außen festgelegt. Dem sind zuweilen die Helfer ebenso unterworfen wie der Behinderte selbst. Das Ziel definiert das Unvermögen des Behinderten wie des Betreuers. Die Orientierung am Angemessenen und Machbaren bei gleichzeitiger Offenheit dafür, im Prozess Ziele neu abzustecken, bedeutet weniger krank machenden Stress und so mehr Fortschritt.

Der mitunter schädliche Einfluss von Idealen auf den Bereich der Zwischenmenschlichkeit erhält eine neue Dimension, wenn es sich nicht um externe, sondern um interne Zielvorgaben handelt. Man steht dann nicht im Dienst des Arbeitgebers, sondern in dem des Überichs. Klassischerweise findet man das unbedingte Ideal, für jemand anderen gut zu sein, auf dem privaten Sektor bei Eltern, Angehörigen und Freunden. Bevor ich mich zuletzt der Suche nach Gewalterfahrungen und Gewaltquellen auf diesem Sektor widme, wähle ich als Übergang eine Mischform. Da oft nicht nur finanzielle, sondern auch private Interessen die Berufswahl bestimmen, mischen sich berufliche und persönliche Ziele. Man erwartet doppelten Profit: Bezahlung und ideelle Befriedigung eigener Bedürfnisse. Oder um es anders zu sagen: man rechnet mit finanzieller und seelischer Aufwertung. Das ist nicht weiter verwerflich, aber in Berufen, die sich im Zwischenmenschlichen abspielen, wie Dienstleistungen, Lehrer, Pädagogen oder überhaupt helfende Berufe, ist ein Nichtgelingen des inter-personalen Austausches damit ein finanzielles und seelisches Risiko. Wenn man nicht helfen kann, ist nicht nur die berufliche, sondern auch die psychische Identität gefährdet. Man ist existentiell darauf angewiesen, dass der andere die Hilfe annimmt. Gelingt das nicht, ist es eine persönliche Enttäuschung und - was es für den anderen gefährlich macht - eine Kränkung. Wenn der Gewinn für die eigene Seele in Form von Annäherung an das Ich-Ideal im Vordergrund steht, treten die Ziele, die für den anderen, zum Beispiel für den Behinderten, gut sind, in den Hintergrund. Wenn die Ziele nicht übereinstimmen, ist es eine Frage der Macht, wer sich durchsetzt.

Wenn das beruflich formulierte Ziel und das Bedürfnis des Behinderten kongruent sind, dann deckt sich dies zusätzlich mit den inneren Idealen des Helfers, wenn dieser sich dann gut fühlt, wenn das Bedürfnis des Behinderten befriedigt ist und nicht dann, wenn er ihm dabei geholfen hat. Das mag nach Haarspalterei klingen, ist aber ein fundamentaler Unterschied. Ich wähle den klassischen Fall des Blinden, der über die Straße will, um ihn zu verdeutlichen: Wenn jener am Bordstein steht und die Straße überqueren will, dann ist sein primäres Ziel die andere Straßenseite und nicht, dass man ihm hilft. Wenn Hilfe notwendig ist, dann kann man sie höchstens als Mittel oder Zwischenziel betrachten. Wenn es mein persönlicher Wunsch ist, zu sehen, wie er drüben ankommt, und ich mich danach wohl fühle, dann decken sich die Ziele. Wenn ich dafür, dass er heil ankommt, von Dritten auch noch Geld bekomme, dann ist das auch gut. Es ist zwar doppelter Lohn, aber dies muss nicht zwangsläufig schädlich oder schändlich sein. Für das Selbst des Blinden, für seine Würde und seine Sicherheit, wenn er einmal auf sich selbst gestellt ist, wird es am besten sein, er schafft es weitgehend allein. Als altruistischer Helfer, der am Wohl des Blinden interessiert ist, werde ich mich bereit halten, einzugreifen, wenn es gefährlich wird oder er Angst bekommt. Eingreifen kann bedeuten, dass ich auf die anderen Verkehrsteilnehmer so Einfluss nehme, dass sie den Blinden nicht gefährden oder behindern. Ob dieser das bemerkt, ist für die erfolgreiche Überquerung völlig einerlei. Es ihm danach zu sagen, ist ebenso überflüssig, es sei denn, es geht darum, dass er dazu lernt. Wenn mein primärer Wunsch ist, dem Blinden zu helfen, so deckt sich das nicht mit dem Primärbedürfnis des Blinden. Ich nehme ihn an der Hand und führe ihn über die Straße. Mein Lohn ist seine Dankbarkeit, mein wohltuendes Wissen, unentbehrlich gewesen zu sein und vielleicht auch noch soziales Prestige, weil man mich gesehen hat. Die Frage, wie sehr Eigennutz und wie sehr Altruismus zu prosozialem Handeln motiviert, soll hier nicht näher erläutert werden. Es soll nur deutlich werden, wann das Wohl des Behinderten im Vordergrund steht und wann er zum Werkzeug von Selbstbefriedigung wird.

Um den Nimbus des Gutmenschen, der zum Heil der anderen da ist, vor sich selbst und vor der Umwelt zu bewahren, muss der eher eigennützige Helfer die eigenen Ziele zu denen des Behinderten erklären oder ihn so manipulieren, dass dieser selbst an die eingeimpften Ziele glaubt. Als Gegenleistung für seine aufopfernde Arbeit hat der zur Hilflosigkeit gezwungene Behinderte oft nur seine Dankbarkeit oder seine Unterwürfigkeit anzubieten. Da erscheint es ethisch sogar noch vertretbarer, man macht es für Geld und weiß sich dem Berufsethos verbunden.

Wenn der Blinde, um bei dem Beispiel zu bleiben, nun um Hilfe bittet, so wäre es töricht und eine Missachtung seines autonomen Willens, ihm diese zu verweigern. Dies schließt nicht aus, dass man ihm hilft, sich selbst zu helfen. Es ist auch nicht verboten, ihn zu fragen, ob man helfen soll. Den Unterschied macht, wie man auf ein "Nein" reagiert. Wer das Wohl des Blinden im Auge hat, respektiert seine Willen und denkt: "Das ist gut so". Wer sich helfend erleben wollte, ist enttäuscht, gekränkt, indigniert. Der Behinderte, der Lebenshilfe anders versteht als der Helfer, wird zur Zielscheibe des Zorns. Dies ist der Punkt, an dem sich die kalte Gewalt der subtilen Unterwerfung in heiße Gewalt zu verwandeln droht. Je mehr der Selbstwert davon abhängt, als helfend anerkannt zu werden, desto mehr ist man auf die angewiesen, die sich helfen lassen. Das beste Potential hierfür bieten die Hilflosen und Hilfsbedürftigen. Wenn sie die Hilfe oder die Form der angebotenen Hilfe ablehnen, werden sie zur Bedrohung des Überichs, das man zu seinem eigenen Ich erkoren hat. Macht man sich nicht gewahr, dass das Ideal, immer und überall sichtbarer Segen für andere sein zu müssen, das Ich mehr gefährdet als der, der die Hilfe nicht braucht oder ablehnt, ist man versucht, in diesem den inneren Feind zu einem äußeren zu machen.

Das gilt auch für den Fall, dass die Hilfe nicht so fruchtet, wie man es will. Im Ärger über den Behinderten, der Hilfsangebote nicht umsetzen kann oder annehmen will, spiegelt sich Selbsthass wieder. Je mehr der Helfer im Innersten dadurch gekränkt ist, desto mehr trifft den Behinderten narzisstische Wut. Ich bin mir bewusst, hier in einem pathologischen Bereich angelangt zu sein und eine emotionale Persönlichkeitsstörung zu beschreiben. Dennoch ist zu vermuten, dass Elemente hiervon in der Gruppe der professionellen Helfer gehäuft zu finden sind. Schmidbauer zählt sie zum "Helfersyndrom". Liest man von Burn-Out bei Sozialarbeitern im weitesten Sinn, wird assoziiert: "Die schwierige Arbeit im helfenden Beruf hat ihn krank gemacht." Wenig bedacht wird die Möglichkeit: "Er war schon vorher krank und die Arbeit mit Hilfs-bedürftigen hat ihn auch nicht gesund gemacht." Die Arbeit in der sozialen Dienstleistung kann unbenommen enorm kraftzehrend und nervenaufreibend sein. Mit dem Verweis auf das Helfersyndrom sollen jedoch die Klienten davor geschützt werden, automatisch als Sündenböcke für seelische Überlastung herhalten zu müssen, was sie nicht beliebter macht.

Zu helfen ist ein probates Mittel, den Selbstwert zu steigern. Wenn dieser von Haus aus gering ist und Helfen als die einzige Kompensationsmöglichkeit gehandhabt wird, kann es im selben Maß zur Sucht werden, in der man von Hilfsbedürftigen abhängig ist. Man ist dann daran interessiert, sich mit Hilfs-bedürftigen zu umgeben. Das mag wie gesagt die Berufswahl des "Helfers" begünstigen. Man kann alternativ bestrebt sein, die Hilfsbedürftigkeit der Umgebenden zu konservieren, um sich nicht selbst seiner Identitätsgrundlage zu berauben. Die Hilfeleistung soll das Unersetzbare ersetzen. Mit dieser inneren Disposition wird das ganze Leben schwer und sie macht den sozialen Beruf noch schwerer, als er ohnehin ist. Man spürt die permanente Unzufriedenheit in sich und man umgibt sich mit Menschen, die als schwierig gelten, als Inkarnationen der Schwierigkeiten, die man mit sich selbst hat. Durch die Arbeit mit ihnen bekommt man die Chance, die Wurzel der Unzufriedenheit zu kaschieren und sie liefern Argumente für das innere Leiden. Was der vom Helfersyndrom betroffene Mensch betreibt, ist Verdrängung und Outsourcing eines innerseelischen Konflikts. Indem er sich dessen nicht bewusst wird, wird er immer hilfloser bei der Suche nach Selbstakzeptanz und so umso mehr zum hilflosen Helfer.

Für das, was er tut, will er geliebt und geachtet werden und doch hilft ihm keiner und nichts dabei, sich selbst zu lieben und zu achten. All seine zwischenmenschlichen Beziehungen werden davon in Mitleidenschaft gezogen. Der Behinderte bekommt die Verantwortung zugeschoben, die Seele des Helfers zu richten und bekommt zu spüren, wenn er das nicht schafft. Die beschriebene Personenkonstellation zwischen Helfern und Behinderten ist keine theoretische Konstruktion. Man begegnet ihr dort, wo man den Eindruck gewinnt, dass es dem Helfer weniger um die Bedürfnisse des Behinderten geht als darum, sich toll zu fühlen. Ich vermute, dass auch der Behinderte spürt, wenn es nicht um ihn geht und es dem Helfer unmöglich ist, sich ihm und dem Miteinander zu widmen, sondern er alles, was geschieht, egozentrisch bewertet.

Wie angekündigt greife ich hier die Thematik der Verantwortung des Pädagogen erneut auf. Hier scheint mir der rechte Ort, die in der Behindertenpädagogik besondere Verantwortung zur Selbstkritik zu betonen, da gerade bei der schwierigen Suche nach der richtigen Art des Helfens selbstkritisches Denken gefragt ist. Im Zusammenhang mit der Gewaltproblematik ist festzuhalten, dass die Verantwortung des Sonderpädagogen nicht damit endet, den Behinderten vor Gewalt zu schützen und ihm zu helfen, trotz Gewalterfahrung ein für ihn lebenswertes Leben zu führen, sondern Selbstprüfung einschließt, in welcher Weise er selbst für Gewalt verantwortlich sein kann. Durchforstet man das Leben von Behinderten nach Gewalterfahrung, gehört das pädagogische Umfeld mit dazu und wenn der Pädagoge selbst über Gewalt nachdenkt, darf er vor der eigenen Haustür nicht Halt machen. Ohne Selbstkritik und die Bereitschaft, Kritik anzunehmen, wäre seine Kritik zudem unglaubwürdig. In der Praxis kann der Behindertenpädagoge Gefahr laufen, mit zu wenig anregender Kritik von außen konfrontiert zu sein. Das pädagogische Tun kann sich fernab der Öffentlichkeit abspielen. Auch kann es von Seiten der Behinderten selbst unter den gegebenen Möglichkeiten und dem Eindruck von Erfahrungen, die sie kleinlaut machten, an Kritik mangeln. Um nicht sich selbst und die eigene Pädagogik zu verabsondern, muss er Kritik suchen und explizit, wenn es um Gewalt geht, auch im Hinblick auf die Vulnerabilität des Behinderten in besonderer Weise selbstkritisch sein. Die schädlichen Auswirkungen des Helfersyndroms und die ohnehin ambivalente Wirkung von Hilfe im Auge ist es gerade der in der Behindertenhilfe Tätige, der sich über seine innere Motivation des Helfens im Klaren sein muss.

Die Tätigkeit, die gemeinhin als helfend bezeichnet wird, ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie intentional auf einen anderen Menschen gerichtet ist und sie ihm etwas für ihn Nützliches bringt, wozu dessen eigene Kompetenz nicht ausreicht. Wie beschrieben kann beides mit Gewaltelementen angereichert werden. Auf den anderen zuzugehen (lat.: "aggredi") kann ein aggressiver Akt sein und Unterstützung kennzeichnet partiell fehlende Autonomie und die Schwäche des anderen. Ab einem gewissen Punkt, der bei jedem Hilfsbedürftigen individuell definiert ist, wird die Hilfe zum Feind eines emanzipatorischen Interesses. Weder das Etikett "Hilfe" noch die eigene Überzeugung zu helfen sind Garanten dafür, dass der andere langfristig einen Nutzen davonträgt. Hilfe soll nicht abgewertet werden und es muss dabei bleiben, dass jede Hilfe gut ist, aber es muss erlaubt sein, kritisch zu prüfen, ob jede Hilfe tatsächlich hilft.[174]

Die problematische Seite des Helfer-Empfänger-Verhältnisses durchzieht alle ungleichen Machtverhältnisse zwischen Nationen, Kulturen, zwischen Schüler und Lehrer bis in den Bereich der primären Beziehungen. Ich verweise hier auf Ivan Illich, mit dem Freire freundschaftlich verbunden war, insbesondere auf sein Buch "Die Entschulung der Gesellschaft"[175]. Ausgangspunkt sind ihm Überlegungen zu einer Entwicklungshilfe[176], die dadurch schadet, dass sie so gestaltet ist, dass sie die Gesetzmäßigkeiten des anderen Landes ignoriert und durch den Import von unstillbaren Bedürfnissen und fremden Zielen die Menschen dort ärmer macht. Ähnlich wie in Freires "Pädagogik der Unterdrückten" wird ein soziologisch betrachtetes manipulatives Herrschafts-verhältnis, das als solches offen oder unter dem Decknamen der Hilfe agiert, auf immer kleinere Zellen übertragen und zurückgeführt, bis als Kondensat Gewalt und ihre Wurzel in der Begegnung von Mensch zu Mensch und im Fall der Verinnerlichung des Unterdrückers gar im Innerseelischen erscheint. So destilliert und analysiert kann man sie greifen und radikal bekämpfen. In beiden Büchern weitet sich von hier aus wieder der Blick hin zu einer allgemeinen befreienden Form von Begegnung und Erziehung. So kann auch die Neugestaltung des Verhältnisses zu Behinderten damit beginnen, zu sehen, wo gesellschaftliche und institutionell verankerte Phänomene wie Herrschaft, Gewalt, Fragmentierung und Marginalisierung im kleinen zwischen-menschlichen Rahmen und als Übertragungsmuster innerseelischer Abwehr, Abspaltung und Verdrängung stattfinden. Dort Spannungen abzubauen, indem man zum Beispiel ein Helfersyndrom aufdeckt und dem an ihm Leidenden hilft, kann die Basis für ein Miteinander bilden, das schließlich auch gesellschaftliche Spannungen abbaut.

"Ist einmal die Situation der Gewalt und der Unterdrückung geschaffen, dann führt sie zu einer umfassenden Lebens- und Verhaltensweise für alle, die darin gefangen sind - für die Unterdrücker und die Unterdrückten gleichermaßen." [177]

Ein Verhältnis unter dem Signum von Gewalt und Unterdrückung bedeutet für Täter wie für Opfer Selbstentfremdung. Versteht man beides als böse Mächte, unter deren Einfluss alle Beteiligten geschädigt werden, ist der Kampf dagegen ein Befreiungskampf für Opfer und für Täter.[178] Sozialpädagogisch gesehen ist es nicht immer die Lösung der ersten Wahl, ein Gewaltverhältnis dadurch zu beenden, dass man das Verhältnis beendet. Wenn man die Gewalt an sich beendet, muss sich ein notwendiges oder unauflösliches Verhältnis ändern dürfen. Zum Schutz vor Gewalt gehört also auch, über Wurzeln von Gewalt in der Psyche des Täters nachzudenken.

b) Behinderte und Helfer in Kollusion - Das "Helfersyndrom"

Wenn ich so weiter über seelische Konflikte bei Helfern und deren Gewaltpotential schreibe, dann nicht, um einen Berufsstand schlecht zu reden, sondern um zu thematisieren, dass das, was Schmidbauer im Buchtitel "die seelische Problematik der helfenden Berufe" nennt, Gewalt in einem zwischenmenschlichen Verhältnis fördern kann, vom dem man als Beteiligter und als Zuschauer genau das Gegenteil erwartet. Diese Erwartung fördert möglicherweise die Tabuisierung von Gewalt in diesem Bereich und der, der sich vornehmlich mit den Problemen anderer befasst, droht sich den eigenen Problemen zu verschließen. Im Umschlagtext heißt es: "Die Hilflosigkeit von Helfern entspringt einem überstrengen altruistischen Ideal der sozialen Hilfe. Was rigide Ideale im Leben des einzelnen und im Zusammenleben von Gruppen und Völkern anrichten können, ist das Thema dieses erfolgreichen Klassikers." Schmidbauers Gedanken über eine Hilfe, die niemandem hilft, können hilfreiche Ansätze bieten, wenn es darum geht, Krisensituationen zu bewältigen und zu beurteilen, in die diejenigen geraten, die helfen (wollen) oder denen geholfen wird.[179] Es gibt wohl selten den, der nur aus Eigennutz oder nur aus einem inneren Zwang heraus im pädagogischen, therapeutischen oder karitativen Kontext hilft. Ebenso selten sind Heilige, denen der eigene Nutzen beim Helfen nichts bedeutet. Das Extrembeispiel des Helfers mit ausgeprägtem Helfersyndrom, dem ein schweres innerseelisches Problem zu Grunde liegt, soll aber unmissverständlich aufzeigen, dass jegliche Persönlichkeitselemente, die diesem Muster zuzurechnen sind, kontraproduktiv sind, was das Wohl des Hilfeempfängers betrifft. Es ist eine große Bandbreite zwischen dem guten Gefühl, wenn man jemandem einen Wunsch erfüllt und der Sucht nach der Hilfsbedürftigkeit des anderen, einer Sucht, durch die man selbst im Bann einer Gewalt steht, die man nach außen trägt. Gewalt, Härte und Strenge sind im Helfersyndrom Abbilder dessen, was man sich selbst antut. Auf der Skala von Uneigennützigkeit bis zum Egoismus, der den anderen zu eigenen Zwecken gebraucht, neigt sich der Zeiger irgendwann von grün nach rot und jeder, der hilft, vor allem der professionelle Helfer, muss reflektieren oder prüfen lassen, wo er steht.

Als Metapher für die Schattierungen von Hilfe benutze ich erneut ein Bild. Da es um eine Praxis der Freiheit geht, denke ich mir einen Vogel. Er mag aus dem Nest gefallen sein oder ein Flügel ist gebrochen. Im einen Fall hätte er ein Entwicklungsrisiko, im anderen Fall wäre er behindert oder traumatisiert. Auf jeden Fall braucht er Hilfe und Schutz. Man nimmt ihn nach Hause und freut sich, ihm geholfen zu haben. Man spürt Verantwortung. Durch die Aufgabe, ihm zu helfen, fühlt man sich gebraucht und wertvoll. Er wird zutraulich, frisst aus der Hand. Mit jedem Tag geht es ihm besser. Plötzlich mischt sich unter die Freude darüber die Sorge, was wird, wenn er fliegen kann. Man weiß, dass er dazu geboren ist und doch gefällt einem die Rolle als Helfer. Die Sorge darüber, was man alles verliert, wenn er die Hilfe nicht mehr braucht, schmälert die Freude an seiner Kraft und seinen Flugversuchen. Ich stelle mir vor, was passieren kann, wenn der Selbstwert, der davor nicht da war, an der Beschäftigung mit dem kranken und hilflosen Vogel gewachsen ist und wenn man merkt, dass die eigene Identität am Vogel hängt. Man weiß nicht, wann man den nächsten Vogel findet, der Hilfe braucht und sich helfen lässt. Kann man sich vorstellen, dass man ihn ein bisschen weniger füttert, um die Zeit bis zum Abflug zu verlängern? Wenn der Vogel sprechen könnte, würde er sagen: "Ich kann schon fast (wieder) fliegen." Man antwortet: "Nein, das kannst du noch nicht". Wenn er Anstalten macht, wegzufliegen, hält man ihn fest oder sperrt ihn gar ein: "Ich muss dich vor dir selbst schützen. Du bist noch nicht so weit." Ich will mir nicht weiter ausmalen, dass man ihm den Flügel (wieder) brechen würde, damit man weiter gebraucht wird. Der Vogel bekommt gesagt: "Du bist dumm" und "du bist unselbstständig", er wird für unvernünftig und klein erklärt. Anders ausgedrückt: Er sitzt in der "Vernunftfalle"[180]. Ließe er sich vom Menschen prägen, so würde er glauben, dass es seine Natur ist, dumm und hilflos zu sein.

"Die Partner des Menschen, der an einem Helfer-Syndrom leidet, werden infantilisiert und/oder parentalisiert: Die Beziehung auf einer gleichen Ebene (...) kommt nicht zustande." [181]

Schmidbauer geht davon aus, dass der geringe Wert, den der Helfer aus sich selbst heraus entwickeln kann, Ergebnis einer frühkindlichen narzisstischen Kränkung ist, ein Schicksal, das dieser mit vielen Behinderten gemein hat. In der Kindheit fühlte er sich nicht angenommen und er konnte nicht lernen, sich selbst in seinem Sosein zu akzeptieren und zu lieben. Unzufriedenheit mit sich begleitet ihn permanent und er sucht verzweifelt seine Selbstbestätigung in anderen und auf dem Gebiet, wo man sich Selbstachtung durch Leistung verdient. Er strebt nach Idealen, die Selbstbestätigung versprechen oder nach denen er früher bewertet wurde. Sein Überich verursacht ihm Stress, er ist ehrgeizig und hart zu sich. Dasselbe erwartet er von anderen. So wenig er mit sich selbst zufrieden sein kann, so wenig kann er mit Partnern, Kindern, Kollegen und Klienten zufrieden sein. Und so wenig er sich selbst mit Stärken und Schwächen wohlwollend annimmt, so wenig kann er achten, dass der andere so ist, wie er ist.

Wenn man Liebe als den Inbegriff der bedingungslosen Wertschätzung sieht, kann man sagen: Weil er als Kind nicht geliebt wurde, hat er nicht gelernt zu lieben - weder sich noch einen anderen. Wie er es von sich gewohnt ist, sieht er den anderen nur als den, der dieser sein könnte. Er dringt mit den eigenen Vorstellungen in ihn ein, was Galtung als "Penetration"[182] bezeichnet. Er hat nicht gelernt, dass es gut sein kann, wenn er einfach nur da ist, und glaubt nicht, dass er für einen anderen Menschen gut sein kann, ohne dass er etwas macht. Zuneigung und Sinn sind ihm etwas, was man sich verdienen muss. Der Leistungs- und Fortschrittsgedanke, der in gewisser Weise das Bestehende und Gegenwärtige gering achtet, kann nur dann in der Persönlichkeit gute Wirkung tun, wenn er auf einem leistungsunabhängigen Selbstbewusstsein basiert.[183] Die religiösen Wurzeln des christlichen Abendlandes tun ein Übriges. Lange wurde Erbschuld als eine persönliche Schuld gepredigt und auch die Gedanken Luthers, dass der Eingang ins Himmelreich und die Gnade Gottes an Taten gebunden sind, hatten starke Wirkung. Auch wenn dies nicht mehr präsent ist, ist es Teil der Kultur. Das Ideal der tätigen Nächstenliebe mag denn auch bei fehlender christlicher Motivation latent dazu beitragen, dass im Kontext des Hilfreich-Seins die Aktion zur unhinterfragten Hauptsache wird.

Paulus war kein Pädagoge, aber schon er stellt demgegenüber im Hohelied der Liebe[184] klar, dass helfende Worte und Taten unnütz sind, wenn die Haltung der Liebe fehlt. Um in der Bibel zu bleiben: Die Schlussfolgerung aus dem Satz: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"[185], dass man sich also zuerst selbst lieben soll, ist oft allzu trivial, aber hat eine wahren Kern. "Positive Selbstbeachtung"[186] ist eine Voraussetzung dafür, dass man dem anderen mit "Wärme, Liebe, Respekt, Sympathie und Anerkennung"[187] begegnen kann. Erst wenn die Haltung zu sich selbst und zum anderen im Istzustand eine positive ist, kann eine helfende Aktion fruchtbar sein. Freire schreibt: "Wenn ich nicht die Welt liebe, wenn ich nicht das Leben liebe, wenn ich nicht die Menschen liebe, kann ich nicht in den Dialog eintreten."[188] Gerade in der pädagogischen Praxis hat der Dialog wesentlich gestaltenden Charakter. In Beratung, Überzeugung und Begegnung soll das Wort etwas verändern. "Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht gleichzeitig Praxis wäre."[189]Da Liebe "zugleich Begründung des Dialogs und der Dialog selbst (ist)"[190] und sie "ein Akt der Freiheit"[191] ist, wird der Dialog zur "Praxis der Freiheit."[192]"Dieser Dialog kann nicht auf den Akt reduziert werden, dass eine Person Ideen in eine andere Person einlagert."[193] Zu Ideen zählen auch Werte, Ziele, Normen und Ideale. Liebe und Freiheit sind aneinander gebunden: in einem französischen Lied heißt es: "L'amour est l'enfant de la liberté" und ebenso gilt, dass die Freiheit das Kind der Liebe ist. Beide zusammen sind basal für Aktion und Reflexion in einem dialogischen Raum.

Zusammenfassend und auf die Behindertenpädagogik fokussiert kann man sagen: Die pädagogisch initiierte verbale oder körperliche Zuwendung an den Behinderten ist für diesen nur dann hilfreich, wenn er spürt, dass man ihn wertschätzt und in gewisser Weise gern hat, ohne dass er eine Bedingung erfüllen oder eine Leistung erbringen muss, wenn er sich frei fühlt, Hilfe und angebotene Werte anzunehmen und er merkt, dass Tendenzen zu Selbstgestaltung, Eigensinn und Emanzipation willkommen sind.

Wer sich selbst unter das Diktat von Ansprüchen stellt und sich für das Scheitern an ihnen verachtet, wer ständig von dem quälenden Gedanken begleitet ist, wer er eigentlich sein sollte und was er eigentlich tun sollte, hat Schwierigkeiten, dies nicht in das pädagogische Verhältnis einfließen zu lassen. Schon allein die oben beschriebene wertschätzende Haltung repräsentiert sich in der Begegnung und wirkt befreiend, ohne bereits Handlung zu sein. Steht dagegen das Tun im Vordergrund und lässt es dem Sein keinen Raum, wird aus der Tätigkeit Aktionismus. Freire nennt es "Aktivismus"[194]. Mir scheint, dass die Feststellung eines hohen Förderbedarfs bei Behinderten oft zu einem Aktionismus führt und dass man sich viele Gedanken zu Handlungsbedarf und wenig Gedanken zu Haltungsbedarf macht. Ohne die Reflexion der Haltung gegenüber sich selbst und gegenüber dem Behinderten wird die auf ihn bezogene Tätigkeit zur Technik und der Behinderte zum Neutrum. Ist die Einstellung zu sich selbst und zur Umwelt feindlich, kann freundliches und freundschaftliches Gebaren nicht authentisch sein. Eine Haltung, die dadurch definiert ist, dass das Eigene oder das Andere unterdrückt wird, kann sich nicht in einer Tätigkeit abbilden, die die Freiheit des anderen zulässt oder gar fördert.

Die Persönlichkeit des Helfersyndrom-Helfers, wie sie Schmidbauer beschreibt, trifft sicher nicht auf das Gros derer zu, die mit Behinderten arbeiten oder leben. Dies sei noch einmal betont. Dennoch sind Schmidbauers Ausführungen nicht nur für die akut gefährdeten Helfer ein hilfreicher Ansatz zur Selbstreflexion. Jeder Ehrgeiz braucht eine Prise Unzufriedenheit und immer, wenn in einer Beziehung Hilfe eine Rolle spielt, mischt sich in die Kompetenzdifferenz auch Machtdifferenz. Deshalb ist jeder, der sich aktiv oder passiv in Verhältnissen aufhält, die von Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit geprägt sind, in der Gefahr, sich als Teil struktureller Gewalt wiederzufinden. Zwischenmenschliche und gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse schwelen als innere Konflikte und diese äußern sich wieder in äußeren Konflikten. Werden Gewaltverhältnisse nicht an irgendeiner Stelle abgebaut, treiben sie ihr Unwesen über Personen- und Generationengrenzen hinweg weiter und zerstören Menschen und Beziehungen.

Im Fall des Helfersyndrom-Helfers könnte das so aussehen: Als Kind wurde er abgelehnt.[195] Sein frühkindlicher Narzissmus blieb unbefriedigt.[196] Die Eltern waren streng und er fühlte dann Anerkennung, wenn er ihren Idealen entsprach.[197] Dann war er ein gutes Kind.[198] Er verinnerlichte die Ideale und das Wissen, dass nur diese ihm Wert verleihen.[199] Das Unterdrückungs- und Gewaltverhältnis setzte sich im Innern fort: Nun wandten sich nicht mehr die Eltern gegen das Kind. Das Überich übernahm ihre Rolle und unterdrückte das Ich.[200],[201]

Seine Partnerschaften spiegeln den Konflikt wider: Indem er Anteile des schwachen Ichs oder des starken Überichs auf den anderen überträgt, trägt er den Konflikt und das Herrschaftsverhältnis nach außen. Deshalb gibt es für ihn nur Beziehungen, die auf Ungleichgewicht aufbauen. Entweder er macht sich zum Kind und sucht in der Beziehung Selbstbestätigung und symbiotische Erfahrungen, die sein narzisstisch gekränktes Ich aufrichten oder er übernimmt die Rolle des Überichs und manipuliert den anderen nach den eigenen Vorstellungen.[202] Dieser wird das Opfer "indirekter Aggression"[203], indirekter Gewalt und narzisstischer Wut. Der andere muss das Kind werden, er wird infantilisiert. Er selbst bemuttert den anderen einerseits oder/und paternalisiert ihn andererseits, übernimmt hier sozusagen die klassische Rolle des Vaters, der die guten, richtigen Werte darstellt und vermittelt und alles andere tadelt und sanktioniert. Das Ideal wird zu seinem Selbst. In ihm identifiziert er sich und er darf keine Schwäche zeigen, da sonst nichts von ihm übrig bleibt.[204] Er ist Sklave seines Perfektionismus, lehnt Kritik ab und fürchtet sie doch ständig. Hilflos ist er nicht zuletzt, weil er keine Hilfe annehmen kann.[205]

Beruflich wird er zum Helfer. Dies hat zwei Gründe: Erstens sucht er Menschen, die noch schwächer sind als er selbst, damit ihm die Rolle des Stärkeren garantiert ist. Verhältnisse auf Augenhöhe gibt es für ihn wie gesagt nicht, da er keine kennengelernt hat. Weder das Verhältnis zu seinen Eltern noch das Verhältnis seines Ichs zum Überich war jemals ein partnerschaftliches. Behinderte bieten gute Chancen, dauerhaft der Stärkere zu sein. Der zweite Grund: er erinnert sich an das Ideal des Helfens oder hat es längst verinnerlicht. Die Erfüllung des Ideals, die gesellschaftliche Anerkennung für seinen schweren Beruf, die Dirigierbarkeit der Behinderten und ihre Dankbarkeit[206] geben ihm Selbstwert und Daseinsberechtigung. Das Unterdrückerverhältnis setzt sich in der Psyche des Behinderten fort. Wieder wird der äußere zum inneren Lebensfeind. Der Behinderte internalisiert den Unterdrücker, der kein anderes Selbst aufkommen lässt. Er macht sich selbst klein, stupide und hilflos. Bei jeder Regung eines anderen Ichs hat er mit Strafe und Aufmerksamkeitsentzug zu rechnen. Um den Zustand auszuhalten, muss er sich dem Unterdrücker anpassen, was zu Fehlanpassung führt. Wenn er den Konflikt seinerseits nicht loswerden kann, wird er zur Endstation. Teile des Selbst muss er abspalten, er muss sein Selbst aufgeben, verleugnen oder autoaggressiv bekämpfen. Oft ist zu beobachten, dass es dem, der seinen Konflikt übertragen hat, recht gut geht, solange die Rollenaufteilung Bestand hat, weshalb er sie zementieren muss. Dies erschwert die Suche nach dem Kern von Behinderung und Störung.

Was hier beschrieben wurde, ist nur ein Exempel für die Übertragung von Konflikten und Macht- bzw. Ohnmachtsprozessen. Nicht vergessen werden soll der historisch-materialistisch zu verstehende Übertragungszusammenhang von gesellschaftlichen Machtstrukturen oder Konflikten durch soziales und wirtschaftliches Ungleichgewicht auf den privaten und persönlichen Bereich und umgekehrt. Auf das Helfer-Syndrom hin bezogen heißt es bei Schmidbauer: "Die Mechanismen des Helfer-Syndroms überschneiden sich hier mit dem Aufbau leistungsorientierter, verinnerlichter Strukturen in der modernen Gesellschaft."[207] Die ohnehin fragwürdige Fixierung auf Leistung und Fortschritt bei der Bewertung von Leben lässt den Behinderten also in doppelter Weise zum Verlierer werden: das Manko auf diesen Gebieten stempelt ihn in der Leistungsgesellschaft zum Behinderten und die Pädagogik, die seine Behinderung lindern soll, arbeitet womöglich im selben Geist. Eine leistungsorientierte Behindertenpädagogik, die den Gesetzten der Gesellschaft mehr gehorcht als der inneren Gesetzmäßigkeit des Behinderten, arbeitet nur bedingt klientenzentriert. Dieser kann nur dort integriert werden, wo er nicht behindert wird. Wird von ihm allein Integrationsleistung verlangt, so muss er erst doppelt so hart kämpfen, um das Mindestniveau des Anerkannt-Werdens zu erreichen, um dann auch noch die Abwehr der anderen überwinden zu müssen. Schon für einen leistungsfähigen Menschen ist es bedenklich, wenn er gänzlich über seine Leistung definiert wird und sich selbst dadurch definiert. Wer in einer Leistungsgesellschaft keine Leistung bringt und wer in einer Fortschrittsgesellschaft keine Fortschritte macht, verliert soziales Kapital. Deshalb gilt für den Behinderten in besonderem Maße: Nur ein soziales und gesellschaftliches Umfeld, dem es mehr um Lebenswert als um Mehrwert geht, bietet ihm die Möglichkeit, dass er als gleichwertig integriert wird und so ein integriertes Ich entwickeln kann. Ist dies nicht der Fall, bleibt ihm nur die Hoffnung, als Behinderter integriert zu werden, an dem das soziale Gewissen beruhigt oder Herrschaftsdenken befriedigt werden kann. Eine Pädagogik, die dem nicht aktiv widersteht, sondern ebenso der äußeren Wirklichkeit immer ein Stück voraus ist, verlässt den Behinderten auf seinem Weg, jemals bei sich selbst anzukommen. Als Zurückgebliebener wird er als ganze Person zum Objekt von Helfern.

Bei der Lektüre der "Hilflose(n) Helfer" drängen sich Gedanken an Behinderte ebenso auf wie solche an Freire. In der Sicht auf den Behinderten als "Schützling"[208] und auf den Helfer als "Unterdrücker"[209] kann Schmidbauer eine Brücke von Freire zu einer Kritischen Behindertenpädagogik, die Unterdrückung als Teil von Behinderung betrachtet, sein: "Letztlich kann der ‚Patient' in der totalen Institution sein soziales Selbst nur durch Preisgabe aller Ansprüche auf eine von der Gesamtgesellschaft respektierte Lebensform aufrechterhalten. Für seinen Helfer in der progressiven Position ergibt sich die Notwendigkeit, jeden echten Erfolg seiner Hilfe zu vermeiden, der den Schützling weniger hilflos machen und ihm den Aufbau eines gleichberechtigten sozialen Selbst ermöglichen würde. In diesem Anpassungsprozess wird der Patient passiv, brav, ‚affektiv versandet'. Er folgt den Reglements, regrediert, (...) freut sich über die begrenzte Anerkennung, die er für seine Rolle als ‚guter Patient' erhält. Zugleich vermittelt er in seiner Hilflosigkeit und Passivität den Helfern das Gefühl, unentbehrlich zu sein. (...) Er ist unfähig geworden, ein eigenes Leben aufzubauen."[210] Der Pädagoge, der sich als direkter Helfer versteht, muss ein Gefühl für die Grenze haben, ab der er dem Behinderten mehr abnimmt als der hergeben will. Widerstand und Autoaggression muss er als Hinweise darauf interpretieren können, dass das gute Maß an Einflussnahme überschritten ist. In einer Terminologie, die an Freire erinnert, schreibt Schmidbauer: "Die Rebellion gegen die Helfer, die im Grunde der Ausdruck einer lebensbejahenden Aktivität ist, muss in selbstschädigende Aggression umschlagen, wenn der Helfer bzw. seine Institution sie nicht verstehen und akzeptieren kann."[211]

4.4. Paternalismus

Hilflosigkeit, Passivität und Autoaggression als Merkmale geistiger Behinderung im Verbund mit seelischer Störung erscheinen so als Produkte des Lernens an einem Leben, in dem Zwischenmenschlichkeit nur unter Preisgabe des Eigenen stattfinden kann. Unter dem Eindruck der Verweigerung von wirklicher "Gegenseitigkeit"[212](="mutuality") erweist sich nur der als sozial kompetent, dem es gelingt, Paternalismus so zu sublimieren, dass es sozial gebilligt wird. Das Fremde dringt in das behinderte Leben ein als eine Macht, die vereinnahmt und besetzt. "Penetration"[213] und "Kolonialisierung der Lebenswelt"[214] sind Vokabeln für diese Form der Begegnung. Das Selbst als Grundlage einer Identität wird verstümmelt, es wird stumm. Es verkümmert oder verliert sich im anderen. Kein Eigenes kann sich in Anderem finden und in keinem Anderen spiegelt sich das Eigene wider. Was der Behinderte erlebt, sind isolierende Begegnungen mit Welt und Menschen. In die Einsamkeit gezwungen bleibt ihm nur, sich eine eigene Welt zurecht zu zimmern und sich in ihr quasi einzuigeln. Die Stacheln dienen ihm als Schutz von dem Fremden, das nur als Feind des Eigenen erlebt und empfunden wird.

Die Beziehung des Behinderten zu einem Helfer, der die Kriterien von Schmidbauers "Helfer-Syndrom" erfüllt, diente als Beispiel für einen Typus von Personenkonstellation, in der der Behinderte möglicherweise Gewalterfahrungen macht. Da ich glaube, dass hierzulande Gewalt, die Behinderte erfahren, eher an Begegnungsformen als an Lebensformen festzumachen ist, ging es mir weniger um die spezielle Darstellung des Helfers als Funktionsträger, sondern um die allgemeine Beschreibung einer Beziehung, die auf Macht, Unterdrückung und Paternalismus basiert und in der der Behinderte die Rolle des Opfers hat. Für ihn ist dies ein grundsätzliches Problem. Das Entscheidende ist nicht wo, sondern wie man dem Behinderten begegnet. Heimunterbringung, Sonderschule, Fördersituation, betreute Wohnform oder ein Leben im familiären Rahmen bieten insbesondere was indirekte Gewalt betrifft für sich noch keinen hinreichenden Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit, mit der er Gewalt erfährt. Er kann Befreiung und Raum für Entfaltung überall dort erleben, wo er auf Menschen, bzw. auf von ihnen gestaltete Strukturen trifft, die ihm vermitteln: "Du bist richtig und vollkommen auf deine Art und die Begegnung mit dir bietet uns beiden dennoch auch die Möglichkeit, weiterzukommen." Unterdrückung und weitergehende Begrenzung erlebt er dagegen unabhängig von seiner Lebenslage überall dort, wo Personen und Strukturen eine paternalistische Einstellung verkörpern. Beides kann er im Heim, mit Eltern, Pädagogen oder Helfern erleben.

Der Zwang unter das, was als normgerecht bzw. ideal gilt, trifft den Behinderten besonders entfremdend. Als unnormal marginalisiert und fragmentiert und von Gewalterfahrungen geprägt soll er sich so entwickeln und verhalten, als wäre dies nicht geschehen. Er wird in ein System gepresst, das ihn ausgeschlossen hat, so dass Normierung zwangsläufig zu Reglementierung wird. "Penetration, was soviel bedeutet wie dem Begünstigten einen Platz im Benachteiligten zu schaffen, wird kombiniert mit Normierung, durch welche dem Benachteiligten nur ein sehr begrenzter Blick auf die Dinge ermöglicht wird."[215] Unter dem Aspekt der Begrenzung der Freiheit und der Einschränkung der Identität ist Paternalismus mitsamt seinen teils wohlmeinenden Werkzeugen als geeignet einzustufen, zur Gewalterfahrung zu werden. Jantzen schreibt: "Einschränkungen der Identität erfolgen durch Penetration und Normierung."[216] Da Galtung Freiheit und Identität zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählt, ist für ihn das, was dem entgegen arbeitet, eine Form von Gewalt und - wie er sagt - "human degradation".[217] In diesem Zusammenhang kann Degradierung und Behinderung in einem Atemzug genannt werden.

Da die identischen Mechanismen auf einer institutionellen Ebene ebenso greifen wie auf einer ideologischen und privaten, ist dieselbe Gewaltform entsprechend strukturell oder personal. Und auf jeder Ebene changiert sie zwischen indirekter und direkter Gewalt. Auf den Paternalismus, der in Verbindung mit mildtätiger Wohltäterschaft steht, soll nur deswegen speziell hingewiesen sein, weil sich dort Gewalt besonders heimtückisch verbergen kann. Heimtückisch deshalb, weil beide, Opfer und Täter, in ihre Falle tappen und dort verharren können, ohne dass es ihnen bewusst wird. Aus der Sicht des Behinderten schreibt Jantzen: "Indem die normierende Ausgrenzung als Selbstbild übernommen wird, kann zugleich das Personal als gut und liebend imaginiert werden, da es sich mir trotz meiner fehlenden Leistung noch zuwendet." In schonungsloser Manier fährt er fort: "Zuwendung an die PädagogInnen ist demnach der Preis, den jene zahlen müssen, deren Leistung nicht hinreichend ist, damit sie in der Situation weiterhin Anerkennung und nicht soziale Ausgrenzung erfahren. Genau dies ist die Beziehungsfalle, innerhalb derer Penetration und Normierung entstehen. Hier, in den emotionalen Bekundungen der Wohltäterschaft der Begünstigten gedeiht im Verborgenen der Paternalismus als immer erneute Basis struktureller Gewalt, hier wird ein ‚ideologischer Kokon' gesponnen, mittels dessen die herrschenden Gruppen ihre diskriminierenden Handlungen in wohltätige umdefinieren".[218]

Jantzen verweist auf die Ausführungen der Soziologin Mary Jackman zum Charakter des Paternalismus. Treffenderweise entstammt der Begriff des "ideological cacoon"[219] dem Kapitel mit der Überschrift: "Mastering the illusion of benevolence".[220] Es ist eine Illusion, dass alles, was als Hilfe gemeint ist, entsprechend wirkt. Diese Illusion, der alle Beteiligten, auch die, die eine Hilfesituation beurteilen, unterliegen können, ist geeignet, den Blick auf eine Unterstützung, die das Selbst des anderen nicht stützt, sondern untergräbt, zu verstellen. Aus der Annahme, die Bedürfnisse des anderen womöglich sogar besser als dieser selbst zu kennen, wird Entscheidungsgewalt über ihn abgeleitet.[221] Paternalismus und Respekt stehen sich so als Widerspruchspaar gegenüber. Während sich Respekt dem anderen als einem in sich sinnhaften Wesen mit sinnvollem Verhalten zuwendet, knüpft Paternalismus die Gunst der Zuwendung an die Unterwerfung unter fremdes Diktat. "Friendship and Affection are offered to subordinates on the strictly imposed condition that they comply with expropriative arrangements."[222]Die Gefährdung des Eigenen wird dabei besonders deutlich, wenn man "Expropriation" nicht nur als Ausbeutung, sondern auch als Enteignung liest.

Das Bild des Kokons ist daneben ein anschauliches Bild für das Leben von Behinderten, die seelisch erkrankt sind. Es steht für Abgrenzung und Isolation, für Bewegungsunfähigkeit oder bestenfalls Bewegung um sich selbst. Es gibt keinen Spielraum mehr, es gibt weder einen Austausch von außen nach innen noch einen von innen nach außen. Das eigene Potential reicht nicht aus, um den Kokon zu sprengen. Von außen wird er verhärtet durch den permanenten paternalistischen Angriff auf das Selbstbewusstsein und von innen durch Angst und das Bemühen, das gefährdete Ich mit einem Schutzmantel zu umhüllen. Der Behinderte strukturiert sich selbst auf die einzige Weise, die ihm in der Konfrontation mit struktureller Gewalt bleibt. Die zwei Welten existieren und pulsieren ohne Bezug aufeinander.

Wenn sich Fürsorge in Bevormundung verwandelt hat[223], wirkt sie auf zwei Weisen: Die eigenen Vorstellungen davon, was der Behinderte tun und lassen muss, werden penetriert, bevor Eigenes wachsen kann und wenn sich Eigenes zeigt, wird es bewertet, reglementiert, kontrolliert und manipuliert. "Der Spielraum kann fehlen, er kann zerstört, besetzt, unterminiert sein. Am einfachsten lässt sich das Geistig-behindert-Werden beobachten, wo der Spielraum fehlt, vorenthalten wird, ganz oder weitgehend, in den Situationen des Mangels."[224] Und im Rahmen eines anderen Fallbeispiels: "Hier wird der Spielraum nicht vorenthalten; vielmehr zerstört oder von Angst untergraben."[225] Je mehr sich der Behinderte als begrenzt erlebt, desto kleiner wird der Spiel-raum, innerhalb dessen er sich entfalten und entwickeln kann. Entwicklungs-hemmung, Lernhemmung und Intelligenzminderung lassen sich so verstehen als die Folgen einer provozierten Abwehrhaltung gegenüber dem Neuen und Unbekannten. Adornos Schneckengleichnis wirft ein Licht darauf, wie in vielen Fällen geistige Behinderung verstanden werden kann. Ich gebe den Text hier in dieser Ausführlichkeit wieder, weil er wesentliche Aspekte zur Grammatik von Gewalt, wie ich sie bisher darzustellen versucht habe, komprimiert.

Zur Genese der Dummheit

Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke "mit dem tastenden Gesicht".

Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor.

Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs Neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. (...)

Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels.

Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken.

Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.

Die entfalteteren Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, dass einstmals Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden.

Jede ihrer Arten ist das Denkmal ungezählter anderer, deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde; die dem Schrecken schon erlagen, als nur ein Fühler sich in der Richtung ihres Werdens regte.

Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken.

In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte.

Nicht bloß die Prägung hält es in der Hut des alten Seins zurück, die Gewalt, die jenem Blick begegnet, ist die jahrmillionenalte, die es seit je auf seine Stufe bannte und in stets erneutem Widerstand die ersten Schritte, sie zu überschreiten, hemmt.

Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie.

Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm.

Dummheit ist ein Wundmal." [226]

Nicht jede Begrenzungserfahrung soll als Gewalterfahrung gekennzeichnet werden. Im Kontext mit Behinderung ist es jedoch besonders wichtig, die Freiheitsgrade, die innerhalb der Grenzen verwirklicht sind, im Auge zu behalten. Ist der Spielraum durch körperliche, geistige oder seelische Schädigungen bereits stark eingeengt, gewinnt die reglementierende Unterdrückung von Lebensäußerungen eine andere Qualität als unter den Umständen einer gut entwickelten Bewältigungskompetenz. Doch oft ist das Gegenteil zu beobachten: Statt dem Behinderten einen mit Vertrauen angereicherten Spielraum offen zu halten oder gar zu öffnen, in dem er gleichzeitig Grenzen und Freiheit erfahren kann, in dem er die Freiheit fühlt, Grenzen so zu begegnen, wie es die innere Stimme sagt, wird er von außen so modelliert und festgezurrt, dass er seiner Eigenverantwortlichkeit beraubt nur deformiert in ihm existieren kann. Dies geschieht in der Hoffnung, ihn so sozialfähig zu machen. Eben dadurch ist eine Begegnungsform paternalisierend, dass sie vor den Grenzen der anderen Seele nicht haltmacht. Dem Behinderten wird von vorn herein abgesprochen, dass er eine intrinsische Motivation haben kann, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten, der für beide Seiten ein Gewinn ist und für den er autonom bereit ist, Grenzen zu akzeptieren. Die Motivation verkümmert dadurch. Die Grenze, die dem Behinderten sein Ich sichert, erlebt dieser als permanent gefährdet, sodass aus dem fruchtbaren dialektischen Spannungsverhältnis zwischen Neuem und Vertrauten ein Gewaltverhältnis wird. Wo ist die Basis, die dem Behinderten "Aufgeschlossenheit" ermöglicht? Wo wird das gute Gefühl für sich selbst genährt, aus dem Interesse am anderen erwächst? Wo ist der Ort und die Zeit, dass der Behinderte fühlt: "Hier kann ich Ich sein, hier bin ich daheim, ohne allein zu sein."

4.5. Primäre Beziehungen

Es liegt nahe, ihn in der Familie zu suchen. Ich behaupte, dass dort seine Chancen, wie die aller Menschen, am größten sind, gleichzeitig liebende Anerkennung und Entwicklungsanreize zu erfahren. Das familiäre Umfeld bietet ihm bei seiner Selbstfindung die Möglichkeit, sich je nach Bedarf an das Vertraute zurückwenden zu können oder Unterstützung auf der Suche nach neuen Ufern zu erhalten. Wenn beides in einem ausgewogenen Verhältnis steht, kann sich eine Identität bilden, die ausbalanciert ebenso den Drang nach Neuem wie die Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen kennt. Herausforderungen werden gesucht im Wissen, dass bei einem Versagen ein bestimmter Level an Selbstakzeptanz nicht unterschritten werden kann. Wenn im Rahmen von Erziehung das Behütende oder das Fordernde im Verhältnis zu viel Gewicht hat, wankt auch die Persönlichkeit des Kindes. Da Behinderung oft ein verlängertes Kindschaftsverhältnis[227] bedeutet, verlängert sich auch die Wirkung. Ein Zuviel an Bewahrung lässt Anpassungskompetenzen unterentwickelt, fördert langfristig Hilflosigkeit und macht ängstlich. Ein Zuviel an Forderung schwächt Selbstwert, gefährdet Selbstbestimmtheit, macht Angst und dadurch ebenso hilflos. Die Prozesse, die hinreichend geschildert wurden, können eben auch im familiären Kontext ablaufen. Sie werfen ein Licht auf unterschwellige familiäre Gewalt jenseits von Übergriffigkeit und Schlägen. Ich will nicht an der Familie als dem Schutzraum schlechthin rütteln, da ich jedoch das Erzeugen von Hilflosigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl respektive das Verhindern von Autonomie und Selbstwert als Gewalt bestimmt und daraus Behinderung und Störung der Persönlichkeitsentwicklung abzuleiten versucht habe, wäre es inkonsequent, würde ich die Keimzelle der Identität ignorieren und mir keine Gedanken darüber machen, ob der Behinderte auch hier überproportional viele Gewalterfahrungen macht. Vom vierten Gewaltaspekt, dem der Isolation, wird am Ende des Kapitels die Rede sein.

Es geht mir darum zu zeigen, dass der Behinderte in der Interaktion mit den primären Bezugspersonen in besonderem Maß vor allem indirekte Gewalterfahrungen zu machen droht. Nicht übersehen werden soll, dass Eltern auf Grund einer seelischer Belastungssituation oft nicht anders können oder sie unbewusst die Art, wie die Gesellschaft auf Behinderung reagiert, imitieren und so selbst zu Opfern werden. "Wir haben also in der Familie nach der Realisierung struktureller Gewalt ebenso zu fragen, wie sorgfältig zu analysieren, dass die Familien selbst sich in sozialen Feldern befinden, in deren Kontext sie dispositionellen Erwartungen und Zuschreibungen unterliegen, die sie gleichzeitig als Aberkennung symbolischen Kapitals und als strukturelle Gewalt erfahren."[228] Die primäre Quelle von Gewalt ist dann da zu suchen, wo den Eltern in psychischer Notsituation weder Hilfe noch Entlastung zuteil wird und wo gesellschaftlicher Druck aufgebaut oder nicht reduziert wird.

Bei den Eltern zu verurteilen ist allerdings die bewusste Präferenz eines harten Erziehungsstils auf Kosten von liebevoller Zuwendung. Solange der Mythos in den Köpfen spukt, dass ein zuinnerst empfundener partnerschaftlicher Umgang mit Kinder diese träge, dumm und vermutlich schlecht macht, solange drohen Behinderte gerade das nicht zu erhalten, was ihnen am meisten fehlt. Wenn Eltern sich überzeugen lassen, dass gerade "diese Kinder" eine harte Hand brauchen und nicht verwöhnt werden dürfen, dann ist deren Leben mit den Eltern die Fortsetzungsgeschichte des allgegenwärtigen Paternalismus. In diesem wird entsprechend der Bezeichnung das Vater-Kind-Verhältnis nachgeahmt: "Dominant groups thus mimic the traditional father-child relationship by claiming superior moral competence and attempting to define the needs of subordinates."[229] Entsprechend gilt, dass sich dort Paternalismus als Form struktureller Gewalt verwirklicht, wo der väterlich konnotierte restriktive Erziehungsstil die Eltern-Kind-Interaktionen beherrscht. "Mütter von verschiedenen Gruppen behinderter Kinder sind eher didaktisch, initiieren öfters und kontrollieren häufiger Interaktionen."[230]Zigler und Hodapp, die versuchen, geistige Entwicklungsverzögerung zu verstehen, fahren damit fort, dass "es eher die Regel als die Ausnahme ist, dass intrusive Verkehrsformen entstehen: Die Mütter sind in ihren Reaktionen zu schnell, beachten zu wenig das Orientierungsverhalten des Kindes, stellen die zweite Frage, bevor das Kind die erste beantwortet hat."[231]

Paternalistische Strenge und die mit Unzufriedenheit gepaarte Konzentration auf die Behebung von Schwächen wird den Eltern als für Behinderte passend eingeimpft, bis sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie dem nicht nachkommen. Die resultierende Verstärkung von sekundärer Behinderung, Ungezogenheit oder das Aufkeimen von Störungen wird als Zeichen gewertet, dass nicht genug erzogen wurde. Dabei erscheint der, der den Druck noch erhöht, wie einer, der versucht, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Ein radikales Umdenken und die Bereitschaft, es sich als erste Elternpflicht zu bewahren, auch behinderten Kindern und gerade ihnen besonders zu vermitteln, dass sie so in Ordnung und liebenswert sind, wie sie sind, erfordert Mut. Durch den überproportionalen Kontakt zu Heilpädagogik, Förderung und Therapie ist es für Eltern behinderter Kinder eine große Herausforderung, sich Räume zu bewahren, in denen sie aufhören, pädagogisch zu sein und pädagogisch zu denken. Entsprechend wenig Platz ist für partnerschaftliche Umgangsformen. Diese leiden zudem, wenn Eltern internalisieren, dass sie etwas versäumen, wenn sie ihr behindertes Kind einmal nicht korrigieren. Es kostet mehr Mut und Überwindung, dem behinderten Kind und der autonomen Entfaltungskraft seiner Möglichkeiten zu vertrauen, sich ein Stück weit mit ihm auf offene Prozesse einzulassen und Begegnungsräume zuzulassen, die nicht pädagogisch gefärbt sind, als es Mutes zur einer Erziehung bedarf, die sich intervenierend und korrigierend versteht.

"Hier bildet sich die Grundlage des Identitätsgefühls, das später zu dem komplexen Gefühl wird, ‚in Ordnung zu sein', man selbst zu sein und einmal das zu werden, was die Umwelt von einem erwartet. Die Eltern müssen nicht nur verstehen, das Kind durch Verbieten und Gewähren zu lenken: sie müssen auch imstande sein, vor dem Kind eine tiefe, fast körperliche Überzeugung zu repräsentieren, daß das, was sie tun, einen Sinn hat." [232]

Der angesprochene Mut dazu kann auf Eltern und Kinder befreiend wirken. James Herndon schildert die Erleichterung eines Vaters, der es aufgeben durfte, streng zu sein: "Er hatte geglaubt, es sei seine Elternpflicht, seinen eigenen Jungen so zu behandeln, als liebte er ihn nicht, obwohl er sich klar war, dass er ihn liebte."[233] Auch wenn mir persönlich der Stil von Ekkehard von Braunmühl nicht zusagt, trifft er den Kern dessen, wie sich die Beziehung von Eltern zu ihrem behinderten Kind häufig darstellt. Er spricht von Erwachsenen, die "den massiven erziehungsideologischen Indoktrinationen glaubten, die heute alle Medien verbreiten, diese Erwachsenen erwerben im Laufe der Zeit eine sekundäre pädagogische Ambition, aus Pflichtgefühl wird Überzeugung, aus Aggression als Rollenverhalten wird persönliche Aggression, die keine Distanz mehr erlaubt, aus Liebe wird Hass, aus netten Menschen, die aber aus Liebe nicht wagten, nur nett zu sein, werden (bestenfalls) gute Menschen, Erzieher."[234] Es befremdet in der Tat, wie wenig "nett" Eltern zu ihren behinderten Kindern mitunter sind. Auf den Behindertenbereich ist übertragbar, was Braunmühl zu Erziehung schreibt: "Mit dem Erziehen aufzuhören, aus diesem Alptraum aufzuwachen, dieses Spiel ohne Ende von außen zu betrachten, ist deswegen eine so schwierige Aufgabe, weil es in unserem Kulturkreis kaum Menschen gibt, die sich mit den Regeln dieses Spiels nicht anfreunden mussten, die diesen Traum nicht mit dem Leben verwechseln, die nicht felsenfest davon überzeugt sind, es wäre nicht gut einfach nett zu sein."[235]

Unter partnerschaftlichem Umgang verstehe ich auch die Rücksicht auf die Bedürfnisse des anderen. Wenn Eltern die Bedürfnisse ihres behinderten Kindes egal welchen Alters ernst nehmen, dann betrifft das nicht nur dessen Bedürfnis nach Autonomie, sondern auch das nach wegweisenden Menschen und nach Schutz. Insofern ist partnerschaftliches Verhältnis zu Kindern keine Befreiung von einer tätigen Verantwortung. Die Überbetonung des Schützens wirkt entwicklungshemmend, indem sie verhindert, dass identitätsstiftende begrenzende und erweiternde Erfahrungen gemacht werden können.[236] Die Unterbetonung des Familiären als Rückzugsmöglichkeit in das Behagliche des Mit-sich-eins-Seins, von dem oben die Rede war, birgt derweil ebenso viel schädigendes Potential. Wenn Behinderung oder psychische Schädigung bereits stattgefunden haben, sind Belastungsgrenzen verschoben. Für Eltern, die bei mangelnder Integration und Partizipation ihrer behinderten Kinder deren Erfahrungswelt maßgeblich gestalten, ist es dann sehr schwierig, Reizarmut und Reizüberflutung gleichermaßen zu verhindern, das Kind in seiner Entwicklung also weder durch Unterforderung noch durch Überforderung zu schädigen. Ersteres führt zu Infantilisierung, mit Letzterem riskiert man beängstigende Erfahrungen oder allgemein solche, die Leib und Seele schädigen können. "Mein behindertes Kind hat gelernt, bei Rot stehen zu bleiben. Wie sehr kann ich ihm vertrauen? Wie viele defizitäre Blicke kann ich meinem Kind zumuten, soll ich mit ihm lieber zu Hause bleiben? Mit wie vielen Kommentaren, Hänseleien und Blicken auf dem Spielplatz kann mein Kind alleine fertig werden, soll ich besser mitgehen? Soll ich mit ihm hingehen, wenn keine anderen Kinder da sind, die flinker sind? Mein behindertes Kind ist stolz, allein sein zu können, aber verletze ich damit meine Aufsichtspflicht? Mein Kind hat Angst vor lauter Musik, findet es aber toll, sich überwunden zu haben und im Konzert zu sitzen. Wie viel Angst darf ich zulassen, gar herbeiführen?" Die erhöhte Gefahr für den Behinderten, an "normalen" Situationen zu scheitern, seine besondere Verletzlichkeit durch Vorerfahrungen und die Permanenz seines Schutzbedürfnisses machen solche Dilemmata für Eltern zu einem Dauerzustand und zu Dauerstress. Unter diesem Einfluss können Eltern wie ihre behinderten Kinder selbst zu Vermeidung, Abwehr und Zurückgezogenheit tendieren. Es ist dann berechtigt, von "'Behinderte(n)' Familien"[237] zu sprechen. Steht der bewahrende Aspekt beim Eltern-Kind-Verhältnis dauerhaft im Vordergrund, können keine neuen Bewältigungskompetenzen erworben werden, sie können verlernt werden, die Verwundbarkeit steigt, mit ihr das Schutzbedürfnis und der Grad an Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Im Schutzkäfig misslingt die Bindung an die Welt und ohne Bezug zum Selbst hört sie - phänomenologisch betrachtet - auf zu existieren.

"Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

Und hinter tausend Stäben keine Welt."

Die Enge des Lebensraums erlaubt Bewegung nur noch in ziellosen Stereotypien.

"Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

Sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein." [238]

Wem Bilder helfen zu verstehen, der kann in Rilkes "Der Panther" Hospitalisierung, autistische Verhaltensmuster, Wiederholungszwang, Spastik und mehr ähnlich aussagekräftig abgebildet finden wie in der Fachliteratur oder in der Wirklichkeit.

Die Problematik der abreißenden oder deformierenden Verbindung von Innenwelt und Außenwelt, die selbstverständlich nicht nur, aber auch in der Familie zu suchen ist, kann im familiären Beziehungsgeflecht so weit zurückreichen, dass Angeborenes und Erworbenes nicht trennbar sind. Schon die ersten Augenblicke strukturieren das Gehirn so maßgeblich und dauerhaft, dass die Festlegung der Ursache von Schädigung und die Bestimmung des Zeitpunkts selten wünschenswert klar sind. Die mit Erikson beschriebene Wechselseitigkeit der Beziehung von Beginn an bringt die Thematik der Behinderung und die der frühen Bindungsstörung so dicht aneinander, dass es schwierig ist, Ursache und Wirkung hier auseinander zu halten.[239] Zwischen dem Zeitpunkt, wo eine Behinderung das Bindungsverhalten der Mutter beeinträchtigt und dem, wo ein für das Kind unerwartetes Bindungsverhalten der Mutter zu einer Behinderung führt, mögen Sekundenbruchteile liegen. Ebenso eng miteinander verzahnt ist das Feststellen von Abweichung, die Irritation der mütterlichen Bindungsfähigkeit und die so entstehende "sekundäre Behinderung"[240] bzw. dessen, was Balint "Grundstörung"[241]nennt. Besonders in diesem Kapitel liegt mir nicht daran, Schuldzuweisungen zu treffen, sondern zu beschreiben, dass Behinderte vermehrt davon betroffen sind, gescheiterte frühe Bindungserfahrungen zu machen oder gemacht zu haben, die für sie eine lebenslang traumatisierend wirkende Isolationserfahrung, also - da menschlich verursacht - Gewalt-erfahrung bedeuten. Bei aller Verwobenheit muss deutlich bleiben, dass es um Prozesse geht. Beim Bild der verlorenen Welten bleibend kann ein Prozess sein: In der Erkenntnis, ein behindertes Kind zu haben, stürzt für die Mutter eine Welt zusammen. Fast simultan stürzt damit die Welt des Kindes in sich zusammen. Die ersten Augen, in die das Kind sieht, lachen nicht. Sie weinen. Die erste Erfahrung ist ein Trauma - sieht man vom Geburtstrauma ab, falls es dieses gibt.

Die zerstörerische Wucht, mit der Definitionen das, was ist und werden kann, mitsamt der Offenheit dafür unter sich begraben, worauf ich im Kapitel über die Gefahr von Definitionen bereits zu sprechen kam, zeigt sich in diesem Stadium zum ersten Mal: "Die Mitteilung der Prognose und Diagnose stellt die Schlüsselstelle für die Formation der "geistigen Behinderung" dar. (...) Sie zerstört schlagartig die wechselseitige Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dieses Trümmerfeld wird nun Ausgangspunkt für die spezifische, von der Prognose beherrschte Sozialisation des ‚Geistigbehinderten'."[242]Die Prognose wird zur Prophezeiung, die unter Umständen das Verhalten so beeinflusst, dass sie sich selbst erfüllt.[243] Ob nun eine Diagnose vorliegt oder nicht - eine fehlende Diagnose bei gleichzeitigem Wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist, kann ebenso beunruhigend sein - , die Geburt eines Kindes, das anders ist, als man es sich vorgestellt hat, stellt eine enorme emotionale Belastungssituation dar, die die Mutter womöglich dann trifft, wenn ohnehin die Belastung durch Schwangerschaft und Geburt fortwirkt. "Ungeachtet dessen, wie viel Mut, Talent oder Potential das behinderte Baby und seine Eltern mitbringen, wird seine Ankunft zunächst in der Regel bei Eltern, den beruflich damit Befassten, bei Freunden und Verwandten einen Schock auslösen. Wie sehr manche Eltern auch später in der Lage sein mögen zu sagen, dass ihr Kind alle möglichen persönlichen Gaben hat, in der Anfangszeit ist gewöhnlich ein Verlust zu beklagen."[244]

Die wichtigste Zeit für das Kind fällt in eine der schwierigsten für die Mutter. Lang gehegte Hoffnungen, Träume müssen begraben werden. Um sich auf das Kind, wie es da ist, einstellen und einlassen zu können, muss sie ein Stückweit vom erwarteten Kind Abstand nehmen. In gewissem Sinn muss Trauerarbeit geleistet werden, bevor das Kind als Ganzes und Vollständiges angenommen werden kann. Hinzu kommt die Sorge um das, was das Kind erwartet und, wenn organische Schäden dazu führen, das unvergleichliche Leiden an seinem Leiden. Dies ist gerade die Zeit, in der sich das Kind als Quell der Freude erleben und in der es die Nestwärme tanken muss, die in Form von Selbstwert ein ganzes Leben halten soll. Hier entwickelt sich das Urvertrauen, das Vertrauen und Mut für die Begegnung mit der Welt und ihren Personen verleiht. Für das behinderte oder von Behinderung bedrohte Kind kann das Verhältnis zur Mutter in dieser "symbiotischen Phase"[245]zum Verhängnis werden. Dass beide seelisch aufeinander eingestimmt sind, was Stern als "affect attunement"[246] bezeichnet, heißt für das Kind, dass es Schock und Trauma der Mutter mit(er)lebt. Milde ausgedrückt bleibt das Kind hier in seinen psychischen Grundbedürfnissen unbefriedigt, da es ganz auf die Befriedigung von außen angewiesen ist. Somit macht es eine Gewalterfahrung, ohne dass Eltern, selbst Opfer der Situation, als gewalttätig bezeichnet werden dürfen. Es fällt daher schwer, Wege aufzuzeigen, wie dem betroffenen Kind eine derartige Erfahrung erspart werden kann.

Indirekte Gewalt ist, wenn den Eltern in dieser Situation nicht geholfen wird. Eltern können ihrem Kind nicht sagen: "Warte mit deinem Bedürfnis, dich ganz und vorbehaltlos angenommen zu fühlen. Wir haben etwas zu bewältigen." Sinason schreibt: "Eltern werden emotional immer noch nicht früh genug (...) unterstützt, was zu weiteren Verzögerungen bei den lebensrettenden Bindungsprozessen führt."[247] In dieser Situation ist bei Anzeichen einer Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung schnelle professionelle Unterstützung angezeigt. Da die Belastungssituation eindeutig ist, muss solche Hilfe präventiv einsetzen können. Eine Frühförderung, die sich als Förderung nicht des Kindes, sondern des sozialen Austausches mit ihm sieht und Erfahrung mit der psychologischen Unterstützung von behinderten Familien hat, muss ohne bürokratische Verzögerungen bereits in den ersten Tagen ansprechbar sein und informiert werden. Krankenhäuser müssen dazu mit psychologischen und sonderpädagogischen Fachkräften kooperieren. All dies findet in der Praxis hier und heute in der Regel kaum statt.

Partner, Angehörige, Freunde und Bekannte können für die Mutter Belastung wie Entlastung sein. Sie können zur Entlastung beitragen, indem sie sich nicht abwenden, Dinge erledigen, die der Mutter Zeit und Raum gemeinsam mit dem Kind kosten, und fernhalten, was zusätzlich belastet. Die Mutter ist nicht dazu da, ihnen Mut zu machen, sondern umgekehrt. Die Mitbetroffenen sind eben auch geeignet, Sorgen, Ängste, das Gefühl, versagt zu haben in der Mutter zu vermehren. Der gesellschaftliche Druck wirkt von Anfang an.

Daneben darf die psychische Energie der Mutter aber nicht unterschätzt werden. Sie ist die, die vielleicht als erste und am ehesten den Wert der Liebe, die sie dem Kind und die das Kind ihr geben kann, als das Entscheidende erkennen kann. Ein gewisser Raum für beide, der schützt ohne zu isolieren, kann deshalb gut sein. Wenn es nicht gelingt, das frühe und unter Umständen lang andauernde Trauma für das Kind zu dämpfen[248], muss man sich bewusst sein, dass ein lebenslanger Nachholbedarf an einer Zuwendung besteht, die wie eine mütterliche ist, was mit Bemutterung nichts zu tun hat. Im Abschnitt über Paternalismus versuchte ich deutlich zu machen, dass der Behinderte jedoch mehr Menschen begegnet, die Väter sein wollen. Von Beginn an hat er ein Defizit an dem Gefühl, gleichzeitig anzukommen und erwartet zu werden.

Wechselseitigkeit bedeutet hier und ist später auf viele behindernde Lebens-erfahrungen übertragbar: Das Kind ist nicht so, wie die Mutter es erwartet hat und die Mutter ist nicht so, wie es das Kind erwartet hat. Wenn die Mutter besonders in dieser Phase nicht reziprok anwesend ist, dann ist für das Kind nicht Nichts da, sondern gegenwärtig ist die Abwesenheit der Mutter, die Angst schlechthin. Im Angesicht der Eltern ohne dialogisch zu verstehenden emotionalen Austausch wie vor verschlossenen Türen zu stehen, ist für das Kind wie ein Schlag ins Gesicht und die Erfahrung der wohl größten Einsamkeit, die vorstellbar ist.

"Es scheint mir, als sei das Leben vieler geistig behinderter Menschen nichts als dies: ein beharrliches Stehenbleiben vor verschlossener Tür, ein unaufhörliches Wiederholen des Losungswortes, zu welchem zur rechten Zeit niemand die richtige Erwiderung wusste." [249]

Neben diesem Verständnis für das, was Behinderung ausmacht, stellt sich für Diemut Niedecken "die Frage, ob es Wege gibt, die Antwort, welche die geistig behinderten Menschen suchen, doch noch zu finden; Wege, ihnen zu helfen, ihre Tür zu öffnen."[250]

Die ersten Kontakte des Behinderten zu dem, was nicht er selbst ist, stehen für misslingende Bindung, Angst und soziale Isolation. Im ersten Nicht-zueinander- Passen und auch nicht Zueinander-Finden verrückt das Selbst. Erste Differenzerfahrungen bedeuten für ihn Bedrohung, nicht Bereicherung. Die verzweifelte Suche nach Signalen, die sein Selbst in seiner Ganzheitlichkeit bestätigen, beginnt früh und prägt Verhalten und Entwicklung ebenso wie die irgendwann einsetzende Resignation darin, dass es für ihn Bindungsmöglichkeiten gibt, die seinem Selbst Wert vermitteln. Die missglückte Bindung an Menschen repräsentiert die Unmöglichkeit, sich der Welt verbunden zu fühlen, ein passender Teil in ihr zu sein. Sich in ihr so zu bewegen und zu entwickeln, dass es für die verrückte Welt normal ist, wäre unvernünftig. Die Umwelt, die ihn, wenn überhaupt, nur teilweise akzeptiert bzw. integriert, formt ein Selbstbild und ein Körperselbst, das Abspaltung und Dissoziation intern nachvollziehen muss. Nicht außer Acht lassen will ich bei der Betrachtung insbesondere der frühen Entwicklungsphase, dass endogene Schäden vorliegen können, die Kontaktaufnahme eminent erschweren. Man mag dann kaum jemanden verantwortlich machen können, dass sich nicht zusammenfügt, was zusammengehört. Desgleichen können Traumata, ob verantwortbar oder nicht, zu einer solchen Entfremdung geführt haben, dass eine fortschreitende Schädigung fast unaufhaltbar erscheint. Nichtsdestotrotz ist die Umgebung hier gefordert, weitere Gewalterfahrung zu verhindern, indem sie die Aktivität übernimmt, einen adäquaten Lebensraum zu gestalten und indem sie im So-geworden-Sein die inhärente Entwicklungslogik erkennt. Beides wirkt deeskalierend und hemmt Gewalt.

Bevor ich mich zum Schluss zweiterem zuwende, will ich einem Missverständnis vorbeugen. Die Ausführlichkeit, mit der ich früheste Lernprozesse betrachtet habe, soll nicht den Eindruck erwecken, als sähe ich in der Familie oder gar in der Mutter-Kind-Beziehung die Ursachen für geistige Behinderung schlechthin. Es soll zwar betont werden, dass behindernde, isolierende und psychisch schädigende Prozesse oft in einer Zeit ablaufen, in der dem Säugling immer noch zu wenig Seele und Bewusstsein zugebilligt wird[251], prägende Erlebnisse des Sich-nicht-angenommen- oder geliebt-Fühlens kann jedoch in allen für den Behinderten virulenten Erfahrungsbereichen eine Rolle spielen. Umgekehrt kann in der Familie auch an Gewaltförderndem stattfinden, wovon vorher allgemein oder im Zusammenhang mit Helfern und Pädagogen gesprochen wurde. Gerade auch für die Eltern trifft zu, dass sie um alles in der Welt ihrem Kind helfen, es bestmöglich fördern und allseitig beschützen wollen. Auch ihr Selbstbild als Eltern ist gefährdet und muss in Ansätzen neu gestaltet werden.

Die Reaktion der Umwelt auf die Behinderung, und das, was mit der Behinderung selbst einhergeht, ist eine Stress verursachende nervliche Belastung. Ist es an sich schon schwierig, in Konfrontation mit Ticks, Stereotypien, Echolalien oder gar selbstverletzendem Verhalten ruhig zu bleiben, ist es ein zusätzlicher Stressfaktor, wenn das eigene Kind betroffen ist und man sich vielleicht sogar überlegt, was man falsch gemacht hat. All dies können Quellen von Aggression und Gewalt sein.

Hilflos die Hilflosigkeit des Kindes mitzuerleben und das Befürchtete nicht aufhalten zu können, kann zu Methoden verleiten, die um jeden Preis das Schauspiel beenden. Stark mag der Drang auch bei den Eltern sein, dem Tun gewaltsam einen Riegel vorzuschieben, erst recht, wenn es um Autoaggression geht. Sie zuzulassen kann unverantwortlich sein, aber man muss sich bewusst sein, dass das Unterbinden der Handlung für den Behinderten nicht minder eine Gewalterfahrung sein kann wie die Selbstverletzung an sich. Man agiert mit Zwang und versperrt dem Betroffenen den Kanal, der im Unaushaltbaren ein letzter Ausweg ist. Immer, wenn ein Tun unterbunden oder für verrückt erklärt wird, wird es seiner Sinnhaftigkeit beraubt, die es in diesem Augenblick hat.



[154] vgl. Niedecken 1989, 54

[155] Buber 2006, 32

[156] vgl. Thiersch 2009, 100

[157] Noch nicht lange ist es her, dass es eine Methode der Wahl war, Kindern mit Down-Syndrom ein Stück Zunge abzuschneiden, damit sie weniger sichtbar wäre. Dass der Antrieb dazu nur Gesundheitsfürsorge war, darf bezweifelt werden (vgl. Niedecken 1989, 125).

[158] siehe S.41

[159] Der Verdacht, dass sich professionelle Förderung der Angst der Eltern, nicht alles für ihr Kind zu tun, bedient, um sich ihr eigenes Klientel zu sichern, ist nicht grundsätzlich auszuschließen.

[160] Freire 1971, 74

[161] zit. in: Besser-Scholz 2007, 127

[162] Name geändert

[163] Nicht angesprochen ist damit die Konstellation, dass indirekte Gewalt direkte Gewalt beim anderen provoziert, was der Fall gewesen wäre, hätte sich Andrea gewehrt. Die Möglichkeit, dass aggressives Verhalten Antwort auf subtile Gewalterfahrung ist, besteht.

[164] Jantzen 1999, 1

[165] Niedecken 1989

[166] Sinason 2000

[167] Wolf 2000

[168] Rödler 2009, 86

[169] Freire 1971, 94

[170] Name geändert

[171] Schmidbauer 2009

[172] Ich benutzte häufig das Wort "man", um alle Personen einzuschließen, die sich dem Behinderten absichtsvoll nähern.

[173] Kruk u.a. 2004, 1062

[174] Auch Kreuzritter waren sich sicher, ihren Opfern letztlich zum Seelenheil zu verhelfen.

[175] Illich 2003

[176] Es wäre ein ertragreiches Feld, würde man Illichs Gedanken zu Entwicklungshilfe zur Behindertenhilfe in Beziehung setzen, was aber diesen Rahmen sprengen würde.

[177] Freire 1971, 57

[178] vgl. Freire 1971, 54

[179] "Die Grundproblematik des Menschen mit dem Helfersyndrom ist die an einem hohen, starren Ich-Ideal orientierte soziale Fassade, deren Funktionieren von einem kritischen, bösartigen Über-Ich überwacht wird. Eigene Schwäche und Hilfsbedürftigkeit werden verleugnet; Gegenseitigkeit und Intimität in Beziehungen vermieden"(Schmidbauer 2009, 25).

[180] Arendt 1970, 67

[181] Schmidbauer 2009, 71

[182] Galtung 1993, 107

[183] vgl. Bergmann 2008, 47

[184] 1 Korinther 13

[185] Galater 5,13-15

[186] Rogers 2007, 40

[187] ebd. 39

[188] Freire 1971, 96

[189] ebd. 1971, 93

[190] Freire 1971, 96

[191] ebenda

[192] ebd. 106

[193] ebd. 95

[194] ebd. 1971, 93

[195] "Gemeinsamer Nenner bleibt, dass das Kind sich abgelehnt fühlte, weil es nicht genügend Sicherheit in einem einfühlenden Wiederspiegeln und Begleiten seiner Entwicklung durch die Bezugspersonen fand" (Schmidbauer 2009, 55).

[196] "In allen diesen vielfältigen Formen von Ablehnung entstehen kleinere und größere, dem Ablehnungs-Reiz entsprechende narzisstische Schäden" (ebd. 52).

[197] "Da er oft schon als Kind nicht um seiner gegenwärtigen, persönlichen Gefühle und Eigenschaften willen geliebt wurde, sondern wegen seiner Verhaltensweisen, mit denen er sich an idealisierte Vorstellungen seiner Bezugspersonen anpasste, glaubte er, nur für das, was er macht, geliebt zu werden, nicht für das, was er ist" (ebd. 57).

[198] "Das Gefühl, nicht wertvoll, nicht gut zu sein, wird vor allem durch Leistung bekämpft" (ebd. 43).

[199] "Beim Helfer-Syndrom identifiziert sich das Kind mit dem von den Eltern oder anderen Bezugspersonen bewusst oder häufig unbewusst an es herangetragenen Idealen, wobei diese Identifizierung starr festgehalten wird, weil sie die einzige Möglichkeit zu emotionalem Überleben bietet" (ebd. 85).

[200] "Das Ich verschmilzt mit dem strengen Über-Ich" (ebd. 43).

[201] "Gefühle, die dieser Über-Ich-Identifizierung widersprechen, sind von der Anfuhr weitgehend ausgeschlossen" (ebd. 75).

[202] "Das mit dem Über-Ich identifizierte Kind ist der Umwelt gegenüber ebenso selbstherrlich und grausam wie ursprünglich das Über-Ich dem Ich gegenüber bzw. die Über-Ich-Strukturen der Eltern dem Kind gegenüber" (Schmidbauer 2009, 43).

[203] ebd.182

[204] "Die narzisstische Störung drückt sich darin aus, dass jeder kleine Fehler einen aus früherer Zeit stammenden Speicher schlechter Gefühle anzapft, der dann die ganze Person überschwemmt und das Selbst vollständig in Frage stellt" (ebd. 23).

[205] "Da es zu seiner Abwehrstruktur gehört, anderen auf Kosten der eigenen, triebhaften Wünsche zu helfen, lehnt er die eigene Hilfsbedürftigkeit ab und akzeptiert Hilfe allenfalls in der Form einer ‚Fortbildung'" (ebd. 25).

[206] "Er ist, ohne es zuzugeben, hungrig nach den dankbaren Blicken, den anerkennenden Worte seiner Klienten oder Patienten. Aber sie machen ihn nicht wirklich satt, obwohl sie die einzige narzisstische Nahrung sind, die er aufnehmen kann" (ebd.58).

[207] Schmidbauer 2009, 60

[208] Schmidbauer 2009, 108

[209] Freire 1971, 38

[210] Schmidbauer 2009, 157

[211] Schmidbauer 2009, 158

[212] Erikson 1973, 66

[213] Galtung 1993, 107

[214] Habermas 1981, 522

[215] Galtung 1997, 916

[216] Jantzen 2002

[217] Galtung 1996, 197

[218] Jantzen 2003, 309

[219] Jackman 1996, 14

[220] ebd.

[221] vgl. Jantzen 2003, 310

[222] Jackman 1996, 362

[223] vgl. Sennett 2007, 160f.

[224] Niedecken 1989, 73

[225] ebd. 87

[226] Horkheimer/Adorno 1969, 229

[227] vgl. Thiersch 2009, 95

[228] Jantzen 2008, 12

[229] Jackman 1996, 14

[230] Zigler 1991, 40f.

[231] ebd.

[232] Erikson 1973, 72

[233] Herndorn 1988, 130

[234] Braunmühl 2006, 130

[235] ebd. 19

[236] vgl. Thiersch 2009, 94

[237] Kriegl 1993

[238] Rilke 1983, 17

[239] Ich scheue mich, elterliche Bindung auf die mütterliche Seite zu reduzieren, füge mich aber der allgemeinen Konzentration auf die Mutter-Kind-Beziehung für die Frühzeit der Entwicklung, ohne aus dem Hinterkopf zu verlieren, dass auch Väter ihren verantwortungsvollen Anteil an der Vermittlung von Gefühlen der Geborgenheit haben können, selbst wenn er zeitweilig nur darin bestehen mag, das Mutter-Kind-Verhältnis nicht zu stören oder Störungen fern zu halten.

[240] Sinason 2000, 66

[241] Balint 1973

[242] Elbert 1982

[243] vgl. Merton 1968, 477

[244] Sinason 2000, 243

[245] Mahler 1972, 14

[246] Stern 1992, 203

[247] Sinason 2000, 243

[248] vgl. Sinason 2000, 42

[249] Niedecken 1989, 8

[250] ebd. 9

[251] Ich denke hier auch an versachlichende Behandlungen in Kliniken, bei Ärzten und Therapeuten.

5.Kapitel: Wege aus der Gewalt

5.1. Die soziale Dimension des Verstehens

Für sein Verhalten dagegen einen Sinn anzunehmen, wertet den Behinderten auf. Zu suchen, worin dieser besteht, den Bewältigungsanstrengungen also die auslösenden Erfahrungen zuzuordnen, macht ihn zu einer Person mit Geschichte. Erlebt er, dass man ihn in seiner Singularität kennen lernen will und eigene Änderungswünsche hinten anstellt, gibt man ihm seinen Namen wieder und öffnet das Feld für etwas, was Jantzen "heilende(n) Dialog"[252] nennt. Das Verstehen-Wollen im persönlichen Kontakt kann in einem Reflexion und Aktion sein. Das fühlbare Interesse allein enthält den Charakter einer zwischen-menschlichen Erfahrung und lädt zu etwas Gemeinsamen ein.

Hierin gleichen sich behindernde und verstehende Prozesse: Behinderung ist ihrem Ursprung wie ihrem Wesen nach nicht individuell, sondern relational. Schon das nicht akzeptierende Unverständnis für das So-Sein des Behinderten, das Behinderung und Störung von den Erfahrungen löst und für abnorm hält, ist nicht ein intellektuelles, sondern ein im Kontakt mit dem Behinderten emotional wirkendes Ereignis. Auch das Verstehen ist nicht nur Diagnostik und die Akzeptanz der Verstehbarkeit nicht nur eine Frage der Haltung, sondern der Akt des Verstehens ist ein wesentlich sozialer.

Im Idealfall bilden das Moment des Erkennens, wenn es um Menschen geht, und das des Anerkennens eine zirkuläre Einheit: Die Haltung, den anderen gelten zu lassen, ist die Voraussetzung für die Sinnsuche in seinem Verhalten. Das Vermutete sucht Bestätigung durch die Zustimmung des anderen. Dieser spürt gleichzeitig Interesse für und Respekt vor seiner Person, Nähe und Distanz in einem ausgewogenen Verhältnis. Der Diagnostiker übt sich in erkenntnismäßiger Selbstbeschränkung, indem er die sokratische Demut vor dem prinzipiellen Nicht-wissen-Können von der Verstehbarkeit von Prozessen auf die Verstehbarkeit des anderen Menschen ausdehnt. Trotzdem im Interesse des anderen zusammen nach Wahrheit und Lösungswegen zu suchen, begleitet diesen auf seiner Suche nach sich selbst. Der Akt des Verstehen-Wollens auf der Basis des Anerkennens bildet sich im Bewusstsein des anderen so nicht als Erfahrung entfremdender Vereinnahmung, sondern als eine interessierter und annehmender Zuwendung ab. Er weiß sich angenommen und ernst genommen. Gerade für geistig oder seelisch behinderte Menschen kann dies Neuland sein. Aber nur in ihm kann ein Vertrauen wachsen, das Abwehrhandlungen, auch solche, die gegen das Selbst gerichtet sind, weniger notwendig werden lässt. Verdrängtes und nicht Zugelassenes finden den Weg ins Bewusstsein, das sich in diesem Klima neu formieren kann, ohne von Ablehnung und Unterdrückung bedroht zu sein, und möglicherweise als Ausgesprochenes den in die erscheinende Welt.

In ähnlicher Weise verstehe ich das Verfahren der rehistorisierenden Diagnostik, das von der materialistischen Behindertenpädagogik in der Tradition von Alexander Lurija entwickelt wurde und dessen "Hauptfrage nicht die nach dem Defekt, sondern nach der Rolle des Defekts in der Entwicklung der Persönlichkeit (ist)."[253]

"Rehistorisierende Diagnostik würde ihr Anliegen verfehlen, würde sie sich nicht Behandlungstechnologien verweigern, welche über die Herstellung des Objektcharakters des anderen ständig wieder Gewalt in das soziale Verhältnis geistige Behinderung importieren. Immer ist Rehistorisierung die Einheit von Negation der Gewalt durch Anerkennung und Dialog und einer Denkbewegung, welche die Realität des psychisch kranken und behinderten Menschen als Ausdruck einer eigentümlichen psychopathologischen Geschichte unter den Bedingungen von Gewalt wieder im Denken verflüssigt und damit Verstehen ermöglicht." [254]

Gewalterfahrungen beim Behinderten zu erkennen bzw. zu verhindern und selbst mit ihm und für ihn handelnder Sozialpartner in einem herrschaftsfreien Raum zu sein, können zwei separate Pflichtfelder einer befreienden Behindertenpädagogik sein. Beide Felder überschneiden sich, wenn im gegenseitigen Vertrauensverhältnis Gewalterfahrungen thematisiert werden. Dies kann den Zweck haben, überhaupt von Gewalterfahrungen und erlitten Traumata zu erfahren. Es ist Biographiearbeit, die den Lebensweltbezug über den aktuellen Lebenskontext hinaus auf die Vergangenheit ausdehnt, primär nicht, um Schuldige zu finden, sondern um zu wissen, was passiert ist und gespeichert wurde und um besser zu verstehen, warum der Behinderte so und nicht anders ist, denkt, fühlt und handelt. Zum anderen ist es für diesen die Möglichkeit, loszuwerden und mitzuteilen, was ihn quält, und bei einem anderen Menschen Verständnis zu finden.

Um dem kritischen Denkansatz zu genügen, weise ich auf zwei mögliche Begleiterscheinungen hin, die die heilende Wirkung beeinträchtigen bzw. verzögern können. Die erste wurde bereits angesprochen: Wenn der Erkenntnissuchende die Grenze des Verstehens nicht respektiert, überschreitet er die Grenze zum anderen an sich über Gebühr. Den Effekt, dass dadurch Abwehr provoziert werden kann, kennt nicht nur der Therapeut, sondern auch die Alltagspsychologie. Wenn ich mit jemandem über meine Probleme reden kann, dann ist das entlastend. Wenn ich ab einem gewissen Punkt den Eindruck bekomme, der andere glaubt mich besser zu kennen als ich mich selbst, glaubt besser zu wissen, was für mich gut ist als ich selbst, keimt leise Aggression auf. Möglicherweise redet er, wie beim Paternalismus mit Samthandschuhen beschrieben, mehr über sich als über mich.

Der zweite besorgniserregende Nebeneffekt sind die heftigen Reaktionen, die ausgelöst werden, wenn das Verschüttete an die Oberfläche, das Verdrängte wieder zu Bewusstsein kommt, wenn aus Trauer wieder Verzweiflung und aus Unterdrücktsein wieder Kampf wird. Da traumatisierende Erfahrungen bei dem Personenkreis, um den es hier geht, nach den vorangegangenen Betrachtungen als höchstwahrscheinlich angenommen werden können, denkt man speziell an die Gefahr der Retraumatisierung. Generell kann der Prozess des Gewahr-Werdens ein leidvoller sein. Wenn man den Behinderten in diesen Prozess einbinden will, muss man sich der Mitverantwortung für das, was passiert, bewusst sein. Freire, der in der Mitwirkung der Unterdrückten bei der Aktion der Bewusstwerdung durch gemeinsame Reflexion die Basis für den "Kampf um ihre Befreiung"[255] sieht, schildert ihn als einen schmerzvollen "Geburtsvorgang"[256]: "Nur wenn sie sich selbst als ‚Behauser' des Unterdrückers erkennen, können sie am Hebammendienst ihrer befreienden Pädagogik mitwirken."[257]Inspiriert war er bei diesem Bild vermutlich durch die "Mäeutik" (="Hebammenkunst") des Sokrates, der durch seine Methode des Dialogs als Weg zur Selbsterkenntnis schon damals bei seinen Gesprächspartnern anfangs oft mehr Verwirrung als Erhellung erzeugt zu haben scheint. Carl Rogers formuliert die Gefahr so: "Wenn allerdings das Individuum durch übereifrige und scharfe Deutungen des Therapeuten (...) mit mehr verleugneter Erfahrung konfrontiert wird, als es vertragen kann, dann entsteht Desorganisation, und ein psychotischer Zusammenbruch ist die Folge."[258] Dass dies eine neue Gewalterfahrung sein kann, wird an anderer Stelle noch deutlicher: "Im Fall der radikalen Reorganisation kann der Klient einer schweren und schmerzlichen Folter und totaler chaotischer Verwirrung ausgesetzt sein."[259]

Wer in Kooperation mit der geschädigten Person bewusst darauf hinwirkt, dass unsagbares Leid zur Sprache kommt, der muss neben der Schwere des Traumas bedenken, welche emotionalen und kognitiven Bewältigungskompetenzen da sind und ob der neu Verunsicherte und Gestresste in zuverlässigen Bindungen aufgefangen werden kann. Psychoanalytiker rechnen mit dem Tal, das mitunter durchschritten werden muss. Die Psychoanalytikerin Valerie Sinason beschreibt den Fall von Steven, den sie lange Zeit therapeutisch betreute. Sein Selbstschutz vor der Wirklichkeit war das Schlafen. Je weniger es im Laufe der Therapie wurde, desto mehr nahm das Weinen zu. "Es ist ein Weinen, das mit dem schrecklichen Gefühl des Alleinseins zu tun hat und mit dessen Unwiderruflichkeit."[260] Sie zitiert den Psychoanalytiker Neville Symington, der ihr 1984 dazu sagte, dass

"das Weinen kommt, wenn bei diesen Patienten ein Durchbruch geschieht, und dass es ein wirkliches Gewahrwerden des ganzen einst verlorenen Sinnzusammenhangs und der ganzen Einsamkeit in der Behinderung zum Ausdruck bringt. [261]

Seine [Svens, d.V.] Mutter und seine Sozialarbeiterin waren sehr verzweifelt über diese Phase des Weinens, in der sich Steven befand. Sie waren besorgt, ob die Therapie für ihn nicht zu grausam sei."[262] Wenn der Behinderte seine schützenden Anpassungshandlungen aufgibt, müssen den auftauchenden traumabehafteten Erfahrungen solche anderer Qualität entgegengesetzt werden, damit sie in einer nun humaneren Lebenswelt weniger zerstörerisch eingebettet werden können. Wenn man als Verantwortlicher beschließt, den Behinderten nicht mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, wenn man es für besser hält, ihn nicht zu wecken[263], sollte man selbstreflexiv prüfen, ob es einem darum geht, dem Behinderten Leid oder sich selbst Mühe, Verantwortung und Integrationsarbeit zu ersparen. Da einer Passivität oft leichter zu begegnen ist als einer Aggressivität, halte ich die diesbezügliche Selbstprüfung im pädagogischen Alltag für wesentlich. In den Worten von Shirley Hoxter, welche sich auf traumatisierte Kinder beziehen und die für traumatisierte Behinderte Gültigkeit haben können, kommt die Tragweite der Entscheidung zum Ausdruck: "Wir finden, dass unsere psychotherapeutischen Methoden vom Kind verlangen, dass es sich einer Erfahrung stellt und sie assimiliert, die zum Glück weit jenseits dessen liegt, was die meisten von uns erleben müssen (...) Manchmal werden wir uns fragen, ob es nicht besser ist, die Dinge ruhen zu lassen, diese Kinder in ihrem Zustand der Nicht-Integration zu belassen, wo sie die barmherzigen Abwehrmechanismen der Verdrängung, der Verleugnung und der Spaltung oder sogar des extremen Rückzugs nutzen können, halblebendig statt schmerzhaft am Leben. Die Schmerzen der Integration mögen sich lohnen, wenn sie zum ‚normalen menschlichen Unglück' führen, aber wir fühlen uns schuldig und grausam, wenn die Integration lediglich die Erduldung des Leidens zu bieten hat."[264]

Wer dem Behinderten, der den Bezug zur Welt aufgegeben hat und die einzige Anpassungsmöglichkeit in Passivität und Selbstbezogenheit fand, eine vertrauensvolle Beziehung anbietet, muss mit dem rechnen, was auf ihn zukommt, wenn der Behinderte die Tür, von der Niedecken weiter oben sprach, öffnet und nicht nur zu einem neuen Beziehungsversuch hinaustritt, sondern auch den Blick auf seine leidvolle Geschichte frei gibt. Wenn es ihm nicht gelingt, die Tür hinter sich zuzumachen, ohne wieder nur Teil seiner selbst zu sein, trägt er das Vergangene in das Neue mit hinein. Dort werden Bewältigungsversuche und Reinszenierungen ihren Raum und ihre Zeit beanspruchen. Dass mit der anderen, neuen Erfahrungswelt von heute auf morgen alles harmonisch ist und die Vergangenheit ausradiert ist, ist oft eine Utopie und verkennt neurobiologische Prozesse. Vermittelt man dem stumpf und stupide Gewordenen neue Anhaltspunkte, an denen er einen Sinnzusammenhang festmachen machen kann und die seinem Handeln wieder Bedeutung geben, mag das einer Wiederbelebung gleichkommen. Sinason sagte einem ihrer Patienten, "dass es wirklich ein Tod sei, wenn man jeden Sinns beraubt wäre. Es wäre der Tod der Seele".[265] Für alle Beteiligten wäre es angenehm, brächte man es fertig, dass die psychische Dynamik wiedererweckt wird, ohne dass auch das Alte wiederauflebt.

Im Rahmen der Diagnostik halte ich die Beschäftigung mit der Geschichte des Behinderten, die über das Studium von Dokumentationen hinausgeht, für unerlässlich, auch wenn man zu Gesicht bekommt, was man lieber nicht gesehen hätte. Sich dahinein zu versetzten, um ansatzweise zu verstehen, kann schmerzlich sein. Dasselbe gilt im Übrigen auch für diejenige aktuelle Lebenswirklichkeit des Behinderten, die außerhalb des Bekannten liegt. Hinter der Frage, ob eine meist mit Emotionen verbundene Einbeziehung des Betroffenen bei der Wahrheitssuche immer förderlich ist, will ich ein Fragezeichen lassen. Man kann es im Licht des Charakters der Verhaltenstherapie sehen: Wenn der Patient durch ein geändertes Verhalten gute neue Erfahrungen machen kann und mit der Zeit diese so wichtig werden, dass das Alte unwichtig wird und zu Recht unbeachtet bleibt, dann ist es gut. Wenn der Patient keine neuen Wege gehen kann, weil die alten Erfahrungen ihn blockieren oder immer wieder zurückwerfen, dann kann es für ihn geraten sein, in einem geschützten Raum dem Feind erneut in die Augen zu schauen. Auf jeden Fall bietet ein Vorgehen, das Verhaltensänderung erzwingt, kaum Perspektive auf eine nachhaltige positive Wirkung weder bei einem Kind noch bei einem Erwachsenen, ob behindert oder nicht. Respekt vor der Vernünftigkeit des Behinderten und Einsicht in die Notwendigkeit seines Verhaltens fordert, sich auch zu überlegen, ob der Behinderte nicht vielleicht selbst am besten weiß, was gut für ihn ist. Ihm bei der Entscheidung, welches Vorgehen für ihn heilsam ist, kein Entscheidungsrecht einzuräumen, wäre erneut ein Akt der Entmündigung. Auch der Behinderte hat das Recht, am Verlauf therapeutischer Hilfe mitzuwirken. Ich halte dies nicht für praxisfremd.

Der Pädagoge/Therapeut versucht, sich auf den Behinderten einzustellen. Dies ist für ihn die Basis, auf der er einen Begegnungsraum gestaltet. Der gemeinsame Austausch, am besten über einen gemeinsamen Gegenstand, erlaubt dem Behinderten Aktivität und Interaktion in einer Beziehung ohne Machtgefälle. Indem er sich selbst in einer weniger ängstigenden Objektbeziehung wiederfindet, erscheint ihm das Neue weniger befremdend und befreit ihn aus Isolation. Wenn die Beziehung so gestaltet ist, kann sie heilsam sein, ohne dass das, was Kern der Erkrankung oder Behinderung ist, explizit hervorgeholt wird. Aber sie ist dem Behinderten eben auch die Möglichkeit, Gemeinsamkeit dadurch zu praktizieren, dass eigene Probleme thematisiert werden. Wie in jeder Beziehung wächst mit der Lust am gemeinsamen Erleben und in einer Atmosphäre entspannter Vertrautheit wechselseitig das Interesse, mehr vom anderen zu erfahren, sowie die Neigung, mehr von sich zu erzählen als gemeinhin. Wenn der andere vertraut, wohlwollend und berechenbar ist, wird man auch die Chance ergreifen, etwas loszuwerden, womit man allein nicht klarkommt.

Wenn der Pädagoge in der Begegnung die Voraussetzungen für ein dialogisches Gewahrwerden schafft, kann es deshalb sein, dass sich in ihm für den Betroffenen ein Bindungsangebot realisiert. Aus dem Bisherigen geht hervor, dass für den Behinderten solche Angebote unter Umständen selten sind. Dieser persönlichen Verantwortung muss der, der das Angebot macht, gerecht werden können, auch wenn der Umgang mit dem Behinderten, der wieder anfangen will, an der Welt zu partizipieren, anstrengender werden kann. Mit jeder misslingenden Bindung schwindet die Hoffnung, der Isolation zu entkommen und verstärkt sich die Abwehr dagegen, sich überhaupt auf Bindungen einzulassen, um der Enttäuschung zu entgehen. Besonders im therapeutischen Bereich und bei Heimunterbringung erleben Kinder, Jugendliche und Behinderte, die noch in dem Stadium sind, dass sie weniger an Inhalten als an Bindungserfahrungen interessiert sind, keine Zuverlässigkeit und damit keine Stabilität. Therapien enden und betreuende Personen wechseln. Wenn dies geschieht, bevor Vertrauen zu Selbstvertrauen wird und Bindungserfahrungen zum Modell für die Beziehung zur einer weiter gefassten Umwelt werden, ist ein Rückfall in alte Muster zu befürchten. Um beim Bild der offenen und geschlossenen Räume zu bleiben: Wenn die Tür außen entriegelt und vom Behinderten geöffnet wurde, dann darf sie nicht von außen wieder zugemacht werden. Es muss dann jemand da sein, der auf ihn wartet, ihm entgegen geht und auf ihn eingeht.

5.2. Der Faktor Zeit

Freiheit beginnt schon da, wo der Behinderte Freiraum für die Entscheidung hat, ob und vor allem wann er die Tür öffnet. Der Faktor Zeit hat zentrale Bedeutung. Es ist schwierig, darauf warten zu können, dass die Tür aufgeht, und den Zeitpunkt zu erkennen, wo man entgegengehen muss. Es ist die Suche nach dem Καιρός, dem richtigen Augenblick. Warten kann nur, wer Vertrauen hat. Vertrauen darauf, dass der Behinderte weiß, wann für ihn der richtige Zeitpunkt ist, die Welt wieder zu versuchen. Dies betrifft nicht nur den Moment, sich integrieren zu wollen, sondern überhaupt den Moment, in dem zum Leben kommen kann, was in der "Zone der nächsten Entwicklung"[266] ist. Vertrauen meint auch das Wissen, dass der andere den Schritt tatsächlich machen wird, wenn er bereit ist. Warten ist aber nicht Untätigkeit, sondern die ständige Erneuerung des Angebotes, als Werkzeug helfend zur Verfügung zu stehen, wenn es dazu eines Interaktionspartners bedarf. Niemand, der nicht in ähnlicher Weise Gewalt erfahren hat, kann ermessen, welche inneren Widerstände und welche Ängste überwunden werden müssen, bis ein Verhalten oder eine Verhaltensänderung geschehen kann und so erst die Wirkung einer zumutenden Begegnung oder einer Therapie sichtbar wird. Vertrauen meint, die Eigenzeit des Behinderten in der gleichen Weise zu achten, wie man seinen Eigenwillen respektiert hat, ihm die Zeit zu geben, die er für Entscheidungen und Entwicklungen braucht und sich auf seine Geschwindigkeit einzulassen. Dieser wird dadurch nicht demotiviert, sondern das ihm entgegengebrachte Zutrauen motiviert ihn. Die Langsamkeit und die Trägheit, die vielen Behinderten als notwendig inhärent angedichtet werden, sind vor dem Hintergrund von behindernden Vorerfahrungen häufig als Vorsicht und Ängstlichkeit zu deuten. Ängstlich, weil sie erfahren haben, wie es ist, schutzlos Gewalt ausgeliefert zu sein und vorsichtig, weil sie wissen, dass sie nicht mehr viele Misserfolgserlebnisse verkraften können.

Wenn man Sinasons Therapieprotokolle mit Behinderten liest, dann kann man davon beeindruckt sein, welche Durchbrüche der Patienten in der Beziehung zu sich selbst und zu Mitmenschen erst nach mehreren Jahren Therapie passieren. Bewältigungsprozesse brauchen die Zeit, die zur Dimension des Erlebten in Proportion steht, und viele davon finden im Stillen statt. Weiß man, was der psychisch leidende Behinderte erleidet und durchgemacht hat oder ahnt man, was er wohl erlitten hat, muss man geduldig werden und doch auch bereit, es zu akzeptieren, wenn man dem Leiden nicht genug entgegensetzen konnte.

Oft erfahren Behinderte Geduld und Anpassung an ihren Rhythmus nicht nur nicht, sondern das Gegenteil. Die am Ende des Kapitels über Gewaltquellen im Eltern-Kind-Verhältnis beschriebene Geduld, die stark gefordert ist, wenn man unangepasstes und unerwartetes Verhalten, kombiniert mit den defizitären Blicken Dritter, permanent um sich hat, ist eine, die man auch als Gleichmut bezeichnen kann. Es wurde als schwierig beschrieben, ruhig und im Innersten frei von Aggression und Gewaltbereitschaft zu sein, wenn man sich der mitunter störenden Abweichung nicht entziehen kann, wenn man als Eltern, Mitbewohner oder Betreuer keine entspannenden Auszeiten nehmen kann, ohne zu fehlen oder ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Versuchung, das, was an den Nerven zehrt, mit Macht zu beenden, wurde als Gewaltquelle gewertet.

Die Geduld, die hier angesprochen ist, ist eine, die den Dingen die nötige Zeit lässt. Ungeachtet des richtigen Rahmens braucht der Behinderte die ihm angemessene, oft vergleichsweise längere Zeit, um zu lernen und sich zu entwickeln. Nicht weil er von Haus aus retardiert ist, sondern weil er mit Bewältigungsarbeit und Orientierungssuche beschäftigt ist. Im Lernen von Angst und Abwehr ist er schnell, für das andere, an dem seine Leistungsfähigkeit bemessen wird, muss er erst wieder Mut sammeln, muss sozusagen seine "Schnecken-Fühler" erst langsam wieder ausstrecken.

Ist zu vieles unbewältigt, braucht er Zeit, zu seiner Vergangenheit zurückzukehren, denn zu Recht ängstigt ihn die Erinnerung. Zu Recht scheut er sich davor, zu seinem früheren Ich Kontakt aufzunehmen und zieht dem eine Identität ohne Kontinuität vor. Wie den Kontakt zur Vergangenheit meidet er den Kontakt zu Neuem und zu anderen Menschen. Wer von diesen ihn aus seiner isolierenden Stagnation befreien will, muss anerkennen, dass die Erwiderung von eigenen Annäherungsversuchen oft nicht so aussehen kann, wie man es aus der alltäglichen Verhaltenserwartung kennt. Die Grundannahme aber, dass ausnahmslos niemand gern einsam, passiv oder verhaltensgestört ist, im Hinterkopf, lässt aus einem zornigen und enttäuschten "Er will nicht (anders)!" ein verständnisvolles "Er kann nicht (anders)" und in Zeiträumen gedacht, ein geduldiges "Er kann noch nicht (anders)" werden.

Die Zeit, in der sich Nichts ändert und in der scheinbar Nichts zurückkommt, braucht die Seele des Behinderten sozusagen für Reparaturarbeiten. Erst müssen die von Angst und Traumen besetzten Bereiche durch die Macht guter zwischenmenschlicher Erfahrungen zurückerobert werden. Bis der Behinderte an dem für ihn richtigen Zeitpunkt, Veränderungen sichtbar werden zu lassen, angekommen ist, droht ihm unangemessenes Verhalten der Gegenseite. Wird versucht, seine Eigenzeit zu beschleunigen, indem Veränderungen forciert werden, wird der Prozess im Gegenteil behindert. Gleiches wird bewirkt, wenn die vertrauensvolle Zuwendung bei ausbleibender Wirkung nachlässt und man müde wird, Kraft in die Bereitstellung von Entwicklungs- und Kommunikationsanreizen zu investieren.

5.3. Zwei Fallbeispiele

An zwei Fällen aus dem therapeutischen Bereich soll exemplarisch gezeigt werden, wie bei Menschen, die psychisch geschädigt und geistig behindert sind, Heilsames geschehen kann, wenn sie sich in zuverlässig herrschaftsfreien Begegnungsräumen wiederfinden und ihnen Zeit gelassen wird. Dadurch, dass angestoßene Prozesse, seien sie erfreulich oder nicht, zugelassen und anteilnehmend begleitet werden, und dadurch, dass Verlauf und Tempo mehr vom Patienten als vom Therapeuten bestimmt werden, erhält die thera-peutische Begegnung die Funktion der Befreiung hin zur einer Selbstgestaltung, die sich wieder in die Welt ausdehnen will. Ali erhielt psychoanalytische Therapie bei Valerie Sinason[267], Hermann musiktherapeutische Therapie bei Hansjörg Meyer[268].

a) Ali bei Frau Sinason in der Psychotherapie

In Alis Akte steht, dass er seit Geburt geistig behindert ist. Ich schildere, was bis zum Therapieabbruch als bekannt gelten kann. Er ist zu früh geboren und verbringt seine erste Zeit im Inkubator. Von seinen Eltern, die gesundheitliche und pekuniäre Sorgen haben, wird er mindestens vernachlässigt. Ab dem Alter von vier Jahren wird er von seinem erwachsenen Bruder, der sich zuweilen um ihn kümmert, regelmäßig sexuell missbraucht. Mit welcher Brutalität und mit welchem Sadismus perverse Praktiken an ihm vollführt werden, kommt in der Therapie zu Tage und ist schon für den Außenstehenden schwer erträglich. Nachdem sein Bruder, der nach Aussagen seines Vaters im Übrigen wohl selbst im Alter von vier Jahren von einer Männergruppe gemeinschaftlich vergewaltigt worden war, weggezogen ist, erlebt er in der Schule Gewalt und erneut sexuelle Belästigung. Von den Eltern häufig praktizierte Einläufe und die Beschneidung mit acht Jahren sind weitere Eindrücke, die sich nicht nur auf sein Körperselbst negativ auswirken. Dies sind nur Ausschnitte aus dem Therapiebericht und Ausschnitte aus seiner bisherigen Biographie. Ali kann weder lesen noch schreiben und redet in Zwei-Wort-Sätzen. Mit acht beginnt die Therapie. Ein Jahr lang ist er unzugänglich. In der 42. Stunde blickt er auf eine dargebotene Clown-Puppe, die auf einer Seite weint und auf der anderen lacht, blickt Frau Sinason an und nimmt die Puppe in die Hand, um an ihr etwas von sich zu zeigen. Es ist wie ein Entschluss, dass es der richtige Zeitpunkt ist, Sinason zu vertrauen und abzulegen, was ihn von sich und seiner Vergangenheit trennt. Mit einem Mal verliert er das Lächeln, das er immer als Maske vor sich hertrug. In dem selben Augenblick, in dem er beginnt, der Welt seine Wahrheit zu zeigen, bricht sein Sprachvermögen hervor. "Ja. Ich traurig. Ich bin Ali mit traurige [sic] Gesicht. Clown kennt trauriges Gesicht."[269] Es scheint, dass seine Sprache durch Unwahrhaftigkeit behindert war. In der Folgezeit stellt er mit den Puppen den erlittenen Missbrauch nach. Die Zeit ist hart für ihn und für die Therapeutin mit so viel Ekel verbunden, dass keiner ihr einen Vorwurf machte, würde sie die Therapie abbrechen. Ali wird zunehmend verzweifelt, wütend, aggressiv, zeigt vermehrt sexualisiertes Verhalten. Doch gleichzeitig scheint die zurückgelegte Strecke der Erinnerung mit der Abschwächung von kognitiven und sprachlichen Beeinträchtigungen zu korrelieren. Auf schier unglaubliche Weise wird Abnahme von Verdrängung von Zunahme an Kompetenzen begleitet: Nachdem er zum ersten Mal den Missbrauch eines Erwachsenen an einem Kind nachgespielt hat, macht Ali einen "linguistischen Sprung nach vorn (...) Ich hatte den Eindruck, vor meinen Augen spielten sich einige Jahre Sprachentwicklung (...) ab."[270] Dass es kein Denken gibt, das sich befehlen lässt, nicht auch zurückzudenken, auch wenn einem das lieber wäre, kommt in dem schwerwiegenden Satz Sinasons über Ali zum Ausdruck: "Sein Zorn wuchs jetzt Hand in Hand mit seiner Intelligenz und seiner Erinnerung."[271] Seine neu gewonnene Sprache zeigt er vorerst nur in der Therapie. Allmählich übernimmt er im Rollenspiel mit den Puppen mehr die Rolle des Opfers als die des Täters. Als es ihm gelingt, auf die Figur, die seinen Bruder symbolisiert, wütend zu sein, berichtet die Lehrerin von großen Fortschritten und der Zunahme von Alis Konzentrationsfähigkeit. Er beginnt von sich aus zu lesen und Rechenaufgaben zu machen. Der Prozess bis hierher beanspruchte drei Jahre. Was Sinason in der 90. und 102. Stunde beschreibt, liest sich wie die Rückkehr Alis zu seinem Körperselbst, das im erwachenden Bewusstsein Aufnahme findet. "Er berührte sein Gesicht und sagte, es sei kalt. Er berührte es voller Verwunderung, als ob es zum ersten Mal sein eigener Körper wäre."[272] Sinason berichtet: "Wenn man die missbrauchte Seele und den Körper abgestumpft halten muss, dann bedeutet das oft, dass man keine Unterschiede in Temperatur oder Schmerz erkennt und eine Auswirkung der Therapie ist, dass die Kinder für alle infantilen Gefühle sehr empfänglich werden, das heißt für Hitze und Kälte, Dunkelheit und Helligkeit, Jahreszeiten und Schmerzen."[273]In die Nähe zu den eigenen Gefühlen zurückgekehrt kann Ali Mitgefühl zeigen. Dies umso mehr, als er viel Leid nachfühlen kann. Ali berichtet Sinason von einem Krankenbesuch bei einer Freundin. Seine ganze soziale, kognitive und emotionale Entwicklung, die unter dem Eindruck der therapeutischen Begegnung stattfand, kommt darin zum Ausdruck: "'Ich sagte‚"Hallo Tracy", und ich dachte, sie würde sagen‚"Hallo Ali", aber sie konnte nicht sprechen (...) Mein Papa und meine Mama und ich waren so traurig, eine Freundin so liegen zu sehen, ganz behindert, mit Schläuchen.' Er wischte sich eine Träne aus dem Auge. ‚So traurig, eine Freundin so zu sehen, die so gar keine Zunge zum Sprechen hat.'"[274] Sinason antwortet ihm, "auch er sei ein armer kranker Ali gewesen, der keine Zunge zum Sprechen gehabt hat, und er wisse, wie einem da zu Mute ist, aber heut habe er all seine Gedanken und Gefühle, und er könne sie aussprechen. Er habe Mitgefühl für sein behindertes Selbst, nicht Abscheu oder Verzweiflung."[275]

Gegenseitige Wertschätzung und gegenseitiges Vertrauen spiegeln sich in den Dialogen wider. Schon die Art, wie Sinason zu ihren Patienten spricht, zeugt von Achtung. Sie versucht, dem Phänomen dessen, was als behindert und gestört bezeichnet wird, eine momentane Funktion für das psychische Überleben und eine Bedeutung zuzuweisen, die auf Erlebtes zurückdeutet. Die Patienten scheinen zu spüren, dass Sinasons Beachtung und Interesse echt sind. Sie scheinen auf die Möglichkeit gewartet zu haben, dass sie jemand auf dem Weg zurück zur Wahrheit begleitet, der sie nicht allein lässt, wenn sie damit schlecht fertig werden. Sie können das Abbild ihres Leidens in einem Raum anschaubar machen, in dem sie nicht ausgelacht, abgelehnt oder für dumm bzw. für schlecht erklärt werden.

b) Hermann bei Herrn Meyer in der Musiktherapie

Die Geschichten von Ali und Hermann haben Parallelen: Beide finden in ihren Therapeuten Menschen, die ehrlich bemüht sind, zu ihren Patienten eine äquivalente und wechselseitige Beziehung aufzubauen. Beide erleben einen dialogischen Raum, in dem Personen sowohl aufeinander als auch auf einen gemeinsamen Gegenstand bezogen sind. Im Fall von Ali ist es seine Vergangenheit, im Fall von Hermann ist es die Musik. Das gemeinsame Musikmachen hat seine Eigentümlichkeit darin, dass die Musik gleichzeitig Form und Inhalt eines dialogischen Verhältnisses ist. Form, indem sie Kommunikation ist, Inhalt, indem das Ergebnis die Empfindung ist, die durch die Musik ausgelöst wird. Jeder Musiker kennt im Zusammenspiel mit anderen die emotionale Bereicherung durch das kommunikative Element an sich und durch das, was zusammen geschaffen wird. In der Musiktherapie ist beides von Bedeutung. Das Hören von Musik als Möglichkeit, Emotionen direkt und in Reinform zu erleben und das gemeinsame Musikmachen als praktizierte nonverbale Kommunikation.[276] Darunter subsummiere ich jegliche Form, Klänge, Laute oder Rhythmen in Beziehung zueinander treten zu lassen. Ich wähle die Geschichte mit Hermann, weil auch sie etwas mit Sprache zu tun hat. In der Musiktherapie wird ein Sprachraum der nonverbalen Kommunikation hergestellt, wodurch Hermann angeregt wird, das eigene Sprechen als Werkzeug, Bedürfnisse mitzuteilen, wieder zu entdecken.

Hermann ist 52 Jahre alt, hat das Down-Syndrom, spricht nicht, ist verschlossen und aggressiv. Meist ist er allein im Zimmer. Wenn er herauskommt, müssen alle Mitbewohner in Sicherheit gebracht werden. Außerdem ist sein Verhalten von Stereotypien gekennzeichnet. Bis zum Alter von 15 Jahren lebte er bei den Eltern. Es wird erzählt, dass sie ihm ablehnende Gefühle entgegengebracht haben. Als Kind soll er einzelne Worte gesprochen haben. Die nächsten 18 Jahre verbrachte er in der Psychiatrie. Da dies in die 60er und 70er Jahre fällt, muss man in Erwägung ziehen, dass er dort eine schlechte Zeit hatte. Er lebt jetzt in einer Einrichtung, dessen Personal sich um ihn bemüht und "versucht, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen; doch so richtig an ihn heran kommt keiner. Zu groß scheinen seine Verletzungen zu sein, zu groß sein Misstrauen, als dass er sich aus seiner autistischen Burg heraus trauen würde."[277] Eine Vorgehensweise von Meyer ist es, Bewegungen oder Lauten der Patienten einen passenden Rhythmus bzw. eine Melodie zu unterlegen. Er setzt damit also etwas in der Welt Erscheinendes in Bezug zum Patienten, das nicht dieser Selbst ist. Die Erfahrung von etwas Passendem zu machen bietet dem Patienten die Möglichkeit, aus der Selbstbezüglichkeit heraus zu treten, ohne das Selbst zum wiederholten Mal als unvereinbar mit der Welt und als durch diese gefährdet zu erkennen.

Hermanns Hände sind immer in Bewegung: Der Daumen bewegt sich zum Handteller und zurück, mit beiden Händen abwechselnd. Dann tippt er gegen die Wange und steckt einen Finger in den Mund, um die Sequenz von Neuem beginnen zu lassen. Im Rhythmus des Daumens spielt Meyer zwei Töne im Wechsel auf dem Klavier. "Hermann hält kurz inne, blickt mich an. Dann macht er weiter."[278] Wenn er den Finger in den Mund steckt, wird es von einem angenehmen Akkord begleitet. "Der Akkord scheint ihm zu gefallen, denn er probiert es immer wieder."[279] Im Laufe der Zeit merkt er, dass er die Musik mit seinen Bewegungen steuern kann und er nutzt dies. Überraschungen und Variationen kommentiert er mit einem Lächeln. In der dritten Sitzung legt er sich nach dem Wechselspiel auf den Boden, wiegt hin und her und lässt sich von der Musik begleiten. In den folgenden Monaten beginnt jede Sitzung mit dem Dialogspiel zwischen Klavier und Hermanns Finger, "so als müsste Hermann sich immer wieder vergewissern, dass die ‚Sprache' noch funktioniere."[280] Danach legt er sich auf die Matte, manchmal in Embryohaltung. Dazu spielt ruhige Klaviermusik. Meyer deutet Hermanns Verhalten als "eine tiefe Regression, die es ihm ermöglicht, sich durch diese Art der Musik auf einer frühkindlichen Ebene emotional ‚nachnähren' zu lassen."[281] "Auffällig ist, dass er nach einigen Wochen gegen Ende der Sitzungen stärker zischt und akzentuierter atmet. Nach etwa vier Monaten berichtet mir eine Mitarbeiterin, dass Hermann wenige Stunden nach der letzten Musiktherapiesitzung zum ersten Mal gesprochen hätte."[282] Über die Monate hinweg verstärkt sich dieses Verhalten. Die Worte scheinen autobiographischen Inhalt zu haben: "'Sau ... du Sau ... Stinker ... du stinkst'. Manchmal sei es, als würde er geschlagen. Dumpfe Laute, durchsetzt von ‚au, au, au'-Rufen"[283]. Die Qual der Erinnerung kommt zum Tragen. Hermann weigert sich, in die Therapiestunden zu gehen, er wird aggressiver denn je, er hört wieder auf zu sprechen, zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Meyer akzeptiert es, beschließt aber nach einiger Zeit, das Beziehungsangebot immer wieder zu erneuern, indem er in Hermanns Zimmer kommt und mit ihm Musik hört. Das lässt Hermann geschehen, wohl auch, weil Meyer die oben angesprochene Balance zwischen Sich-Anbieten und dem Respekt vor der Entscheidung des anderen, das Angebot abzulehnen, hält: "Ich setze mich auf einen Stuhl und erzähle ihm, dass ich ihn besuchen würde und er mir zeigen dürfte, wenn er diesen Besuch nicht wünschte."[284] Für Thiersch gehört es zu den Maximen seiner Lebensweltorientierung, dass Vertrauen aufgebaut wird, indem man vor Ort ist, sich nützlich macht und zuverlässig ist.[285] Meyer bringt zu den Besuchen immer Milchkaffee mit, den Hermann gern hat. Milchkaffee wird zum Bestandteil der Therapiesitzungen, die beide wieder fortsetzten. Hermann verhält sich, als habe es keine Unterbrechung gegeben. Nach 22 Monaten Therapie spricht er zum ersten Mal während der Sitzung. Und wieder sind es hervor gepresste Zischlaute, die zu dem Wort "stinkst" werden. Der Zwang, alles ablecken zu müssen, bis es nach ihm riecht, hat sich wohl früh entwickelt und ließ erst in der neuen Einrichtung allmählich nach. Die Rückfrage von Meyer wird von Hermann echolaliert. Ein Dialog entwickelt sich nicht und Herrmann beharrt auf den stereotypen Aussagen über sich als "Stinker". Man ahnt, wie früher mit ihm umgegangen wurde und wie tief es sitzt. Meyer will etwas Positives dagegensetzen und sagt: "Hermann stinkt nicht, aber er trinkt gern Kaffee."[286]Daraus wird ein Lied. Hermann läuft zu dem Rhythmus hin und her, bleibt dann stehen, legt sich wie gewohnt hin und ist ruhig dabei. In einer der folgenden Sitzungen spricht er nach einigen Minuten Finger-Klavier-Dialog das Wort "Eis". Meyers "Was?" beantwortet er nicht mit "Was" sondern mit "Eis essen". Sofort gehen sie in die Küche und der Wunsch kann ihm erfüllt werden. Umringt von ungläubigen Mitarbeitern, die Hermann sprechen hören wollen, sagt Hermann sein zweites auf den Augenblick bezogene Wort: "Kaffee".

Meyer schreibt: "Hermann hat zum ersten Mal verbal Kontakt zu anderen Menschen aufgenommen, hat seine autistische Burg für einen kurzen Augenblick verlassen. Er wird sich auch wieder in sie zurückziehen. (...) Aber er hat die Erfahrung gemacht, wie es ist, sie zu verlassen. Und die kann ihm helfen, es wieder und vielleicht öfter zu versuchen."[287]

Ich kann mir vorstellen, dass für Hermann das Ereignis, zu sprechen und gehört zu werden, wie eine Befreiung, um nicht zu sagen wie eine Erlösung ist. In einem gewissen Maß gilt das auch für die Betreuer.

5.4. Stimmigkeit

Die Frage, wodurch sich Situationen auszeichnen, in denen positive Ent-wicklung stattfinden kann, betrifft Pädagogen ebenso wie Therapeuten. Ich bin davon ausgegangen, dass es vor allem Gewalt ist, die Behinderung und Störungen verursacht. Durch fortdauernde Gewalt wird Linderung verhindert. Der Weg nach vorn wird überhaupt erst möglich in Gewaltlosigkeit. Und diese kann auch der Anstoß dazu sein, ihn zu gehen. Gewaltverzicht ist also nicht nur ein Nicht-Tun, sondern sie verwirklicht sich in der Begegnung, die Gewaltlosigkeit praktiziert. So wie Gewalt eine personale sein kann, kann Gewaltlosigkeit eine personale Aktion sein. Sie erstreckt sich nicht nur darauf, Gewalt zu verhindern, sondern ist positive Energie. Die Frage danach, was an die Stelle von Gewalt tritt, stellt sich nicht, da jede Befreiung nicht nur eine Freiheit wovon ist, sondern diese in sich selbst ihr Wofür trägt. Wo Gewalt nicht da ist, ist nicht Nichts da. Will man diesen Zustand also nicht ex negativo beschreiben, so kann man ihn statt Gewaltlosigkeit in Sinne Freires Freiheit oder im Sinne Galtungs Frieden nennen.[288]

Im zwischenmenschlichen Bereich ist wenig Platz für Neutralität. Nur in Ruhe gelassen zu werden, widerspricht auf Dauer dem Bedürfnis nach Sozialität, und Gleichgültigkeit kann bereits eine Form der Ablehnung oder der Isolierung sein. Annahme als Tätigkeit begriffen ist dagegen immer schon mit Zuwendung verbunden, die den anderen in eine dialogische Beziehung mit hinein nimmt. So ist Freires "Praxis der Freiheit"[289] zu verstehen, und so ist auch zu verstehen, dass Galtung den interpersonalen Prozess, der Frieden schafft und Frieden ist, als "positiven Frieden"[290] bezeichnet. Dieser bildet den Gegenpart zur personalen Gewalt. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Galtung die Abwesenheit von struktureller Gewalt als negativen Frieden bezeichnet. Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich erinnert diese Bezeichnung an Rousseaus "negative Erziehung".[291]

Wie sich Ali durch den Dialog mit Frau Sinason bildlich gesprochen vom Unterdrücker befreit, so ist der musikalische Dialog für Hermann Wegbereiter für die Befreiung aus Isolation. Es ist ein weiter Weg, bis die geschundenen Seelen durch die Praxis der friedvollen Zuwendung ein Stück inneren Friedens wiederfinden, aber wenn Hermann nach dem Dialogspiel auf der Matte liegt, sich zur Musik wiegt und ein (echtes) Lächeln zeigt, mögen es für ihn lange nicht mehr gekannte Momente der Zufriedenheit sein.

Im Zusammensein mit ihren Therapeuten erleben sie das Gegenteil dessen, was im Vorigen als Gewalt bestimmt wurde. Beide erhalten Kontrolle über das, was passiert, indem ihr Wille akzeptiert wird, z.B. wenn sie nicht zur Therapie gehen wollen. Inhalt und Geschwindigkeit des therapeutischen Prozesses werden maßgeblich von ihnen selbst bestimmt. Das Gefühl von Autonomie wird noch unterstützt durch den Eindruck von Selbstwirksamkeit: Ali refiguriert selbst sein vergangenes Ich und Hermann erlebt sich als wirksam bei dem, was mit der Musik passiert. Etwas verändert sich buchstäblich unter seinen Fingern in einer Weise, die konstruktiv und nicht destruktiv ist. Ähnlich wie in der Kunsttherapie wird in der Musiktherapie, wie sie Meyer versteht, etwas angesprochen, woran es Behinderten oft gezwungenermaßen mangelt und was Erikson mit "Werksinn"[292] bezeichnet. Für behinderte und insbesondere für schwer mehrfach behinderte Menschen ist es von unschätzbarem Wert, dass sie etwas in die Welt einbringen oder in ihr beeinflussen können. Und wenn ihnen nur ein Lidschlag[293] bleibt oder ein Atemgeräusch[294], das in der Musiktherapie zu Rhythmus oder Klang werden kann - es wird ein passender Bezug zur Außenwelt hergestellt, der unter Umständen über das Imitatorische hinausgeht und gestaltend wirkt. Sie haben die Chance, in eine "schöpferische Situation"[295] eingebunden zu sein. Der diesbezügliche Mangel wird in der Persönlichkeit laut Erikson mit dem "Gefühl von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit"[296] beantwortet. Aus dem Vorangegangenen soll deutlich geworden sein, wie sehr diese beiden krank machenden Gefühle das tägliche Los vieler behinderter Menschen ist. Hermann erlebt, dass er selbstwirksam sein und Kontrolle über das Kommende haben kann. Die Kombination aus beidem wirkt dem Gefühl von Hilflosigkeit entgegen und mag ihm bei dem grandiosen Schritt geholfen haben, für einen Moment die eigene Machtlosigkeit zu überwinden und selbstständig um Eis zu bitten. Auf seine Weise liefert Hermann einen Beitrag zu der musikalischen Komposition. Im Mitmachen bei einer gemeinsamen Aktion verwirklicht sich für ihn darin Partizipation. Ali und Hermann erleben ihre Therapeuten als zuverlässige Bezugspersonen und sich selbst als weniger isoliert. Die Art, wie Sinason mit Ali spricht, bedeutet ihm, dass er in allem, was er ist, tut und sagt, vollwertig ist. Dies kann sich nur vermitteln, wenn es authentisch ist und diesen Eindruck hat man schon als Leser. Ein erstes Befremden bei der Lektüre darüber, welche Reife den Patienten zugemutet wird, zeigt, wie sehr man sich daran gewöhnt hat, dass Kinder behandelt werden, als ob sie "nur" Kinder wären und dass man mit Behinderten jeglichen Alters umgeht, als wären sie Kinder. In der Terminologie Sinasons würde es heißen: Man macht sich selbst dümmer als man ist und macht den anderen dadurch dümmer.

Was bei den beiden Patienten innerseelisch die positive Wirkung ausgelöst hat, lässt sich vielleicht am ehesten mit dem Begriff der Stimmigkeit bezeichnen. Sie erleben eine Zeit, die zu ihrer inneren Zeit passt, und in ihr ein Angesprochen-Sein, das ihnen in Form von Verständnis und Wohlwollen wenigstens so viel Symmetrie vermittelt, dass sie sich daran festhalten können, ohne sich verstellen zu müssen. Durch Gewalterfahrungen ist ihre Zeit und ihre Welt aus den Fugen geraten und sie finden kaum noch etwas oder jemanden, der sich so auf ihre Eigenzeit und ihre Eigenheit einstellt, dass ihnen Resonanz spürbar wird. Im Zusammenkommen mit Menschen wie Sinason oder Meyer erleben sie jedoch eine Begegnung, die auf sie den Eindruck macht, dass sie ein Stück weit "durch den Respekt, die Anerkennung oder die Faszination vor ‚dem Anderen' - Resonanz im Dienste der Ko-Ontogenese (Erwerb von Zukunft) - motiviert"[297] ist. Gleichklang kann es generell nicht geben, und er würde auch dem Bedürfnis nach Differenz widersprechen, aber es ist ein fremdes Mitschwingen mit dem Eigenen, das ihnen Momente der Stimmigkeit schafft.

Stimmigkeit zum einen darin, dass sie in der Gegenwart anerkannt sind und zum anderen darin, dass jemand mit ihnen das Tempo geht, das für sie das Richtige ist. Behinderte erleben häufiger, dass man in ihnen sieht, was nicht geworden ist oder was noch werden kann, aber der Raum und die Zeit, in der sie sich für einen Moment beheimatet fühlen können, wird ihnen nicht gewährt. Ihnen wird weder die Möglichkeit noch die Zeit gegeben, sich selbst mit einer Situation oder einer anderen Person in Einklang zu bringen. Schon im Alltag ist zu beobachten, was als allgemeines Kennzeichen für Entwicklungverläufe und für negativ verlaufende psychische Prozesse gelten kann: Sie bekommen keine Zeit, sich mit etwas Neuem anzufreunden, keine Zeit, Ängste abzubauen, keine Zeit, mit Menschen "warm" zu werden, keine Zeit, sich auf räumliche, zeitliche und personale Strukturen so einzustellen, dass sie darin zurechtkommen. Stattdessen wird ihnen dasselbe Tempo und dieselbe Flexibilität aufgenötigt wie den Menschen, die nicht aus der Bahn geworfen wurden. Wenn überhaupt, können nur ihre Füße Schritt halten, während der Geist zurückbleibt und die verlorene Seele anderer Wege geht. Dabei sind es die Augenblicke, in denen nur der Moment zählt und in denen das Hier und Jetzt Gültigkeit beansprucht, in denen etwas wie Schwere, wie Blei an den Füßen, abfallen kann. Es bedeutet, in der eigenen Gegenwärtigkeit ganzheitlich anzukommen und sich von hier aus auf den Weg in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu machen. Die Bedeutung des Erlebnisses, bei dem man aufhört, neben sich zu stehen, ist schwer in Worte zu fassen und scheint mir doch als ein Moment der Selbstgewissheit gerade für geistig behinderte Menschen eminent wichtig und von ihnen sehnsuchtsvoll vermisst. Der Leser möge mir verzeihen, wenn ich erneut den Dichter bemühe. In "Mondnacht" beschreibt Eichendorff den stimmigen Moment als einen, in dem

"es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst".

Dort und von hier aus kann sich Identität entfalten. Der psychische Prozess der Heilung, der von hier ausgehen kann, ist gleichzeitig Aufbruch und Rückkehr zum Selbst:

"Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus." [298]

In der Sicherheit der Gegenwart kann die behinderte Seele anfangen, die Vergangenheit zu integrieren ohne zu regredieren oder erneut traumatisiert zu werden. Die Momente der stimmigen Gegenwärtigkeit, die wie im Fall Alis intersubjektiv zustande kommen, in denen sich das Bewusstsein des Patienten mehr als sonst ändert und veränderbar wird und in denen erst der Zugang zu früheren Erfahrungen möglich wird, bezeichnet Stern als "Now-Moments"[299]: "Manchmal laden sich die Gegenwartsmomente affektiv auf und werden zum Brennpunkt für den therapeutischen Prozess. Diese Augenblicke bezeichnen wir als 'now moments'. Wenn ein solcher 'plötzlicher Moment' ergriffen wird, das heißt, wenn beide Partner mit einer authentischen, spezifischen, persönlichen Reaktion auf ihn reagieren, wird er zu einem 'Moment der Begegnung'. Dies ist die emergente Eigenschaft, die den subjektiven Kontext verändert."[300] Der Prozess, der zu dem stimmigen Moment ("Καιρός"), in dem etwas Wesentliches passiert, führen kann, wird hier vom Therapeuten nicht nur kognitiv gesteuert, sondern auch emotional begleitet, was Stern mit "moving along"[301] bezeichnet. Seine Sicht auf den therapeutischen Prozess, in dem die Qualität der Beziehung mehr Heilungsaussichten bietet als die analytische Deutung, entspricht der Sicht Lüpkes auf die Bedeutung eines richtigen, humanen Umgangs, wie ich ihn darzustellen versucht habe, im Gegensatz zur richtigen Technik. Im Blick auf Therapien, Förderungskonzepte, Erziehung und pädagogische Verfahren, wenn sie denn ihr Hauptinteresse der Anpassungs- und Funktionsfähigkeit von Kindern oder Behinderten widmen, meint Lüpke:

"Es fragt sich, ob geduldige Begleitung ohne therapeutische Gewalt, die einer Stimmigkeit im wechselseitigen Zusammenspiel zentrale Bedeutung zuschreibt, letzten Endes mehr in Bewegung setzen kann. (...) Vielleicht ist es weniger das therapeutische oder pädagogische Konzept, das Veränderungen und damit Entwicklung einleitet, sondern die Fähigkeit, mit dem Kind sich im Zusammenspiel zu treffen." [302]

Sinason und Ali konnten sich immer besser im "Reich der Sprache"[303] treffen, dort ihr Verhältnis zueinander demonstrieren und im sprachlichen Dialog gemeinsam wagen, Alis Welt zu benennen und so zu seinem Problem vorzudringen. Der in der sprachlichen Symbolisierung anschaubar gewordenen problematischen Vergangenheit konnte er sich nun stellen, stets bewusst, dass die Gegenwart, die sich in diesem Moment an der freundschaftlichen Beziehung zu Frau Sinason festmachte, ein anderes Gesicht hatte.[304] Für beide war es ein Wagnis, beide wussten nicht, wohin sie der gemeinsame Weg führt. Als Ali Sinason am Clown seine Traurigkeit und an den Puppen seinen Missbrauch demonstrierte[305], war es für beide eine Grenzsituation und sie begegneten "einander in diesem Augenblick als Personen, relativ ungeschützt durch ihre gewohnten therapeutischen Rollen."[306] Für Ali war es in diesem Moment der richtige Zeitpunkt, etwas Wahres über sich mitzuteilen. Hätte sich Sinason hier abgewendet, wäre für Ali daraus nicht jener stimmige Moment geworden, in dem er seinen ersten Satz sprach.

Das Gespräch als eine Form, in der zwischenmenschliche Stimmigkeit erlebbar sein kann, ist in der gewohnten Weise mit vielen Behinderten nicht möglich, weil sie mitunter unter dem Eindruck von Gewalterfahrungen nicht zur Sprache gekommen sind oder sie verloren haben. Für Hermann bot die Sprache der Musik die Möglichkeit, aus der Isolation heraus in eine Form von Kommunikation zu treten, indem er durch seine Körperbewegungen mit Meyer zusammen einen musikalisch-rhythmischen Dialog gestaltete. Wie im verbalen Dialog ist zwar das Ergebnis wichtig, also hier der Gesprächsinhalt, dort die Musik, aber wie beides zustande kommt, ist auf andere Weise ebenso bedeutend. Das miteinander Sprechen ist wie das miteinander Musikmachen über den Aspekt von Funktion und Technik hinaus an sich eine soziale Handlung. "Angeregt durch Klänge und durch Klänge zur Bewegung veranlasst und in deren Darstellung auf das Gegenüber und das Miteinander bezogen, realisiert sich das ‚Reich der Sprache' (Maturana/Varela 1990, Rödler 2000) in Form fundamentaler Dialoge, die des Sprechens nicht bedürfen, aber zu ihm führen können."[307]

Gerade Letzteres wurde bei Hermann deutlich. Im Zitat ist angesprochen, dass die Musik die Vorlage für eine dialogische Entsprechung liefert. Die universelle Sprache der Musik oder überhaupt das Angeregt-Sein durch Klänge und Rhythmen stellt eine Verbindung her, die in einem etwas mitschwingen lässt. Eingeschlossen ist der Drang, diesen Eindruck durch Mitmachen, Mitsingen, Tanzen, Klatschen oder Ähnlichem zu verstärken und zu verlängern.

Feusers Zitat stammt aus einem Vortrag, den er auf einer Musiktherapeuten-Tagung hielt. Dort zeigte er Ausschnitte aus dem Film "Ursula und das unwerte Leben", der die Musiktherapeutin Mimi Scheiblauer bei ihrer Tätigkeit zeigt. In diesem beeindruckenden Dokument aus dem Jahr 1966 wird erfahrbar, wie geistig behinderte Menschen durch Musik in eine Zeitstruktur eingebunden werden, in der sich auch andere Menschen aufhalten. Gemeinsame Bewegung in einer gemeinsamen Zeit ermöglicht ihnen ein scheinbar lange nicht mehr erlebtes Gefühl von Miteinander. Ihre ganze Energie und Willenskraft, die um sich selbst kreisen musste, tritt zu Tage, ganz zu schweigen von der sichtbaren Freude, von der die Befreiung aus Isolation begleitet wird. Aus seiner eigenen Erfahrung schildert Feuser: "Wir wissen allein schon aus der Praxis, dass Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder mit Autismus-Syndrom, die ja gerade dadurch charakterisiert erscheinen, dass sie scheinbar keinen Dialog aufnehmen und führen können und wir in solchem Bemühen oft scheitern, recht wach und orientiert werden, wenn wir Musik machen, uns mit ihnen rhythmisch bewegen."[308]

Dass Musik ihre eigene zeitliche Struktur hat, eröffnet Begegnungsmöglichkeiten, die in der Zeitstruktur von Alltag und Gesellschaft schwieriger zu arrangieren sind. Musikalischer Dialog oder die gemeinsame musikalische Gestaltung kann therapeutisch gesehen mehr sein als Kompensation von Sprache. Aufgrund misslingender Bindungserfahrungen, Gewalterfahrungen und Einsamkeit müssen viele geistig Behinderte eine Eigenzeit entwickeln, die mit der der Welt wenig gemein hat. Der andere Rhythmus, dem sie gehorchen, kommt unter anderem in ihren Stereotypien zu Ausdruck, mit denen sie versuchen, sich in einer Welt zu halten, die mit ihnen so wenig in Austausch steht, dass sie eine Tätigkeit generieren müssen, in der sie "sich selbst zum Objekt des Austausches"[309]machen. Man kann sagen: Durch isolierende Erfahrungen sind sie in einen anderen Takt gekommen. Das entwurzelte und der umgebenden Welt entfremdete Zeitgefühl, wie es gleichsinnig bei Menschen zu beobachten ist, die den Stempel ADHS erhalten, wird durch die Stereotypien überwunden. Eine Ordnung wird hergestellt, die aber nur für sich allein gelten kann. Da Musik ebenso ihre intrasystemische Eigenzeit hat, dabei aber variabel ist, kann sie sich anpassen, kann den Takt aufnehmen, ein Vorgang, den man im weitesten Sinne als "strukturelle Kopplung"[310] verstehen kann. Der Behinderte liefert dann selbst das Material für ein anderes System, zu dem er ein Verhältnis haben kann, das ihm Austausch, Dialog und Kooperation ermöglicht, wobei das Verhältnis zu der so generierten Musik auf das Verhältnis zu dem Menschen abfärbt, der die Musik macht. Wenn Meyer die Bewegungen von Hermann imitiert, so bedeutet das nicht Deckungsgleichheit. Es ist eine Interpretation und eine Transformation. Immer noch ist es Meyer, der Klavier spielt und Hermann, der mit seinen Fingern spielt. Ähnlich, wie wenn Hermann ein Instrument spielen würde, ist das Verhältnis zueinander keine völlige Konsonanz, sondern wechselseitige Resonanz. Die Systeme sind nicht gleich, haben aber so viel Übereinstimmung, dass eine für beide fruchtbare Austauschbeziehung stattfinden kann, ohne dass jedoch ein gewisses Spannungsverhältnis verloren geht. Dies leuchtet ein, wenn Hermann und Meyer Vergnügen daran haben, in den musikalischen Fluss kleine Überraschungen und Störungen einzubauen, die vom anderen in das Eigene eingearbeitet werden, und so für Entwicklung zu sorgen.

Musik ist angewiesen auf Materie, auf stoffliche Resonanz im Körper, im Instrument, in der Luft und im Ohr. Indem sie Bewegung fortsetzt, gestaltet sie nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Struktur der ganz eigenen Art, wobei sie nicht für sich selbst existieren kann, sondern klangliches Abbild von passenden Schwingungsverhältnissen ist. Gerade bei Musik als Gemeinschaftsprojekt ist sie zum Klingen gebrachte, passende zwischenmenschliche Beziehung. Rosenstock-Huessy interpretierend formuliert Rödler auf Sprache bezogen: "Es (geht) ihm nicht um Einstimmigkeit, um die Wahrheit von Informationen, sondern um Resonanz, ein immer wiederkehrendes Übereinkommen, nicht um eine Einheit der Sprache, sondern eine Einheit in der Sprache."[311] Auch für den Bereich des Musik gilt: Sie kann nur da entstehen, wo es Einheit in der Musik gibt. Auch hier erfordert Stimmigkeit Einigkeit nicht nur über die Mittel der "Zusammenarbeit". Auch das musikalische Zwiegespräch funktioniert nur, wenn man bereit ist, im Miteinander auszutarieren, wann man aktiv sein muss und wann man sich zurücknehmen muss.[312] Man muss dem anderen die Zeit geben, die für ihn richtig ist, sich auszudrücken und das Eigene zu entwickeln. Man darf ihn nicht übergehen. Man muss ihm taktvoll begegnen.

"Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele." [313]

Man muss zuhören und Bezug nehmen können. Man muss den Rhythmus des anderen aufnehmen können, muss bereit sein, sich anzupassen und sich auf das einzulassen, was im Moment entsteht, auch wenn es anders ist als das, was man sich allein ausgemalt hat. Man muss die Ungleichheit des anderen respektieren und es als notwendig annehmen, dass man sich verständigen und einigen muss. Ansonsten leidet die gesamte Musik, denn wer gezwungen wird, die Vorstellung des anderen zu übernehmen und das Eigene zu verleugnen, der spielt, um es einfach zu sagen, weder schön noch gut. Gelingt Musik, so waren soziale Kompetenzen ebenso abgefragt wie musikalische. Die Analogien zum gemeinsamen Spiel, zum gemeinsamen Gespräch, letztlich zu jeder interpersonalen Handlung ließen sich weiterspinnen. Die Haltung, die die Ungleichheit des anderen nicht hierarchisiert, und eine Ethik, die im Miteinander die Eigensinnigkeit des anderen nicht nur duldet, sondern, wenn nötig, bestärkt, liefern nicht nur die Basis für Begegnung, sondern sie sind schon Begegnung. Sie sind nicht nur Voraussetzung für Autonomie, sondern sind bereits Autonomie. Der Pädagoge hat mit Recht bestimmte Interessen und Intentionen, hat Potentiale vor Augen, die für den individuellen behinderten Menschen machbar sind. Und doch ist es auch der Augenblick, der zählt. Im Hier und Jetzt will der Behinderte sich und was er tut in einer Beziehung erleben, die ihn in seiner Aktualität und nicht in seiner Potentialität umfasst. Musik kann dabei in besonderer Weise hilfreich sein. Sie existiert nur für den Augenblick und der Behinderte, der sie in der Musiktherapie beeinflusst oder in anderer Form mitmacht, merkt, dass sie mit ihm zu tun hat. Er erlebt sich wirksam in Kontakt mit der Gegenwart, mit der Klangwelt, die ihn umgibt und im Kontakt mit den anderen Beteiligten.

Was mögen die traumatisierten und behinderten Menschen, ob sie nun Ali, Hermann oder Ursula heißen, empfinden, wenn ihnen neue oder neu gestaltete Beziehungen eine neue Welt eröffnen?

"Da ist jemand, der sich mir mit einem echten Lächeln zuwendet. Er versucht, eine Ebene zu finden, auf der wir uns austauschen können. Er interessiert sich für mich. Wird er sich abwenden, wenn ich ihm erzähle, was mich umtreibt, was ich erlebt habe? Ich habe Angst. Angst, wieder verletzt zu werden. Er akzeptiert meine Zurückhaltung, bietet er mir Nähe und Distanz an. Ich muss nicht mitmachen, wenn ich noch nicht will. Er ist bei mir, spielt mit mir, redet mit mir, macht Musik mit mir, ohne Hintergedanken, was ich wieder nicht kann und noch lernen muss. Wenn ich etwas nicht kann, hilft er mir oder lernt mir, wie es geht, aber das allein ist nicht der Grund dafür, dass er bei mir ist. Wenn ich nicht so kann, wie er denkt oder wenn ich nicht so will wie er, wird er nicht zornig oder gewalttätig. Und er hat Geduld, weil er weiß, dass ich mein Bestes gebe."

Sieht man im Film "Ursula und das unwerte Leben", mit welch bewundernswerter Energie die behinderten Menschen im Beisein von Frau Scheiblauer daran arbeiten, sich aus Isolation und Hilflosigkeit zu befreien und die Freude, wenn ihnen Kontakt gelingt, wird klar: Sie haben nie aufgehört, nach solchen Beziehungen zu hungern.



[252] Jantzen 1990, 323

[253] Jantzen, 2000

[254] ebenda

[255] Freire 1971, 44

[256] Freire 1971, 44

[257] ebenda

[258] Rogers 2007, 64

[259] Rogers 1983, 83

[260] Sinason 2000, 77

[261] In Anlehnung an Jantzens Zitat über die Methode der Rehistorisierung kann man assoziieren: Wenn die Gedanken an die eigene gewaltdurchtränkte Geschichte wieder in Fluss kommen, können auch Tränen wieder anfangen zu fließen.

[262] Sinason 2000, 77

[263] Sinason zitiert einen Vater: "'Sie haben bei unserem Sohn aus einem gewalttätigen schlafenden Zombie einen gewalttätigen mobilen Psychopathen gemacht'" (Sinason 2000, 78).

[264] Hoxter 1986, 87

[265] Sinason 2000, 57

[266] Wygotski 2002, 330

[267] Sinason 2000, 101-129

[268] Meyer 2009, 63-72

[269] Sinason 2000, 102

[270] ebd. 111

[271] ebd. 113

[272] Sinason 119

[273] Sinason 119. Ich nehme an, man würde Sinason missverstehen, brächte man hier das Wort "infantil" in Verbindung mit negativ konnotierter Regression.

[274] Sinason 2000, 124

[275] Sinason, 124

[276] Auf den therapeutisch auch interessanten Aspekt der Musik als Möglichkeit, sich auszudrücken, will ich hier nicht explizit eingehen.

[277] Meyer 2009, 64

[278] ebd. 65

[279] ebd. 65

[280] ebd. 66

[281] Meyer 2009, 66. Ich habe Bedenken, Erlebnisse von Vertrautheit mit dem, was einen umgibt, abzuwerten, indem man sie per se als infantil oder regressiv beschreibt. Aber sicher gehören gewaltgeschädigte Menschen zu denen, für die Gefühle des Eins-Sein sehr wichtig sind.

[282] ebd. 66

[283] ebd. 2009, 68

[284] ebd. 2009, 69

[285] vgl. Thiersch 2002, 195

[286] Meyer 2009, 70

[287] ebd. 71

[288] siehe S.48

[289] Freire 1971, 106

[290] ebenda

[291] Rousseau 1998, 72

[292] Erikson 1973, 98

[293] vgl. Meyer 2009, 125

[294] vgl. Meyer 2009, 82

[295] Erikson 1973, 103

[296] ebenda

[297] Rödler 2000, 122

[298] Deutsche Gedichte 1985, 163f.

[299] Stern 2002, 909

[300] ebenda

[301] Stern 2002, 909

[302] Lüpke 1998, 59

[303] Rödler 2000, 176

[304] Freires "problemformulierende Methode" (Freire 1971, 85 ff.) scheint hier verwirklicht.

[305] vgl. Sinason 2000, 102 ff.

[306] Stern 2002, 992

[307] Feuser 2005, 2

[308] Feuser 2005, 7

[309] Feuser 2005, 8

[310] Luhmann 1997, 100

[311] Rödler 2000, 149

[312] vgl. Sennett 2007, 78f.

[313] Plessner 2001, 107

Fazit

Der Schluss böte mir Gelegenheit, persönliche Worte zu finden, doch ich nehme an, ich habe ihrer schon genug verloren. Ich gebe gern zu, dass es mich mit Sorge und Ärger erfüllt, wenn ich daran denke oder erlebe, wie viele Verletzungen geistig Behinderte im Umgang mit ihren Mitmenschen unnötigerweise erleiden müssen. Mit Sorge, weil bei der schieren Menge an unliebsamen Erlebnissen der Abschied von der Welt, von der sie irgendwann nichts mehr wissen wollen, oft kaum aufhaltbar scheint. Mit Ärger, wenn ich sehe, wie achtlos und mit welcher Selbstgerechtigkeit man ihnen häufig begegnet. Wenn etwas von beidem im Vorigen durchgedrungen ist, so hoffe ich, dass es Tatsachen und Zusammenhänge nicht verschleiert hat.

Ich kehre zu meiner Anfangsthese zurück, die besagte, dass sich in geistiger Behinderung und im Störungsbild bei geistiger Behinderung Gewalt widerspiegelt und fasse meinen Gedankengang zusammen:

Ausgangspunkt war die erhöhte psychische Erkrankungsrate bei geistiger Behinderung. Das gehäufte Auftreten der meisten allgemein auftretenden Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten ist dabei sowohl auf den einzelnen als auch auf die Gruppe der als behindert Bezeichneten bezogen. Eine ähnliche Häufung ist bei durch Gewalt traumatisierten Menschen zu beobachten. Ziel der Überlegungen war es, über die Betrachtungen zum Trauma einen Kriterienkatalog zusammenzustellen, wie Gewalt wirkt, das heißt, welche Bewusstseinszustände sie verursacht. Da Gewalt oft von anderen unbemerkt bleibt, kann so über diese Kriterien auf Gewalterfahrung geschlossen werden. Wenn sie also der Behinderte in besonderer Weise erfüllt, deutet es auf Gewalterfahrung hin und es ist angezeigt, dem Verdacht nachzugehen.

Die vier Kriterien waren: Erstens Angst, in ihr Feld gehörig Stress, Vermeidung, Stresserkrankungen. Zweitens Hilflosigkeit, darin eingeschlossen Autonomieverlust, Unkontrollierbarkeit, Ohnmacht, Passivität und das Gefühl von Abhängigkeit. Drittens das Gefühl der Isolation, zu dem Einsamkeit, Bindungsverlust, Bindungsunsicherheit, Eingesperrt-Sein, Verschlossen-sein zu-zurechnen sind und schließlich viertens Selbstwertverlust, das Gefühl von Minderwertigkeit als Grundlage für depressive Störungen. Der Behinderte muss keine Störung zu haben, um viele der Kriterien zu erfüllen. Man hat also berechtigten Grund, im Leben der Behinderten nach menschlichen Einflüssen zu forschen, die ihnen ein Gefühl von Angst, Hilflosigkeit, Allein-Sein oder Minderwertigkeit vermitteln, diese Einflüsse als Gewalt zu bezeichnen und darin die Ursache von Behinderung und von Störungen bei Behinderung zu sehen. Aufgabe des Pädagogen ist es, diese Einflüsse zu erkennen und zu mildern. Für den behinderten Menschen ist dies ein solidarischer Akt der Befreiung, eine Aktion, die aufklärt, sich der Gewalt widersetzt und selbst Gewalt vermeidet.

Ein Nebeneffekt bei der Suche nach Gewalterfahrungen im behinderten Leben ist der, dass man die Logik der Behinderung begreift. Ist diese Erkenntnisleistung ein zwischenmenschlicher Prozess wie im Fall der im fünften Kapitel beschriebenen Psychotherapie, dann erlebt der andere, dass ihm seine Vernunft, sein Name und seine Geschichtlichkeit wiedergegeben werden. Auf dieser Basis des Anerkennens sind befreiende gemeinsame Erlebnisse möglich, bei denen es nicht darum geht, das Abweichende, das Unterschiedene zu beseitigen, sondern das Gleiche zu entdecken.

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Wüllenweber, Ernst (Hg.) (2006): Pädagogik bei geistigen Behinderungen: Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer

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Kontakt

E-Mail: robertmang@web.de

Quelle:

Robert Mang: Geistig behindert und seelisch gestört: Leben und Entwicklung unter dem Eindruck von Gewalt und die Verantwortung des Pädagogen

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 15.06.2012

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