Die Entsorgung findet in den Anstalten statt

Autor:in - Rainer Nathow
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.
Copyright: © Dr. med. Mabuse 1987

Die Entsorgung findet in den Anstalten statt

Eine Gesellschaft, die von ihren Machthabern zum ständigen Zuwachs von Leistung, Profit und Konsum verurteilt wird, muß dazu verkommen, die Solidarität mit ihren schwachen und unproduktiven Mitgliedern aufzukündigen. Sie muß, um blindlings die von ihr geforderten Leistungen halbwegs zustandezubringen, diejenigen als eine Art von Müll ansehen, die dem allgemeinen Hamsterwettlauf nicht (mehr) gewachsen sind. Im folgenden ist die notwendigerweise polemische Rede von den schwächsten Mitbürgern, von den geistig und mehrfach Behinderten. Wie mit ihnen verfahren, umgegangen wird, ist von exemplarischer Bedeutung im Hinblick auf die Kehrseite von Leistung, Profit und Konsum.

Als Ende der fünfziger Jahre der Wiederaufbau nach dem Kriege abgeschlossen war, gründete sich die "Lebenshilfe für geistig Behinderte" als erste Bürgerinitiative aus dem Protest dagegen, daß der Staat den geistig Behinderten die Teilhabe an der wachsenden Prosperität vorenthalten hatte und nicht mit der bis 1945 geltenden Doktrin im Umgang mit geistig Behinderten gebrochen hatte. Man war sich lediglich sicher, daß diese nun nicht mehr wie bei den Nazis ermordet wurden. Vor allem im Bildungsbürgertum konnte sich die "Lebenshilfe" mit humanitären und caritativen Argumenten Unterstützung sichern und durchaus beachtliche Erfolge bei der Bereitstellung von Hilfe für geistig behinderte Kinder erringen, die zu Hause in ihren Familien lebten. Da geistig behinderte Kinder und Erwachsene der Unterschicht zu jener Zeit entweder ausgerottet waren oder in Anstalten untergebracht waren, mußte die "Lebenshilfe" sich auf ihre Rolle eines Hilfsvereins in der Bourgeoisie für die Bourgeoisie beschränken.

Die geistig behinderten Angehörigen der besitzlosen Klasse waren und blieben von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und in den Anstalten eingeschlossen. Ihr Elend wurde dem Blick der Öffentlichkeit konsequent entzogen. Die Euphorie des materiellen Aufschwungs durfte nicht durch sichtbares Elend getrübt werden, zumal nicht durch solches, das in weiteren Kreisen der auf der Freßwelle schwimmenden Öffentlichkeit Bestürzung, Besinnung und Scham hätte auslösen können.

Erst 1974 mit der Vorlage des Enquete-Berichts zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik wurde es wenigstens in interessierten Fachkreisen ruchbar: Die Gruppe der 100 000 oder mehr geistig behinderten Anstaltsinsassen wurde als extrem "vernachlässigt" beschrieben. Ihre Einschließung in den psychiatrischen oder anderen Krankenhaus-Anstalten wurde vornehm als "Fehlplazierung" eingestuft. Ihr Leben in den Anstalten sei "von Hoffnungslosigkeit geprägt". Es fehle ihnen an den notwendigsten Hilfen, d.h., die Hilfen waren ihnen vorenthalten worden. Dreißig Jahre nach der Epoche der Ausrottung stellte sich heraus, daß es trotz oder wegen aller Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft ausgerechnet die schwächsten Gesellschaftsmitglieder waren, die von all dem so gut wie nichts profitiert hatten. Zufall?

Heute, acht Jahre nach der Veröffentlichung des Elends, ist zu fragen:

(1) Ist die Deportation Behinderter in die Anstalten ("Fehlplazierung") abgeschafft?

(2) Anerkennen die Gesellschaft und vor allem ihre Machthaber geistig Behinderte als gleichrangige Mitbürger?

zu (1): Nach wie vor werden die Schwächsten dieser Gesellschaft in staatlichen, kirchlichen und privaten Anstalten und Heimen untergebracht und somit vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Doch nicht nur das: In den letzten Jahren sind zahlreiche Profiteure nach streng kapitalistischer Logik darangegangen, auch noch auf dem Rücken dieser Schwächsten und Ärmsten ihre skrupellosen Geschäfte zu machen. Sie eröffneten Großheime mit noch schlechterer personeller Ausstattung, als dies in den psychiatrischen Großeinrichtungen der Fall ist, und sorgten dafür, daß ihre Heime mit Pflegefällen, also überwiegend geistig und mehrfach behinderten und alten Menschen, aus den psychiatrischen Einrichtungen heraus aufgefüllt wurden. Die hierbei kalkulierten niedrigen Pflegesätze entlasten die Landessozialkassen, bieten aber Spielraum für verlockend reichliche Gewinne für diese privaten Sozialunternehmer. Auf dem Boden der bestehenden Steuer- und Abschreibungsgesetze sind inzwischen ca. 40 000 Menschen aus Profitgier in die privaten neuen Gettos deportiert worden. Damit hat die Abschiebung und Institutionalisierung behinderter Menschen in der Bundesrepublik eine neue Dimension angenommen: Ging es in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Krieg noch um die Fortsetzung der praktizierten Mißachtung Kranker und Schwacher, so geht es nun darum, aus ihrer Beseitigung aus dem öffentlichen Leben Kapital zu schlagen. Unter der auch von Experten unterstützten Maßgabe, es gäbe Menschen, die lebenslang unterbringungsbedürftig und damit nicht gesellschaftsfähig seien, werden diejenigen, die öffentlicher Hilfe am meisten bedürfen, als menschlicher quasi-Müll ("nicht rehabilitierbar"!) endgültig aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in die heimlichen Endlager der Profiteure deportiert. Ihre dortige Versorgung mit minimalem Aufwand ist die soziale Entsorgung der Gesellschaft von den Menschen, die sie nicht in ihrem Leistungssystem dulden kann und deshalb aus ihrem Blickfeld verbannen, wegwerfen muß. Das läßt sie sich dann schon den Profit derjenigen kosten, die diese Aufgabe erledigen. Marktwirtschaft.

zu (2): Die zweite Frage könnte eher zu einer längeren, differenzierten Analyse herausfordern, weil es tatsächlich mittlerweile ermutigende Bemühungen um die Integration geistig und mehrfach behinderter Menschen gibt. Doch sind das immer noch quantitativ geringfügige Anstrengungen, bei denen unverkennbar ist, daß es sich hier um die Gestaltung von kanalisierenden Spielwiesen für hochmotivierte Helfer handeln soll. Da diese Anstrengungen sich eben nicht auf die Schwerstbehinderten konzentrieren, offenbart sich in ihnen die Logik der Entsorgung umso deutlicher. Die Verbesserung der Lebenssituation leichtgradig geistig behinderter Menschen bei gleichzeitiger entsorgender Endlagerung der schwerstbehinderten Mitbürger verrät ja gerade das Systematische des ganzen Verfahrens: Das Leben in der Gesellschaft wird behinderten Menschen graduell erlaubt, es wird nicht als eine generelle Selbstverständlichkeit zum Gebot gemacht.

Die Frage, ob ein Behinderter noch im öffentlichen Blickfeld geduldet oder vollends entsorgt wird, beantwortet die Staatsbürokratie nach dem Grad der Behinderung. In Werkstätten für Behinderte (WfB) dürfen Behinderte arbeiten, die ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit leisten können. Diese Behinderten werden denn auch in speziellen, oft allzu großen Wohnheimen in der Nähe der WfB in der Gesellschaft geduldet. (Daß ihre Arbeit lediglich in lächerlichen Pfennigbeträgen entlohnt wird, ist ein hier nicht zu behandelndes, trauriges Kapitel.) Entscheidender ist die Tatsache, daß dieser Staat Gesetze schafft, die das Leistungsvermögen Behinderter zum Maßstab dafür macht, ob Behinderte im öffentlichen Leben geduldet werden. Das Nicht-Akzeptieren der schwerstbehinderten Mitbürger wird durch Leistungsgesetze des Staates gewollt vorprogrammiert und gesteuert. Wer das vom Staat geforderte Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Leistung nicht erfüllen kann, muß und wird aus der Öffentlichkeit verschwinden. Daß sich aus derartigen Gesetzesvorgaben langfristig die Ablehnung Schwerstbehinderter im öffentlichen Bewußtsein ergeben muß, liegt auf der Hand. Die Gesellschaft, deren Machthaber sich auf die rigorose Trennung zwischen wirtschaftlich verwertbaren, sprich: ausbeutbaren und völlig unverwertbaren Behinderten geeinigt haben, kann behinderte Mitbürger nicht als gleichrangig in sich aufnehmen und behalten. Sie ist, wie eingangs festgestellt, zur Produktion menschlichen Mülls verurteilt.

Sie ist dann auch konsequenterweise dazu verurteilt, diesen Müll beiseite schaffen zu lassen, sich von ihm zu befreien. Vom Unproduktiven, vom damals als "unnützen Esser" Bezeichneten und Behandelten überfordert, muß sie gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen der Deportation dieser unproduktivsten Schwächsten besonderen Nachdruck verleihen. Sie muß sich in letzter Konsequenz von ihnen distanzieren, um sich durch ihren Anblick nicht im alltäglichen Hamsterwettlauf irritieren lassen und am Ende möglicherweise selbst zum Müll gehören zu müssen.

Und die Machthaber wissen: Käme das institutionalisierte Elend ins Blickfeld, bliebe der Müll allenthalben erfahrbar, so wäre die Solidarisierung der Schwachen und Deportierten nicht mehr auszuschließen, vielleicht sogar unabwendbar. Es wäre Gefahr für sie im Verzuge. Um dieser Gefahr zu begegnen, muß die Endlagerung perfektioniert werden. Dazu gehört auch die Kanalisierung der Hilfsmotivation in den Helferberufen. Es muß Spielwiesen geben, auf denen vor allem die Intellektuellen dienstbar gemacht werden, um die gerade noch duldbare und minimal verwertbare Behinderten-Klientel im sozialen Frieden zu halten, sie zu befrieden. Dieses Herstellen von Dienstbarkeit der Intellektuellen im Bereich der Ver-Sorgung leichter Behinderter innerhalb des sozialen Netzes zu Lasten der schwer Behinderten stellt das deutsche Befriedungsverbrechen in den Zusammenhang mit der in Italien geführten Psychiatrie-Diskussion über die gesellschaftliche Rolle der schwerstbehinderten Insassen psychiatrischer Anstalten.

Solange ausgerechnet die Schwächsten am brutalsten unter den Leistungsansprüchen der Machthaber zu leiden haben, solange gegen sie die Gewalt der lebenslangen Ausschließung und Wegschließung in kapitalistischen Wertkategorien praktiziert wird, kann und muß uns das anspornen, was Franco Basaglia zum Ziel seiner Arbeit erklärt hat: "Ein Messer in den Leib der Gewalt!"

Sparprogramm

Umfangreiche Sparmaßnahmen seien erforderlich

um den Frieden zu sichern

weil es zu teuer ist beschloß der Sozialstaat

Kosten für Personal und Sachmittel kann man sich sparen

solange Tabletten das Wirtschaftswachstum

der Pharmaindustrie sichern

Ausgliederung in Wohngemeinschaften ist zu kostspielig

also spart man sich die schrittweise Integration

werden die Gettos mit Hochhäusern betoniert

die Belegung erhöht und aufgestockt

wöchentlich nur noch ein kostenloser Transport für Rollstuhlfahrer

der zweite wird eingespart

wie jeder erste und zweite Urlaub

also nur noch jedes dritte Jahr

auch die Industrie spart sich Einstellungen

100 Mark Ablösesumme sind rentabler ...

und wann werden es wieder Menschen selbst sein

die man sich spart

weil ihr Unwert zu kostspielig ist für den Verteidigungshaushalt

Andreas

Quelle:

Rainer Nathow: Die Entsorgung findet in den Anstalten statt

Entnommen aus: Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg 1981 / hrsg. von Michael Wunder u. Udo Sierck. - 2. Auflage; Frankfurt am Main; Dr. med. Mabuse 1987.

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Stand: 04.04.2006

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