Das Fühlhorn der Schnecke: Herantasten und Rückzug - Wahrnehmung und Emotionalität

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: Praxis der Psychomotorik - Jg. 22 (1) verlag modernes lernen - Dortmund; Februar 1997 (Überarbeitete Version eines Vortrags beim "Zweiten Internationalen Symposium 'Lernen - aber wie?' Lern-, Lehr- und Schulkonzeptionen für wahrnehmungsgestörte Kinder", 31.5. - 2.6.96, Friedberg/Hessen)
Copyright: © Hans von Lüpke 1997

Reizschutz durch "Verkosten" in geringen Quantitäten

"Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme", schreibt Freud 1920. Der Organismus würde sonst "inmitten einer mit den stärksten Energien geladenen Außenwelt ... von den Reizwirkungen derselben erschlagen". Zur Orientierung "muß es genügen, der Außenwelt kleine Proben zu entnehmen, sie in geringen Quantitäten zu verkosten". Dies ist die Aufgabe der Sinnesorgane. Freud vergleicht sie mit "Fühlern, ... die sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder von ihr zurückziehen" (FREUD 1975, S. 237-238). Aus diesem Modell ergeben sich Konsequenzen, die Freud selbst noch nicht ziehen konnte. Für ihn ging es in erster Linie um den Schutz des Individuums, das durch "den zerstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien" bedroht erscheint. Vermutlich ging Freud noch davon aus, daß die Bilder, die durch "Verkosten" der Außenwelt entstehen, ein realistisches Gesamtbild dieser Außenwelt darstellen.

Wäre es aber auch möglich, daß jedes (Individuum eine andere Auswahl an "Proben" trifft und daß damit jeweils unterschiedliche Bilder von der Außenwelt entstehen? Die Vorstellung von einer allen gemeinsamen, verbindlichen Realität, deren "richtige" Wahrnehmung vom Individuum erwartet wird, wäre damit aufgegeben. Schließlich wäre zu fragen, ob sich das "Fühlhorn" ausschließlich an Quantitäten ("Energien") orientieren muß. Können auch qualitative Kriterien, Neigungen und Abneigungen, also Gefühle von Bedeutung sein? Die Frage der Kommunikation mit der Umwelt würde sich damit differenzierter stellen als ausschließlich unter dem Aspekt eines Schutzes vor Bedrohung. Der Text von Freud führt, weitergedacht, zum Thema Wahrnehmung und Emotionalität. Um mit der Wahrnehmung zu beginnen, stellt sich die Frage nach den Vorstellungen der neueren Hirnforschung zum Thema "Verkosten" in geringen Quantitäten.

Wahrnehmung als Hypothesen über die Wirklichkeit

ROTH (1995) schließt aus dem Verhältnis zwischen afferenten (zuführenden) Fasern und Neuronen im Gehirn, daß bei jeder Wahrnehmung nur ein Bruchteil an neuen Informationen wirksam wird. Der überwiegende Teil dessen, was wir aktuell als Wahrnehmung empfinden, entsteht durch immer neue Verarbeitungsprozesse innerhalb der bereits gespeicherten Erfahrungen. ROTH kommt zu dem Resultat:

"Wahrnehmungen sind immer nur Hypothesen über die Umwelt" (S. 73). Für ihn ist das, was wir als die wichtigsten Wahrnehmungsinhalte erleben, "nämlich Modalität und Qualität einer Wahrnehmung, ein Konstrukt unseres Gehirns" (S. 98). ROTH führt Beispiele dafür an, daß Phänomene als Wahrnehmungen empfunden werden, für die es in der Umwelt kein oder kein eindeutig korrelierbares physikalisches Äquivalent gibt und daß umgekehrt physikalisch definierbare Vorgänge nicht wahrgenommen werden. In der sogenannten Kanizsa-Täuschung beispielsweise wird in der Mitte ein weißes Dreieck gesehen, das über dem schwarz umrandeten zu liegen scheint. Man sieht Konturen, die auf dem Papier nicht existieren (Abb. 1 ).

Abb. 1. (aus Roth 1995)

Für solche Wahrnehmungen gibt es sogar eigene Neuronen im Gehirn. Auch bei der Farbwahrnehmung entspricht das, was wir als Farbe empfinden, keineswegs den physikalisch durch Wellenlängen definierten Phänomenen. Je nach Helligkeit werden ganz unterschiedliche Wellenlängen als rot oder blau-violett wahrgenommen. Die Wahrnehmung orientiert sich für die Farbempfindung jeweils an den Grenzen des aktuellen Spektrums. Nur so ist eine Farbkonstanz in der Wahrnehmung überhaupt möglich. MATURANA et al. (1968) haben beschrieben, daß die über der Sehrinde auftretenden Potentialschwankungen, die durch EEG-Ableitungen erfaßt werden können, nicht mit den physikalischen Eigenschaften wohl aber mit den Namen der Farben korrespondieren. Andere physikalisch nachweisbare Phänomene werden überhaupt nicht wahrgenommen. Das gilt beispielsweise für die mit dem Sehen gekoppelten Augen- und Kopfbewegungen. Würden sie nicht ausgeblendet, müßten wir die Umwelt in ständiger Bewegung wie durch eine Handkamera sehen. Wir erleben also die Gegenwart zum überwiegenden Anteil durch die "Brille" von vorgeschalteten Steuerungen und Bewertungen, die vor dem aktuellen Erleben bereits festgelegt sind. Vorangegangene Erfahrungen wecken Erwartungen, schaffen Vorwegnahmen, Antizipationen, die ihrerseits die aktuelle Wahrnehmung bestimmen.

Ein Beispiel dafür hat WATZLAWICK In seinem Buch "Anleitung zum Unglücklichsein" mit der "Geschichte mit dem Hammer" gegeben:

"Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüber zu gehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort.

Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht's mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn unser Mann an: "Behalten Sie ihren Hammer, Sie Rüpel!" (WATZLAWICK 1983, S. 37-38)

Die Rolle der Vorwegnahme von Erwartungen kann an vielen Beispielen verdeutlicht werden. Wir kennen in der bildenden Kunst jene Bilder, die je nach der vorgegebenen Erwartung unterschiedlich gesehen werden können. DALI (1931) beschreibt, wie er im Foto einer Gruppe von Eingeborenen ein Frauenportrait von Picasso sieht. Er spricht von "paranoiden Bildern" RÖDER (1996) demonstriert, wie der mittlere Teil einer Serie von Bildern sowohl als Gesicht wie auch als Frauenkörper gesehen werden kann. Entscheidend ist, von welcher Seite der Betrachter beginnt (Abb. 2). WATZLAWICK (1976) bringt Beispiele dafür, wie Gerüchte aufrecht erhalten werden, auch wenn sie durch Fakten längst widerlegt sind. Der Umgang mit Nachrichten in den Medien oder mit Entdeckungen in der Geschichte der Wissenschaften bietet eine Fülle von Beispielen dafür, wie Neues nicht zur Kenntnis genommen und längst Widerlegtes als Wahrheit verteidigt wird. ROTH spricht davon, daß das Gehirn opportunistisch sei.

Abb. 2: (aus Rödler 1995)

Kohärenz schafft Sinn

Was aber sind die Kriterien, an denen das "Konstrukt Wirklichkeit" sich orientiert? Offensichtlich geht es immer wieder darum, "etwas auf die Reihe zu bringen", Zusammenhänge herzustellen oder zu erhalten. Konsistenz und Kohärenz, formal wie inhaltlich, schaffen die Voraussetzung für etwas, das als Bedeutung, als Sinn auch dann noch Bestand hat, wenn der Bezug zu etwas anderem, "eigentlichen" nicht mehr erkennbar ist:

"Das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen", Sagt KAFKA (1961, S. 144-145) von seiner nicht deutbaren Figur Odradek. STERN (1992) hat, ausgehend von Ergebnissen der Säuglingsforschung, ein Konzept entwickelt, in dem diese Zusammenhänge unter entwicklungspsychologischen Aspekten thematisiert werden: das vom "Empfinden des Kern-Selbst". STERN unterscheidet dabei die Urheberschaft ("Das Empfinden, Urheber eigener Handlungen und nicht Urheber der Handlungen anderer Menschen zu sein"); die Selbst-Kohärenz ("das Empfinden, ein vollständiges körperliches Ganzes zu sein und sowohl in der Bewegung als auch im Ruhezustand über Grenzen und ein körperliches Handlungszentrum zu verfügen"); die Selbstaffektivität ("das Erleben regelmäßiger innerer Gefühlsqualitäten, die Teil der übrigen Selbsterfahrung sind") und schließlich die Selbstgeschichtlichkeit ("das Gefühl der Dauer, der Einbindung in die eigene Vergangenheit, das Gefühl eines fortwährenden Seins, so daß man sich durchaus verändern kann und doch dieselbe Person bleibt" (S. 106). Gemeinsam ist all diesen Aspekten wiederum eine Kohärenz, die Orientierung schafft und auf den Ebenen von Handeln und Wahrnehmen wie auch im Hinblick auf die eigene Vergangenheit das Gefühl von einem Sinn gibt. Daraus entwickelt sich nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Motivation, Vorwegnahmen für die Zukunft zu entwerfen, die ihrerseits (wie wir an WATZLAWICKS Beispiel gesehen haben) die Wahrnehmung selbst bestimmen.

In Abwandlung der Formulierung von ROTH könnte man von "Arbeitshypothesen über die Wirklichkeit" sprechen.

Die Rolle der Kommunikation

Noch ist die Beschreibung unvollständig; noch ist nicht klar, wie sich eine solche Kohärenz, das Gefühl eines Kern-Selbst entwickeln kann. Eine entscheidende Rolle scheint hier die Kommunikation zu spielen: der Bezug zu anderen Personen, die Wechselseitigkeit im Austausch: all das, was wir mit Begriffen wie Dialog, Spiegelung und gegenseitige Bestätigung zu beschreiben versuchen. Damit wäre die zweite von FREUD ausgehende Frage berührt: woran orientieren sich die "Fühler", "die sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder von ihr zurückziehen"? Die Kontinuität in der Beziehung gibt der Kohärenz einen Sinn, den über die Sinneskanäle vermittelten Reizen ihre Farbe, ihre Bedeutung, jene "Einbettung in die Interaktion", wie SONDEREGGER (1966) betont. Durch ihre Bedeutung werden die Reize zur Wahrnehmung. STERN (1992) spricht von gelebten Episoden, vom Episodengedächtnis. Damit ist gemeint, daß im Erleben der Episode alle, auch die kleinsten und banalsten Anteile eine affektive Einfärbung und damit Bedeutung bekommen.

Frisch verliebt, bleibt die Bratwurst der finstersten Pommes-Bude als Köstlichkeit in Erinnerung, während das 7-Gänge-Gourmet-Menu im eisigen Klima eines Familienfestes schon manchem im Hals stecken geblieben ist. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist das Konzept der transmodalen Wahrnehmung, der Umwandlung von Sinneseindrücken wie Hören, Sehen, Riechen, Fühlen, Bewegen etc, in andere Modalitäten. So kann die Stimme "berühren" und die zärtliche Hand zu uns "sprechen" (CLERGET 1990).

Dadurch entsteht eine globale Wahrnehmung, in der Emotionales und über die Sinnesorgane Aufgenommenes untrennbar miteinander verbunden ist. Nach STERN werden die über das Episodengedächtnis gemachten Erfahrungen generalisiert und in jeweils neuen Situationen wieder aufgerufen. Wir kommen damit erneut zu ROTH, zur Bedeutung von Gedächtnis und Bewertung für all das, was als unmittelbar Wahrgenommenes empfunden wird. Im Schema sind diese Zusammenhänge noch einmal zusammengefaßt und die Hirnanteile genannt, die daran schwerpunktmäßig beteiligt sind (Abb. 3).

Abb. 3: (aus: Roth 1995)

Zerfall der Kohärenz: Desorientierung und Wahnsinn

Gehen wir davon aus, daß in zirkulärer Wechselseitigkeit über die Wahrnehmung das Empfinden des kohärenten Kern-Selbst und durch dieses wiederum die Wahrnehmung hergestellt und durch immer neue Vergewisserung aufrecht erhalten wird, dann wäre zu erwarten, daß Störungen in diesem Zusammenspiel zur Auflösung der Kohärenz führen. Um noch einmal auf FREUD zurückzukommen: "Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische " (S. 239).

Es entsteht ein Gefühl von Fragmentierung oder Verlöschen des Empfindens vom Kern-Selbst und damit des Empfindens von Handlungsfähigkeit und körperlicher, affektiver und zeitlicher Kontinuität. Existentielle psychotische Ängste treten auf. Vor allem der Zustand des Sich-nicht-mehr-Spürens ist so bedrohlich, daß Wahrnehmungen von innen heraus produziert werden, sei es psychisch als Halluzinationen oder körperlich als Phantomwahrnehmungen oder Selbstverletzung.

Schon eine vorübergehende Desorientierung, ein Verkennen oder Verwechseln löst neben der damit verbundenen Peinlichkeit immer auch Angst aus: die Angst, daß durch diese Enthüllung "alles auffliegt", daß auch andere bisher als verläßlich angesehene Wahrnehmungen, vielleicht gar die Grundlagen der Orientierung insgesamt nur eine Täuschung sind und daß - um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen alle bisherigen Arbeitshypothesen als Resultat eines einzigen großen Irrtums in sich zusammenfallen. Welche Bedeutung diesem Thema in der Menschheitsgeschichte zukommt, zeigt die Rolle von Verwandlungen und daraus resultierenden Täuschungen in Mythen und Märchen. In den griechischen Mythen wußte niemand, in welcher Gestalt man es möglicherweise mit Jupiter zu tun hatte. Der Versuch, einen Gott zu täuschen, konnte wiederum durch eine Täuschung bestraft werden: so rächte sich Hera dafür, daß Athamas seiner Frau Ino dabei half, den "Bastard" Dionysos als Mädchen zu verkleiden, um ihn vor ihr zu verstecken. "Sie strafte das königliche Paar mit Wahnsinn, so daß Athamas seinen Sohn Learchos, den er für einen Bock hielt, tötete. ... Dann machte er sich daran, den noch zitternden Körper in Stücke zu reißen" (von RANKE-GRAVES 1985, S. 81 + 204).

Auch im Märchen geht es immer wieder um Irrtümer über die wahre Identität: der Frosch, das Reh, der Vogel etc. ist in Wirklichkeit jemand anderes. Woran erkenne ich, ob draußen die Mutter oder der böse Wolf ist? Wie merkwürdig sieht die Großmutter aus! Auch in neueren Science-Fiction-Produktionen findet sich das Thema, so in dem Film "Terminator II": hier kann der Computer jede beliebige Menschengestalt annehmen. Die systematische Desorientierung ist ein Thema in Kriminalfilmen wie "Das Haus der Lady Almquist" oder "Die Teuflischen".

Durch gezielte Desorientierung, etwa durch Verschwinden-lassen von Gegenständen oder durch Lebenszeichen des für ermordet Gehaltenen kommen dem Opfer immer mehr Zweifel an der Verläßlichkeit seiner Wahrnehmung, bis es beinahe in Wahnsinn verfällt oder vor Angst stirbt. Auch hier immer wieder der Zusammenhang zwischen Desorientierung und Wahnsinn. Umgangssprachliche Redewendungen wie "auf dem falschen Dampfer", "im falschen Film sein" benennen die Angst, daß die Folgen einer Täuschung nicht mehr rückgängig gemacht werden können, daß sie in die unabwendbare Katastrophe führen.

KAFKA formuliert dieses Gefühl am Ende des "Landarzt": "Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen" (KAFKA 1961, S. 126-131 ). Eine Episode aus dem Film "Die Marx Brothers in der Oper" zeigt, wie ein selbstbewußter Ermittlungsbeamter durch gezielte Desorientierung - er hört Stimmen und sieht niemand; ohne daß er verfolgen kann, wie dies geschieht, verschwinden immer mehr Betten aus einem Raum - zu einem buchstäblich gebrochenen Mann wird, der sich selbst die Frage stellt, ob er verrückt ist. Besonders tief sind Verwirrung und Verunsicherung bei gleichzeitig auftretenden einander widersprechenden "double-bind"-Signalen, etwa als unvereinbare verbale und mimisch-emotionale Aufforderung. Im psychologischen Experiment wurden bei einem Kartenspiel gezielt einige Karten verändert. Es gab beispielsweise eine rote Pik 6 oder eine schwarze Karokönigin. Wenn die Karten bei hoher Geschwindigkeit gezeigt wurden, trat bei den Versuchspersonen keinerlei Beunruhigung auf. Bei verlangsamter Geschwindigkeit gab es erste Zweifel als der "Normalität" des Kartenspiels, auch wenn niemand richtig begriff, woran das wohl liegen könnte. Wurde das Tempo noch weiter verlangsamt, dann kamen die meisten Versuchsteilnehmer dahinter.

Es gab jedoch einige, die anders reagierten. GLEICK (1987), der diesen Versuch von KUHN aus den 40er Jahren beschreibt, fährt hier folgendermaßen fort: "Einige fühlten sich derart verwirrt, daß sie physische Schmerzen litten", "'ich kann die Karte nicht erkennen, egal was für eine Karte es ist', sagte ein Versuchsteilnehmer. 'Es sah gar nicht wie eine richtige Karte aus, ich weiß nicht, was für eine Farbe das jetzt ist, ob Pik oder Herz, ich bin mir nicht mal mehr sicher, wie ein Pik eigentlich aussieht. Herrje!'"

Es wird deutlich, daß im Zustand der Desorientierung und emotionalen Verunsicherung selbst bislang verfügbare Fähigkeiten verloren gehen. Dieser Aspekt dürfte insbesondere im Zusammenhang mit Lernstörungen von großer Bedeutung sein. Es zeigt, daß Ausfälle im kognitiven Bereich durchaus nicht bedeuten müssen, daß Fähigkeiten nicht vorhanden sind, sondern daß im Zustand der emotionalen Verunsicherung vorher verfügbare Fähigkeiten vorübergehend verloren gehen. Solche Reaktionen sind bei Testungen (Klassenarbeiten) gut bekannt, ohne daß daraus Konsequenzen gezogen wurden. Auch hier setzt sich offensichtlich Kontinuität gegen Einsicht durch.

Schutz vor der Katastrophe

Symptome von "Wahrnehmungsstörungen" könnten in diesem Zusammenhang bedeuten, nicht nur mit einer Arbeitshypothese zu scheitern, sondern auf einer grundsätzlichen Ebene die Fähigkeit, praktikable Hypothesen über die Wirklichkeit zu entwickeln, anzweifeln zu müssen. Wahrnehmungsstörungen müßten demnach zu schweren psychischen Veränderungen, zumindest zu tiefen existentiellen Ängsten führen.

Die Erfahrung spricht dagegen. Offensichtlich gibt es Schutzmechanismen, die das verhindern. Hier zeigt sich jener opportunistische Aspekt des Gehirns, von dem ROTH gesprochen hat, von einer anderen Seite. Er erscheint nicht nur als ein Ausdruck des "Lustprinzips", nach Möglichkeit ausschließlich Angenehmes wahrzunehmen, sondern auch als sinnvolle Schutzmaßnahme, die vor schweren psychischen Schäden bewahrt. FREUD beschreibt den Reizschutz mit dem Bild, daß die "äußere Oberfläche die dem Lebenden zukommende Struktur aufgibt, gewissermaßen anorganisch wird und nun als eine besondere Hülle oder Membran reizabhaltend wirkt, das heißt veranlaßt, daß die Energien der Außenwelt sich nur mit einem Bruchteil ihrer Intensität auf die nächsten, lebend gebliebenen Schichten fortsetzen können. (S. 237).

Je stärker der emotionale Bezug, desto höher die Verletzlichkeit. Je mehr wir an einem Menschen hängen, desto mehr trifft uns der mögliche Verlust. Lassen wir es gar nicht erst zu, daß sich Bedeutung entwickelt, dann sind wir auch nicht verletzbar. Rückzug, Blockierung, Verweigerung können diesen Sinn haben: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Wir kennen solche Regulationen auch aus der physiologischen Ebene. Erinnert sei an das Schielen: da Doppelbilder äußerst qualvoll sind - auch sie stellen eine Form der Desorientierung dar - wird die Wahrnehmung eines Auges ausgeblendet. Eine weitere Möglichkeit ist das Umdeuten, unklar bleiben, sich nicht festlegen: etwa durch undeutlich nuschelndes Sprechen mit der Möglichkeit, jederzeit auch eine andere Interpretation nachschieben zu können. Eine Szene, wie sie in Chaplin-Filmen vorkommt: Charly sieht das lange schon im Stillen verehrte Mädchen winkend vor - sich stehen und geht überrascht und beglückt auf sie zu. Plötzlich wird ihm klar, daß nicht er, sondern der muskelstarke Mann hinter ihm gemeint ist. Was macht er mit der schon begonnenen Bewegung?

Wenn er sie zum Kopf hin weiterführt und sich kratzt, dann sieht es so aus, als ob er nie etwas anderes vorgehabt hätte. Weitere Möglichkeiten sind körperliche Unruhe und Aggressivität.

Damit kann dem Gefühl von Fragmentierung oder Sich-nicht-mehr-spüren begegnet werden (von LÜPKE 1990). Schließlich bleibt die Möglichkeit, die Verantwortung für den Sinn einer Handlung anderen zu übergeben oder von vornherein nie selbst zu übernehmen. Das Märchen vom Frieder und dem Katherlieschen handelt davon. Katherlieschen ist offensichtlich wahrnehmungsgestört, alle ihre Hypothesen über die Wirklichkeit führen zu Katastrophen. Sie muß erfahren, daß entgegen ihrer Annahme der eine Käse nicht den anderen zurückholt, wenn man ihn hinterher rollen läßt.

Die Desorientierung löst hier nicht Angst aus, sondern führt zur Unsicherheit über die eigene Identität: "'Bin ichs, oder bin ichs nicht? Ach, ich bins nicht!'. Unterdessen wards Nacht, da lief Katherlieschen ins Dorf hinein, klopfte an ihres Mannes Fenster und rief 'Friederchen?' 'Was ist denn?' 'Möcht gern wissen, ob Katherlieschen drinnen ist' 'Ja, ja', antwortete der Frieder, 'es wird wohl drin liegen und schlafen.' Sprach sie 'gut, dann bin ich gewiß zu Haus,' und lief fort." (BRÜDER GRIMM 1984, S. 337).

Konsequenzen

1. Symptome, die landläufig als Folgen von Wahrnehmungsstörungen angesehen werden - sei es auf der kognitiven Ebene als Unfähigkeit, Zeichen Bedeutung zu geben, oder auf der emotionalen Ebene durch Verhaltensauffälligkeiten können auch als Schutzmechanismen verstanden werden. Für die Behandlung ergibt sich daraus, daß vor dem Einsatz übender Trainingsverfahren die Themen im Hintergrund gesucht werden sollten.

Das bedeutet nicht, daß in jedem Fall von schwerwiegenden emotionalen Störungen ausgegangen werden muß. Nach wie vor wird es bei den meisten Kindern darauf ankommen, einen angemessenen formalen wie emotionalen Rahmen für die Orientierung zu bieten. Vor allem aber, ihnen genügend Zeit zu lassen.

2. Der Begrift der Störung ist neu zu definieren. Zur Störung kommt es erst in einem Kontext, in dem die nicht praktikablen Arbeitshypothesen Konflikte auslösen, anstatt neue Hypothesen und erneute Überprüfungen möglich zu machen. Damit wird deutlich, daß Störung immer etwas ist, das zwischen Personen stattfindet, nicht als Eigenschaft einer einzelnen Person definiert werden kann (WALTHES 1993).

3. Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Organfaktor? Auch wenn heute davon ausgegangen werden muß, daß die immer wieder geltend gemachten Hirnfunktionsstörungen (AYRES 1992) auch nur eine Arbeitshypothese sind, können Organfaktoren bei Wahrnehmungsstörungen eine Rolle spielen.

Nach dem bisher Dargestellten kann der Organfaktor angesehen werden als eine Einschränkung der Möglichkeiten, praktikable Arbeitshypothesen aufzustellen. Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht als ein Spiel mit Worten. Die Erfahrung zeigt aber, daß es für Kinder, für Eltern und auch für die Professionellen einen wesentlichen Unterschied ausmacht, ob ein Kind als geschädigt, defekt, behindert angesehen wird und sich selbst diesem Bild entsprechend fühlt, oder ob es mit der Entwicklung und Erprobung seiner Arbeitshypothesen durch ein organisches Problem bedingt größere Schwierigkeiten hat. Aus dem Gefühl heraus, nicht gestört, sondern so wie es ist akzeptiert zu sein, kann es seine Fähigkeiten kreativ nutzen. Hier sei auf das Konzept von Milani COMPARETTI verwiesen, der davon ausgeht, daß zur Entwicklungsförderung die Stärken der Kinder unterstützt und nicht die Schwächen einer "Reparatur" unterzogen werden müssen.

4. Führen diese Überlegungen dazu, letzten Endes doch wieder die Eltern als Schuldige abzustempeln? Hier kommt es darauf an, sehr differenziert vorzugehen. Die schlechteste Konsequenz aus dem bisher Gesagten wäre sicher die, alle Familien mit wahrnehmungsgestörten Kindern selbst als gestört und einer Familientherapie bedürftig einzustufen.

Auch hier sei wieder darauf hingewiesen, daß für die meisten Kinder weniger die Probleme im familiären Bereich als die in der weiteren Umwelt zu Lernproblemen führen. Der Druck, der über die Schulen von der Gesellschaft kommt, wirkt nicht nur auf das Kind, sondern auch auf die Eltern. Wenn es dann zu doppelten Botschaften an die Kinder kommt, können dafür nicht die Eltern angeschuldigt werden. Sie geraten möglicherweise in den Konflikt, daß sie ihr Kind eigentlich so mögen wie es ist, daß sie aber von außen unter Druck geraten, es zu "ändern", damit es Chancen für eine Zukunft in dieser Gesellschaft hat.

Auch Therapeuten leben in diesem Dilemma. Darüber hinaus gibt es sicher auch Situationen, in denen eine Familie in Not ist und die Auffälligkeit eines Kindes zum Signal wird. Auch hier kann nicht von Schuld gesprochen werden, es sei denn, daß jede Notiz, jede Hilfsbedürftigkeit zur Schuldfrage erklärt wird.

5. Die Tatsache, daß es keine richtige oder falsche Wahrnehmung gibt, sondern lediglich unterschiedliche Hypothesen, unterschiedliche Arbeitsmodelle, hat weitgehende Konsequenzen für das Lernen. Auch hier kann es nicht um "richtig" oder "falsch" gehen, sondern vor allem darum, unterschiedliche Bilder, unterschiedliche Modelle vergleichen zu lernen, die Arbeitsweise des Gehirns als Modell für die Kommunikation über Wirklichkeitsmodelle zu nutzen.

Das würde bedeuten, dem mit Lernen verknüpften emotionalen Kontext einen ihm zukommenden Stellenwert zu geben, Zwar weiß jeder aus eigener Erfahrung, wie wichtig der emotionale Bezug für das Lernen ist: jeder hat früher einmal aus Begeisterung für einen Lehrer oder eine Lehrerin gelernt oder bei einem anderen das Lernen verweigert.

Trotzdem sind diese Zusammenhänge in der Schulwirklichkeit weitgehend ohne Konsequenzen geblieben. Sonst wären Selbsterfahrungs- oder Balintgruppen nicht auf Modell-Einrichtungen oder besonders engagierte Lehrer beschränkt, sondern fester Bestandteil der beruflichen Arbeit sowie von Ausbildungs- und Fortbildungsprogrammen. Das selbe gilt für Therapien und den Streit um deren Wirksamkeit. Ist es nicht immer wieder die Beziehung, nicht das Konzept, die auch hier die Resultate bestimmt?

Noch einmal: das Fühlhorn der Schnecke

"Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke mit dem 'tastenden Gesicht' ... das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung vergrößert sich, Das geistige Leben ist in seinen Anfängen unendlich zart. ... Die entfalteteren Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, daß einstmals Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden.

Jede ihrer Arten ist das Denkmal ungezählter anderer, deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde; die dem Schrecken schon erlagen, als nur ein Fühler sich in der Richtung ihres Werdens regte.

Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken. ... Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm. Dummheit ist ein Wundmal" (HORKHEIMER & ADORNO 1994, S. 274). Auch Kinder können sich zurückziehen, scheu und dumm werden, wenn ihnen signalisiert wird, daß ihre Wahrheiten nichts als Defekte und Ausfälle, einfach nur Wahrnehmungsstörungen sind. Erst die Ermutigung zu eigenen Hypothesen über die Wirklichkeit gibt ihnen die Kraft, im Austausch mit anderen diese Hypothesen zu überprüfen, sie zu modifizieren, auszubauen, bei Bedarf zu korrigieren und damit im Sinne von Milani COMPARETTI kreativ zu sein.

Literatur

Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, 2. Aufl. 1992

Clerget, J.: Une main qui parle, uns voix qui touche. In: Présence Haptonomique Numéro 2: Actes du 1er Congré International d' Haptonomie, 13-14 Octobre 1990 Paris. André Soler, Clermont-Ferrand 1991

Dali, S.: Le surréalisme au service de la révolution. Vol. XII No. 3, Paris 1931

Freud, S.: Jenseits des Lustprinzips (1920) Studienausgabe Bd. 3, S. 217-272, S. Fischer, Frankfurt/M.. 1975

Grimm (Brüder): Der Frieder und das Katherlieschen. In: Kinder- und Hausmärchen (1819). Winkler, München 1984

Gleick, J.: Chaos - die Ordnung des Universums. Droemer Knaur, München 1988

Horkheimer, M. & Adorno, T.W.: Dialektik der Aufklärung (1944). S. Fischer, Frankfurt/M. 1969

Kafka, F.: Die Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt/M. 1961

von Lüpke, H.: Der Zappelphilipp. Bemerkungen zum hyperkinetischen Kind. In: Voß, R. (Hrsg.): Pillen für den Störenfried? Reinhardt, 2. Aufl. München 1990, S. 57-78

Maturana, H., Uribe, G., Frenk, S.G. (1968): Eine biologische Theorie der relativistischen Farbkodierung in der Primatenretina. In: Maturana, H. (Hrsg.): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Braunschweig 1982, S. 88-137

Milani Comparetti, A.: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit ... Dokumentation einer Fachtagung. Paritätisches Bildungswerk Frankfurt/M. 1986

von Ranke-Graves, R.: Griechische Mythologie. rowohlts enzyklopädie, Hamburg 1985

Rödler, P.: Ein gesunder Geist in einem gesunden Europa? Behinderte (Graz) 18 (5), 5-16, 1995

Roth, G.: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995

Sonderegger, H.: Warum kann ich nicht, wie ich möchte? In: Rohde-Köttelwesch, E. (Hrsg.): Sehen - Spüren - Hören. Borgmann, Dortmund 1996, S. 74-87

Stern, D.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart 1992

Walthes, R.: Störung zwischen Dir und mir. Grenzen des Verstehens, Horizonte der Verständigung. Frühförderung interdisziplinär 12, 145-155, 1993

Watzlawick, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn - Täuschung - Verstehen. Piper, München/Zürich 1976

Watzlawick, P.: Anleitung zum Unglücklichsein. Piper, München/Zürich 1983

Anschrift des Verfassers:

Dr. Hans von Lüpke

Glauburgstr. 66

60318 Frankfurt/Main

Quelle:

Hans von Lüpke: Das Fühlhorn der Schnecke: Herantasten und Rückzug - Wahrnehmung und Emotionalität

Erschienen in: Praxis der Psychomotorik - Jg. 22 (1) verlag modernes lernen - Dortmund; Februar 1997 (Überarbeitete Version eines Vortrags beim "Zweiten Internationalen Symposium 'Lernen - aber wie?' Lern-, Lehr- und Schulkonzeptionen für wahrnehmungsgestörte Kinder", 31.5. - 2.6.96, Friedberg/Hessen)

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.01.2006

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