Wir sind Erinnerung - Erinnerung ist Zukunft

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Medizin
Textsorte: Artikel
Copyright: © Hans von Lüpke 2013

Wir sind Erinnerung - Erinnerung ist Zukunft

Das tägliche Leben gibt uns wichtige Einblicke in die Struktur von Erinnerungen. Erfahrung zeigt, dass Erinnerungen den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend ständig sich verändern: ob wir stolz oder beschämt sind, was wir von anderen Menschen hören, wie vorangegangene Erfahrungen und Erwartungen aussehen mögen. Wir "vergolden" alte Erinnerungen, haben falsche oder verzerrte Erinnerungen, wenn dies Bewältigungsstrategien traumatischer Erfahrungen entspricht. Hinzu kommt Ausblenden im Sinne eines "Neglekt", Verdrängung, Flash-backs. Gelegentlich haben wir an einem Geschehen teilgenommen, finden es jedoch nicht in unserer Erinnerung. Dann wieder erinnern wir uns, ohne dass ein entsprechendes Ereignis wirklich stattgefunden hat. Wir verlieren etwas aus der Erinnerung, das dann erneut auftaucht - oder nie wieder. Aktuelles erleben wir auf dem Hintergrund von Erwartungen, die ihren Ursprung in Erinnerungen haben, als Erfüllung von Wünschen, Enttäuschung oder Überraschung. Sind dies alles Defizite des Erinnerungsvermögens, "falsche Erinnerungen"? Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.

Aus der Hirnforschung wissen wir, dass über 99% der aktuellen Wahrnehmung Neukombinationen aus vorangegangenen Erfahrungen sind (Roth 1999). "Wahrnehmungen sind immer nur Hypothesen über die Umwelt" (ebd., 86). Was im Vergleich zum Computer einem Defizit entspricht, kann in seiner untrennbaren Einheit von Untergang und Wachstum gerade wegen der ständigen Veränderungen als Grundelement des Lebens verstanden werden - auch auf der organischen Ebene, etwa die Hirnfunktion bestreffend. Beide Bereiche stellen eine gelebte Einheit dar: Bewusstsein schafft Gehirn und umgekehrt. Die Trennung entsteht erst durch die Ermanglung einer übergreifenden Methodik und den daraus resultierenden Bedarf für getrennte methodische Zugänge.

Wird Erinnern im Sinne dieser Einheit nicht als Speichern von Umwelterfahrungen, sondern als ständige Neugestaltung nach nicht-linearen Regeln verstanden, dann können als Einstieg in die Thematik auch neurobiologische Experimente zum Verstehen des Phänomens "Gedächtnis" beitragen. Experimente des amerikanischen Hirnforschers Freeman (1995) widerlegen die Vorstellung von einer linear verdrahteten Hirnfunktion. Freeman machte Kaninchen mit Gerüchen vertraut und fand dabei für jeden Geruch spezifische Hirnstromaktivitäten im EEG. Bot er den Tieren einen neuen Geruch, reagierten sie erwartungsgemäß mit einem neuen Muster. Gleichzeitig hatten sich aber die Muster für alle anderen Gerüche verändert.

Die Rückwirkung des Kontextes auf die Struktur wird also schon auf der neurophysiologischen Ebene deutlich. Nicht eine Ursache führt linear zu einer Wirkung, sondern die Veränderung an einer Stelle des Systems zu Veränderungen im ganzen System. Bei komplexen kognitiv-emotionalen Prozessen müssen daher Wechselwirkungen innerhalb des ganzen Gehirns angenommen werden. Thelen & Smith sprechen von "nicht-linear dynamischen Systemen": "Obwohl Verhalten und Entwicklung strukturiert erscheinen, gibt es keine Struktur. Obwohl Verhalten und Entwicklung durch Regeln vorangetrieben erscheinen, gibt es keine Regeln. Es gibt Komplexität. Es gibt ein vielfältiges paralleles und kontinuierliches dynamisches Zusammenspiel von Wahrnehmen und Handeln und ein System, das durch seine thermodynamische Natur gewisse stabile Lösungen sucht. Diese Lösungen entstehen aus Beziehungen, nicht aus einer Struktur. Wenn die Elemente eines solchen komplexen Systems zusammenarbeiten, machen sie einen einheitlichen Eindruck und erwecken so die Illusion einer Struktur" (Thelen & Smith 1994, XIX). Cilliers (1998) beschreibt die Elemente komplexer Systeme. Eine ausreichende Anzahl solcher Elemente steht dabei in dynamischer Interaktion. Diese Interaktion muss nicht auf einer physikalischen Ebene stattfinden, sie kann auch im bloßen Austausch von Informationen bestehen. Die Einzelelemente sind dabei neutral, enthalten jedes für sich noch keine Information, keine spezifische Bedeutung. Cilliers erläutert dies am Beispiel des Kohlenstoff-Atoms, das im Tisch, im Baum oder im Menschen immer dasselbe ist. Die wechselseitige Beeinflussung bleibt dabei wegen der unendlich vielen Einflussfaktoren unkalkulierbar. Cilliers bezieht dieses Konzept auf die Bedeutung einzelner Wörter in der Sprache und gleichermaßen auf die der Neuronen im Gehirn: "Bedeutung wird durch die dynamische Beziehung zwischen den Komponenten eines Systems bestimmt. So hat kein Knoten in einem neuralen Netzwerk eine Bedeutung für sich selbst - das ist die zentrale Aussage einer Vorstellung von verteilten Repräsentationen. Bedeutung entsteht aus Aktivitätsmustern, die viele Einheiten einbeziehen, Mustern, die sich aus der dynamischen Interaktion zwischen einer großen Anzahl von Gewichtungen ergeben" (Cilliers 1998, 46-47). Auch der dialogische Austausch im Kontext von Beziehungen entspricht einem solchen komplexen System. Milani Comparetti (1996) verdeutlicht dies in seiner Grafik der sich aufwärts bewegenden, nach oben offenen Spirale. Entscheidend ist dabei die Differenz zwischen den Vorstellungen beider Dialogpartner in Vorschlag und Gegenvorschlag und damit die Unkalkulierbarkeit eines Austauschs, den beide Partner gemeinsam vollziehen. Milani Comparetti sieht darin die Dimension der Kreativität. Das Modell zeigt aber auch Grenzen des grafisch Darstellbaren. So verläuft der Austausch im Dialog nicht nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig über eine unendliche Vielzahl von Signalen. Während ein Partner spricht, ist bereits das Zuhören des anderen ein aktiver kommunikativer Vorgang: Seine Mimik gibt dem Sprechenden kontinuierlich Botschaften von Zustimmung, Ablehnung oder Desinteresse. Diese Botschaften wirken auf den Sprechenden zurück, nehmen Einfluss auf seine aktuellen Äußerungen und damit wiederum auf den Zuhörenden. Solche Wechselwirkungen lassen sich nicht mehr linear-kausal beschreiben, sondern nur noch als Elemente eines komplexen Systems: wie schon erwähnt, erhalten die Einzelelemente, seien sie verbal oder nonverbal, ihre Bedeutung erst durch den jeweils unterschiedlichen Kontext. Kleinste Elemente können im Zusammenwirken mit anderen größte Wirkungen haben - Chaos-Theorie: der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien, der einen Taifun in Taiwan auslöst. Blaise Pascal hat diesen Zusammenhang schon 1670 mit einer Metapher beschrieben: Der Stein, der in einen See fällt, verändert den ganzen See.

Für die Beziehung zwischen neurobiologischem Organsubstrat und mentaler (psychischer, spiritueller) Funktion ergibt sich daraus, dass im Gehirn nicht einzelne Organsysteme für bestimmte Funktionen zuständig sein können. Ein Gedankenexperiment mag dies verdeutlichen: stellen wir uns vor, wir würden etwa den Mandelkern (Amygdala) aus dem lebenden Gehirn herauspräparieren, in eine Nährlösung legen und versuchen, die darin enthaltenen Gefühle abzuleiten. Wir würden atomare oder molekulare Bewegungen, elektrochemische Potentialdifferenzen und anatomische Strukturveränderungen messen, aber keine Gefühle. Dazu bedarf es des ganzen Menschen (Jaap van der Wal in seinem Beitrag) - auch ein ganzes Gehirn könnte in der Nährlösung keine grundsätzlich anderen Informationen geben. Die Unterscheidung zwischen der notwendigen Bedingung (Vorhandensein des Mandelkerns) und der zureichenden ist hier von Bedeutung. Dies gilt auch für das Gedächtnis: die Hippokampus-Region wäre beispielsweise eine notwendige, der ganze Mensch jedoch die zureichende Bedingung.

Sehen wir also im Gedächtnis ein komplexes System, so stellt sich die Frage nach dessen Regulation. Erneut lässt sich diese Frage nicht allein auf der neurobiologischen Ebene klären. "Das Leben ist der Güter höchstes nicht", heißt es bei Schiller in der "Jungfrau von Orléans". Schon das kleine Baby - möglicherweise schon der Fetus - kann die Nahrung verweigern und - ohne entsprechend Hilfe - trotz Hunger und Nahrungsangebot sterben. Im späteren Leben kennen wir die Pubertätsmagersucht, den Hungerstreik. Immer geht es um einen Sinn, der etwas mit der Beziehung zu anderen Personen zu tun hat - seien sie real oder Teil einer Glaubensüberzeugung. Beziehungserfahrungen schlagen sich vermutlich schon seit den frühesten (pränatalen) Lebensphasen im "Episoden-Gedächtnis" nieder. Dieses von Tulving (1972) beschriebene und von Stern weiter entwickelte Konzept erscheint für unsere Diskussion hilfreich. Stern schreibt: "Die Grundeinheit des Gedächtnisses ist die Episode, ein kleiner, doch kohärenter ‚Block' gelebter Erfahrungen". Die Attribute einer solchen Episode sind "Empfindungen, Wahrnehmungen, Handlungen, Gedanken, Affekte und Ziele, die in einem zeitlichen, räumlichen und kausalen Verhältnis zueinander stehen, so dass sie eine kohärente Episode des Erlebens bilden. ... Ins Gedächtnis scheint die Episode als unteilbare Einheit einzugehen" (Stern 2007, 139-140)

Das Episodengedächtnis umfasst "Handlungen, Wahrnehmungen und Affekte als Bestandteile und Attribute einer erinnerten Episode" (ebd. S. 139). Später können einzelne Elemente einer Episode (ein Geruch, der Klang einer Stimme, ein Lied etc.) die Episode als Ganzes mit ihrem emotionalen Kontext - bedingt durch die damit verbundene Beziehungserfahrung - wieder reaktivieren. Im Sinne der Komplexitätstheorie wären dies Elemente, die durch den Kontext - hier die Beziehungserfahrung - ihre Bedeutung erhalten. Beim Hunger ist dies nicht allein die Sättigung, sondern der Kontext von Beziehung, wie er in den Interaktionen, der Abstimmung, dem Zusammenpassen (matching together) zum Ausdruck kommt. Anfangs ist diese Erinnerung keine bewusst reflektierte. Im Verlauf der späteren Entwicklung können bewusste Reflexionen und symbolische Repräsentationen hinzukommen, doch die grundlegende unbewusste (implizite, prozedurale) Ebene bleibt die wichtigste, gelegentlich nur über Enactments (Ausagieren) zugänglich. Episoden-Erinnerungen haben lebenslang Einfluss auf die täglichen Stimmungsschwankungen - Erinnerung prägt unser aktuelles Erleben. Es kann vermutet werden, dass diese Art des Erinnerns ein zentrales Element pränataler Erinnerungen darstellt - bis in die frühesten Embryonalstadien. Das bedeutet: (1) während des ganzen Lebens bleibet ein wichtiger Teil unserer Erinnerung nicht bewusst verfügbar und (2) Erinnerung ist nicht von der bewussten (expliziten), deklarativen) Repräsentation abhängig. Je früher die Entwicklungsstadien, desto weniger vorstellbar ist der dazu gehörende geistige (mentale, spirituelle) Kontext. Dies ist durch unser mangelhaftes Vorstellungsvermögen bedingt und nicht durch fehlende Reife, etwas "Proto-Geistiges", "Zelluläres" beim Embryo/Fetus. Als Konsequenz sind die Wege der Kommunikation auf dieser Stufe keine bewussten (verbalen), sondern implizite jenseits der bewussten Wahrnehmung. Sie können keinem Sinnesorgan zugeordnet werden - wir sprechen vom sechsten oder siebenten Sinn. Zugleich bilden sie lebenslang eine der Grundlagen für kreative, spontane und kommunikative Prozesse. Dies verändert grundlegende Vorstellungen von Entwicklung: Die Säuglingsforscherin Lyons-Ruth geht davon aus, dass "Entwicklung nicht allein oder ursprünglich durch eine Bewegung vom Primär- zum Sekundärprozess oder von prozeduralem zu symbolischem Kodieren (oder vom Primär- zum Sekundärprozess oder von präverbalen zu verbalen Formen des Denkens) fortschreitet. Prozedurale Formen der Repräsentation sind nicht infantil, sondern in jedem Alter Bestandteil menschlichen Denkens (intrinsic to human thinking) und bilden die Grundlage für zahlreiche Formen von erlernten Handlungsweisen, einschließlich der sozialen Interaktion" (Lyons-Ruth 1999, 759). Bei Freud heiß es bereits in der "Traumdeutung": "Es ist das oft mißverstandene Vorrecht der bewußten Tätigkeit, daß sie uns alles anderen verdecken darf, wo immer sie mittut". (Freud 1900/1999, 618). Körperliche Wahrnehmungen und Aktivitäten haben daran teil. In diesem Kontext ist auch Körpersprache keine "primitive", die lediglich als Vorläufer einer späteren "realen" (verbalen, symbolischen) Kommunikation anzusehen wäre. Körpersprache ist ebenfalls ein lebenslang grundlegender Aspekt menschlicher Kommunikation, beginnend in den frühesten Stadien der Schwangerschaft. "Körper" ist hier allerdings nicht als anatomisches Substrat im Sinne der Medizin zu verstehen. Frans Feldman (1998) spricht von "psychotaktilem Kontakt". Spuren dieser Erfahrungen bilden die Grundlagen für unser Gedächtnis.

Wenn die Erinnerung während des gesamten Lebens derart weitreichende Bedeutung hat, dann stellt sich die Frage nach der Rolle möglicherweise schädigender - traumatischer - Kontextstrukturen im Verlauf der Entwicklung. Gelegentlich wird die Vorstellung vertreten, dass alle Einflüsse umso gravierender sind, je früher sie stattfinden. Auf der organischen Ebene ist bekannt, dass frühe schädigende Einflüsse zu schweren Fehlbildungen und zum Tode führen können. Auf der anderen Seite ist auch bekannt, dass die Kompensationsfähigkeit des Nervensystems - bedingt durch die Neuroplastizität - gerade in frühen Entwicklungsphasen am größten ist - eine Grundlage für Konzepte der "Frühförderung". Fallbeispiele zeigen, dass unterhalb des Alters von zwei Jahren sogar der Verlust einer Hirnhälfte (etwa als Folge einer Operation wegen anders nicht beeinflussbarer epileptischer Anfällen) zu keinen Defiziten in der späteren Entwicklung führen muss (Spitzer 2006). Folsäuremangel bei der Mutter bleibt - im Gegensatz zu später - während des ersten Trimesters der Schwangerschaft ohne Folgen (Sroufe 2011). Dies gilt gleichermaßen für psychische Prozesse. Ein 6 Monate alter Säugling dürfte die Begegnung mit einem Exhibitionisten wesentlich gelassener aufnehmen als ein sechsjähriges Mädchen. Sroufe fasst beide Aspekte zusammen: "In der Entwicklung neuer Systeme scheinen diese sehr vulnerabel zu sein. Damit bezeichnet ‚früh' ein relatives Konzept, das nur unter Berücksichtigung von Entwicklungsprozessen betrachtet werden kann" (Sroufe 2011, 186). Dies dürfte lebenslang gelten. Was wissen wir über pränatale Coping-Prozesse und Resilienz-Erfahrungen? Nur die späteren Folgen können direkt untersucht werden. Über den Verlauf des frühen Prozesses sind nur Hypothesen möglich. Auch das Erleben in der Regression muss nicht dem originalen Erleben in frühen Phasen entsprechen - ist dabei wirklich jede Form von Erfahrung und damit Überformung durch spätere Erinnerungen ausgeschaltet - woher wollen wir darüber etwas wissen? Sind einzelne Ereignisse, die Kumulation von allein noch nicht traumatischen Ereignissen oder ein belastender Dauerzustand ausschlaggebend - oder die komplexe Verknüpfung einer unendlichen Vielzahl von Ereignissen? Oft wirkt ein gespanntes Familienklima stärker auf die Entwicklung als einzelne belastende Ereignisse. Schon die klassische Studie von Stott (1973) hat gezeigt, dass in der pränatalen Phase Beziehungsstörungen der Eltern weitreichendere Wirkungen haben als einmalige, auch dramatische Einflüsse (z.B. Unfälle, Operationen). Das Erleben von "Kommunikations-Fehlern" in der frühen Kindheit, bedingt durch inadäquate nicht empathische Antworten, Unterbrechungen ohne Wiederherstellung (disruption without repair), Mangel an Kohärenz mit der Folge geringerer Vorhersehbarkeit von Seiten der Mütter kann mit desorganisierter Bindung im Alter von 12 Monaten und Borderline-Strukturen im Erwachsenenalter einhergehen. Der Mangel an Validierung durch Rückzug von Müttern angesichts von Bindung suchenden Signalen des Kindes scheinen für die Vorhersage von Borderline-Pathologie bedeutsamer zu sein als missbrauchende und feindselige Interaktionen. Die Bedeutung des Rückzugs bereits in der Schwangerschaft zeigt sich bei Forschungen über Faktoren, die mit Depression in der Kindheit einhergehen. Cadoret et al. (1990) kamen zu dem Ergebnis, dass für die Entwicklung einer Depression in der Kindheit die Depression der leiblichen Mutter und die damit einher gehende pränatale Erfahrung von größerer Vorhersagekraft ist als eine Vielzahl von Risikofaktoren wie Anzahl und Dauer von Heimaufenthalten vor einer Adoption oder die definitive Unterbringung in einem Heim. "Vielleicht ist der entscheidende Unterschied der zwischen einer Mutter, die zurückgezogen, gewissermaßen abwesend ist, und einer, die missbrauchend und feindselig, aber trotzdem in einem gewissen Sinn emotional anwesend ist" (Lachmann 2012, 24). All diese Aussagen stellen jedoch angesichts der unendlichen Vielzahl von Einflussfaktoren eine Komplexitätsreduktionen dar und haben damit nur eingeschränkte Aussagekraft. Sollten wir bei dieser unendlichen Vielzahl von Einflüssen nicht jedes Risiko in jedem Lebensalter gleichermaßen ernst nehmen - wirkt doch die Not der Erwachsenen auch unmittelbar auf das Befinden des pränatalen Kindes zurück? Andererseits enthält Komplexität - insbesondere im Kontext der Epigenetik - auch die Hoffnung, dass nichts für immer unveränderbar geprägt sein muss. Sorgfältige Analysen in jeder einzelnen Situation sind unverzichtbar, können aber nur zu "Hypothesen", zur Komplexitätsreduktion führen. Das entscheidende Kriterium ist nicht eine "objektive Wahrheit", sondern die Brauchbarkeit von Hypothesen zur Förderung kreativer Entwicklungsprozesse. Die ständige Um- und Neugestaltung von Erinnerungen bietet dazu die Grundlage. Voraussetzung bleibt jedoch, dass dieser Prozess nicht durch traumatische Elemente blockiert ist. Wie oben dargestellt, reduziert die Komplexität der beschriebenen Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen jedoch die Aussichten, den Faktor "pränatales Trauma" in jedem Fall bestimmen zu können - legt man für die Trauma-Definition strenge Kriterien wie das Vorhandensein von Dissoziation oder Flash-backs zu Grunde. Blockierungen können auch durch vielfältige aktuelle nicht-traumatische Belastungsfaktoren ausgelöst werden. So ist im Kontext eines Verständnisses von Komplexität auch die Diskussion um das pränatale Trauma immer wieder aktuell.

Wir sind Erinnerung - Erinnerung entsteht im Austausch mit der Umwelt und verändert sich dabei ständig. Sie schafft Erwartungen an die Zukunft, die als Befürchtung oder Hoffnung auf die Gegenwart einwirken und deren Erfüllung Glück oder Enttäuschung bedeuten. Auf der Ebene des Stoffwechsels wie auf der geistigen ist die Entwicklung von Identität das Ergebnis des dialektischen Prozesses eines kontinuierlichen Austauschs zwischen dem "Eigenen" und dem "Anderen" - ein Prozess, dessen kreative Beweglichkeit ständige Veränderung voraussetzt. Diese Beweglichkeit kann als Definition für Gesundheit gelten, Rigidität als Pathologie. Sind wir Erinnerung, so wird der sich wandelnde Gedächtnisinhalt nicht zum Zeichen für ein "schlechtes Gedächtnis" - wie oft angenommen - , sondern die erstarrte Erinnerung. Schon Lao Tse beschreibt dies:

"Wenn der Mensch geboren wird, ist er schwach und biegsam;

wenn erstirbt ist er fest und hart.

Wenn ein Baum wächst, ist er zart und biegsam,

aber wenn er trocken und starr wird, stirbt er.

Härte und Stärke sind Gefährten des Todes.

Biegsamkeit und Schwäche bekunden die Frische des Seins.

Deshalb kann nicht siegen, was verhärtet ist"

Was könnten die Konsequenzen für eine humanere Kultur sein, wenn Erinnerung diesen Stellenwert hätte und die frühesten Phasen menschlichen Lebens mit einbezogen würden? Unabhängig von unterschiedlichen Bedürfnissen in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung scheint eine Grundlage für menschliches Leben immer dieselbe zu sein: Sich präsent, real, gegenwärtig in der Gegenwart eines anderen Menschen (anderer Menschen) zu fühlen, Veränderungen bewirken zu können und sich dabei entwickeln zu entwickeln, ohne dass die mit Erinnerung einhergehende Veränderung das Gefühl von Identität bedroht. Diese Gegenwart (Präsenz) und die damit verbundene Handlungsfähigkeit ist Voraussetzung dafür, mit dem Phänomen der Komplexität leben zu können. Nur so kann das jeweils unverzichtbare Maß an Kontrolle, an Komplexitätsreduktion geschaffen werden. Die mit der Komplexität einhergehende Unsicherheit führt sonst zu Ängsten. Den Anderen emotional als anwesend zu empfinden (s. oben das Zitat von Lachmann), gibt eine gewisse Sicherheit und hat daher Priorität - auch vor einer bedingungslosen Akzeptanz. Alleingelassene können ihre Bedürftigkeit und Angst durch Härte, "Heldentum," "Wissenschaftlichkeit" verleugnen. Neid auf alle, denen die Gesellschaft ein Recht auf Bewegungsspielräume und Versorgung zugesteht (kleine Kinder, Ungeborene und ihre Mütter) wird gefährlich, wenn er bei den gesellschaftlich und sozial Verantwortlichen als Machtausübung aggressiv zum Tragen kommt. Auch die Entwicklung der Medizin, besonders in deren Institutionen wie Krankenhäusern, scheint davon betroffen zu sein. Möglicherweise spielt dies bei der hohen Zahl von medizinisch nicht begründeten Kaiserschnittentbindungen eine Rolle. So wird eine Komplexitätsreduktion möglich, die nicht durch den dialogischen wechselseitigen Austausch entsteht. Die Einsamen verschaffen sich Stabilität, indem sie Kontrolle ausüben. Sie brauchen rigide Kontrollmechanismen, um ihre Kohärenz zu bewahren, sich angesichts der unendlichen Vielfalt der Komplexität psychisch nicht aufzulösen. Dies wird als medizinischer Fortschritt im Kampf gegen Krankheit sozial verbrämt. Die dahinter verborgene Aggressivität - als Versuch, die Angst zu bewältigen - wird damit wirksam kaschiert, kommt jedoch umso brutaler durch inhumane Strategien zum Ausdruck. Das Bewusstsein der Brüchigkeit dieser Strategien verstärkt die Angst - bekanntlich neigen alle rigiden Strukturen zur Fraktur. Lao Tse spricht von den "Gefährten des Todes". Sicherheit gibt es - dialektisch - nur in der Unsicherheit flexibler Strukturen, die gemeinsam variiert werden. Hier kann die Bereitschaft, sich auf Komplexität, wie das Gedächtnis sie verwirklicht, einzulassen, ein Modell werden.

Niemand kann die Gesellschaft nach seinen Wünschen verändern. Aber als Stein, der in den See fällt, können wir erreichen, dass dieser See nicht mehr derselbe bleibt.

Literatur

Cadoret, R., Troughton, E., Merchant, L., Whitters, A. (1990): Early life psychosocial events and adult psychosocial symptoms. In: Robbins, L., Rutter, M. (Hg.): Straight and devious pathways from childhood to adulthood. Cambridge UK, Cambridge University Press, S. 300-313

Cilliers, P. (1998): Complexity and Postmodernism. Understanding Complex Systems.

London/New York

Freeman, W. (1998): Societies of Brains. A Study in the Neuroscience of Love and Hate.

Hillsdale, New Jersey

Lachmann, F.M. (2012): Infant research and the treatment of adults. Selbstpsychologie 47, 1, 19-28

Lao Tse: Tao Te King. In einer Version von Andrej Tarkowski aus seinem Film "Stalker". Im Programmheft zur Oper "Walküre" von Richard Wagner, S. 16. Oper Frankfurt 2010

Lyons-Ruth, K. (1999): The two-person conscious. Interactive dialogue, enactive relational representation, and the emergence of new forms of relational organization. Psychoanalytic Inquiry 19, 576-617

Milani Comparetti, A.: In: Janssen, E., von Lüpke, H. (Hg.) (1996): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Entwicklungsförderung im Dialog. Tagungsdokumentation. Frankfurt/M. (In: http://bidok.uibk.ac.at/library)

Pascal, B.(1670): Pensées

Roth, G. (1999): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Spitzer, M. (2006): Geist & Gehirn (DVD Serie)

Stern, D.N. (2007): Die Lebenserfahrung des Säuglings, 9. Auflage mit einem neuen Vorwort. Klett-Cotta, Stuttgart ( Original: The Interpersonal World of the Infant. Basic Books, New York, 1985)

Stott, D.H. (1973): Follow-up Study from Birth of the effects of Prenatal Stresses. Developmental Medicine and child Neurology 15, 770-787

Thelen, E. & Smith, L. (1994): A Dynamic Systems Approach to the

Development of cognition and Action. Cambridge Massachusetts 1994

Sroufe, L., Coffino, B., Carlson, E.A. (2011): Die Rolle früher Erfahrungen für die kindliche Entwicklung. In: Frühförderung interdisziplinär, 30. Jg., 184-195

Tulving, E. (1972): Episodic and semantic memory. In: Tulving, E & Donaldson, W. (Hg.): Organization of Memory, Academic Press, New York

Veldman, F. (1998): Haptonomie, Science de l'Affectivité. Puf, Paris

Quelle:

Hans von Lüpke: Wir sind Erinnerung - Erinnerung ist Zukunft

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2014

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