" ... und sind tatsächlich arm, wenn wir nur geistig gesund sind"

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erscheint in: Heilmann, J., Krebs, H., Eggert-Schmid Noerr, A. (Hg.): Außenseiter integrieren - Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung. Psychosozial-Verlag Gießen (geplant 2012)
Copyright: © Hans von Lüpke 2011

" ... und sind tatsächlich arm, wenn wir nur geistig gesund sind"

"Media vita in morte sumus"

Außenseiter gelten als gestört, nicht selten als geistig nicht gesund. Geistige Gesundheit ist das Ideal. Winnicott scheint dieses Ideal auf den Kopf zu stellen. Für ihn ist nicht die Störung das Problem, sondern die Zielvorstellung selbst, die geistige Gesundheit, zumindest, "wenn wir nur geistig gesund sind." Das Zitat ist Teil einer Fußnote zu dem Text "Die primitive Gefühlsentwicklung" aus dem Jahre 1945. Darin heißt es: "Manchmal wird angenommen, dass das Individuum im gesunden Zustand immer integriert sei, immer in seinem eigenen Körper lebe und immer fühlen könne, dass die Welt wirklich ist. Es gibt jedoch viel geistige Gesundheit, die die Eigenschaft eines Symptoms hat, weil sie belastet ist mit Angst oder Zurückweisung von Verrücktheit, Angst oder Zurückweisung der angeborenen Fähigkeit jedes Menschen, unintegriert, entpersönlicht zu werden und die Welt nicht als real zu empfinden. Genügend Mangel an Schlaf kann diesen Zustand bei jedem hervorrufen." Hier fügt Winnicott als Fußnote hinzu: "Wir können hoffen, durch künstlerischen Ausdruck mit unseren primitiven Selbsten, aus denen die intensivsten Gefühle und auch angstvolle heftige Empfindungen stammen, in Berührung zu bleiben. Und wir sind tatsächlich arm, wenn wir nur geistig gesund sind (we are poor indeed if we are only sane)" (Winnicott 1976, S. 65). Manch geistiges Gesund-Sein - bei Winnicott in dem knappen "sane" zusammengefasst - wird hier zum Symptom, zum Zeichen für etwas Krankhaftes. Dies erinnert an einen Text, den Theodor W. Adorno 1944, also ein Jahr früher, auf einem ganz anderen Hintergrund geschrieben hat: "Die Gesundheit zum Tode". Adorno spricht davon, "dass die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht. Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, dass sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können, ... . Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen." (Adorno 1994, S. 69).

Winnicott spricht in einem anderen Text davon, dass der Säugling - unreif im Sinne von "noch nicht integriert" - sich ständig "am Rande unvorstellbarer Angst" befindet. "Es gibt nur wenige Varianten dieser unvorstellbaren Angst. Jede von ihnen ist ein Schlüssel zu einem Aspekt der normalen Entwicklung: (1) in Stücke zerbrechen, (2) unaufhörliches Fallen, (3) keine Beziehung zum Körper haben, (4) keine Orientierung haben" (Winnicott 1984, S. 74). Es geht nicht um efahren von außen, sondern um das Gefühl einer elementaren Brüchigkeit des Lebens, jenes "Media vita in morte sumus". Untergang ist schon auf der organischen Ebene ein Grundelement des Lebens. Überschießende Wachstumsprozesse - etwa beim Krebs - führen ebenso wie Stagnation, das Nachlassen oder Erlöschen von Stoffwechselprozessen, zum Tode. Der kontinuierliche Abbau wird eine Zeit lang aufgefangen, das Ende dadurch nur verzögert. Altern beginnt bei der ersten Zellteilung, das Leben ist eine "Krankheit zum Tode".

Die biologische Ebene könnte metaphorisch für den "Lebenskampf" im sozialen Kontext stehen. Überall ist die Möglichkeit der Nicht-Existenz oder deren Verlust präsent. Das ist schwer zu ertragen. Die Menschheit hat deshalb von je her Konzepte gesucht, welche die drohende Vernichtung ausklammern und eine in sich kohärente, "heile" Welt erschaffen. Religion dient dieser Kohärenz, der sicheren Bindung ("re-ligio"). Sie schafft Szenarien von einer Welt vor dem Beginn des eigenen Lebens und von der Zeit danach: "Hinter der dunklen Wolke des Abschieds wartet die strahlende Sonne des Wiedersehens". Der Märtyrer wird im Jenseits belohnt, die Wiedergeburt schaft kontinuierliches Weiterleben. Katastrophen und tödliche Unfälle können in diese Kohärenz einbezogen werden, etwa als Ausdruck der Bestrafung durch eine göttliche Instanz. Damit finden die "unvorstellbare Ängste" auslösenden Fragen eine Antwort. Nicht zufällig führen Konflikte um die "wahre Lehre" und damit um die Kohärenz von Glaubensvorstellungen zu Folter und blutigen Kriegen. Große "Reiche" zu schaffen, gilt historisch als höchste Leistung, die Separation bereits eines kleinen Gebiets führt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Das Kohärenzgefühl erhöht sich durch Identifikation mit sozialen Gruppen. Zusätzliche Verstärkung erfährt es durch Merkmale, die alle nicht zur Gruppe gehörenden definiert - wobei die Kriterien für Zugehörigkeit wie für Ausgrenzung ständigen Veränderungen unterworfen sind. Innenpolitische Krisen können im (gemeinsamen) Kampf gegen einen äußeren Feind durch das Gefühl der gemeinsamen Bedrohung verdeckt werden. Die eigenen kohärenz-stiftenden Überzeugungen werden anderen in der Hoffnung auf größere Netzwerke vermittelt, nicht selten - wiederum über Kriege - aufgezwungen. Jeder Bruch mit gemeinsamen Werten führt innerhalb der Gruppe zu heftigen Reaktionen, deren Intensität - vor allem im Hinblick auf Gewalt - nur verständlich wird, wenn das Ausmaß der existentiellen Bedrohung durch Angst vor Kohärenzverlust als Folge von Fragmentierung in den Blick gerät. Das Gefühl für diese Bedrohung scheint inzwischen zuzunehmen: die Netze werden immer dichter: ein großer Teil der Menschheit ist "verkabelt", schafft sich über Ohrstöpsel zusammenhängende selbst gewählte Welten oder über das Handy eine kontinuierliche Kommunikation. Die Werbung sagt es: "Eben erst passiert, schon telefoniert". Virtuell kohärente Welten werden zu realen - bis hin zu jener Science-Fiction-Vision in dem Film "Matrix", nach der unsere "reale" Welt nichts anderes ist als eine gigantische Computer-Simulation. Umgekehrt können virtuelle Kontakte (Facebook) zu realen Massenveranstaltungen führen.

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Kunst. Eingebunden in den Kontext von Kultur, finden sich hier zugleich kohärenzstiftende wie auch deren Grenzen auslotende Phänomene. In der Musik beispielsweise verstärkt der Rhythmus das Vertrauen in Kontinuität, in die verlässliche Wiederkehr des einmal gewesenen. Die gesamte Harmonielehre kann unter dem Aspekt von Kohärenz gesehen werden. Andererseits ist die Geschichte der Kunst reich an Skandalen, ausgelöst durch Produktionen, die eingefahrene Bahnen verlassen und deutlich machen, dass die gewohnten Regeln doch keine ehernen Naturgesetze sind. In der Kunst werden seit der antiken Tragödie tiefste Vernichtungsängste zugleich erlebt und entschärft. Zur Geschichte der Kunst gehören Provokationen, Skandale: Außenseiter wie die "Poèts maudits" (Baudelaire, Verlaine), die abstrakte Kunst, Stravinski's "Sacre du Printemps". Schließlich assimiliert sie der Kulturbetrieb, "flickt" das Netz der Kohärenz, das für kurze Zeit zu reißen drohte. Einst unerhörter Skandal, heute Unterrichtsstoff für Schüler. Eines Tages wird die Dreigroschen-Oper in der Stiftsruine Bad Hersfeld aufgeführt. Eine Ahnung der Angst bleibt, aber sie ist gemildert, verdaulich, konsumierbar geworden. In "niederen Bereichen" kann sie ganz im Mittelpunkt stehen: als Geisterbahn auf dem Jahrmarkt, als Horror- oder Science-Fiction-Film. Und immer wieder durchbrechen einzelne Produktionen die Schallmauer der Vertrautheit und lassen Risse in den zum Schutz gegen die Angst geflochtenen Netzen erkennen. Nicht zufällig hofft Winnicott, "durch künstlerischen Ausdruck mit unseren primitiven Selbsten ... in Berührung zu bleiben". Hier wird deutlich, dass es nicht nur um Angst geht, sondern auch um einen wesentlichen Aspekt von Kreativität - ohne sie sind wir "tatsächlich arm"! Hier scheint es um eine dialektische Beziehung zu gehen. Dazu später mehr.

Diagnose als Kunstgriff zur Angstbewältigung

Für das Individuum zeigt sich die Brisanz der Kohärenz-Thematik beim Stellenwert von Beziehung und Bindung (Eltern, Partner, Kinder). Bedrohte Partnerschaften und erst recht deren Aufkündigung führen immer wieder zu Gewalt bis hin zum Mord. Kinder sind schon in der Schwangerschaft von Kohärenzerfahrungen durch die Vermittlung der Erwachsenen abhängig, um den von Winnicott benannten Ängsten begegnen zu können. Im dialogischen Austausch von Signalen - zunächst noch überwiegend implizit, später zunehmend auch bewusst, etwa durch den Handlungsdialog zwischen den Bewegungen des Kindes und den Händen der Mutter/des Vaters - entwickelt sich für das Kind ein Gefühl von Wirklichkeit, von Orientierung an sich selbst und der Umwelt (von Lüpke 2003). Es entsteht das "Empfinden eines Kernselbst" im Sinne von Stern (2007) mit den Aspekten von Urheberschaft ("self agency"), Kohärenz, Affektivität und Kontinuität des Selbst. Regelmäßig wiederkehrende Erfahrungen, etwa die sich wiederholenden Mahlzeiten, Geräusche in der Küche, das Öffnen der Haustür als Zeichen der Heimkehr eines der Eltern, die Bewegung der Zimmertür, die Erwartung und schließliche Wahrnehmung der Person, die sich bereits aktustisch angekündigt hat. Je kleiner das Kind, desto direkter ist noch der Bezug zur "unvorstellbaren Angst". Brüchige dialogische Erfahrung von Kohärenz lassen diese unbewältigt Angst fortbestehen. Im Laufe der Entwicklung wird ihr Erscheinungsbild vielfältiger. Immer weniger ist sie noch unmittelbar als Angst wahrzunehmen. Die zur Bewältigung der drohenden Fragmentierung aufgebauten Bewältigungsstrategien stehen im Vordergrund: Aggression, Verweigerung, Unruhe, fehlende Konzentration. Sie wirken auf das Umfeld als Störung. Die Kinder werden zu Außenseitern. Hier kommt Hilfe durch eine andere Form des Angstabwehr. Das medizinische Modell schafft Kohärenz. Die Auffälligkeiten werden mittels Diagnosen in ein wissenschaftlich "evidenzbasiertes", durch "Leitlinien" abgesichertes System eingegliedert. Damit ist die Angst nicht mehr zugänglich. Wo sie noch in Erscheinung tritt, wird sie beim Säugling zum Resultat von "Bähungen", später zur "Phobischen oder Angststörung nach ICD 10 F 40 oder 41". Niemand ist verunsichert, denn die Störung mit ihren charakteristischen Symptomen und Behandlungsmöglichkeiten ist jedem Fachmann vertraut. Auch ein vordergründig humanisierender Aspekt zeigt sich: der zum Kranken erklärte wird mit seinem Anspruch auf fachgerechte Therapie ernst genommen. Er ist nicht mehr ausgesondert, sondern in seinem wohlverstandenen Interesse einer für die Problematik optimal kompetenten Einrichtung anvertraut.

Dem Kind bleibt die mit zunehmender Gewalt einher gehende Eskalation von Störungen und professionell legitimierten gesellschaftlichen Gegenmaßnahmen. Als Alternative kann es sich anpassen. Es erbringt dann jene "libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt" und die "nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können", wie von Adorno bereits zitiert. Worin könnte diese im Kontext der Medizin bestehen? Durch die Klassifizierung als "Symptom" ist das Verhalten als krankhaft definiert. Winnicott spricht aber gerade von "viel geistiger Gesundheit, die die Eigenschaft eines Symptoms hat". Vielleicht ginge es darum, die Störungen als etwas zu verstehen, dass uns "mit unseren primitiven Selbsten ... in Berührung" hält". Das würde bedeuten, zum einen die "unvorstellbare Angst" darin zu erkennen und zum anderen die Versuche der Bewältigung dieser Angst. Hyperaktivität beispielsweise wäre der Versuch, nach außen Signale zu geben, um die Not mitzuteilen und nach innen sich real und handlungsfähig zu fühlen - im Sinne der Säuglingsängste bei Winnicott: "Beziehung zum Körper zu haben". Stereotypien wären zusätzlich der Versuch, das Erleben seiner selbst rhythmisch zu strukturieren. Wahnvorstellungen bei paranoiden Psychosen hat Mentzos (1967) in Abwandlung von Decartes mit den Worten: "Ich werde verfolgt, also bin ich" und damit auch im Sinne einer Strukturierung interpretiert. Halluzinationen können ähnlich verstanden werden. Dabei zeigt sich der fundamentale Unterschied zum medizinischen Modell: während hier die Beseitigung des Symptoms Ziel der Behandlung ist - innerhalb der Organmedizin ohne Frage sinnvoll - , geht es dort um die Chance, über solche Symptome den Weg zu verschütteten oder bis zur Unkenntlichkeit verformeten kreativen Anteilen zu finden. Problematisch ist nicht das medizinische Modell, sondern seine Anwendung auf ein nicht mehr organmedizinisch definiertes Problemfeld. Störungen zeigen den Weg nicht nur zur individuellen Problematik, zu "unseren primitiven Selbsten" und deren kreativem Potential, sondern auch zur Wahrnehmung der Brüchigkeit menschlicher Existenz in ihrer Verflechtung mit der Endlichkeit, dem Tod. Hier findet sich die Erklärung dafür, dass die Anwendung jenes medizinische Modells trotz der oft leicht nachweisbaren Fehler letztlich allen Argumenten gegenüber - auch neueren Befunden der Hirnforschung und Theorien von Wissenschaftlichkeit (von Lüpke 2006, 2010) - eine uneinnehmbare Festigkeit zeigt. Offenbar geht es hier nicht um rationale Gründe, sondern - wie oben schon angedeutet - um jene "Angst oder Zurückweisung von Verrücktheit", von der Winnicott spricht. Anders als beim Kulturbetrieb, in dem auch die Angst im geschützten Raum einen Stellenwert behält, erhebt die naturwissenschaftlich orientierte Medizin den Anspruch auf totale Beherrschbarkeit - und wenn nicht jetzt, dann in Zukunft, wenn die Methoden verbessert sind und neue Befunde und Behandlungsmöglichkeiten vorliegen ("further research is needed ..."). Angst darf es nicht geben. An ihre Stelle tritt der Anspruch auf perfektes Gelingen und an die Stelle eines Bewusstseins vom Tode die Angst vor Anwälten, die Suche nach Schuldigen und damit eine potentiell paranoide Destruktivität. Den Tod darf es eigentlich nicht mehr geben, vielschichtige Prozesse wie eine Demenz werden zum ausschließlich neurobiologischen Problem, psychische Probleme zu Störungen des Hirnstoffwechsels. Die Klarheit darüber, dass der Austausch von Argumenten lediglich ein vordergründiges Scheingefecht ist und die eigentlichen Gründe in einer nicht bewussten, aber umso mächtigeren existentiellen Dimension zu suchen sind, könnte für die professionelle Kommunikation von Bedeutung sein.

Die therapeutischen Konsequenzen sind, solange es sich um rein medikamentöse oder klassisch übende Konzepte handelt, zumindest gut überschaubar und klar. Schwieriger zu erkenen ist diese Klarheit, wenn Therapien als kreativ oder gar "spielerisch" angeboten werden - schließlich sucht auch Winnicott die Kreativität.

Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt

Nicht nur für Witze ist die gute Absicht "tödlich". "Ich will dir damit eine Freude machen," bringt eben diese Freude zum Erlöschen. Die Öde mancher Abenteuer-Spielplätze, die häufige Tristesse von "Traumreisen" mit ihren "unvergesslichen Events", die Sterilität von domestizierten, pädagogisch geförderten Graffiti sind jedem geläufig. Im Kontext von Therapien wird aus dem "Spielerischen" eine doppelte Botschaft: die Tatsache, dass es sich nicht um spontanes Spiel handelt, sondern eines, das Störungen, Defekte korrigieren soll, wird vom Kind wahrgenommen. Diese Wahrnehmung kann jedoch nicht ausgetauscht werden. Jenes "... jetzt wollen wir mal ..." verschleiert die Tatsache, dass die Wahrnehmung des Kindes nicht gefragt ist, im Konfliktfall bestritten oder "spielerisch" umgeleitet wird. Das "Spielerische" ist eine Wahrnehmungs- und Orientierungsfalle. Immer mehr Bereiche des Lebens werden auf diese Weise zur Therapie: Reittherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie, Schneetherapie, Lachtherapie. "Das Leben lässt sich nicht in Therapie verwandeln, ohne seine Qualität als Leben zu verlieren", soll Milani Comparetti einmal gesagt haben. Was macht die gute Absicht, das organisiert Zielgerichtete, so destruktiv?

Kleist hat dies in seinem Text "Über das Marionettentheater" so unnachahmlich beschrieben, dass die entsprechende Passage hier vollständig wiedergegeben wird:

"Ich badete mich ... vor etwa drei Jahren mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechzehnten Jahre stehen, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen hervorgerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, dass wir gerade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte - er sähe wohl Geister! Er errötete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! Er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen - was sage ich? Die Bewegung, die er machte, hatte ein so komisches Element, dass ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten.

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte." (Kleist 1951, S. 886)

Urvertrauen nicht ohne Ur-Misstrauen

Der Text zeigt eindrucksvoll die Destruktivität von Versuchen, spontan Kreatives kontrollierbar zu machen. Dabei hätte sich das Mißglücken dieses Versuchs "leicht ... voraussehen lassen". Wieder muss es Gründe geben, der Kontrollierbarkeit trotz schlechter Aussichten einen so hohen Stellenwert zu geben. Wieder ist es vermutlich die Angst vor jenem "Verrücktsein" im Sinne Winnicotts. Die "Krankheit", von der Winnicott wie auch Adorno sprechen, wird hier geradezu augenfällig. Es zeigt sich, warum wir "tatsächlich arm" sind, "wenn wir lediglich geistig gesund sind".

Was wären die Konsequenzen für Entwicklungskonzepte, Förderung, Therapie? Die Erinnerung an Erikson ist hilfreich: er hat nicht nur von dem oft zitierten Urvertrauen gesprochen, sondern dies in eine polare Beziehung zum Misstrauen gesetzt (Erikson 1984). Sichere Bindung wäre nicht ausschließlich an der Verlässlichkeit einer Bindungserfahrung orientiert, sondern auch daran, ob im Bewusstsein der tiefen Unsicherheit des Lebens genügend Orientierung und Strategien zum eignen Handeln vermittelt werden. Eine feste Bindung kann "secure" sein, ist aber nur dann auch "safe", wenn die Bindungsperson selbst einen sicheren Stand hat. Dazu gehört jene Gesundheit, welche Angst, Unkalkulierbarkeit und Tod nicht verleugnet. Nur dann können gerade junge Kinder, die noch über eine Wahrnehmung dieser Dimensionen verfügen, sich verstanden fühlen. Kohärenz wäre nicht jenes Sich-Abschotten gegen die Angst, sondern der Zusammenhalt im Bewusstsein der Bedrohung (wie am Ende des Films "Melancholia" von Lars von Trier). Auch die "Außenseiter" könnten sich eher verstanden fühlen - und zugänglich für Hilfen werden - , wenn ein dialogischer Austausch über "Störungen" die tiefen Ängste einschließt. Wird gemeinsam das mit Veränderungen einhergehende Risiko eingegangen, so zeigen die "primitiven Selbste" ihre dialektische andere Seite: die Lebendigkeit bei Milani Comparetti (wenn das Leben nicht in Therapie verwandelt wird), die Kreativität bei Winnicott, sein Konzept vom "potential space", in dem es nicht nur um den Raum der Möglichkeiten, sondern auch um Potenziale, um kreative Kräfte geht. Für Winnicott ist dies nicht nur ein therapeutisches Konzept: es verbindet den "Spielraum" in der Entwicklung des Kindes mit der "Freude am kulturellen Erbe" (Winnicott 1971, S. 125).

Damit kommt eine Persönlichkeit ins Spiel, die gleichermaßen Außenseitertum und "kulturelles Erbe" verkörpert: Hermann Hesse. Wie kaum jemand, hat er alle Merkmale von Störung und Außenseitertum bei sich vereinigt. Über den Fünfjährigen schreibt die Mutter: " ... und dann kommen Klagen von oben und unten und rechts und links: ‚Hermann hat mein Kind gestoßen! - Hermann hat eine Scheibe eingeworfen! - Hermann wirft die Nachbarskinder mit Steinen! Hermann springt ganz weit fort' und dergleichen. Wenn ich jemand draußen den Namen Hermann nennen höre, ist mir's schon Angst, was wieder los sei" (Roloff 2002, S. 433). Mit 13 Jahren: "Hermann stahl Feigen und wurde bestraft; H. legte ein Feuer; Hermann kränkelte und war unleidlich, weil er sich schonen sollte und nicht Schlittschuh laufen durfte. H. bekam Wutausbrüche" (ebd. S. 435). Er flog aus allen Schulen und Internaten, kam mit 15 Jahren nach einem Selbstmordversuch in eine Heil- und Pflegeanstalt, ein Heim für geistig zurückgebliebene und epileptische Kinder. Es wird berichtet, dass er wenig für die Schule arbeitete, seine Zeit mit "zweifelhaften Bekanntschaften, Saufkumpanen, die ihn zu einem liederlichen Lebenswandel beeinflussen," zubrachte (ebd. 507). Nach gescheiterten Versuchen, das Abitur zu bestehen, folgten Lehrzeiten in einer Turmuhrenfabrik und anschließend bei einem Buchändler. Der klagt bei den Eltern über die "höchst unklare Handschrift Ihres Sohnes. Die einfachsten Wörter oder Namen konnte er z.B. mitunter nicht zu Papier bringen, ohne zu korrigieren" (ebd. S. 508). Noch mit 35 Jahren schreibt Hesse in einer Tagebuchnotiz aus Indien: "Seit einiger Zeit lebe ich von Rotwein und Opium" (ebd. S. 509). Keativität und Außenseitertum wurden hier zur Einheit. Mit einem abschließenden Zitat aus dem "Steppenwolf" (zit. ebd. S. 509/510) schließt sich der Bogen mit den Eingangszitaten von Winnicott und Adorno:

"Wenn ich eine Weile ... die laue, fade Erträglichkeit sogenannter guter Tage geatmet habe, dann wird mir so windig weh und elend, daß ich die verrostete Dankbarkeitsleier dem schläfrigen Zufriedenheitsgott ins zufriedene Gesicht schmeiße und lieber einen recht teuflischen Schmerz in mir brennen fühle, als diese bekömmliche Zimmertemperatur. Es brennt alsdann in mir eine wilde Begierde nach starken Gefühlen und Sensationen, eine Wut auf dies abgetönte, flache, normierte Leben und eine rasende Lust, irgend etwas kaputtzuschlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale oder mich selbst, verwegene Dummheiten zu begehen, ein paar verehrten Götzen die Perücken abzureißen ... oder einigen Vertretern der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht ins Genick zu drehen. Denn dies hasste, verabscheute und verfluchte ich vor allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen und Durchschnittlichen."

Literatur

Adorno, Theodor W. (1994): Minima Moralia. Frankfurt/M. (Suhrkamp).

Erikson, Erik H. (1984): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart (Ernst Klett Verlag)

Kleist, Heinrich von (1851): Sämtliche Werke. München (Th. Knaur Nachf.)

Lüpke, Hans von (2003): Vorgeburtliche Bindungserfahrungen - Konsequenzen für die Interpretation und Begleitung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. In: Finger-Trescher, U. & Krebs, H. (Hg.): Bindungsstörungen und Entwicklungsschancen. Gießen, S. 133-144

Lüpke, Hans von (2006): Sprachliche Verwirrspiele - nicht nur in der Hirnforschung. Konsequenzen für Theorie und Praxis der Rehabilitation. Sonderpädagogische Förderung 3, S. 229-241

Lüpke, Hans von (2010): Mehr als Nachbarschaften: eine gemeinsame Basis für Beziehungsmedizin und Naturwissenschaften. http://bidok.uibk.ac.at/library/luepke-beziehungsmedizin.html

Mentzos, Stavros (1967): Mischzustände und mischbildhafte phasische Psychosen. Stuttgart (Enke)

Roloff, D. (2002): Hermann Hesse, ein beispielhafter Fall? Kinder- und Jugendarzt 33.Jg, Nr. 5, S. 431-435 und Nr. 6, S. 506-510

Stern, D. N. (2007): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart (Klett-Cotta). (Original: The Interpersonal World of the Infant. New York 2000)

Winnicott, Donald W. (1976): Die primitive Gefühlsentwicklung. In: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, S. 57-74. München (Kindler) (Übersetzung vom Autor bearbeitet)

Winnicott, Donald W. (1985): Ich-Integration in der Entwicklung des Kindes. In: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, S. 72-81. Frankfurt/M. (Fischer). (Übersetzung vom Autor bearbeitet).

Winnicott, Donald W. (1971): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart (Klett-Cotta).

Dr. med. Hans von Lüpke

Auf der Körnerwiese 6

D-60322 Frankfurt/M.

Tel.: 069/5970731

E-Mail: hans.von.luepke@gmx.de

Kurzvita

Hans von Lüpke, Dr. med., Kinderarzt und Psychotherapeut, Supervisor. Lehrbeauftragter an den Universitäten Frankfurt/M. und an der Hochschule Darmstadt. Publikationen, Vorträge und Seminare zur Thematik Entwicklungs- und Therapiekonzepte. Schwerpunkt auf der Bedeutung des Zusammenspiels organischer, psychischer und sozialer Faktoren.

Quelle:

Hans von Lüpke: " ... und wir sind tatsächlich arm, wenn wir nur geistig gesund sind"

Erscheint in: Heilmann, J., Krebs, H., Eggert-Schmid Noerr, A. (Hg.): Außenseiter integrieren - Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung. Psychosozial-Verlag Gießen (geplant 2012)

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 14.03.2012

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation