"Eine Behinderung ist durch ihre Unsichtbarkeit nicht weniger belastend"

Autor:in - Nadine Lormis
Themenbereiche: Lebensraum
Schlagwörter: Gesellschaft, Familie, Alltag
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Der Text ist am 01.03.2017 auf folgender Webseite erschienen:https://www.rehacare.de/cgi-bin/md_rehacare/lib/pub/tt.cgi/%22Eine_Behinderung_ist_durch_ihre_Unsichtbarkeit_nicht_weniger_belastend%22.html?oid=45398&lang=1&ticket=g_u_e_s_t
Copyright: © Nadine Lormis

Inhaltsverzeichnis

Interview mit Katarina B.

"Aber du siehst gar nicht krank aus!" Diesen Satz hört Katarina B. viel zu oft. Die Schweizerin lebt mit Multipler Sklerose (MS) und einer spät diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Symptome, die sie tagtäglich begleiten, sind für Außenstehende nicht sichtbar. Aber sie sind da – rund um die Uhr.

Katharina B. macht ein Bild von sich vor einem
Spiegel.

Katarina B.s Behinderungen sind für Außenstehende nicht sichtbar; © staublos.ch

REHACARE.de sprach mit der Mutter von zwei Kindern über ihr Familienleben und fragte nach, inwiefern die beiden Diagnosen ihren Alltag bestimmen.

Katarina, Sie leben sowohl mit MS als auch mit ADHS. Wie genau äußert sich das bei Ihnen?

Katarina B.: Genau, ich habe zwei Diagnosen, welche verschiedene Behinderungen in meinem Alltag hervorrufen und trotzdem nicht sichtbar sind. Meine MS-Diagnose (eine bisher unheilbare chronische Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems) habe ich 2013 bekommen und durch die verschiedenen Symptome folgte dann die ADHS-Diagnose. Leider harmonieren diese beiden Behinderungen nicht so gut miteinander. MS braucht Ruhe und raubt sehr viel Energie. Dagegen brauche ich durch ADHS viel Aktion und Adrenalin, um mich in meinem Körper wohl zu fühlen, Stress macht mich glücklich. Also zwei Gegensätze, welche ich unter einen Hut bringen muss.

Inwiefern beeinflussen die verschiedenen Symptome Ihr Leben?

Katarina B.: Meine MS beeinflusst meinen Alltag am meisten durch die enorme Erschöpfung (Fatigue). Leider nützt auch ausreichend Schlaf nicht bei dieser chronischen Abgeschlagenheit. Sie fühlt sich auch ganz anders an als die normale Müdigkeit. Fatigue wirkt sich auch auf meine kognitiven Funktionen aus. Nicht nur mein Körper ist müde, sondern auch mein Kopf. Ich werde vergesslich, verzettle mich schnell, brauche enorm viel Kraft, um mich auf eine Sache konzentrieren zu können, und kann manchmal keinen klaren Gedanken fassen. Diese Erschöpfung fühlt sich so an, als ob die letzten Tropfen Kraft aus dem Körper gesogen werden. Hier kommt dann ADHS ins Spiel und macht alles noch etwas komplizierter. ADHSler werden manchmal umgangssprachlich auch "Zappelphilipp" genannt und genau das trifft auf mein Naturell zu! Das Zusammenspiel von Adrenalin und Cortisol ist bei MS leider ziemlich unpraktisch, da Stress ein sehr schlechter Trigger ist.

Wie wirkt sich das alles auf Ihr Familienleben aus?

Katarina B.: Meine Familie und ich sind sozusagen in diese Behinderungen hineingewachsen. Meine Kinder waren noch klein als ich die Diagnose bekam. Wir entschieden uns schnell, sehr offen mit den Kindern darüber zu sprechen. Die Behinderungen durch MS und ADHS haben mich extrem empfindlich auf Reizüberflutung gemacht. Ein Alltag mit Kindern ist aber laut, lebhaft, voll mit Lärm, Kinderlachen, Kinderweinen und so vielem mehr. Manchmal führt das bei mir leider zu einer sehr großen Überreizung, welche sich auch in körperlichen Schmerzen zeigen kann. Die Erschöpfung ist für mich das größte Problem, weil sie meistens gegen 15 Uhr anfängt. Das ist die Zeit, in der meine Kinder von der Nachmittagsschule kommen und Hausaufgaben machen müssen. Dafür muss ich meine letzten Kraftreserven mobilisieren, was enorm anstrengend ist. Die Tatsache, dass meine Kinder mit einer kranken Mutter aufwachsen, nimmt ihnen einen Teil der unbeschwerten Kindheit. Trotzdem denke ich, dass ich meinen Kindern mit meiner positiven Einstellung ein gutes Vorbild sein kann.

Und wie reagiert Ihr Mann auf Ihre Einschränkungen?

Mein Mann stand seit dem ersten Tag hinter mir. Trotzdem stellt man sich als Betroffene diese Fragen über die Zukunft: Werde ich meinem Partner irgendwann zur Last fallen? Werde ich zu einem Pflegefall, um den er sich kümmern muss? Wie viel darf man von seinem Partner erwarten?

Wir haben relativ schnell einen guten Umgang mit meinen verschiedenen Symptomen gefunden. Der größte Teil ist für andere nicht sichtbar, mein Mann ist aber direkt davon betroffen. Also muss ich zum Beispiel ihm klar kommunizieren, wenn etwas nicht funktioniert, ich viel zu müde bin, keine Kraft in den Händen oder Beinen habe. Mein Mann übernimmt oft viele der Haushalts- und Kinderaufgaben, die ich vorher gemacht habe. Wir ergänzen uns gut und müssen manchmal etwas mehr planen als in der Vergangenheit.

Kathatina B. in ihrer Sportkleidung.

Katarina B. achtet darauf, regelmäßig Sport zu machen - "trotz oder genau wegen der MS", wie sie sagt; © staublos.ch

Wie offen gehen Sie mit diesen unsichtbaren Behinderungen um?

Katarina B.: Wenn ich erwähne, dass ich MS habe und mich zum Beispiel nicht in irgendeinem Verein engagieren kann, werde ich meistens ungläubig angeschaut. In den sozialen Netzwerken verwende ich deshalb so gerne den Ausdruck: "But you don’t look sick – Aber du siehst nicht krank aus!" Das höre ich sehr oft, denn alle meine Symptome sind nicht sichtbar. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht da sind. Zum Beispiel mein Schwindel, meine Gefühlsstörungen, dass ich in den meisten Fingern keine Temperaturunterschiede spüre sowie dass sich meine Muskulatur extrem verspannt und noch so vieles mehr, das sieht man einfach nicht.

Ich entscheide im Alltag sehr spontan, ob ich mein Gegenüber darauf aufmerksam mache oder nicht. Es ist mir aber wichtig zu zeigen, dass eine Behinderung durch ihre Unsichtbarkeit nicht weniger belastend ist. Nur weil man es auf den ersten Blick nicht sieht, kann man den Ablauf im Hintergrund nicht erahnen. Man kann sich das bildlich wie einen Eisberg vorstellen. Die sichtbare Spitze lässt nicht erahnen, wie groß der Eisberg in der Tiefe ist.

Sehen Sie eher einen Vorteil oder einen Nachteil darin, dass Ihre Behinderungen unsichtbar sind?

Katarina B.: Einerseits ist es sehr vorteilhaft, weil meine Behinderungen unsichtbar sind. Ich muss mich nicht ständig erklären. Ich werde nicht bemitleidet oder mitleidig behandelt. Dadurch habe ich viele Freiheiten.

Andererseits ist es sehr mühsam, weil ich äußerlich sehr gesund aussehe. Ich werde ständig überschätzt und man hat höhere Erwartungen, die ich manchmal nicht erfüllen kann. Ich muss öfters erklären, warum und weshalb ich etwas nicht machen kann. Manchmal muss ich mich rechtfertigen, warum ich zum Beispiel eine Haushaltshilfe habe, statt meinen ganzen Haushalt selber zu erledigen. Meine Erschöpfung kann als Faulheit interpretiert werden oder die kognitiven Probleme als Desinteresse. Die Leute sehen mich seltsam an, weil ich durch meinen Schwindel schwanke und einen komischen Gang habe. Oder weil irgendwelche Körperteile sichtbar zucken und mein Gegenüber davon irritiert ist.

Was wünschen Sie sich in Hinblick auf den Umgang mit unsichtbaren Behinderungen?

Katarina B.: Weniger vorschnelle Verurteilungen! Unsichtbare Behinderungen sind nicht weniger belastend und einschränkend als sichtbare. Ich würde mir wünschen, mich weniger rechtfertigen zu müssen – nur, weil meine Behinderungen nicht sichtbar sind. Das kann man aber nicht auf die Gesellschaft verallgemeinern und kommt auf die jeweilige Person an, mit der man zu tun hat. Ich würde mir sehr wünschen, weniger abgestempelt und weniger stigmatisiert zu werden. Da meine Behinderungen unsichtbar sind und dem Gegenüber nicht bewusst ist, dass ich auch in diese Kategorie gehöre, wurden mir gegenüber schon sehr verletzende Bemerkungen fallen gelassen, wie zum Beispiel: "MSler sind dumm, MSler haben ein Matschhirn, MSler sind sehr schwierige Charaktere, MSler sterben schnell an ihrer Krankheit, MSler bekommen alle Diabetes, MSler simulieren, MSler sind psychisch krank." Und dann stehe ich da und muss entscheiden, ob ich eine solche Bemerkung ignorieren oder richtigstellen soll.

Mehr von und über Katarina B. unter: www.staublos.ch

Portrait von Nadine Lormis in schwarz weiß.

Nadine Lormis, REHACARE.de, © B. Frommann

Quelle

Nadine Lormis: "Eine Behinderung ist durch ihre Unsichtbarkeit nicht weniger belastend"; REHACARE Magazin 01.03.2017, https://www.rehacare.de/cgi-bin/md_rehacare/lib/pub/tt.cgi/"Eine_Behinderung_ist_durch_ihre_Unsichtbarkeit_nicht_weniger_belastend".html?oid=45398&lang=1&ticket=g_u_e_s_tBibliographische Angaben /

bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.01.2018

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