enterability Berlin

Interview mit Manfred Radermacher

Autor:in - Nadine Lormis
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Dieser Artikel ist in rehacare.de zum Themenschwerpunkt Berufsleben am 4. Mai 2015 erschienen.
Copyright: © REHACARE.de

"Schwerbehinderte Existenzgründer benötigen hochgradig flexible Modelle"

Einer, der ihnen dabei hilft, ist Manfred Radermacher: Zusammen mit seinen Kolleginnen beim Integrationsfachdienst Selbstständigkeit - enterability Berlin berät er Menschen mit Schwerbehinderung bei Fragen rund um die Existenzgründung. REHACARE.de sprach mit ihm über den Beratungsalltag.

Herr Radermacher, Sie wenden sich mit dem Beratungsprojekt enterability an Existenzgründer mit einer Schwerbehinderung. Wie kam es zu dieser Idee?

Als wir 2004 als Modellprojekt gestartet sind, herrschte gerade der Gründungsboom in Deutschland. Schlagworte wie die "Ich-AG" waren in aller Munde. In den allgemeinen Beratungsangeboten kamen Menschen mit Behinderung aber nicht auf ihre Kosten, weil die Beratungsstellen einfach nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt waren. Also haben wir beschlossen, Menschen mit einer Schwerbehinderung auf dem Weg in die berufliche Selbstständigkeit zu begleiten. Inzwischen wenden wir uns aber auch an diejenigen, die diesen Schritt bereits gegangen sind und beispielsweise Probleme haben.

Wie gut wird das Angebot angenommen und genutzt?

Das Hauptvorurteil gegenüber Menschen mit Schwerbehinderung ist, dass sie grundsätzlich nicht leistungsfähig und belastbar genug wären. Doch das kann man nicht so stark vereinfachen. Für die Zielgruppe ist die Alternative der Selbstständigkeit besonders wichtig. Daher haben wir auch einen recht großen Andrang. Wer auf unserer Warteliste steht, muss derzeit etwa vier bis sechs Wochen auf einen Termin warten.

Inwiefern spielt die spezifische Behinderung bei der Beratung eine Rolle?

Die jeweilige Behinderung des Einzelnen steht sozusagen im Zentrum. Schwerbehinderte Existenzgründer benötigen hochgradig flexible Modelle. Denn jede Behinderung wirkt sich konkret auf die Selbstständigkeit aus. Nehmen wir einen Rheumapatienten, der grundsätzlich erst um 12 Uhr mittags wirklich fit und leistungsfähig ist. Oder auch Schmerzpatienten, die einfach mehr beziehungsweise längere Pausen benötigen. Viele Arbeitgeber können das so nicht gewährleisten. Wenn man also keine passenden Bedingungen finden kann, muss man sie sich als eigener Chef selbst schaffen.

Und dabei unterstützen Sie und Ihre Kollegen?

Ganz genau. Wir hatten zum Beispiel einmal eine Dame bei uns, deren maximale Leistungsfähigkeit bei fünf Stunden pro Tag lag. Dieser Fakt bestimmte das komplette weitere Vorgehen. Die Beratung musste genau an dieser Tatsache anknüpfen.

Und genau deswegen müssen wir die Behinderung offen thematisieren – manchmal vielleicht auch zu offen für einige. Denn wenn es beispielsweise eine zusätzliche Suchtproblematik in der Vergangenheit gab, müssen wir das ansprechen, auch wenn es für viele eigentlich ein Tabu ist. Ob Brustkrebs, HIV oder psychische Erkrankungen – die Ursachen für eine Schwerbehinderung sind so vielfältig. Und jede einzelne hat Auswirkungen auf Arbeitsprozesse oder die Leistungsfähigkeit.

Welchen konkreten Nutzen bietet Ihr Beratungsangebot?

Wir helfen, die Selbstständigkeit unter den Bedingungen der jeweiligen Behinderung realistisch vorzubereiten. Das heißt, dass wir auch von der Gründung abraten, wenn es nicht funktionieren kann. Die Erfahrung hat gezeigt, dass von zehn Personen in der Beratung nur drei auch wirklich im Haupterwerb gründen. Das ist dann aber ihre eigene Entscheidung, die sie auf Grundlage der Beratung getroffen haben. Denn bei uns bekommen sie vor allem eine ehrliche Beratung, einen vorurteilsfreien Blick und Hilfe zur Bewältigung von eventuellen Problemen. Die Beratungsverläufe sind wirklich sehr unterschiedlich. Das bedeutet automatisch: Unsere Beratung ist immer individuell.

Wie gut können sich Existenzgründer mit Behinderung Ihrer Erfahrung nach dauerhaft in der Selbstständigkeit behaupten?

Wir haben seit Bestehen zu unterschiedlichen Zeitpunkten immer wieder entsprechende Erhebungen durchgeführt. Grob zusammengefasst waren zu jedem Prüfzeitpunkt noch etwa 75 Prozent am Markt. Dabei bedeutet nicht mehr am Markt aber nicht automatisch, dass die Unternehmer mit ihrem Geschäftsmodell gescheitert sind. Sie können sich auch im Verlauf für einen anderen Weg entschieden haben. Oder, auch das ist eine Möglichkeit, sie sind beispielsweise gestorben.

Wichtig ist es wohl, abschließend zu erwähnen, dass es den meisten Existenzgründern mit der Selbstständigkeit nicht um Reichtum geht. Geld allein steht in der Regel nicht im Vordergrund. Ja, sie wollen raus aus dem Leistungsbezug, also kein Hartz IV mehr. Aber es geht dem Großteil vor allem um Teilhabe – im Arbeitsleben und in der Gesellschaft. Für schwerbehinderte Menschen ist die Selbstständigkeit ein Modell, das ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht.

Mehr über enterability Berlin unter: www.enterability.de

Das Interview führte Nadine Lormis, REHACARE.de

Quelle

Nadine Lormis: "Schwerbehinderte Existenzgründer benötigen hochgradig flexible Modelle.“ Interview mit Manfred Radermacher, enterability Berlin. Erschienen in: rehacare.de zum Themenschwerpunkt Berufsleben, Mai 2015. http://www.rehacare.de/cipp/md_rehacare/custom/pub/content,oid,37826/lang,1

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.10.2015

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