Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit

Autor:in - Jean Liedloff
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Erschienen in: Mit Kindern auf dem Weg II. Referate zu NÖ Kindergartensymposien, NÖ Schriften 103/Dokumentation, Neulengbach, Oktober 1997, ISBN 3-85006-095-0
Copyright: © Jean Liedloff 1997

Zusammenfassung der Kernthese nach einem Referat beim 9. NÖ Kindergartensymposion

Es brauchte einige Zeit bevor mir die Tragweite von dem, was ich vor mir sah, in meine "zivilisierte" Denkweise einsickerte. Ich hatte mehr als zwei Jahre damit verbracht, in den Urwäldern Südamerikas mit Steinzeitindianern zu leben. Kleine Jungen begleiteten uns, wenn wir ihre Väter als Führer und Reisegefährten beauftragten und wir blieben oft tage- oder wochenlang in den Dörfern der Yequana Indianer, wo die Kinder den ganzen Tag lang ohne Aufsicht von Erwachsenen oder Jugendlichen spielten.Es wurde mir erst nach meiner vierten oder fünften Expedition bewußt, daß ich nie eine Auseinandersetzung zwischen Kindern oder zwischen einem Kind und einem Erwachsenen gesehen hatte. Nicht nur, daß sich die Kinder nie schlugen, sie stritten auch nicht einmal. Sie folgten den Erwachsenen unverzüglich und freudig und trugen oft Babys mit sich herum während sie spielten oder bei der Arbeit mithalfen.

Wo war das Trotzalter? Wo waren die Temperamentsausbrüche, die Streitereien "ihren eigenen Willen zu haben", die Eigennützigkeit, die Destruktivität und der leichtfertige Umgang mit ihrer eigenen Sicherheit, die wir "normal" nennen? Wo war dieses Herumnörgeln, die Disziplin, die "Grenzen", die gebraucht werden, um ihre Andersartigkeit zu zügeln? Wo war selbst diese gegnerische Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die wir als selbstverständlich hinnehmen? Wo war das Schuldzuweisen, das Strafen oder, um der Vollständigkeit willen, wo war irgendein Anzeichen von Nachgiebigkeit?

Die Art der Yequana

Es gibt einen Yequana-Ausdruck, der gleichbedeutend ist mit "Burschen werden Burschen bleiben" ('Boys will be boys'); es hat jedoch einen positiven Beigeschmack und bezieht sich auf das fröhliche Gemüt der Burschen, wenn sie herumlaufen, schreien, im Fluß schwimmen oder Yequana Badminton spielen (ein nicht-gegnerisches Spiel, in welchem alle Spieler versuchen den Indiaker so lange als möglich in der Luft zu halten, indem sie mit der flachen Hand daraufschlagen).

Ich hörte viele Schreie und viel Lachen, wenn die Burschen draußen spielten, doch sobald sie in der Hütte waren, haben sie ihre Stimmen gedämpft, um die herrschende Ruhe beizubehalten. Sie unterbrachen nie ein Gespräch von Erwachsenen. In Wirklichkeit sprachen sie fast gar nichts in der Gesellschaft von Erwachsenen, sie beschränkten sich aufs Zuhören oder auf kleine Dienste wie das Herumreichen von Speisen und Trank.

Aber weit entfernt von Disziplinierung oder Unterdrückung für ein gefälliges Benehmen sind diese kleinen Engeln entspannt und voller Freude. Und sie wachsen heran um glückliche, selbstsichere und gemeinschaftsorientierte Erwachsenen zu werden!

Wie machen sie das? Was wissen die Yequana über die menschliche Natur, was wir nicht wissen? Was können wir tun, um eine nicht gegnerische Beziehung mit unseren Kindern in ihrer Kindheit zu erreichen, oder später, falls sie schlechte Startbedingungen hatten?

Die "zivilisierte" Erfahrung

In meiner privaten Praxis konsultieren mich Leute, um die zerstörerischen Auswirkungen ihrer in der Kindheit geformten Einstellung zu sich selbst zu überwinden. Viele dieser Leute sind Eltern, die erpicht sind, ihre Sprößlinge nicht derselben Entfremdung zu unterwerfen, welche sie unter den Händen ihrer eigenen, meist gutmeinenden Eltern erlitten haben. Sie wollen wissen, wie sie ihre Kinder glücklich und frei von Schmerzen aufziehen können. Die meisten dieser Elter haben meinen - dem Yequana-Beispiel folgenden - Rat angenommen und pflegen bei Tag und Nacht einen körperlichen Kontakt mit ihren Babys, bis diese zu krabbeln beginnen. Manche jedoch sind überrascht und erstaunt herauszufinden, daß ihre Kleinen "fordernd" oder zornig werden - auf den Elterteil gegenüber, der sich am meisten sorgt. Selbst noch soviel Zuwendung und Selbstaufopferung verbessern nicht die Einstellung der Babys. Verstärkte Anstrengungen, um sie zu besänften, helfen nichts, außer den Frust bei den Eltern, als auch beim Baby noch zu vergrößern. Warum haben dann die Yequana nicht die gleichen Erfahrungen? Der springende Punkt ist, daß die Yequana nicht kindzentriert sind. Sie mögen gelegentlich ihre Babys voll Zuwendung drücken, mit ihnen Guckguck - Tschatscha spielen, oder ihnen etwas vorsingen, doch die meiste Zeit verbringt die Bezugsperson damit, auf etwas anderes achtzugeben, nicht auf das Baby! Kinder, die sich um die Babys kümmern, betrachten auch dieses Kinderhüten als eine Nichtaktivität und obwohl sie diese überall mit herumtragen, geben sie ihnen nur selten direkte Zuwendung. Somit befinden sich Yequanababys inmitten der Aktivitäten, denen sie später beiwohnen werden während sie durch die Stadien des Kriechens, Krabbelns, Gehens und Sprechens voranschreiten. Dieser breite Ausblick auf Erfahrungen, Verhaltensweisen, Lebensrhythmus und Sprache des zukünftigen Lebens bietet eine reiche Basis für ihre sich entwickelnde Anteilnahme.

Dadurch, daß mit ihm gespielt, gesprochen oder es den ganzen Tag bewundert wird, entzieht man dem Baby diese Auf-dem-Arm Betrachterphase, die so wichtig für das Baby wäre. Unfähig zu sagen, was es braucht, handelt es aus seiner Unzufriedenheit heraus. Es versucht die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen zu erlangen, und hier liegt der Grund für diese verständliche Verwirrung: Seine Absicht ist jedoch, die Bezugsperson dazu zu bringen, seine unbefriedigende Lage zu verändern, indem sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten mit Selbstsicherheit kümmert ohne scheinbar um seine Erlaubnis zu bitten. Sobald dieser Zustand berichtigt ist, kann das aufmerksamkeiterregende Verhalten aufhören, welches wir fälschlicherweise für einen permanenten Antrieb halten. Dasselbe Prinzip läßt sich auch auf die Stadien anwenden, die der Auf-dem-Arm-Halten Phase folgen. Als eine hingebungsvolle Mutter aus der amerikanischen Ostküste ihre Sitzungen mit mir über Telefon begann, war sie fast am Ende ihrer Nerven. Sie führte Krieg mit ihrem geliebten dreijährigen Sohn, der sie öfters anstieß, manchmal sogar schlug, und sie mit "Halts Maul" und anderen nervtötenden Ausdrücken von Wut und Respektlosigkeit anschrie. Sie versuchte es über den Weg der Vernunft, indem sie ihn fragte, was sie für ihn machen könne, sie bestach ihn, und sie redete liebevoll auf ihn ein, solange sie das noch vermochte, bevor sie ihre Geduld verlor und ihn anschrie. Daraufhin wurde sie von Schuldgefühlen erfüllt und versuchte "es wieder gut zu machen" mit Entschuldigungen, Erklärungen, Umarmungen oder besonderen Belohnungen, um ihre Liebe unter Beweis zu stellen. Worauf ihr kostbarer kleine Schatz mit neuen, ungezügelten Forderungen aufwartete. Manchmal beendete sie den Versuch alles recht zu machen und ging wortlos ihren eigenen Beschäftigungen nach, trotz seines Heulens und Protestierens. Wenn sie das letztendlich lang genug durchstand, bis er es aufgab, sie zu kontrollieren und sich beruhigte, dann schaute er zu ihr auf mit sienen dahinschmelznd schönen Augen und sagte: "Mama, ich liebe dich". Und sie in ihrer Dankbarkeit über die momentane Erlösung von ihrer Schuld, aß ihm bald wieder aus seiner kindlichen, mit Marmelade befleckten Hand. Er würde sich wieder herrisch aufspielen, dann zornig und grob werden und das ganze herzzerreißende Szenario wiederholte sich, woraufhin die Verzweiflung meiner Klientin noch tiefer wurde.

Ich höre von vielen ähnlichen Geschichten von Klienten aus den USA, Kanada, Deutschland und England, und deshalb glaube ich, daß es angebracht ist zu sagen, daß diese Schwierigkeiten unter den bestgebildeten und bestmeinenden Eltern der westlichen Gesellschaft weit verbreitet sind. Sie quälen sich mit Kindern, die scheinbar danach streben, ihre Eltern unter Kontrolle zu halten, und welche ihnen all ihre Launen nachsehen. Um die Lage noch zu verschlimmern, glauben viele, daß dieses Phänomen ein Zeugnis darstellt für die weitverbreitete Ansicht, daß unsere Gattung, als einzige unter all den Geschöpfen, von Natur aus asozial ist und Jahre der Entzweitheit ("Disziplin", "Sozialisation") benötigt, um machbar oder gar gut zu werden. Wie die Yequana, die Bewohner Balis und zahlreiche andere Völker außerhalb unseres Kulturkreises enthüllen, ist so eine Ansicht vollkommen falsch. Mitglieder einer Gesellschaft antworten auf die Konditionierung ihrer eigenen Kultur genauso wie Mitglieder einer anderen.

Der Weg zur Harmonie

Was verursacht dann dieses Unglücklichsein? Was von unserer menschlichen Natur haben wir falsch verstanden? Und was können wir unternehmen, um uns an diese Harmonie anzunähern, welche die Yequana mit ihren Kindern genießen? Es scheint, daß viele Eltern von Kleinkindern in ihrem Bemühen, nicht nachlässig oder nicht respektvoll zu sein, in die scheinbar andere Richtung über das Ziel hinausgeschossen haben. Wie die danklosen Märtyrer der Auf-dem-Arm- Halten Phase haben sie sich auf ihre Kinder zentriert, anstatt sich mit Erwachsenenktivitäten zu beschäftigen, welche die Kinder beobachten folgen und imitieren können und bei denen sie mithelfen können, sowie es ihrem natürlichem Drang entspricht. Anders gesagt, weil ein Kind erlernen möchte, was seine Leute tun, erwartet es fähig zu sein, seine Aufmerksamkeit auf einen Erwachsenen zu richten, der wiederum auf seine Angelegenheiten ausgerichtet ist. Eine Erwachsene, die unterbricht, was sie gerade macht und versucht herauszufinden, was ihr Kind von ihr will, verursacht einen Kurzschluß dieser Erwartungen. Das ist bemerkenswert, weil sie dem Kleinkind als jemand erscheint, der nicht weiß, wie er sich verhalten soll; jemand dem Selbstvertrauen fehlt und noch alarmierender als jemand, der Führung von ihm, dem Zwei- oder Dreijährigen erwartet. Dieser verläßt sich aber auf sie, um ruhig und angemessen zu sein. Die ziemlich vorhersehbare Reaktion eines Kleinkindes auf die elterliche Unsicherheit ist, seine Eltern noch weiter aus der Balance zu bringen, indem es testet ob es eine Grenze gibt, bei der sie standhaft bleiben und somit all seine Ängste über die Zuständigkeit der Verantwortung ablegen kann. Es mag fortfahren die Wände zu bemalen, nachdem es die Mutter gebeten hat, davon abzulassen, allerdings in einem solch entschuldigendem Tonfall, der ihm verkündet, daß sie nicht daran glaubt, daß es ihr folgt. Wenn sie ihm dann die Stifte wegnimmt, während sie die ganze Zeit die Angst vor seiner Wut zeigt, dann - so sicher wie es ein soziales Wesen ist - erfüllt er ihre Erwartungen und stürzt sich in einen Wutausbruch. Falls sie seinen Zorn falsch versteht, indem sie versucht noch verbissener festzustellen was es will, bittet, erklärt, und es noch verzweifelter besänftigen will, wird das Kind dazu angetrieben, noch unerhörtere und unakzeptablere Forderungen zu stellen. Das muß es so lange fortsetzten, bis sie letztendlich die Führung übernimmt und die Ordnung wieder hergestellt ist.

Es mag noch immer keine ruhige, selbstbewußte und verläßliche Autoritätsfigur haben, von der es lernen kann, weil seine Mutter sich nun von dem Punkt, wo sie ihr Temperament verliert zu dem Punkt gelangt, wo Schuldgefühle und Zweifel über ihre Fähigkeiten wieder in ihrem zitternden Kopf zu Durchbruch kommen. Nichtsdestotrotz hat es die geringfügige Sicherheit, daß sie im Falle des Falles ihn von der Bürde der Verantwortung und von seinen verzweifelten Gefühlen entlastet, nämlich denen, daß er aus irgendeinem Grund wissen solle, was sie tun soll. Kurz gesagt: Wenn ein Kind dazu angehalten wird, zu versuchen, das Verhalten eines Erwachsenen zu kontrollieren, liegt es nicht daran, daß das Kind gewinnen möchte, sondern daran, daß das Kind die Gewissheit braucht, daß der Erwachsene weiß, was er oder sie tut. Mehr noch, das Kind kommt nicht umhin, dieses zu testen bis der Erwachsene standhaft bleibt und das Kind diese Gewissheit haben kann. Kein Kind würde davon träumen, die Initiative einem Erwachsenen abzunehmen, außer er erhält die klare Botschaft, daß ein solches Verhalten erwartet wird. Nicht gewollt, sondern erwartet! Sobald das Kind noch dazu fühlt, daß es die Kontrolle übernommen hat, wird es verwirrt und ängstlich und muß bis ins Extreme gehen, um den Erwachsenen dazu anzuhalten, die Führungsrolle wieder dorthin zurückzunehmen, wohin sie gehört. Sobald das verstanden ist, verschwindet auch die Angst der Eltern, dem Kind etwas aufzuzwingen, und beide verstehen, daß es keinen Grund zur Feindschaft gibt. Indem sie die Kontrolle beibehalten, erfüllen sie eher die Bedürfnisse ihres geliebten Kindes, als daß sie gegen diese handeln. Meine Ostküsten-Klientin brauchte eine Woche, bevor sie die ersten Ergebnisse dieser neuen Einstellung beobachtete. Nach all dem haben Generationen von Mißverständnissen, und die Macht der alten Gewohnheiten, den Übergang der Famlie zu einer nicht-gegnerischen Art irgendwie uneben gemacht. Heute sind sie und ihr Mann, so wie viele meiner ähnlich betroffenen Klienten, von ihren eigenen Erfahrungen glücklich überzeugt davon, daß Kinder absolut nicht auf Gegensätzlichkeit eingestellt sind, sondern von Natur aus sehr sozial sind. Indem wir erwarten, daß sie so sind, erlauben wir ihnen auch so zu sein. Und weil das Kind bei den Eltern die Erwartung eines sozialen Verhaltens wahrnimmt, erfüllt er oder sie auch diese Erwartungen. Auf die gleiche Weise verstärkt die elterliche Erfahrung eines sozialen Verhaltens im Kind deren Erwartungen einer solchen. Und so funktioniert das.

In einem Dankschreiben an mich schrieb der Gatte meiner Ostküsten-Klientin über seine Frau, seinen Sohn und sich selbst: "Wir sind zusammen gewachsen, haben gelernt und lieben uns auf eine wundersame Weise. Unsere Beziehungen entwickeln sich weiter in eine absolut positive und liebevolle Richtung."

Quelle:

Jean Liedloff: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit

Erschienen in: Mit Kindern auf dem Weg II. Referate zu NÖ Kindergartensymposien, NÖ Schriften 103/Dokumentation, Neulengbach, Oktober 1997, ISBN 3-85006-095-0

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.09.2005

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